Kapitel 3       Start    Weiter

  Natur und Technik  

 

 

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Kritik an der Technik ist beinahe so alt wie die Technik selbst. Es gab romantische Kritik, es gab Maschinenstürmer, es gab und gibt nostalgische Kritik an der Technik. Aber es wäre doch wohl zu einfach, mit solchen Hinweisen all das abzutun, was sich heute an Besorgnissen äußert.46 Neu, anders auch als zu Beginn unseres Jahrhunderts, erscheinen vier Sachverhalte:

  1. Es handelt sich heute meist nicht um pauschale Kritik an der Technik und an technischer Innovation schlechthin, sondern um Einwände gegen ganz bestimmte Formen von Technik, vor allem an großtechnischen Anlagen.

  2. Diese Kritik wird zunehmend vorgebracht von Menschen, die selbst mit dieser Technik umzugehen und sie beherrschen gelernt haben (Klaus Traube, Joseph Weizenbaum).

  3. Es handelt sich nicht nur um negative, sondern auch um positive Kritik. Es wird nicht nur gesagt, in welche Richtung technische Innovation sich nicht mehr bewegen sollte, es werden auch neue Wege für eine Technik gewiesen, die menschlichen Bedürfnissen eher gerecht werden könnte.

  4. Es wird nicht mehr einfach mit der Gegenüberstellung von Natur und Technik gearbeitet, sondern nach dem richtigen Verhältnis von Natur und Technik gefragt.

Joseph Weizenbaum, erster Computer-Fachmann in den USA, bekämpft heute mit Leidenschaft die Technik, der er jahrzehntelang gedient hat:

«Eine instrumentelle Vernunft, eine triumphierende Technik und eine zügellose Naturwissenschaft sind Suchtmittel. Sie schaffen eine konkrete Wirklichkeit, einen sich selbst erfüllenden Alptraum. Die optimistischen Technologen haben möglicherweise doch recht: Vielleicht haben wir den Punkt erreicht, an dem es kein Zurück mehr gibt. Aber ist das ein Grund für die Mannschaft, die uns so weit gebracht hat, in Jubelrufe auszubrechen? Warum sehen die Passagiere nicht von ihren Spielbrettern auf? Und schließlich, da endlich wir anstelle Gottes mit dem Universum Würfel spielen, wie schaffen wir es, immer nur Gewinnwürfe hinzulegen?»47

46)  Diesem Kurzschluß unterlag zum Beispiel Horst Ehmke bei seiner Polemik in Oer-Erkenschwick, abgedruckt in Harry Ristock (Hg.), Mitte — Links, Bad Godesberg 1977, S.25 


Man fühlt sich erinnert an Richters <Gotteskomplex>. Jetzt, wo Herrschaftswille und rationale Zielstrebigkeit uns so weit gebracht haben, daß «wir anstelle Gottes mit dem Universum Würfel spielen», jetzt wird gerade denen vor ihrer Gottähnlichkeit bange, die sie mit allen Kräften erstrebt haben. Denn es ist alles andere als wahrscheinlich — und das ängstigt nicht nur Weizenbaum —, daß «immer nur Glückswürfe» gelingen. Sicher, auch ein Mann wie Weizenbaum, der lange genug den Sachzwängen der technischen Welt gedient hat, kommt, aus seinen Träumen von der besseren Welt aufgeschreckt, in die Gefahr, nun seine Mitmenschen durch apokalyptische Prophetien zu entmutigen.

In einem Interview48 im Sommer 1980 erklärte er ohne Umschweife: «Wir werden mit höchster Wahrscheinlichkeit die nächsten zwanzig Jahre  nicht überleben.» 

Aber auch Weizenbaum präzisiert, daß es ihm nicht um die Technik geht. Es geht um die Richtung technischer Innovation, es geht um die Sachzwänge, die sich ergeben, wenn technische Innovation für Großkonzerne gewinnbringend vermarktet wird:

«Frage: Überspitzt gefragt: Wollen Sie die ganze Technik verdammen?

Weizenbaum: Jemand, der so spricht wie ich, wird oft angeklagt. Man hält ihm vor die Nase, daß wir ohne Technik nicht weiterkommen könnten. Der Trick, der da gespielt wird, ist, mir die Aussage in den Mund zu schieben, ich wolle die Technik abschaffen. Das ist unmöglich. Ohne Technik gibt es überhaupt keine Kultur, keine Zivilisation. Ich spreche hier von einer ganz bestimmten Sorte moderner Technik. Ich betrachte die rasende <Verbesserung> der Kriegstechnik als eine Fehlentwicklung. Auch im zivilen Bereich stoßen wir auf bedrohliche Entwicklungen: Die Concorde beispielsweise ist allgemein als Schritt in die falsche Richtung erkannt. (...)

Frage: Liegt das nun an der Technik oder daran, was wir daraus machen?

47) Joseph Weizenbaum, Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft, Frankfurt 1977, S. 336     48) Manager Magazin, 7/1980, S.119

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Weizenbaum: Das läuft doch immer nach dem gleichen Muster. Nehmen wir die Bundesrepublik. Das Land soll verkabelt werden. Ein komisches Wort! Die Frage nach einem Bedarf wird kaum gestellt. Ich kann mir nicht vorstellen, daß die Verkabelung nötig ist oder irgendein drängendes Problem löst. Aber nachdem diese Technik eingesetzt, die Bundesrepublik verkabelt ist, entsteht ein Bedarf. Nun wird gesagt, na sehen Sie, die Leute kaufen das doch. Es ist aber umgekehrt.»49

Was den Computer-Experten besonders umtreibt, sind technische Systeme, die niemand mehr versteht, geschweige denn beherrscht: 

«Das milliardenschwere Kommunikationssystem des Pentagon ist kürzlich in den Vereinigten Staaten untersucht worden. Da wird zugegeben, es funktioniert kaum und, was viel schlimmer ist, niemand versteht es. Es kann nicht korrigiert, nur geflickt werden. Und dieses Flicken vertieft seine Undurchschaubarkeit. 
Das schon erwähnte <Wimex>-System, also das Nervenzentrum des amerikanischen Militärs, wird immer weniger durchschaubar, nähert sich mehr und mehr der Autonomie und kann in letzter Konsequenz sogar Kriege anzetteln. Tatsächlich werden Systemfehler nicht beseitigt, sondern verkleistert.»

 

Was hier den Fachmann in panischen Schrecken versetzt, hat ein sensibler Denker wie Ernst Bloch erahnt. Bloch, dem Willen zum Fortschritt bis ans Ende verschrieben, denkt im «Prinzip Hoffnung« über eine «Technik ohne Vergewaltigung»50) nach, eine «vermittelte», weniger «abstrakte» Technik, die Anschluß sucht «an den Kern der wirkenden Kräfte», eine Technik, in der die «technische Naturentfremdung» aufgehoben ist, eine Technik, die nicht mehr «leichenhaft», sondern lebensfördernd wäre. Für die Technik unserer (spätkapitalistischen) Epoche gilt: «Unsere bisherige Technik steht in der Natur wie eine Besatzungsarmee im Feindesland, und vom Landesinnern weiß sie nichts.»51

Es bleibt notwendig im Abstrakten, welche Technik Bloch vorschwebt: 

«Marxismus der Technik, wenn er einmal durchdacht sein wird, ist keine Philanthropie für mißhandelte Metalle, wohl aber das Ende der naiven Übertragung des Ausbeuterund Tierbändigerstandpunktes auf die Natur ... ... Naturströmung als Freund, Technik als Entbindung und Vermittlung der im Schoß der Natur schlummernden Schöpfungen, das gehört zum Konkretesten an konkreter Utopie.»52)

49)  Manager Magazin, a.a.O., S.120   50)  Das Prinzip Hoffnung, a.a.O., 4. Teil, Kap. 37, S. 807     51)  ebenda, S. 814

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Inzwischen ist in Theorie und Praxis darüber nachgedacht53) und experimentiert worden, wie eine Technik aussehen könnte, die Natur nicht überlistet, vergewaltigt, nicht ihre Rache stündlich (in Form von Katastrophen) befürchten muß. Versuche «angepaßter», «weicher», «sanfter», vor allem dezentralisierter Technik werden landauf, landab unternommen, vom Blockheizkraftwerk bis zur Biogas-Anlage, von der Müll-Verschwelung bis zur alternativen Landwirtschaft, von alternativer Medizin bis zum Wohn-Gewächshaus.

Alvin Toffler54 hat darauf aufmerksam gemacht, daß eine «Technik der Dritten Welle» alles andere als rückständig oder primitiv zu sein braucht. Sie werde sehr viel differenzierter, kleiner, leichter zu bedienen sein, die Abfälle eines Industriezweiges würden zu Rohstoffen für einen anderen, Energie, etwa im Straßenverkehr, werde durch bessere Information und Kommunikation ersetzt. Die neue Technik stütze sich auf die Biologie, die Genetik, die Elektronik, die Wirkstoff-Forschung, die Meeresforschung. Der Mikroprozessor erlaube kleinere Einheiten, kleinere, maßgefertigte Serien.55) 

Ob man nun den — teilweise phantastisch klingenden — Ankündigungen Tofflers folgen will oder nicht, eine besser in die Natur eingepaßte weichere Technik ist keine primitive, eher eine intelligente, raffinierte Technik.

52)  ebenda, S. 813  
53)  u. a. auch Werner Georg Haverbeck, Die andere Schöpfung, Stuttgart 1978  
54)  Alvin Toffler, Die Zukunftschance, München 1980  
55)  ebenda, S. 353 ff  
56)  Frederic Vester, Neuland des Denkens, Stuttgart 1980  

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Am konsequentesten und bis ins Detail ist der Biologe Frederic Vester der Aufgabe nachgegangen, Natur und Technik zu verbinden.56 Vester findet in der Natur selbst Arbeitsprinzipien, die uns aus der Technik geläufig sind, nur meist vollkommener, energiesparender, robuster, widerstandsfähiger. Fast alle unsere Erfindungen, ausgenommen das Rad, die Atomspaltung oder die Laserstrahlen seien «Abbilder unserer biologischen Funktionen und nicht etwa umgekehrt». Was Vester beschreibt, klingt wie eine naturwissenschaftliche Antwort auf die Visionen Blochs von der Technik, die «an den Kern der wirkenden Kräfte» angeschlossen ist.

«Unser Herz ging der Pumpe, unsere Niere dem Filter und das Auge der Fotografie voraus. Ein Motor, der elektrische Energie in Arbeit umsetzt, ist dem Prinzip der Chloroplasten in der Pflanzenzelle nachgebaut, jener chlorophyllhaltigen Körnchen, die Sonnenenergie verbrauchen und sie in <Bausteine> umsetzen. Ein Kraftwerk, das Gegenstück zum Motor, ist dagegen ein vereinfachtes Abbild der Mitochondrien, jener eigenständigen Teilchen in unseren Körperzellen, die in einer ganzen Kette biochemischer Reaktionen den angebotenen Brennstoff, also z.B. Zucker und Fettsäuren, in Energie umwandeln. 

Selbst das Lesen und Schreiben, eine unserer größten kulturellen Errungenschaften, ja sogar die unterschiedlichen Schriftarten: Morsezeichen, Buchstabenalphabet, chinesische Bilderschrift und Hieroglyphen sind, wie wir gesehen haben, in biologischen Dimensionen längst vorgezeichnet. Lange bevor wir den Buchdruck erfanden, speicherten unsere Chromosomen komplizierte Nachrichten in Molekülbuchstaben und übertrugen sie bei jeder Zellteilung, und seit Millionen Jahren werden die so gedruckten Informationen und Betriebsanweisungen vom genetischen Code kopiert und vervielfältigt, gibt es chemische Fabriken in Bakteriengröße mit ausgereifter Katalysatortechnik, hochstabile Netz- und Überdachungs­konstruktionen bei winzigen Diatomeen (Kieselalgen) und Radiolarien (Strahlentierchen), deren geniale Statik erst jetzt erkannt wurde, arbeiten pflanzliche und tierische Organe mit Membranpumpen, Ventilen und Mikrosieben, während Nervenzellen als Sender und Empfänger kodifizierter Signale all dies über ausgefeilte Regeltechniken steuern — alles glänzend aufeinander eingespielt, ohne daß sie andere Funktionen oder gar das Gesamtspiel der Biosphäre stören.»57)

Statt uns der Dynamik von Regelkreisen anzupassen und anzuvertrauen, wie die Natur sie in Milliarden Jahren entwickelt hat, «quälen wir uns mit groben und ineffizienten Technologien herum».58) 

57)  ebenda, S.219f 

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Orientierung an der Natur, weist Vester nach, heißt eben nicht zurück in die Steinzeit, heißt nicht die Technik abschaffen, es heißt sie verfeinern, aber auch, sie weniger anfällig, weniger aufwendig, menschennäher, menschengemäßer machen. Das Nachdenken über technische Alternativen, die Erforschung gemeinsamer Prinzipien für Natur und Technik hat jene diffusen Ängste längst hinter sich gelassen, die moderne Großtechnik nach wie vor erzeugt, eine Großtechnik, die in ihrer komplizierten Schwerfälligkeit zunehmend unwirtschaftlich wird.

Der Gigantismus der sechziger Jahre, der uns Riesentanker und Mammutkrankenhäuser, Atomkraftwerke und die über vierhundert Meter hohen Türme des Welthandelszentrums in New York beschert hat, ist möglicherweise ökonomisch so unsinnig wie ökologisch. Es ist fast symbolisch, wenn die energiefressenden Türme des World Trade Center jetzt zum Verkauf stehen, weil die Energiepreise die Mieten in schwindelnde Höhen treiben.

Die Auseinandersetzung um technische Alternativen ist heute nicht mehr die zwischen Realisten und Träumern, zwischen Wissenden und Narren, sondern zwischen denen, deren Handeln durch ökonomische Interessen oder das administrative Bedürfnis nach Kontinuität geprägt ist, und denen, deren Ziel, nach Erich Fromm, nicht Herrschaft über die Natur ist, sondern «Herrschaft über die Technik und über irrationale gesellschaftliche Kräfte und Institutionen, die das Überleben der westlichen Gesellschaft, wenn nicht gar der Menschheit bedrohen».59

Allerdings: Soll diese Auseinandersetzung zu einem guten Ende kommen, so muß schon in unseren Schulen das Erlernen einfacher, dem Menschen seit Jahrhunderten geläufiger Techniken zum Selbstverständlichen gehören. Wo die Verbindung von Denken und Werken, von Vorstellen und Herstellen geübt wird, läßt sich blasierte Feindseligkeit gegenüber der Technik ebenso vermeiden wie blinder Glaube an jede Technik.

58)  ebenda, S. 221    59)  Erich Fromm, Haben oder Sein, a.a.O., S. 173 

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  Neue alte Ethik  

 

Wenn auf irgendein Gebiet zutrifft, daß es nichts Neues unter der Sonne gebe, dann auf das der Ethik. Wo immer Neues sichtbar wird, war es in dem unermeßlichen Schatz ethischer Reflexion und ethischer Praxis, den die Menschheit in Jahrtausenden angesammelt hat, schon da, aufgehoben, vielleicht vergraben, aber nicht verloren.

So ließe sich vieles, fast alles, was heute an neuen ethischen Impulsen zu wirken beginnt ,auf das Neue Testament zurückführen. Und doch ist jeder neue ethische Ansatz eine umwälzende Kraft, auch und gerade dann, wenn er sich auf vergessene, verformte oder unterdrückte Teile des gemeinsamen Erbes beruft.

Es gibt einen ethischen Ansatz, dem wohl auch deshalb keine Zukunft beschieden sein wird, weil er historisch zu sehr belastet ist: der asketische. Natürlich gäbe es viel zu sagen für jene Übung, jenes Training in Selbstdisziplin — und dies meint das griechische Wort «Askese» —, ohne das menschliche Kultur nicht denkbar wäre. Was gegen den asketischen Ansatz spricht, ist einmal der — auch von Carl Amery beschriebene — Tatbestand, daß die letzte, schärfste Ausprägung von Askese, die bei Jesuiten und Puritanern, «die bisher machtvollste und unheilvollste Kanalisierung der Aggressivität erzielt hat».60

Askese hat — leider — den Beigeschmack des allzu Willentlichen, Gewaltsamen, der negativen Faszination, der Repression von Kräften und Trieben, die sich nicht ohne Schaden aus der Humanität aussperren lassen.

Heute wird mit Askese meist Verzicht gemeint, Verzicht auf überflüssigen Geltungskonsum. So richtig es sein mag, daß wir uns darüber klarwerden müssen, wessen wir bedürfen und wessen nicht, so ist wohl auch hier der negative Ansatz nicht hilfreich. Es geht nicht darum, was wir, wenn wir uns kasteien, entbehren können, es geht darum, eine reichere, erfülltere, menschlichere Lebensform zu finden und dann festzustellen, was da — ganz von selbst, ohne Anstrengung — entbehrlich wird. Es kommt nicht darauf an, Bedürfnisse unbefriedigt zu lassen, es kommt darauf an, unsere wirklichen Bedürfnisse zu befriedigen.

60)  Carl Amery, Das Ende der Vorsehung, a.a.O., S. 237  

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Dann zeigt sich von selbst, was an unserem heutigen Konsum nur der trostlose Versuch einer Kompensation war. Niemandem ist damit gedient, wenn die Menschen künftig mit leicht angekratztem Gewissen sonntags im Auto, abends vor dem Fernseher, an Weihnachten im Charterflugzeug nach Bali sitzen. Es käme darauf an, so ansteckende Formen menschlicher Gemeinschaft zu leben, daß das Auto am Sonntag weniger gebraucht, der Fernseher aus einer Droge zu einem manchmal recht nützlichen Mittel der Information und Unterhaltung, ein Weihnachten zu Hause oder bei Freunden nicht als öde empfunden wird.

Es geht nicht um das reduzierte, es geht um das volle, das bessere Leben. Und auch wenn wir an die wirtschaftlichen Aufgaben von morgen denken, ist Bernd Hansen recht zu geben, der zu Weihnachten 1980 seinen Lesern zu bedenken gab: «Das Problem unserer Tage ist nicht die mangelnde Bereitschaft zum Verzicht. Es ist der Verzicht auf sinnvolle Ideen.»61

Auch Versuche, aus einer neu wahrgenommenen Verantwortung für die Natur heraus ethische Leitsätze zu formulieren, dürften — so verdienstvoll und richtig sie sein mögen — zu kurz greifen. Es gehörte schon einiger Mut dazu, wie Hartmut Bossel den Ökologen ins Stammbuch zu schreiben: «Ohne Ethik geht es nicht.»62 Und es ist auch durchaus möglich, ein «Prinzip der Partnerschaft» zu statuieren und zu formulieren: «Alle heutigen und zukünftigen Systeme, die hinreichend einmalig und unersetzlich sind, haben gleiches Recht auf Erhaltung und Entfaltung.»63

In solchen trockenen Sätzen steckt mehr Zündstoff, als beim ersten Lesen erkennbar wird, zum Beispiel: «das Prinzip einer Minimierung der Gewaltanwendung und der Ausbeutung.»64

Aber es ist doch zweifelhaft, ob eine neue Ethik sich aus dem Zusammenfügen und der Interpretation solcher Prinzipien gewinnen läßt. Günter Altner ist zuzustimmen, wenn er — sicher nicht in Blick auf Bossel — warnt: «Wenn die Umweltethik nicht nur die Sahne auf dem ohnehin schon verdorbenen Kuchen sein soll, kann es mit vorschnellen Verhaltensregeln, die aus der Not der Situation geboren wurden, nicht getan sein.»65

61)  Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt Nr. 51/52, 1980, S.1    62)  Hartmut Bossel, Bürgerinitiativen entwerfen die Zukunft, Frankfurt 1978, S. 66 ff 
63)  ebenda, S. 71      64)  ebenda,S.71

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Dem, was sich wirklich in unserer Gesellschaft bewegt, kommen wir am ehesten auf die Spur, wenn wir fragen, was gegen Ende der siebziger Jahre die Bücher von Erich Fromm in Deutschland für ungewöhnlich lange Zeit an die Spitze der Bestsellerliste brachte. Warum hat Fromms Denken bei uns zu wirken begonnen, als sein Leben zu Ende ging?

Fromms «Haben oder Sein» schließt durchaus eine Ethik in sich, und diese wird schließlich auch in knappen Sätzen formuliert. Aber sie entspringt der Analyse von Individuum und Gesellschaft, die krank wurden am Haben und gesund werden sollen am Sein. Krank machen muß eine Beziehung zur Welt, «in der ich jedermann und alles, mich selbst eingeschlossen, zu meinem Besitz machen will».66 

Gesundung erwartet Fromm von einer Beziehung des Seins, das bedeutet, «seinen Anlagen, seinen Talenten, dem Reichtum menschlicher Gaben Ausdruck zu verleihen..., sich selbst zu erneuern, zu wachsen, sich zu verströmen, zu lieben, das Gefängnis des eigenen isolierten Ichs zu transzendieren, sich zu interessieren, zu geben».67

Fromm stellt, wie alle bedeutenden Ethiker, nicht einfach Gebots- und Verbotstafeln auf. Er will helfen, und deshalb rät er: Versucht es einmal so, vielleicht findet ihr selbst, daß es gut für euch ist. Ich will euer Leben fördern, nicht hemmen. Dabei verliert er nie aus dem Auge, daß es keine neue Ethik ohne neue Gesellschaft geben kann, allerdings auch keine neue Gesellschaft ohne ethische Impulse, die dahin führen. Fromm weiß sehr wohl, daß die Fixierung der Menschen auf das Haben Auswirkung und Grundlage der kapitalistischen Konkurrenz- und Wachstumsgesellschaft ist. Daher kleidet er seine Ethik nicht in die stramme Uniform eines «Du sollst», er spricht von der Aufgabe einer Gesellschaft, neue Verhaltensweisen, neue Charakterstrukturen zu ermöglichen und zu fördern. Fromm beschreibt dabei Elemente einer Ethik des Seins:

65)  Günter Altner, Schöpfung am Abgrund, Neukirchen-Vluyn 1974, S.154  
66)  Erich Fromm, Haben oder Sein, a. a. O., S. 33  
67)  ebenda,S. 90

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«Die Bereitschaft, alle Formen des Habens aufzugeben, um ganz zu sein ...

Die Fähigkeit, wo immer man ist, voll präsent zu sein.

Freude aus dem Geben und Teilen, nicht aus dem Horten und der Ausbeutung anderer zu schöpfen.

Liebe und Achtung gegenüber dem Leben in allen seinen Manifestationen zu empfinden und sich bewußt zu sein, daß weder Dinge noch Macht noch alles Tote heilig sind, sondern das Leben und alles, was dessen Wachstum fördert.»68

 

Was sich hier ankündigt, nicht ohne Rückgriff auf Albert Schweitzer, ist eine Ethik der Lebensförderung, ja der Lebenssteigerung, aber eben nicht durch Besitz, sondern durch Mitmenschlichkeit, durch Mit-Teilen, Mit-Fühlen, Mit-Leiden, Mit-Geben, Mit-Wachsen. Hier geht es nicht mehr um eine individualistisch verstandene Selbstverwirklichung, sondern um das Wachsen des einen am anderen: «Imstande zu sein, den eigenen Narzißmus zu überwinden und die tragische Begrenztheit der menschlichen Existenz zu akzeptieren.»

Es ist kein Widerspruch, es spiegelt nur die innere Spannung jenes Seins, dem Fromm zum Durchbruch verhelfen will, wenn er fortfährt: «Sich bewußt zu sein, daß die volle Entfaltung der eigenen Persönlichkeit und der des Mitmenschen das höchste Ziel des menschlichen Lebens ist.

Wissen, daß zur Erreichung dieses Ziels Disziplin und Anerkennung der Realität nötig sind.»

Zu dieser Selbstentfaltung gehört dann Entfaltung der Phantasie «als Vorwegnahme realer Möglichkeiten», das Bemühen, sein eigenes — bewußtes und unbewußtes — Selbst kennenzulernen.

Fromm ist nicht mehr dazu gekommen, das Buch über «die Kunst des Seins» zu schreiben, das er für nötig hielt, um ganz deutlich zu machen, was ihm vorschwebt. Aber es gibt offenbar mehr Menschen, als er glaubte, die mitempfinden, was Fromm gemeint haben könnte mit der Fähigkeit, «glücklich zu sein in diesem Prozeß stetig wachsender Lebendigkeit...».

Daß eine Ethik des Seins auch die Überwindung der «Krankheit, nicht leiden zu können»,69 einschließt, hätte Erich Fromm seinem Kollegen Horst Eberhard Richter sicher zugestanden, dessen Bücher eine ähnliche Resonanz fanden wie die Fromms.

Die Versuche, Leiden dadurch zu vernichten, «daß man seinen bösen Urheber draußen bekämpft» oder vor jedem Leiden flieht, stehen sicher einer Ethik im Wege, die den Realitäten des Seins gerecht werden will. Man kann Richter auf weite Strecken als Interpretation von Fromm lesen, und sogar der Satz Carl Friedrich von Weizsäckers, den Richter einem Kapitel voranschickt, hätte bei Fromm stehen können:  «Letzter Grund der Möglichkeit menschlichen Zusammenlebens ist die Liebe und nicht die Moral.»70  

68)  ebenda, S.167   69)  Richter, Gotteskomplex, a.a.O., S.129    70)  Richter, a.a.O., S.130  

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Nichts ist schwerer zu beschreiben als das Aufkommen eines neuen sittlichen Bewußtseins. Denn es wird nur insofern neu sein, als dann Altes, Verschüttetes wieder lebendig wird. Vielleicht lassen sich für diese neue und zugleich uralte Ethik einige Grenzpfähle stecken, innerhalb deren sich ein solcher Prozeß vollzieht.

 

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Die neue Ethik wird insofern eine christliche Ethik sein, als sie — direkt oder indirekt — die weitaus wichtigsten Impulse aus der Bibel erhalten hat und die Gestalt Jesu neu entdeckt. Aber gerade deshalb wird sie häufig eine bürgerliche Moral herausfordern, die sich für christlich hält.

 

   Links und rechts   

 

Es mag überflüssig, ja verwirrend erscheinen, die Veränderungen im Wertbewußtsein und in den ethischen Maßstäben mit dem gängigen Rechts-Links-Raster zu vergleichen. Denn das gewandelte Bewußtsein ist ursprünglich und stark genug, sich zuerst einmal jeder Schematisierung zu entziehen. Aber wenn der Niederländer Harry Hoefnagels71 recht hat mit der Feststellung, daß die nötige und «bevorstehende Kehrtwende» nicht ohne «auf Veränderung zielendes konkretes Handeln» zu erzwingen ist, wenn dazu nicht nur das Bemühen gehört, in «praktischer Tätigkeit die Änderung unserer Lebensweise sozusagen vorwegzunehmen», sondern auch der Versuch, schließlich Mehrheiten für die politischen und ökonomischen Maßnahmen zu finden, ohne die solche praktische Tätigkeit sich totläuft, dann läßt sich die Frage nicht ausklammern, wo der politische Ort solchen Wandels sein, wo die politische Unterstützung herkommen kann.

71)  Harry Hoefnagels, Die neue Solidarität, München 1979, S. 190

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Nun gäbe es darauf die simple Antwort: Neues kommt in der Geschichte immer von links, während rechts die sich sammeln, die ihre Macht durch das Neue bedroht fühlen. Diese Antwort, die möglicherweise ebenso einfach wie im Kern richtig ist, stößt deshalb bei manchen auf Skepsis, weil historische Parallelen zu schrecken scheinen.

Die Ökologiebewegung, das Mühen um einen neuen Lebensstil, der Zweifel am alten Fortschrittsmythos, der Rückzug in die überschaubare Gruppe, die Abkehr von den politischen Parteien, dies alles drängt vielen die Parallele auf zu dem, was im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts als Kulturkritik begonnen, sich in der Jugendbewegung vor und nach dem Ersten Weltkrieg Luft verschafft, was die Bewegung der Lebensreformer ausgelöst, in Spenglers Untergang des Abendlandes seinen konsequent pessimistischen Ausdruck gefunden und schließlich über Irrationalismus, Blut-und-Boden-Kult, völkische Religion und Antisemitismus ins «Dritte Reich» geführt habe.

Was da jetzt aufgebrochen ist: Zweifel an der Großtechnik, an einem ungesteuerten Wachstumsprozeß, alles, was auf eine weniger aufwendige, naturnähere Lebensweise zielt, sei, so meinen manche, nichts anderes als eine neue Welle der Flucht ins Irrationale. Daher müsse dieser Bewegung entgegengesetzt werden, was die westliche Zivilisation trage: der unbeirrbare Glaube an die Ratio, auch an jenen Fortschritt, der sich aus der Umsetzung von Wissenschaft in Technik und von Technik in Ökonomie ergebe. In der Tat, es gibt Fluchtbewegungen: Sektenbildungen, Jugendreligionen, Alkoholismus, Drogensucht, nicht zuletzt: Terrorismus.

Sicher: Bei Herbert Gruhl werden gelegentlich Töne hörbar, die uns allzu bekannt vorkommen. Wenn es im Programm der «Grünen Aktion Zukunft» hieß: «Den Müttern als dem wichtigsten Stand (!) des Volkes muß mehr Anerkennung und Gerechtigkeit zuteil werden», so werden auch solche stutzig, die in der pausenlosen Schufterei berufstätiger Mütter ein Stück moderner Ausbeutung sehen.

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Ein anderer Satz: «Nur in einer Gleichgewichtswirtschaft können Preise und Löhne stabil gehalten und damit sozial gerechte Verhältnisse geschaffen werden», kann doch wohl nur heißen, daß die gegenwärtigen Einkommensstrukturen gerecht seien, an ihnen nichts zu ändern sei. Vielleicht hängt Gruhls parteipolitischer Mißerfolg mit solchen Tönen zusammen.

Die jungen Leute, die in Brokdorf oder Wyhl demonstrierten, hatten keinen Bedarf an bürgerlicher Apokalypse, sie suchen gangbare Auswege aus wirklichen oder vermeintlichen Zwängen der Industriegesellschaft, und zwar gemeinsam, demokratisch, in freier Diskussion.

Der Bewußtseinswandel, spürbar seit den frühen siebziger Jahren, ist keine Randerscheinung, beschränkt sich allerdings nicht auf ein paar Prozent der Wähler. Er geht quer durch unsere Gesellschaft. Umfragen lassen den Schluß zu, die meisten Deutschen fänden, es gehe ihnen ganz gut. Aber daß der technisch-ökonomische Prozeß ein besseres Leben bringe, glaubt nur noch eine verschwindende Minderheit. Dieser radikale Bewußtseinswandel ist nicht Ergebnis einer literarischen Mode, sondern tägliche Erfahrung betonierter Landschaft, stumpfsinniger Arbeit, vergifteten Gemüses.

Die Kulturkritik nach der Reichsgründung entzündete sich an der geistig-politischen Atmosphäre im deutschen Kaiserreich. Christian von Krockow72 hat gezeigt, wie sich in Kaiser Wilhelm II. politische Romantik und naiver Glaube an technischen Fortschritt zu einer explosiven Mischung verbanden. Deutscher Nationalstolz habe sich, nicht nur in der Wilhelminischen Zeit, «immer auf technische Höchstleistungen gegründet». Krockow fragt sogar: «Bedeutet der Nationalsozialismus nicht den Triumph der absoluten Technizität — wobei auch Politik nur noch als Technik des Machtkampfes und der Massenbeherrschung erscheint — verbrämt durch rückwärtsgewandte Romantik?»

72)  Christian Graf von Krockow, Vom Stolz der Nationen, in: Vorwärts Nr. 51/52,1978, S. 11

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Jedenfalls: Heinrich Manns «Untertan» war politisch stockreaktionär, aber glaubte an den technischen und ökonomischen Fortschritt. Daß die frühen Kulturkritiker gegen diesen Widerspruch polemisierten, war kein Unglück. Ein Unglück waren die Visionen, in die sie vor diesem Widerspruch flohen: in den Kult der deutschen Seele, in völkische Religion und nationalistische Heldenverklärung (Lagarde), in das elitär-ästhetische Ideal des Rembrandtdeutschen (Langbehn), in ein einig-mächtiges «Drittes Reich» (Moeller van den Bruck, 1922). 

Die heutigen Kritiker der modernen Großtechnik träumen nicht von der Wiederherstellung der heilen Agrargesellschaft, sie plagt die Entfremdung der Arbeit, die Gefährdung der Freiheit, die Zerstörung menschlicher Kommunikation. Wenn E. F. Schumacher über sanftere Formen der Technik nachdenkt, dann zitiert er Arbeiter: «Der moderne Arbeiter gibt der Arbeit nichts und erwartet nichts von ihr — außer dem Wochenlohn. Wenn man nicht beider Arbeit träumte, würde man verrückt.»73 Und wenn Ivan Illich den Maßstab der «Konvivialität» an die Technik seiner Gesellschaft anlegt, so fragt er damit ganz schlicht, was menschlichem Zusammenleben dienlich sei.74

Den Kulturkritikern des Kaiserreichs paßte die moderne Technik nicht in ihre Vision heldischer Volksgemeinschaft. Sie wollten konsequent, nicht wie der Kaiser, nur mit einem Auge nach rückwärts blicken. Was heute als Kritik an der Technik laut wird, möchte konsequent nach vorn blicken. Es meint humane Arbeit, Freiräume für menschliche Kommunikation, Auswege aus Sachzwängen, Emanzipation.

Aber nicht nur auf der Linken, auch auf der Rechten haben sich die Fronten verschoben. Während man links dem Menschen zutraut, sich eine Gesellschaft aufzubauen, in der menschliche Entfremdung allmählich abgebaut werden kann, aber befürchtet, daß die Entwicklung der Technik jeden Ansatz dazu überrollen könnte, verbindet man rechts immer deutlicher den herkömmlichen Pessimismus im Blick auf den Menschen und seine Gesellschaft mit unbeschwertem Optimismus im Blick auf die moderne Großtechnik.

73)  Vgl. zum Thema Arbeit bei E. F. Schumacher sein Buch Das Ende unserer Epoche, Reinbek 1980 
74)  Siehe u. a. Ivan Illich, Selbstbegrenzung, (Taschenbuchausgabe roak4629), Reinbek 1980, S. 30ff

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Daß die menschliche Güte Grenzen habe und daher der Idealstaat nie zu verwirklichen sei, daß also Recht und Ordnung notfalls mit Gewalt aufrechtzuerhalten seien, daß es die Grenzen des Menschen nicht zuließen, das Paradies auf Erden zu schaffen, daß Gerechtigkeit nur partiell, Freiheit nur in der Begrenzung und Bindung möglich sei, all dies hören wir von rechts heute wie vor hundert Jahren.

Nur: Wenn es um den technischen Fortschritt geht, klingt dies ganz anders. Der Gedanke, daß es Grenzen materiellen wirtschaftlichen Wachstums geben könnte, ist immer noch ein Trick von Systemveränderern. Atomkraftgegner sind — oder waren doch bis Harrisburg — in den Augen der politisch Konservativen entweder Spinner oder — erstaunlicher noch — Reaktionäre.

Daß die Erfindung des Kabelfernsehens, zumal gekoppelt mit privaten Wirtschaftsinteressen, auch Schlimmes anrichten könnte, ist rechts kaum verständlich zu machen. Daß die autogerechte Stadt nicht mehr die menschengemäße Stadt sein kann, haben zuerst linke Gruppen gegen konservative Technokraten verfochten. Daß es für ein Auto Geschwindigkeiten gibt, die nicht nur übermäßig viel Benzin verschlingen, sondern auch die menschliche Reaktionsfähigkeit überfordern, wird von rechts mit der Parole «Freie Fahrt für freie Bürger» quittiert. Daß unsere Medizin in ihrer technischen Perfektion am wirklichen, ganzen Menschen vorbeirepariert, wird gerade von den konservativen Ärzteverbänden zuletzt wahrgenommen. Und der biologische Landbau wird nicht vom Bauernverband, sondern von jungen Menschen vorangetrieben, die sich als links verstehen. Der Rechten geht es zuerst darum, Machtstrukturen zu erhalten, auch um den Preis, daß Werte verkümmern, deren Erhaltung man früher propagiert hatte.

Man beachte in diesem Zusammenhang die Auseinandersetzungen der bayerischen katholischen Landjugend mit dem politischen Strukturkonservatismus in Bayern. Weil diese katholischen Jungbauern bestimmte Formen der Technik, auch und gerade der Agrartechnik und Agrarchemie, in Frage stellen, weil sie Lebensqualität nicht in einem Prozeß suchen, der wahllos wissenschaftlich-technische Innovation in wirtschaftliches Wachstum umsetzt, werden sie in die linke Ecke abgedrängt.

 

Ähnlichkeiten zwischen dem Kulturpessimismus der Jahrhundertwende und der Ökologiebewegung von heute bewegen sich meist an der Oberfläche. Sicher, Natur war auch damals ein Thema, bis hin zu jenem Blut-und-Boden-Bund der Artamanen, dessen Bundeslied in den Versen gipfelt: 

«Heimgekehrt zur Ackerkrume, 
singen wir der blauen Blume.»

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Heute sind es nicht romantisierende Literaten, die unser Verhältnis zur Natur fragwürdig finden, sondern Biologen. Für sie ist Natur nicht Gegenstand religiöser Inbrunst, sondern schlicht Lebensgrundlage. Frederic Vester meint trocken, die Natur sei «ein großes Unternehmen, das seit nunmehr fast vier Milliarden Jahren nicht pleite gemacht hat».75 Es lohne sich, von den Geschäftsmethoden dieses Unternehmens zu lernen. Partnerschaft mit der Natur (Altner) meint nicht Naturanbetung, sondern pfleglichen Umgang mit der Natur und Einpassung menschlicher Aktivität in natürliche Kreisläufe.

Diese Biologen stehen Marx näher als der Nachromantik. Marx, dessen Fortschrittsglauben sich von dem seiner liberalen Zeitgenossen nur durch geringere Naivität unterschied, sah durchaus, daß Ausbeutung der Natur und Ausbeutung des Menschen miteinander zu tun haben:

«Jeder Fortschritt der kapitalistischen Agrikultur ist nicht nur ein Fortschritt in der Kunst, den Arbeiter, sondern zugleich in der Kunst, den Boden zu berauben, jeder Fortschritt in der Steigerung seiner Fruchtbarkeit für eine gegebene Zeitfrist zugleich ein Fortschritt im Ruin der dauernden Quellen dieser Fruchtbarkeit. Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen allen Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.»76

Und das wird, meint Marx, auch in Zukunft nicht anders sein.

«Antizipation der Zukunft — wirkliche Antizipation — findet überhaupt in der Produktion des Reichtums nur statt in bezug auf den Arbeiter und die Erde. Bei beiden kann durch vorzeitige Überanstrengung und Erschöpfung, durch Störung des Gleichgewichts zwischen Ausgabe und Einnahme, die Zukunft realiter antizipiert und verwüstet werden. Bei beiden geschieht das in der kapitalistischen Produktion.»77

75)  Frederic Vester beim Bergedorfer Gesprächskreis, Protokoll Nr. 56,1977, S.15  76) Marx Engels Werke, Bd. 23, S. 529/530  77) MEW, Bd. 26.3, S. 303

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Berühmt geworden ist inzwischen eine Einsicht von Friedrich Engels:

«Schmeicheln wir uns indes nicht zu sehr mit unsern menschlichen Siegen über die Natur. Für jeden solchen Sieg rächt sie sich an uns. Jeder hat in erster Linie zwar die Folgen, auf die wir gerechnet haben, aber in zweiter und dritter Linie hat er ganz andere, unvorhergesehene Wirkungen, die nur zu oft jene ersten Folgen wieder aufheben.»78

Engels stößt sogar — für seine Zeit fast ein Wunder — zu Einsichten vor, die heute von Biologie und Kybernetik präzisiert werden:

«Die Verbreiter der Kartoffel in Europa wußten nicht, daß sie mit den mehligen Knollen zugleich die Skrofelkrankheit verbreiteten. Und so werden wir bei jedem Schritt daran erinnert, daß wir keineswegs die Natur beherrschen, wie ein Eroberer ein fremdes Volk beherrscht, wie jemand, der außer der Natur steht — sondern, daß wir mit Fleisch und Blut und Hirn ihr angehören und mitten in ihr stehen, und daß unsre ganze Herrschaft über sie darin besteht, im Vorzug zu allen anderen Geschöpfen ihre Gesetze erkennen und richtig anwenden zu können.»79

Mit den Gesetzen der Natur meint Engels hier offenkundig nicht jene isolierten Kausalrelationen, denen die Naturwissenschaft nachgeht, er meint damit eher die «Sinn- und Bedeutungszusammenhänge», denen Jakob von Uexküll nachspürte,80 die das biologische Denken zunehmend beschäftigen und auch der modernen Umweltlehre zugrunde liegen. Die Linke hat also keinen Anlaß, den vernünftigen Umgang mit der Natur zum reaktionären Spleen abzuwerten.

Sicher, konservative Kulturkritik zweifelte an der Wissenschaft. Sie schmähte die zersetzende Ratio und pries die ursprüngliche Intuition. Heute steht nicht Irrationalismus gegen Ratio, sondern Wissenschaft gegen Wissenschaft, Gutachten gegen Gutachten. Heute liegen verschiedene Vorstellungen von Wissenschaft im Streit miteinander. Nicht die Wissenschaft ist Gegenstand der Kritik, sondern ein wissenschaftlichtechnischer Prozeß, dessen Auswirkungen auf humanes Dasein nicht ausreichend — wissenschaftlich! — reflektiert sind.

78)  MEW, Bd. 20, S. 453     79)  MEW, Bd. 20, S. 453    80)  Jakob von Uexküll, Kompositionslehre der Natur, herausgegeben von Thure von Uexküll, Frankfurt 1980

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Kritik am Kapitalismus gehörte auch zum Repertoire der Kulturkritiker. Es war nicht die Ausbeutung der Arbeiter, die störte. Es war der Sieg des Händlers über den Helden, die Herrschaft des Geldes als Symbol für die Austauschbarkeit aller Dinge (Georg Simmel).

Kapitalismuskritik von heute fragt, wer die Weichen des technisch-ökonomischen Prozesses zu stellen habe, multinationale Konzerne im Zeichen optimaler Kapitalverwertung oder demokratisch legitimierte Instanzen, die auch noch der nächsten Generation humanes Überleben sichern wollen.

Sicher, von Lagarde bis Spengler ist die Großstadt Inbegriff von Entwurzelung und Zersetzung. Wo junge Leute heute die Großstadt verdammen, dürften sie eher an Maos Kampfansage des Dorfes an die Metropolen denken. Und die Metropolen waren für Mao Hauptquartier jener Multis, die auch der Dritten Welt ihre Formen der Großtechnik, des Ausbeutens von Natur und Mensch aufzwingen. Und wer heute dem Lärm und Gestank unserer Großstadtkerne entflieht, votiert nicht für den Untergang des Abendlandes, sondern für wohnlichere Städte.

Die Kulturkritiker von damals waren pessimistisch, weil sie alles, was ihren vorindustriellen Idealen zuwiderlief, nur als Verfall und Niedergang verstanden.

Computer sind von Hause aus weder optimistisch noch pessimistisch. Die Computer des Klubs von Rom haben — im einzelnen anfechtbar — errechnet, daß die Fortsetzung bestehender Trends in Katastrophen führt; die Computer des Bariloche-Modells haben errechnet, daß, wenn wir alles anders machten, Katastrophen (fast) vermeidbar wären. Daraus ergibt sich doch die Frage: Wenn nicht wie bisher, wie geht es weiter?

Spengler wußte, was kommt: «In diesem Buch wird zum erstenmal der Versuch gewagt, Geschichte vorauszubestimmen.»81

81)  Oswald Spengler, Vorwort zu Der Untergang des Abendlandes, Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, München 1973 (Nachdruck)

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Und diese Geschichte der Zukunft war die vom — determinierten — Untergang des Abendlandes. Für neues Bewußtsein heute ist Geschichte offen: Es kommt auf uns an, ob wir lenkendes Subjekt oder manipuliertes Objekt des technisch-ökonomischen Prozesses werden.

 

Häufig gibt es zwischen Kulturpessimismus und ökologischem Denkansatz nicht einmal äußerliche Ähnlichkeiten. Damals wurde Kultur gegen Zivilisation ausgespielt. Nach Moeller van den Brück ist «Zivilisation die Magenfrage der Menschheit und damit vergänglich», Kultur aber ist die «Seelenfrage der Menschheit und damit unsterblich». Für das Denken, das heute aufkommt, gibt es keine Kluft zwischen einer geistigen Kultur und einer materiellen Zivilisation. Für dieses Denken kommt Kultur vom lateinischen «colere» (pflegen). Alles, was Menschen durch ihre Arbeit pflegen, um ihre physischen und psychischen Bedürfnisse zu befriedigen, ist Kultur, von der Form der Landwirtschaft über die Qualität industrieller Arbeitsplätze bis zur musischen Bildung.

Die Kulturkritiker dachten von Langbehn bis Ortega y Gasset elitär: Sie unterschieden zwischen Eliten und Massen. Die zivilisationshungrigen Massen gefährdeten die «Kultur» der Elite. Von daher waren die Kulturkritiker nicht nur antiliberal, sondern auch antidemokratisch. Bei den Platzbesetzern von Wyhl war kein Raum für Elitedünkel. Da galt die Winzerfrau soviel wie der Pfarrer, und alle verstanden sich als Teil einer Graswurzel-Demokratie. Da wurde diskutiert, stundenlang, notfalls durch Abstimmung entschieden.

Kulturkritik mündete fast immer in Nationalismus. Wer ist vom Nationalismus heute weiter entfernt als die Bürgerinitiativen an den badischen, elsässischen und eidgenössischen Rheinufern? Die Kulturkritiker fanden auf der Suche nach Sündenböcken den Hauptbösewicht: den Juden. Wo in Deutschland ist man heute gegen Rassenvorurteile empfindlicher als in den Gruppen, die einen neuen Lebensstil suchen?

Pessimistische Kulturkritik war immer sozialdarwinistisch, feierte heldische Bewährung im Krieg, das Recht des stärkeren Volkes. Ökologisches Denken ist pazifistisch geprägt und sieht schon in der Rüstung eine unerträgliche Ressourcenverschwendung. Bei den Kulturkritikern gerann alles, sogar der Vegetarismus, schließlich zu neuer Religion, in «Weltanschauung»; Christentum wurde völkisch verbogen oder für obsolet erklärt. Neues Bewußtsein heute hat seine stärksten Stützen in christlichen Gemeinden, die ihrer Verantwortung für die Schöpfung und für den Nächsten gerecht werden wollen.

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Nichts war konservativer Kulturkritik so verhaßt wie die Aufklärung. Sie wollte den «Aufkläricht» beiseiteräumen. Was heute vor sich geht, ist nicht Gegenaufklärung, sondern Aufklärung über die Folgen der Aufklärung. Heute wird mit dem rationalen Rüstzeug der Aufklärung über die Auswirkungen aufgeklärter Forschung nachgedacht: Aufklärung auch über die Aufklärung ist nichts als die Konsequenz der Aufklärung.

Die Trias der Französischen Revolution, Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, war der Verachtung der Kulturkritiker sicher. Die Gruppen, die alternativen Lebensstil probieren, suchen mehr Freiheit (Ich möchte selbst etwas entscheiden!), mehr Gerechtigkeit (Kein Fleisch, damit andere wenigstens Brot haben!), mehr Solidarität (Jute statt Plastik!). Man mag solche Versuche als naiv und wirkungslos belächeln, ihre Motive liegen da, wo seit zweihundert Jahren progressives Denken angesetzt hat.

Kein Wunder, daß es heute die urdemokratischen Niederlande sind, in denen die ökologische Bewegung, die Friedensbewegung, die Alternativgruppen mächtiger sind als anderswo. Kein Wunder auch, daß Verbindungslinien von der Studentenbewegung der sechziger Jahre zur Ökologiebewegung der siebziger Jahre sichtbar werden, exemplarisch und überzeugend bei Johano Strasser,82) aber auch bei Rudi Dutschke.

Es stimmt, neues Denken ist auch bewahrendes Denken, nicht nur, wo es um unsere natürlichen Lebensgrundlagen geht. Insofern ist es wertkonservativ. Aber sogar ein Konservativer wie Gruhl hat gelernt, daß Werte nicht zu bewahren sind, ohne Machtstrukturen zu verändern. Mit wie vielen Machtapparaten muß man sich anlegen, wenn man auch nur den simplen Wert der Gesundheit bewahren will? Auch die Arbeiterbewegung hatte immer wertkonservative Züge. Sie hat keine neuen Wertetafeln gesetzt. Sie hat den Liberalen vorgeworfen, daß sie für Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität nur da eintraten, wo es bourgeoisen Besitzinteressen nicht zuwiderlief.

Klaus Traube, der dem Ursprung moderner Kritik an der Technik nachging, kommt zu dem Schluß, «daß trotz des, historisch gesehen, konservativen Ursprungs des Unbehagens an der Großtechnik, die bewußte Technikkritik links angesiedelt ist, von links-liberal bis aufgeklärt-marxistisch».83

Wer wie manche, die sich als Linke fühlen einem strukturverändernden Wertkonservatismus nicht traut, bekommt reaktionären Struktur­konservatismus, dem es einzig und allein um die Erhaltung seiner Macht und seiner Privilegien geht. Denn, so will es die Ironie der Geschichte, als ideologischer Überbau dieses Struktur­konservatismus dient eben jener Glaube an den technischen und ökonomischen Fortschritt, der irgendwann einmal links stand. 

«Es wird schon alles gut werden», so hören wir von rechts, «lassen wir nur die Kräfte des Marktes walten»: blauäugiger Optimismus als Instrument zur Bewahrung wirtschaftlich-politischer Macht. Denn auf welche Gedanken könnten Menschen kommen, die dem Prozeß nicht mehr trauen, über den heute mehr in den Chefetagen der Konzerne als in Kabinettssälen entschieden wird! Diese Art Fortschritt nennt Serge Moscovici «den Strohmann alles dessen, was nach Herrschaft über diese Welt trachtet».84

Wertkonservatives ökologisches Denken hat seinen Widerpart in der — ursprünglich wilhelminischen — Verbindung von politischem Struktur­konservatismus mit interessenbedingtem Glauben an technischen Fortschritt, die heute enger ist als je zuvor.

Wer politisch entscheiden will, was wachsen soll und was nicht, wo wir dürfen, was wir können, kommt nicht vorbei an der Frage nach der Priorität der Politik vor der Ökonomie. Und darüber haben demokratische Sozialisten schon nachgedacht, als es noch keine Ökologen gab. Und sie haben sich sogar überlegt, woher die Macht kommen sollte, die solche Prioritäten durchsetzen kann.

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82)  Siehe Johano Strasser, Die Zukunft der Demokratie, Reinbek 1977 (roak 4118)   83)  Klaus Traube, Müssen wir umschalten?, 1978
84)  Serge Moscovici, Die Wiederverzauberung der Welt, in: Jenseits der Krise, a.a.O., S.115

 

 

 

 

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 Von Dr. Erhard Eppler