Nachwort 1981 von Erhard Eppler
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Bei einem Autor, der drei Jahrzehnte politischer Arbeit hinter sich hat, davon zwei Jahrzehnte in Parlamenten und Regierungen, könnte der eine oder andere Leser am Schluß fragen, wie ein solches Buch in eine — doch überwiegend politische — Biographie einzuordnen sei.
Daher zwei sehr persönliche Schlußbemerkungen:
Wie es bei einem Menschen, der sich dem politischen Streit ausgesetzt, dem politischen Geschäft verschrieben hat, natürlich ist, hat mich die Frage nach der Macht nicht zur Ruhe kommen lassen. Dabei war politische Macht für mich zu keinem Zeitpunkt dasselbe wie Ämter, Funktionen, Mandate, Weisungsbefugnis über Beamte, erst recht nicht der Ständer am Dienst-Mercedes.
Politische Macht war für mich die Möglichkeit, Gesellschaft in einer Weise zu prägen und zu formen, die ich — bei allem Risiko des Irrtums — als richtig und nötig erkannt hatte.
Aber wo war diese Macht?
Nach drei Jahrzehnten der Suche fühle ich mich erinnert an ein Kindheitserlebnis. Mich faszinierte beim Blick auf die Berge, die das Hohenloher Land begrenzen, die Stelle, genauer gesagt die Linie, die man gemeinhin Horizont nennt, die für mich aber der Ort war, an dem Himmel und Erde zusammenstießen. Ich wollte unbedingt sehen und erfahren, wo Himmel und Erde sich trafen. Aber als ich mit meinem geduldigen Vater die Stelle erreicht hatte, wo — man hatte es doch aus der Ferne genau gesehen — die Nahtstelle sein mußte, da sah alles aus wie überall: Tannen, Wiesen, ein paar Häuser. Himmel und Erde stießen zwar weiterhin zusammen, aber woanders, wieder in der Ferne. Es dauerte einige Zeit, bis mir klar war, daß die Vergeblichkeit meines Suchens nicht dem Vater anzulasten war.
Daß im Bundestag, zumindest für einen fünfunddreißigjährigen Neuling, Macht nicht zu greifen war, hat mir Herbert Wehner - zu Recht - rasch und mit nachhaltigem Erfolg klargemacht.
Länger dauerte es, bis ich einsah, daß auch in einer Regierung, zumal für den Chef eines kleineren, jüngeren Ressorts, wenig Macht lag.
Lag sie bei den Parteien? Im Parteivorstand, das habe ich seit 1970 erfahren, nicht und im Parteipräsidium, das weiß ich seit 1973, nicht viel mehr.
Kurz: Himmel und Erde stoßen überall und nirgends zusammen. Politische Macht ist überall, wo Beamte entscheiden, Zeitungen werten, Verbände fordern, Parlamentarier votieren, Parteitage abstimmen, Gerichte sprechen, aber vor allem da, wo Bürger sich sammeln und ihre Rechte wahrnehmen. Mag ökonomische Macht leichter zu lokalisieren und ungestörter zu handhaben sein, politische Macht entsteht und verschiebt sich vor allem an der Basis, da wo Bewußtsein sich bildet und wandelt.
Wo von der Basis her, durch verändertes Bewußtsein, etwas Neues mehrheitsfähig wird, finden sich früher oder später auch politische Kräfte, die sich diese Mehrheit zunutze machen. Wenn man sich in der Politik auf eines verlassen kann, dann auf den Opportunismus. Das gehört zu den Grundregeln aller Politik. Aber dies bedeutet auch: Solange etwas nicht mehrheitsfähig ist, wird es auch unter Politikern immer nur eine bescheidene Minderheit geben, die dafür eintritt. Das war so, als es um die Betonierung der Landschaft oder um Energiesparen ging, das wird immer so sein, bis Trampelpfade ausgetreten sind und man sich dort nicht mehr zerrissene Hosen oder blutige Finger holt.
Weitaus die meisten Politiker halten es nicht für ihre Sache, an Bewußtseinsänderungen mitzuwirken; sie werden aber immer da sein, wo die Mehrheit ist. Es hat keinen Sinn, darüber zu jammern. Das ist wohl so, seit es Politik gibt. Aber dies hat für mich eine Konsequenz: Mich interessiert immer weniger, was die ausgepichten Taktiker kungeln, denn sie bewegen nichts außer sich selbst und ein paar andere auf die erwünschten Posten. Mich fasziniert, was im Bewußtsein der Menschen vor sich geht, den Jungen, den Frauen, den Arbeitern, den Handwerkern, den Studenten. Macht, das bedeutet heute für mich die Fähigkeit, etwas mehrheitsfähig zu machen, was vorher nicht mehrheitsfähig war.
Die zweite Schlußbemerkung:
Mich treibt seit langem um, wie - um mit Heinrich Albertz zu reden - «die Schere zwischen Gesagtem und Getanem, zwischen Behauptetem und der elenden Wirklichkeit»(1) zu schließen sei. Wir reden in der Politik unablässig davon, daß unsere Gesellschaft menschlicher werden müsse. Und die meisten, auch das habe ich erfahren, meinen dies ernst. Sie suchen, wie das gut und richtig ist, nach neuen Gesetzen, zusätzlichem Geld, um Unmenschlichkeiten abzubauen.
(1) Heinrich Albertz in der Sendung des Süddeutschen Rundfunks: "Von der Tyrannei der Werte" vom 4.3.1980 wikipedia Heinrich_Albertz 1915-1993
Aber leben tun sie, müssen sie ganz anders. Sie hetzen von Termin zu Termin, kommen kaum dazu, Neues in Ruhe in sich aufzunehmen, einen Abend unbeschwert mit Freunden zu verbringen, sich um ihre Familie zu kümmern. Da muß ein Betrieb besichtigt, mit der örtlichen Verkehrspolizei oder den Rettungsdiensten geredet, ein Musikfest besucht werden, da muß geredet werden, vor Berufsschülern und Textilgewerkschaftern, vor Steuerbeamten und Jungbauern, vor Theologen und Unternehmern, vor Parteifreunden und Gegnern. Und alle, die da Anspruch auf die Zeit des Politikers anmelden, sind im Recht: Wozu werden die Abgeordneten, die Minister bezahlt?
Aber was dabei herauskommt, ist das Gegenteil von Menschlichkeit, ein unmenschlicher Lebensstil. Gejagt von der Konkurrenz — was tut der Abgeordnete von der anderen Partei, was tut mein Rivale in der Partei? —, getrimmt auf Wirkung — bin ich angekommen? —, eingeübt in taktische Rücksichten — wem darf ich was sagen? —, entfernt der Politiker sich meist sehr rasch von dem, was er fordert und was ihm wohl selbst vorschwebt. Je inhumaner er leben muß, je kümmerlicher seine menschlichen Beziehungen werden, je kärglicher seine emotionale, musische, geistige, religiöse Nahrung wird, desto lauter und unentwegter fordert er mehr Humanität.
Es stimmt ja nicht, daß sich in der Politik von Hause aus ein besonders windiger Menschenschlag tummle. Aber es stimmt, daß Menschen in der Politik noch rascher und gründlicher deformiert werden als anderswo, und zwar um so heilloser, je weniger sie dessen gewahr werden.
Wer sich — meist ganz plötzlich — seiner Deformation bewußt wird, gerät in neue Konflikte: Soll er den Konkurrenzkampf aufgeben, aussteigen? Und wenn nicht, was kann er an Terminen absagen, ohne allzuviel Groll zu erregen? Es gibt sehr wenige, und die sind meist schon älter, die da einen Weg aus ihrer sehr persönlichen Gefahr finden.
Ich habe für all dies keine fertige Lösung. Ich weiß nur, daß die oft schon keimfreie Sterilität des politischen Betriebs nicht zuletzt hier ihren Grund hat. Es gibt nicht nur eine Polarität von Haben und Sein, sondern auch von leerem Aktivismus und erfülltem Tun. Und ich bin ziemlich sicher, daß Rettendes nicht da wächst, wo sich kluge und fleißige Politiker der erbarmungslosen Diktatur des Terminkalenders beugen.
Politik kann wohl nur dann wieder mehr werden als eine Exekution von Zwängen, wenn sie die Zwänge abbaut, die im politischen Getriebe selbst die menschliche Entfaltung derer hemmen, die eine menschlichere Gesellschaft anstreben.
Es ist nicht Resignation, wenn einer, der über Jahrzehnte sich antreiben und hetzen ließ, versucht, sich einigen Zwängen politischen Leerlaufs zu entziehen. Vielleicht könnte dies manchen zum Nachdenken darüber veranlassen, ob politisches Leben wirklich und unwiderruflich so sein muß, wie es heute ist.
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Ende
Von Dr. Erhard Eppler - Wege aus der Gefahr