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II  Das Utopia der Unverwundbaren

«Die schäbige Utopie von der vollkommenen Sicherheit ist auch die Folge technokratischer Blickverengung, die, wie alle Verengungen, mit Angst zu tun hat.
Sie ist das Ergebnis eines kaum vorstellbaren Verlustes an Wirklichkeit, eines Leugnens menschlicher und geschichtlicher Realität.
Sie ist ein sicherer Weg zum Tode und dabei noch nicht einmal ein heroischer, sondern ein durchaus spießbürgerlicher.»


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Staaten und damit die politisch Verantwortlichen in diesen Staaten haben für äußere Sicherheit zu sorgen. Aber es ist gar nicht so selbstverständlich, daß Rüstung mit der Sicherheit des Bürgers begründet wird. Nicht einmal Kriege wurden immer damit gerechtfertigt.

Noch im 18. Jahrhundert waren Kriege Sache der Fürsten und ihrer Söldnerheere. Oft ging es einfach um das Recht auf Erbfolge, um Erweiterung oder Einschränkung dynastischer Macht. Die Untertanen (der citoyen, der verantwortliche Staatsbürger, wurde erst in der französischen Revolution geboren) wurden erst gar nicht gefragt, und, soweit dies anging, in Ruhe gelassen. Militärdienst war nicht Sache anständiger Bürgersöhne, dazu kaufte der Fürst auf, was in Europa keine ordentliche Arbeit fand oder auf Abenteuer aus war. Der Bürger zahlte Steuern und Kontributionen, der Adel stellte die Offiziere. Da war wirklich Krieg, und keiner ging hin, außer denen, die dafür bezahlt - und keineswegs besonders hoch angesehen - wurden.

Noch als Napoleon nach der Schlacht von Jena in Berlin einzog, fühlten sich die Preußen keineswegs unsicher. Der Triumph des Korsen war für Tausende schaulustiger preußischer Untertanen eher ein Anlaß zu neugierigem Gaffen als zur Furcht um Leben und Eigentum. Erst im 19. und 20. Jahrhundert wurde Krieg die Kraftprobe ganzer Nationen. Erst jetzt stießen Heere mit allgemeiner Wehrpflicht aufeinander, erst jetzt verwischte sich zunehmend der Unterschied zwischen Kriegern und Zivilisten, zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten. Jetzt ging es auch um die Sicherheit der Bürger. Schließlich sorgte moderne Waffentechnik und ideologische Verbiesterung dafür, daß die Opfer immer mehr bei denen zu finden waren, die eigentlich geschützt und gesichert werden sollten: den Kindern, Frauen, Greisen. Und heute, gegen Ende des 20. Jahrhunderts, rechnen Strategen ungerührt in Mega-Toten, wenn sie ihre Sicherheitskonzepte ausklügeln. Wer ist jetzt das Subjekt der Sicherheit, wer soll sicher sein?

In den Strategieplanungen der Weltmächte geht es mehr um die Sicherheit von Gesellschaftssystemen, Machtstrukturen, Kommandozentralen als um das Überleben derer, für deren Sicherheit sie eigentlich zuständig wären.

Gewandelt hat sich nicht nur das Subjekt der Sicherheit, sondern auch die Methoden, die Sicherheit gewährleisten sollen. Noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts fühlte sich das Land sicher, das sich in der Lage wähnte, jeden Angreifer notfalls rasch aus dem eigenen Lande zu werfen. Der Begriff der Verteidigung, damals schon mißbraucht für aggressive Ziele, hatte insofern noch einen Sinn, als die Sicherung der Grenzen, etwa durch eine Maginot-Linie oder einen Westwall, immerhin denkbar erschien und als politisches Ziel ernst gemeint sein konnte. Das «Lieb Vaterland, magst ruhig sein, fest steht und treu die Wacht am Rhein» war wohl nie ganz ohne aggressive Untertöne, aber es gab noch einen Sinn. Im Krieg 1870/71 war das Bangen um die ausgerückten Soldaten das einzige, was den Deutschen zu Hause den Schlaf raubte. Schon im 2. Weltkrieg gab es diese Sicherheit nicht mehr. Ganz abgesehen von der Frage, was ein Sieg den Deutschen an Unterdrückung gebracht hätte, als ich, damals knapp 18jährig, 1944 hinter einer Panzerabwehrkanone an der Westfront stand, flogen Tag und Nacht Tausende von Bombern über uns hinweg und zerstörten, was wir schützen sollten. Was sich damals anbahnte, ist heute perfekt: Von Verteidigung im klassischen Sinne kann zumindest in Europa nicht mehr die Rede sein.

Wer unbedingt will, kann auch die Maginot-Linie als Versuch der Abschreckung deuten. Nur: Er verwischt damit den fundamentalen Unterschied zwischen Verteidigung und Abschreckung. Im Zeitalter der Atomraketen wird nicht mit der glaubhaften Versicherung abgeschreckt: «Wer unsere Grenzen überschreitet, beißt auf Granit und fliegt überdies rasch wieder hinaus.» Atomare Abschreckung bedeutet: «Wenn du mich umbringst oder auch umzubringen versuchst, bringe ich

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dich um.» Oder genauer: «Wie du mich mit dem Tode bedrohst, bedrohe ich dich mit dem Tode, und zwar mindestens ebenso wirksam, wenn nicht wirksamer.» Abschreckung ist ein System von Drohung auf Gegendrohung, wobei jeder seine Sicherheit darin sucht, daß er die Bedrohung des andern steigert. Jeder fühlt sich um so sicherer, je totaler er den andern bedrohen kann. Zwar wurde das Konzept der «massive retalia-tion», der massiven Rache oder Vergeltung, schon in den sechziger Jahren zu den Akten gelegt. Geblieben ist das Prinzip der Vergeltung, der letztlich tödlichen Rache als Grundlage der Abschreckung, auch da, wo diese Rache rational gar keinen Sinn mehr hat. Denn nur, wenn die Verantwortlichen dem Prinzip der Rache auch dann folgen, wenn es keinen Sinn mehr ergibt (z.B. wenn die eigenen Städte schon ausgelöscht sind), funktioniert die Abschreckung. In der unterkühlten Sprache der UNO-Studie über Kernwaffen lautet dies so:

«Im Nuklearzeitalter ist der Eckpfeiler der Verteidigung... eine offensive Kapazität, während die reine Verteidigungsfähigkeit - in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes - sehr begrenzt ist. So kann Abschreckung als eine offensive Fähigkeit verstanden werden, die darauf beruht, dem Gegner nicht hinnehmbaren Schaden zufügen zu können.»1

Kein Wunder, daß die Abkürzung der Strategie von der gegenseitig gesicherten Zerstörung (mutual assured destruc-tion) im Englischen das Wort MAD (verrückt) ergab. So pervers es erscheinen mag, Sicherheit in der glaubwürdigen gegenseitigen Todesdrohung zu suchen, so schlüssig war dieses Konzept im Vergleich zu dem, was heute kalkuliert und geplant wird.

Es war kein Zufall, daß die beiden Supermächte zu keiner Zeit gelassener miteinander sprechen konnten als zur Zeit des SALT-I-Vertrages (1972), in dem sie ihre gegenseitige Verwundbarkeit festschrieben. Auch wenn einiges dafür spricht, daß Anti-Raketen-Raketen rein technisch damals kaum in der Lage gewesen wären, einen Raketenangriff abzufangen,

  • 1 UNO-Studie, S. 128

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so hat doch der gegenseitige Verzicht auf solche Systeme (von geringen, später eingeschränkten Ausnahmen abgesehen) den Krieg unwahrscheinlicher gemacht. Jede der beiden Mächte gab die eigene Bevölkerung der andern zur Geisel und bewies damit, daß sie nicht daran denken konnte, die Bürger des andern umzubringen. Indem jede Seite sich bewußt verwundbar hielt, schreckte sie auch sich selbst ab.

Die totale Verwundbarkeit als Pfand der Sicherheit? Sicherheit als Ergebnis unbeschränkter beiderseitiger Verwundbarkeit? Daß dieser paradoxe Zustand nicht lange währen konnte, war abzusehen, und ein Beobachter wie Carl Friedrich von Weizsäcker hat dies schon 1971 vorausgesagt. Nicht nur die Waffentechnik stand nicht still, auch die Gehirne derer, die für Sicherheit zuständig waren.

Wie sich die Veränderungen im einzelnen vollzogen, soll im nächsten Kapitel nachgezeichnet werden. Wohin sie geführt haben, zeigt die Diskussion in den USA um das «Fenster der Verwundbarkeit» (window of vulnerability), das endlich geschlossen werden müsse. War das Stichwort von 1972 die gewollte oder doch bewußt hingenommene Verwundbarkeit beider Seiten, so ist das Stichwort heute die Unverwundbarkeit. Was vor einem Jahrzehnt noch als Friedensgarantie gewollt war, soll jetzt mit allen Kräften und mit einem Militärbudget, wie es in Friedenszeiten bisher nicht vorkam, verhindert werden.

Es war abzusehen, daß die Kalkulatoren der Sicherheit sich mit der eigenen Verwundbarkeit nicht würden abfinden können. Sicherheit und Verwundbarkeit passen für schlichte Gemüter nicht zusammen. «Eine sichere Streitmacht (secure force) hindert andere daran, uns zu bedrohen, und das erhält den Frieden»2 erklärte Präsident Reagan, als er am 22. November 1982 die Notwendigkeit erläuterte, die 100 MX-Ra-keten mit je zehn Sprengköpfen in einer «dichten Packung» zu stationieren. Das ist eine Definition von Sicherheit, die jedem einleuchtet: Sicherheit, das ist eben nicht, wenn der

  • 2 Wireless Bulletin from Washington, 23.11.1982, S. 5

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andere mich bedrohen oder gar auslöschen kann, sondern wenn er es nicht oder nicht mehr kann. Dabei ist das Gefühl, bedroht zu sein, eine reichlich subjektive Empfindung, ziemlich unabhängig von den Absichten und Möglichkeiten des Gegners. Letztlich ist jedes Gefühl von Bedrohung nur dadurch auszuschalten, daß ich den andern jederzeit niederschlagen kann, noch sicherer, wenn ich ihn niedergeschlagen habe.

Hier ist noch nicht der Ort, den strategischen Vorstellungen im einzelnen nachzugehen, die mit dem «Fenster der Verwundbarkeit» verbunden sind. Hier soll zuerst einmal das Bild sprechen: Ein riesiges, solides Haus, wohl ein Betonklotz, darin unzählige Fenster, alle dicht, luftdicht verschlossen, nur eines noch einen Spalt offen. Und nun geht es darum, auch dies noch zu schließen, damit die Verwundbarkeit, also jede Einwirkung von außen, ein Ende habe. Angenommen, es gelänge, angenommen, das Fenster ließe sich schließen, was dann? In dem Haus wollen ja Menschen leben. Sie brauchen Luft. Vielleicht ersticken sie, wenn das letzte Fenster geschlossen ist.

Das wäre in sich schlüssig. Denn unsere Verwundbarkeit endet allenfalls im Tode. Es hat schon seinen Sinn, daß Gott den Menschen verwundbar, physisch und psychisch verletzbar, geschaffen hat. Denn der eine unverwundbare Mensch wäre der Herr über alle andern. Was Siegfried in der Nibelungensage menschlich - und nicht zum Herrn über alle andern -macht, ist die eine Stelle am Rücken, an der er verletzbar geblieben ist. Wie der unverwundbare Mensch, so wäre auch der unverwundbare Staat der Herr über alle andern. Oder, wie es der Münchner Militärwissenschaftler Klaus von Schubert auf einer Tagung in Bad Boll ausdrückte: «Der Augenblick, wo sich das <Fenster der Verwundbarkeit> wirklich schließen ließe, wäre der Beginn des Dritten Weltkrieges». Worauf hätte der Unverwundbare Rücksicht zu nehmen?

Im Bild vom Schließen des Fensters der Verwundbarkeit konzentriert sich die schäbige Utopie der absoluten Sicherheit, einer Sicherheit, die natürlich, so will es der alte Adam, ganz auf Kosten der andern geht, der Milliarden Menschen in

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der Dritten Welt, die dieser unsagbar kostspieligen Utopie geopfert werden, auf Kosten der andern Seite, die vernichtbar werden oder bleiben muß. Wohin man auf der Suche nach dem Utopia der Unverwundbaren geraten kann, zeigt in letzter Perfektion Ronald Reagans Traum von der absoluten Verteidigungswaffe. Weltraumsatelliten, deren Laserstrahlen unfehlbar jede Rakete durchschweißen, sobald sie die Erdatmosphäre verläßt, sollen die absolute Sicherheit bringen, zumindest für die Vereinigten Staaten. Auch wenn dieser undurchdringliche Schutzschild frühestens gegen das Jahr 2000 herstellbar sein sollte: das Utopia der Unverwundbaren ist in Reichweite! Und wer sollte es da noch wagen, sich gegen die unvorstellbaren Kosten zu stemmen, die der Weg dahin fordert?

Da hilft offenbar keine historische Erfahrung. Denn gegen jede Waffe sind, seit es Menschen gibt, Gegenwaffen erfunden worden. Da hilft nicht der Hinweis darauf, daß Anti-Raketenwaffen gegen Geist und Buchstaben des SALT-I-Vertrags verstoßen. Und da hilft nicht die Warnung, solche Versuche könnten allenfalls das Wettrüsten in den Weltraum hinaustragen. Es bleibt die Faszination jenes Utopia der Sicheren, in das man sich mit viel Geld und Erfindungskraft die Eintrittskarte kaufen kann.

Aber diese Utopie ist nicht nur schäbig, sie ist auch tödlich, und zwar nicht nur für die andern, sondern vor allem für den, der sich ihr verschreibt.

Der conditio humana entlaufen wir nicht, es sei denn in den Tod. Es gibt keine sicherere Methode, sich und die andern umzubringen, als den Versuch, perfekte Sicherheit zu errüsten. Dies ist die These dieses Buches. Erich Fromm hat solche Anwandlungen technokratischer Hybris nekrophil, todessüchtig, genannt. Horst Eberhard Richter urteilt als Psychologe, die Wurzel solcher Versuche liege «jenseits der Ebene des logischen Argumentierens»3, sie habe ihren Ursprung in der un-

3 Horst E. Richter, Zur Psychologie des Friedens, Reinbek 1982, S.25

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überwundenen «analen Phase», die «durch abgrundtiefes Mißtrauen, Trotz- und Drohverhalten charakterisiert ist».4 Und er findet darin «Symptome eines regelrechten Verfolgungswahns.»5

Der Soziologe Edward P. Thompson konstatiert, der «Exterminismus», also die Tendenz zur Selbstauslöschung, die der Technokratie innewohnt, sei wohl «das letzte Stadium der Zivilisation», der Industrialismus trage die Mechanismen seiner Zerstörung in sich.6 Dabei zieht Thompson die Verbindungslinie zwischen den beiden Illusionen, die hier als die schäbigen Utopien des immerwährenden Wachstums und der totalen Sicherheit abgehandelt werden. Denn warum sollte der Imperativ des «immer mehr, immer perfekter» ausgerechnet die Rüstung aussparen? Warum sollte sich Sicherheit nicht ebenso «produzieren» lassen wie Wohlstand? Und warum sollten beide Versuche nicht gleich enden? George Kennan, weder Psychologe noch Soziologe, dafür Diplomat mit der Erfahrung vieler Jahrzehnte, sieht in diesem Sicherheitswahn Symptome einer Krankheit: «... diese ganze Besessenheit, mit der man sich mit dem Atomkrieg beschäftigt, ist eine Art Krankheit. Sie ist im höchsten Grad morbide. Sie enthält keine Hoffnung - nur Schrecken. Sie könnte als eine Art von unterbewußter Verzweiflung verstanden werden - eine Art Todestrieb, eine Bereitschaft zum Selbstmord aus Angst vor dem Tod - ein Geisteszustand, der sich nur erklären läßt aus einer gewissen Unfähigkeit, sich mit den normalen Risiken und Wechselfällen des menschlichen Schicksals auseinanderzusetzen .. ?

Die schäbige Utopie von der vollkommenen Sicherheit ist auch die Folge technokratischer Blickverengung, die, wie alle Verengungen, mit Angst zu tun hat. Sie ist das Ergebnis eines

4 a.a. O..S.47

5 a.a. O..S. 122

6 Edward P. Thompson in Befreiung, Nr. 19/20, Berlin 1980

7 zit. nach Norman Birnbaum, Die Opposition wächst, in: L '80 Demokratie und Sozialismus, Heft 21, S. 159

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kaum vorstellbaren Verlustes an Wirklichkeit, eines Leugnern menschlicher und geschichtlicher Realität. Sie ist ein sicherer Weg zum Tode und dabei noch nicht einmal ein heroischer, sondern ein durchaus spießbürgerlicher. Steht uns die lückenlose Sicherheit nicht zu wie der vollkommene Wohlstand? Warum sollten wir Sicherheit nicht ebenso erwerben, produzieren, kaufen können wie andere Güter auch? Schließlich sind die Strategieplaner in den Stäben keine tollkühnen Kriegernaturen, sondern ganz normale Bürger, bei denen allenfalls ein gut bürgerliches Sicherheitsstreben überdurchschnittlich entwickelt ist.

Vielleicht haben wir wirklich nichts Besseres verdient als Selbstmord infolge krankhaften Sicherheitswahns. Wenn der Kuhstall brennt, streben die aus dem Feuer geretteten Kühe oft zurück in den brennenden Stall, dahin, wo sie sich immer sicher gefühlt haben. Läßt sich in diesem Bild fassen, wie wir unsere Sicherheit genau da suchen, wo sie ganz sicher nicht mehr zu finden ist?

Wer den Zwangsvorstellungen entkommen will, die uns antreiben, einer tödlichen Utopie vollkommener Sicherheit nachzujagen, wird sich erst einmal durch das Inferno strategischer Planungen durcharbeiten müssen, um ihrer streng rationalen Irrationalität auf die Spur zu kommen. Aber dann muß er wieder in die menschliche Wirklichkeit zurückkehren, um mit dem britischen Publizisten Nigel Calder zu gestehen: «Ich wünschte, ich könnte meinen Kindern bei der Behauptung in die Augen sehen, ihre Sicherheit sei durch die nukleare Abschreckung gewährleistet.»8

8 Nigel Calder, Atomares Schlachtfeld Europa?, Hamburg 1980, S.35


Vom Gleichgewicht des Schreckens zum Erschrecken vor dem Gleichgewicht

«Es wäre das erste Mal in der Geschichte, wenn Generäle und Militärtechnokraten sich damit abfänden, Waffen anzuhäufen, mit denen man keinen Krieg führen kann.
Generäle sind nicht zuständig für den Holocaust, sondern für den Krieg.»

 

Es gehört zu den Erfolgen der Friedensbewegung, daß 1983 nicht mehr so arglos-unbeschwert über militärisches Gleichgewicht gesprochen werden kann wie 1979. Die Forderung der Routiniers nach gleichgewichtiger Abrüstung, die der jeweils andere leider nicht wolle, erzeugt fundierten Widerspruch, manchmal nur noch Langeweile. Es hat sich inzwischen herumgesprochen, wie selten man sich über Gleichgewichte verständigen kann, wie groß schon die objektiven Schwierigkeiten sind, Gleichgewicht festzustellen, von den subjektiven ganz zu schweigen. Gerade die sprachliche Neuprägung «Nachrüstung» hat die Erkenntnis beschleunigt, daß jede Seite ihre Aufrüstung als Nachrüstung deklariert und oft auch tatsächlich so empfindet, weil sie überzeugt ist - oder zumindest so tut, als wäre sie es -, die andere Seite habe das Gleichgewicht gestört, das nur durch Nach-Rüstung wiederherzustellen sei. Jede Seite erklärt die Rüstung des andern zur Vorrüstung, zu dem frevelhaften Versuch, ein ohnehin gefährliches Übergewicht weiter auszubauen. Beide Seiten sind dauernd dabei, ein Gleichgewicht zu errüsten, von dem aus Abrüstung erst möglich werde. Dies gilt für die konventionelle wie die atomare (inzwischen auch die chemische) Rüstung.

Es gibt durchaus ernst zu nehmende Fachleute, die keineswegs an das Dogma von der erdrückenden konventionellen Überlegenheit des Sowjetblocks in Europa glauben. Dies gilt nicht nur für den General Christian Krause1, der dies in mehreren Veröffentlichungen dargetan hat, sondern inzwischen auch für den Amerikaner Jonathan Dean, dervon 1978-1981 die USA bei den Wiener Abrüstungsverhandlungen vertrat2.

  • 1 zuletzt in Neue Gesellschaft, 11/82, Plus/minus 33 Divisionen -Stimmt der Kräftevergleich? S., 1076ff

  • 2 Jonathan Dean, Beyond First Use, in: Foreign Policy Nr. 48, Frühj.1982, S. 37ff

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Schon eher läßt sich angeben, wann ein Gleichgewicht des Schreckens besteht, wann also jede der beiden Weltmächte die andere mit ihrer Vernichtung bedrohen kann. Dazu bedarf es nur einer begrenzten Zahl atomarer Sprengköpfe, die in jedem Fall - auch nach einem ersten Schlag der andern Macht - ihr Ziel erreichen. Ist dieses Potential auf beiden Seiten vorhanden, so sind beide Seiten in einen vergleichbaren Schrecken versetzt. Daran ändert sich nichts, wenn eine Seite oder auch beide die Zahl ihrer Sprengköpfe um ein Mehrfaches steigern, solange nur beiden die Fähigkeit zum zweiten Schlag erhalten bleibt.

Strenggenommen ist das Gleichgewicht des Schreckens noch nicht so alt, wie meist angenommen wird. Schließlich waren die USA ihrem Rivalen in der Atomtechnik von Anfang an voraus. 1954, als Dulles die Strategie der «massiven Vergeltung» verkündete, hatte die Sowjetunion noch keine Trägerwaffen, die ihre 1953 gezündete Wasserstoffbombe über den Atlantik hätte tragen können. Die «massive Vergeltung» meinte einseitige, nicht gegenseitige Abschreckung. Erst 1957, als der erste Sputnik die Erde umkreiste, stand fest, daß nun auch Amerika bald in die Reichweite sowjetischer Atombomben geraten mußte. Noch 1962 ging Henry Kissinger bei seinen Vorträgen im Internationalen Seminar in Harvard mit ungeheuchelter Selbstverständlichkeit davon aus, daß die USA atomar überlegen seien und es auch bleiben müßten. Und in der Kubakrise desselben Jahres erwies sich, daß dem so war: Die Sowjetunion hatte immer noch einen atomaren Holocaust mehr zu fürchten als die Vereinigten Staaten. Kennedy setzte darauf, daß Chruschtschow dies wußte. Und er behielt recht.

Trotzdem rangen sich die USA um diese Zeit zu der Einsicht durch, daß beide Seiten in der Lage waren, sich ein Maß an Tod und Vernichtung zuzufügen, das auch für hartgesottene Strategen nicht mehr hinnehmbar erschien.

Die Tötung von xx bis yy der Bevölkerung, die Zerstörung von xx bis yy der Industrie wurde Maßstab für den «nicht mehr hinnehmbaren Schaden». Die von Robert McNamara im Juni 1962 verkündete Theorie von der gegenseitig

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gesicherten Zerstörung blieb mehr als ein Jahrzehnt gültig, wenn auch nie unangefochten. Der SALT-II-Vertrag schrieb das Gleichgewicht des Schreckens ausdrücklich fest, er erlaubte sogar der Sowjetunion, der zahlenmäßigen Parität näherzukommen, was diese mit besorgniserregendem Eifer in den siebziger Jahren betrieb.

Kaum war das Gleichgewicht des Schreckens perfekt, begann das Erschrecken vor dem Gleichgewicht. Henry Kissinger berichtet in seinen Memoiren, wie er seine Zweifel Präsident Nixon vortrug. War das Sicherheit, wenn man die eigene Bevölkerung dem Gegner als Geisel auslieferte? Kissinger wehrte sich gegen die Vorstellung, «die Verwundbarkeit unserer Zivilbevölkerung sei ein Aktivposten in dieser Schreckensbilanz, der die Sowjetunion beruhigen würde und dafür garantiere, daß sie sich in einer Krise Zurückhaltung auferlegte.»3

Würde eine neue Kuba-Krise auch noch einmal gutgehen, wenn die USA nur mit der gegenseitigen Vernichtung drohen könnten?

War dies überhaupt eine glaubhafte Drohung? Kissingers Vorwurf: «Zum erstenmal in der Geschichte erblickte ein großes Land einen Vorteil darin, seine eigene Verwundbarkeit zu erhöhen.»4 Das stimmte zwar nicht ganz, die eigene Verwundbarkeit war von McNamara nicht erhöht, wohl aber hingenommen worden. Der spätere Weltbankpräsident hatte keine rationale Alternative erkennen können. Kissingers Tadel war hart: «Gesicherte Zerstörung war einer jener theoretischen Begriffe, die in einem Hochschulseminar sehr eindrucksvoll klingen, sich aber in der Praxis als vollkommen ungeeignet erweisen und zur Katastrophe führen, wenn man sie wirklich anwenden will.»5 McNamara hätte dem früheren Hochschullehrer Kissinger, der es geschafft hatte, die geistige

  • 3 Henry Kissinger, Memoiren 1968-1973, Gütersloh und München 1979, S. 236

  • 4 a.a.O.

  • 5 a.a.O.,S. 236

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Akrobatik des Seminarraumes mit staatsmännischem Handeln im Weißen Haus und im Außenministerium zu tauschen, entgegenhalten können: «Das ist es ja, ich will gar nicht, daß man meine Theorie anwendet, sie kann sich nur darin bewähren, daß sie nie angewendet wird!» McNamara wollte die Selbst-Abschreckung, die in seinem Konzept zweifellos enthalten war. Nur: was war dann Sicherheit? Nach Nixons Wahl bestimmte Kissinger: «Im Juni 1969 wies ich den Präsidenten auf das Dilemma hin, vor dem er stehen werde, wenn es zu einem begrenzten Angriff der Sowjets mit Kernwaffen käme, und empfahl ihm, das Pentagon anzuweisen, es solle eine Strategie für den Fall entwickeln, in dem es nicht zum totalen Krieg mit Kernwaffen käme. Der Präsident war einverstanden und erließ die entsprechenden Anweisungen.»6

So also fallen Entscheidungen, von denen das Überleben der Menschheit abhängt, Entscheidungen, die natürlich parallele, spiegelbildliche Entscheidungen auf der andern Seite provozieren. Wie kam Kissinger auf den Verdacht, die Sowjetunion, deren konventionelle Überlegenheit immer behauptet wurde, hätte irgendein Interesse, sich auf das Abenteuer eines «begrenzten Angriffs mit Kernwaffen» einzulassen? Aber immerhin: Niemand konnte ganz sicher sein, daß sie dies nie taten. Und also mußte ein Mann, der keine Seminarübungen abhielt, sondern die Verantwortung hatte, den Präsidenten in Sachen Sicherheit zu beraten, rechtzeitig Vorsorgen. «Wir entwickelten deshalb 1969 neue Kriterien für eine Strategie der ausreichenden Schlagkraft, die unsere strategischen Planungen nicht nur auf die Vernichtung der Zivilbevölkerung, sondern auch auf die Bekämpfung militärischer Ziele ausrichtete.»7 Kissinger berichtet, die Planungen für die neue counter-force-Strategie, also für die atomare Bekämpfung der sowjetischen Militärmacht, seien erst Jahre später unter dem Verteidigungsminister James Schlesinger (1973-1975) abgeschlossen worden.

  • 6 a.a.O.,S.236

  • 7 a.a.O.,S.237

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Das Gleichgewicht des Schreckens war unerträglich, weil es der Regierung der USA keinen Handlungsspielraum ließ. Wurde es nicht überwunden, so «wird unsere Strategie und unsere Außenpolitik früher oder später gelähmt werden» .8 Es war zu erwarten, daß die gefesselten Riesen sich mit ihren Fesseln nicht abfinden würden, der Stärkere - und die Vereinigten Staaten waren und sind der Sowjetunion technisch, ökonomisch und geostrategisch deutlich überlegen - noch weniger als der Zweitstärkste.

Was aus den Anregungen Kissingers und den Planungen Schlesingers wurde, soll uns im nächsten Kapitel beschäftigen. Sie konnten bisher eines nicht aus der Welt schaffen: das Gleichgewicht des Schreckens. Vorläufig kann jeder den andern auch dann noch vernichten, wenn die Hälfte der eigenen Bevölkerung schon tot sein sollte. Auch das SALT-II-Abkommen, im Juni 1979 unterzeichnet und von den USA nicht ratifiziert, ging letztlich von einer Parität aus, die jedem ein Mehrfaches dessen zugestand, was zur Auslöschung des andern nötig wäre. Dabei spielt es keine Rolle, daß die einen (Sowjetunion) ein paar hundert Raketen mehr haben sollen, die andern (USA) ein paar tausend Sprengköpfe mehr auf ihren Raketen und die einen (Sowjetunion) wiederum die größeren Ladungen auf ihren Sprengköpfen.

Nach der Unterzeichnung von SALT II formierte sich in den USA der Widerstand gegen einen Zustand, durch den die Handlungsfähigkeit der Außenpolitik beider Supermächte, also auch der USA, zweifellos eingeschränkt wurde. Die Ultrakonservativen, die ihn organisierten, zuerst im «Komitee gegen die gegenwärtige Gefahr (Commitee on the Present Danger)», konnten Ronald Reagan zum Präsidenten machen. Ihr Argument war, damals wie heute, ob geglaubt oder vorgeschoben, SALT II erreiche kein Gleichgewicht, der Vertrag schreibe die sowjetische Überlegenheit fest. Dabei wird vor allem auf die größere Zahl landgestützter

  • 8 a. a. 0.,S. 237

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Interkontinentalraketen verwiesen, als ob es sich nicht von selbst verstünde, daß beim Festsetzen einer Gesamtparität die Landmacht Sowjetunion über mehr landgestützte, die Seemacht USA über mehr seegestützte Raketen verfügen muß.

Paul Warnke, der den SALT-II-Vertrag ausgehandelt hat, erwidert auf solche Vorwürfe trocken: «Ich kenne keinen militärischen Führer, soweit er seine Sinne noch beisammen hat, der die Streitkräfte der USA für die der Sowjetunion eintauschen würde.»9 Dem hat bisher kein General widersprochen. Der Widerstand gegen SALT II zeige, meint Warnke, «eine Unzufriedenheit mit jedem nuklear-strategischen Gleichgewicht, bei dem wir nicht mit klarem Abstand überlegen sind» (in which we do not have that definite margin of superiority).10

Was, so darf der Unbefangene fragen, bringt die USA dazu, sich unterlegen zu fühlen, wenn auf ihren Interkontinentalraketen insgesamt 9268, auf den sowjetischen 7339 atomare Sprengköpfe11 montiert sind? Solange es nur darum ginge, den andern von einem atomaren Überfall abzuschrek-ken, würde es nicht einmal ins Gewicht fallen, wenn das Zahlenverhältnis umgekehrt wäre. Man muß schon genauer hinhören, wenn man verstehen will, worum es der Reagan-Administration geht:

Am 14. Dezember 1982 mußte Verteidigungsminister Weinberger vor dem Kongreß erklären, warum Bau und Stationierung von 100 MX-Raketen unerläßlich seien. Dabei geht er, ohne es weiter zu begründen - eine solide Begründung ist nie bekannt geworden -, von der Unterlegenheit der USA aus und fährt fort: «Je größer das Ungleichgewicht, desto bewußter werden uns die Grenzen unserer Handlungsmöglichkeiten (options) in den internationalen

  • 9 The Nuclear Threat, in Common Cause, August 1982, S. 53

  • 10 (ebd.)

  • 11 Diese letzten Zahlen stammen von dem US-Senator Daniel Inouye, zit. nach Vorwärts Nr. 14,1983, S. 3

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Angelegenheiten, desto mehr wächst die Möglichkeit, daß wir - um Krisen zu vermeiden - gezwungen werden könnten, Interessenkompromisse zu schließen, die unsere Fähigkeit, von einem Konflikt abzuschrecken, zu sehr belasten.»12

Unterlegenheit besteht also dann, wenn die USA in einer Krise kompromißbereit sein müssen, weil sie einen militärischen Konflikt ebenso fürchten müssen wie die Gegenseite. Gleichgewicht, das wäre der Umkehrschluß, bestehe dann, wenn die USA so stark sind, daß die andere Seite lieber nachgibt, als einen großen Konflikt zu riskieren.

Das war so 1962 in der Kuba-Krise. Aber damals waren die USA noch eindeutig überlegen. Colin S. Gray, heute Berater des US-Außenministeriums, bringt dies auf einen simplen Nenner und spricht damit aus, was andere Strategen in West und Ost meist sich selbst und anderen nicht eingestehen:

«Es gibt nur Sicherheit, wenn man etwas stärker ist. Es gibt keine Handlungsmöglichkeiten, wenn die eigene Stärke vollständig austariert (checked) ist. Es gibt nur dann eine Chance für eine positive Außenpolitik, wenn man einen Vorsprung an militärischer Macht hat, den man frei nutzen kann.»13

Nichts anderes ist gemeint, wenn die Vertreter der Reagan-Administration von dem «margin of security» sprechen, den es zu erhalten oder neu zu gewinnen gelte. In Sachen Sicherheit sind alle gleich. Aber nur wer darin gleicher ist als die andern, kann sich politisch bewegen, seine Interessen durchsetzen. Daß die Verwirrung der Begriffe hier Orwellsche Dimensionen annimmt, ist eine Seite der Sache. «Gleichgewicht ist Unterlegenheit, Überlegenheit ist Gleichgewicht», wäre etwa die Formel, auf die sich Weinbergers Thesen bringen lassen. Wie soll man da Ergebnisse am Verhandlungstisch erreichen?

Die andere Seite ist nicht weniger alarmierend: Weinberger denkt nun zu Ende, was Kissinger schon 1969 seinem Präsidenten vortrug:

Solange das Gleichgewicht des Schreckens die USA lähmt, können sie in Krisengebieten (etwa im Iran oder auch Polen) nicht so auftreten, wie dies im - von der jeweiligen Regierung definierten - amerikanischen Interesse läge. Solange noch ein Fenster der Verwundbarkeit offen ist, nützt das Scheunentor der Verwundbarkeit beim Gegner nichts. Darum muß das letzte Fenster der Verwundbarkeit geschlossen werden. Erst dann sind die USA sicher genug, um ihre Interessen zumindest außerhalb der direkten sowjetischen Einflußzone, etwa im Nahen Osten, durchsetzen zu können.

Waffen, mit denen man nicht drohen kann, sind politisch nutzlos. Abschreckung, solange sie strikt auf Gegenseitigkeit beruht, wird politisch zum Nullsummenspiel.14 Die atomare Allmacht wird, wie Günther Anders schon 1968 formuliert hatte, zur atomaren Ohnmacht.15

Ein atomares Arsenal, und wenn es die ganze Zivilisation auslöschen könnte, nutzt politisch nichts, wenn man damit keinen Krieg führen kann. Aber dies heißt auch: Mit Kriegen, die man nicht führen kann, läßt sich auch nicht drohen. Und was zur Drohung nicht taugt, ist politisch ohne Belang. Daraus ergibt sich folgerichtig die Forderung von Colin Gray, inzwischen Berater der US-Abrüstungsbehörde:

Der Westen müsse Wege finden, «die ihm erlauben, strategische Atomwaffen als Druckmittel einzusetzen und gleichzeitig die potentiell lähmende Selbstabschreckung auf ein Minimum zu reduzieren.»16 Es wäre das erste Mal in der Geschichte, wenn Generäle und Militärtechnokraten sich damit abfänden, Waffen anzuhäufen, mit denen man keinen Krieg führen kann.

Generäle sind nicht zuständig für den Holocaust, sondern für den Krieg.

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  • 12 Wireless Bulletin from Washington. United States Information Service, Nr. 235,15.12.1982, S. 4

  • 13 Air Force Magazin, März 1982, S. 63

  • 14 In den Nummern 8 und 9/1983 des Spiegel erschien eine Analyse von Wilhelm Bittorf, die - mit zum Teil anderem Material - zu ähnlichen Ergebnissen kommt. Sie konnte in diesen Text nicht mehr eingearbeitet werden.

  • 15 Günther Anders, Die atomare Drohung. Radikale Überlegungen, München 1981, a. a. O., S. 22

  • 16 Colin S. Gray und Keith Payne, Der Sieg ist möglich (Victory is possible), in Foreign Policy, Heft 39, Sommer 1980

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IV   Die Rettung des Krieges

«Innerhalb der Logik der Abschreckung schließt jeder beim andern von der angestrebten Fähigkeit auf die Absicht. Und die Angst vor den Absichten des Gegners versucht man zu überwinden, indem man sich Fähigkeiten zulegt, die der andere wiederum als Absicht deutet. Im Rückblick ist dann schwer festzustellen, wer wirklich den andern provoziert hat. Und wenn es wirklich einmal einen Sieger im Atomkrieg geben sollte, so dürfte er die Geschichte schreiben und feststellen, was wahr ist und was falsch.»


 

Zu den Dogmen, deren Verletzung in Ost und West nicht ratsam ist, gehört das von der allein Frieden stiftenden Abschreckung. «Daß wir in den letzten 38 Jahren in Europa ohne Kriege leben konnten, verdanken wir allein der Abschrek-kung jeder Aggression durch die militärische Macht unseres Paktsystems.» Wer dem in Köln zu widersprechen wagt, ist genauso verdächtig wie jemand, der es in Dresden versuchen sollte. Dabei unterstellt jede Seite bei dieser Behauptung, daß sie selbst nie auch nur versucht gewesen wäre, die andere zu überfallen, daß aber die andere immer nur durch abschrek-kende Waffen zur Vernunft gebracht worden sei. Schon der simple Schluß, sogar in Form einer schüchternen Frage, vielleicht hätten wir auch deshalb ohne Krieg gelebt, weil keine Seite ein Interesse hatte, die andere zu überfallen, wird hüben wie drüben als Ketzerei, als naiver Traum realitätsferner Schwärmer abgetan. Man darf - und muß - immer an den Friedenswillen der eigenen und die Aggressivität der andern Seite glauben, das ist die Grundregel in dem makabren Spiel, das man Abschreckung nennt.

Nun spricht einiges dafür, daß die atomaren Sprengkörper und Trägerwaffen, die in den sechziger und siebziger Jahren von den Supermächten angehäuft wurden, abschreckend gewirkt haben. Bomben von 10 Megatonnen (das 800fache der Hiroshima-Bombe) auf Raketen montiert, von denen man nicht weiß, in wieviel Kilometer Entfernung vom Ziel sie detonieren, taugen in der Tat nur dazu, sich gegenseitig auszurotten. Das Inferno, das solche Explosionen im Raum New York oder Moskau in Gang setzen würden, ist inzwischen von Jonathan Schell1 ebenso wie von der Königlich Schwedischen Akademie der Wissenschaften2 und schließlich in der UNO-

1 Jonathan Schell, Das Schicksal der Erde, München 1982, S. 58ff

2 Ambio, Bd. XI, Nr. 2/3 1982

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Studie über Kernwaffen3 exakt und ohne falsche Rücksicht beschrieben worden.

Der gemeinsame Untergang im atomaren Inferno liegt jenseits dessen, was man Kriegführung nennt. Er hat mit dem, was Soldaten für ihre Aufgabe halten, nichts mehr zu tun. Krieg, das war auch in seiner modernen Form noch ein Kräftemessen, bei dem man gewinnen oder unterliegen konnte. Damit schien es nun aus zu sein. Daß Politiker wie Kissinger sich damit nicht abfinden wollten, haben wir gezeigt. Aber auch die Militärs haben sich - verständlicherweise - dagegen gewehrt, daß der Krieg, wie sie ihn gelernt hatten, historisch überholt und zu den Akten gelegt wurde, abgelöst nicht durch die Welt ohne Waffen, sondern durch die permanente Drohung mit der totalen Vernichtung, zumal diese das Inferno wohl nur aufschieben, aber letztlich nicht verhindern konnte: Wenn man mit Bomben von Megatonnengröße nur noch gemeinsam Selbstmord begehen konnte, wie war es dann mit kleineren, solchen von der Sprengkraft der Hiroshima-Bombe, vielleicht etwas größer oder auch kleiner? Es ließen sich doch atomare Sprengköpfe vorstellen, die Flugplätze, U-Boot-Häfen, ja Raketenstellungen und schließlich Kommandozentralen so treffen konnten, daß nicht gleich Millionen Zivilisten mit zu sterben brauchten, sondern «nur» einige Zehntausend. Dazu mußten diese kleineren Atomköpfe allerdings ihre Ziele exakter ansteuern können. Und da es mehr militärische Ziele gibt als große Städte, mußte die Zahl der Sprengköpfe steigen.

So ließe sich, meinten die Strategen, wieder etwas planen, was Soldaten zukam: die Bekämpfung der Streitkräfte des Gegners. Man konnte übergehen von einer Strategie counter-city (gegen die Städte) zu counter-force (gegen die Streitkräfte). Das war immerhin nicht einfach Gemetzel, Ausrottung, sondern so etwas wie Krieg.

Und in der Tat, die neuen Waffen ließen sich entwickeln, wiederum rascher da, wo man technologisch um mehr als eine Brustbreite voraus war: in den USA.

  • 3 a.a.O.,S. 142ff

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Während die Sowjetunion noch lange nach dem Motto «immer größer» verfuhr und einmal sogar eine 60-Megatonnen-bombe gezündet haben soll - etwa das 5000fache der Hiroshima-Bombe -, begannen die USA zu handeln nach dem Motto: kleiner, genauer und mehr. (Daher haben auch die Sowjets bis heute mehr Detonationskraft bei wesentlich weniger Sprengköpfen.) Die Kernwaffenstudie der UNO hat diese Neuerung kühl analysiert. Zuerst die Genauigkeit: «Man kann den Einfluß, den diese Steigerung der Treffsicherheit auf das Wettrüsten mit strategischen Waffen ausübt, kaum überschätzen. Wenn nämlich jede Supermacht über die Möglichkeit verfügt, die Kernwaffen des andern zu treffen, entsteht eine Duell-Situation bei strategischen Waffen. Es wächst die Furcht, der Gegner könne die Fähigkeit erlangen, einen entwaffnenden ersten Schlag (first strike) zu führen.»4 Duell, das klang wieder mehr nach Krieg, ja sogar nach Rittertum, Ritterlichkeit. Das war allemal besser als das Austilgen und Verdampfen ganzer Regionen.

Etwas vom Instruktivsten in der UNO-Studie ist die Kurve der Zielgenauigkeit.5 Seit den sechziger Jahren nimmt die Treffsicherheit von Raketen zu, bei den USA seit Anfang, bei der Sowjetunion seit Mitte der sechziger Jahre. Die USA beginnen bei einer Streuung von einem Kilometer (Titan-Rakete), die Sowjets bei einer von zwei Kilometern (SS 8). Beide Seiten verbessern sich rasch, die Sowjetunion immer in respektvollem Abstand von den USA, aber gegen 1990 könnten sich die Kurven begegnen, und zwar bei einer Genauigkeit, die sich kaum mehr von der einer Artillerie-Granate unterscheidet.

Aber auch die neuen Mehrfachsprengköpfe, Raketen, bei denen eine beträchtliche Zahl von Sprengköpfen, jeder für sich, unabhängig voneinander ihr Ziel suchen, waren Ausdruck einer neuen Strategie. Wieder als unparteiischer Zeuge die UNO-Studie:

  • 4 UNO-Kernwaffenstudie, S. 44

  • 5 a.a.O.,S. 56

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«Bevor es Geschosse mit anderen, voneinander unabhängig zielprogrammierbaren Sprengköpfen (MIRV) gab, mußte ein Land, das mit seinen Interkontinentalraketen die des andern präventiv angreifen wollte, mindestens eine Rakete auf jedes gegnerische Raketensilo ansetzen. Mit MIRV-Streit-kräften könnte ein Land jedoch im Prinzip nur einen Teil seiner Raketen auf die Raketen des andern Landes einsetzen und dennoch damit rechnen, die meisten, wenn nicht gar alle zu zerstören, während die meisten eigenen Raketen sicher im Silo bleiben.»6 Dies bezog sich allerdings nur auf die landgestützten Raketen, und das sind bei der Seemacht USA etwa ein Viertel, bei der Landmacht Sowjetunion beinahe drei Viertel ihrer Atomstreitmacht.

Nun wird von denen, die Einsicht in Geheimpapiere haben, darauf verwiesen, daß praktische Zielplanung und rhetorische Begleitmusik seit jeher zwei Paar Stiefel waren. Daher wollen wir beim ersten, der praktischen Zielplanung, beginnen, und zwar an Hand eines Aufsatzes von Desmond Ball, dessen deutsche Fassung erstmals etwa gleichzeitig mit diesem Buch in einer neuen Arbeit des Friedensforschers Hans Günter Brauch erscheint.7

Die Zielplanung, berichtet Ball, habe sich nie strikt nach den jeweiligen Doktrinen gerichtet. Die Kriegsplanungen der USA hätten immer einen weiten Fächer von Zielen enthalten, also auch solche, die in den Doktrinen nicht vorkamen. Die Zielplanung habe sich weniger nach den offiziellen Strategien gerichtet, sondern einmal nach «dem Anwachsen der strategischen Atomstreitkräfte», zum andern nach den «immer detaillierteren Informationen der Geheimdienste über mögliche Ziele in der Sowjetunion». So habe sich die Zahl der Ziele von 70 im Jahre 1949 auf etwa 40000 dreißig Jahre später erhöht. (Verglichen mit diesen 40000 abzudeckenden Zielen sind allerdings knapp 10000 Bomben und Raketensprengköpfe beklagenswert wenig.)

  • 6 a.a.O.,S.52

  • 7 Desmond Ball, Counterforce targeting. How new, how viable?, in: H. G. Brauch, Kernwaffen und Rüstungskontrolle, 1983

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Ball geht aus von dem Memorandum für nationale Sicherheitsentscheidungen Nr. 242, das Präsident Nixon am 17.1.74 unterzeichnet hat (die englische Bezeichnung NSDM 242 leitet sich ab von National Security Decision Memorandum). Dieses Memorandum wurde präzisiert durch das von Verteidigungsminister Schlesinger am 4.4.74 unterzeichnete Papier über «Nuclear Weapons Employment Po-licy» (NUWEP), also eine Anweisung über den Einsatz von Nuklearwaffen.

Diese Papiere hätten, berichtet Ball, drei neue Akzente gesetzt. Erstens sei nun ein weiter Bereich (wide ränge) von Streitkräften und militärischen Einrichtungen der Sowjetunion in die Zielplanung einbezogen worden, von Raketensilos bis zu «gehärteten» Kommandozentralen, zweitens hätten sich aus der Notwendigkeit der «Eskalationskontrolle» selektive Optionen ergeben, also die Fähigkeit, in bestimmten Augenblicken nur einen Teilausschnitt der möglichen Ziele zu vernichten, und drittens - und das ist wohl, verglichen mit den Planungen der Reagan-Regierung, das Entscheidende - habe NSDM 242 den Begriff der «Nicht-Ziele» (non-targets) eingeführt, also von Zielen, die von der Zerstörung ausgenommen werden sollten. Dies seien einerseits Ziele gewesen, bei denen es sich nur um Tötung von möglichst vielen Menschen gehandelt habe (population per se), zum andern «Zentren der politischen Führung und Kontrolle».

Man wollte, das war Schlesingers Ziel, immer noch einen Verhandlungspartner haben, mit dem man wieder Frieden schließen konnte (intra war bargaining). Im übrigen hatte man ja Reserven, mit denen man, wenn es gar nicht anders ging, auch diese Ziele auslöschen konnte.

Im Vergleich zu NSDM 242 erscheint die Präsidentialdi-rektive 59, mitten im Wahlkampf am 25.7.80 von Präsident Carter unterzeichnet, eher als Bestätigung und Präzisierung. Nun war endgültig klar, daß Carter auf dem Wege weiterging, den Kissinger und Schlesinger vorgezeichnet hatten:

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Den Atomkrieg kalkulierbar, begrenzbar, führbar - und damit auch androhbar - zu machen.

Die Reagan-Regierung ging noch einen entscheidenden Schritt weiter. Ihre Zielplanung zeichnet sich aus durch «gesteigerte Aufmerksamkeit auf eine Politik des länger andauernden (protracted) Atomkriegs».

Insgesamt stellt Desmond Ball fünf Neuerungen in der Zielplanung der Reagan-Regierung fest:

1. Jetzt seien von den 40000 Zielen schon die Hälfte militärische und «nur» 15000 industrielle und ökonomische.

2. Jetzt sei die Auswahl der Ziele ebenso eine Übung in Abschreckung (erxercise in deterrence), wie die Ausführung der Pläne eine Übung in Kriegführung sei. Genauer: Die Abschreckung bestehe jetzt darin, daß die Kriegführung bis ins Detail vorgeplant sei. Abschreckung bedeute jetzt die Fähigkeit zur Kriegführung. Dazu gehöre die Anpassung der Zielplanung an die «Zerteilung und Regionalisie-rung der UdSSR», wobei man auf regionale Aufstände hofft. Vor allem aber seien nun etwa 20% der inzwischen 50000 Ziele Kommandozentralen, Gebäude der Regierung, der Führung der KPdSU und des Geheimdienstes (KGB).

3. Nun sei die Planung so verfeinert, daß auch Situationen einbezogen seien, die man «bisher für rein konventionelle» gehalten habe. Dazu gehörten z. B. sowjetische Militäreinrichtungen in der Nähe des Iran.

4. Man habe nun die Fähigkeit, auch während eines Atomkrieges (nuclear exchange) neue Ziele auszumachen. Dafür sorgten neue Aufklärungssatelliten. Falls, wie zu erwarten, die sowjetische Führung aus Moskau verlegt werde, müßten die US-Streitkräfte in der Lage sein, den neuen Standort rasch zu erkennen und anzupeilen.

5. Man habe festgestellt, das gegenwärtige amerikanische System für Kommunikation, Kommando und Kontrolle (communication, command and control, im Fachjargon C 3) sei «unangemessen für eine Politik ausgedehnter nuklearer Kriegführung (extended nuclear war fighting)».

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Daher müsse es so abgesichert werden, daß es auch in einem längeren Atomkrieg nicht ausfalle. Was noch bei Schlesinger - und bei Carter - ausgespart war, wird nun wichtigstes Ziel von Atomraketen: die Führung der andern Seite. Sie soll nicht entkommen. Man braucht keinen Verhandlungspartner mehr, es geht nun um Leben und Tod. Und deshalb muß das eigene Befehlssystem so «gehärtet» werden, daß einem selbst nicht passiert, was man für den andern plant. Daß dies keine grauen Theorien sind, zeigen die 18 Mrd. Dollar (45 Mrd. DM), die im US-Budget allein für C 3 vorgesehen sind. Das ist etwa so viel Geld alleine für die Befehlsstruktur, wie in einem Jahr für die gesamte Bundeswehr ausgegeben wird.

Nach Desmond Ball hat man auch berechnet, was ein solcher nuklearer Schlagabtausch an Opfern kosten würde. Bei den USA - wenn man sich richtig vorbereite - zwischen zwei und zwanzig Millionen Tote (14 Millionen seien am wahrscheinlichsten), bei der Sowjetunion zwischen 3,7 und 27,7 Millionen Tote.

Desmond Ball gehört zu den anerkannten Fachleuten der Militärstrategie. Er hat in einer früheren Arbeit nachzuweisen versucht, daß Atomkriege unausweichlich außer Kontrolle geraten.8

Von dem Journalisten Robert Scheer im Frühjahr 1982 über Reagans Politik interviewt, meinte Ball, die Fähigkeit, Atomkriege zu führen, rücke zwar näher, aber es sei eher wahrscheinlich, daß sie nicht zu erreichen sei. «Gefährlich ist, daß diese Leute - d. h. die Reagan-Regierung - meinen, sie könnten es fertigbringen, sie könnten einen Atomkrieg kontrollieren.»9

Und dafür, daß manche wirklich meinen, sie könnten, da-

  • 8 Can Nuclear War be controlled? Adelphi Papers, International Institut for Strategie Studies, Frühjahr 1981

  • 9 Robert Scheer, With Enough Shovels, Reagan, Bush and Nuclear War, New York 1982

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für gibt es inzwischen eine Anzahl von Zeugnissen. Sie kommen nicht mehr von Außenseitern, genauer gesagt: Die Außenseiter von früher sitzen jetzt in der Regierung, sie entscheiden über die gültigen Planungen, sie führen Abrüstungsverhandlungen. Und sie tun genau das, was man tun müßte, um einen Atomkrieg führbar zu machen. Sie konzentrieren sich auf folgende Aufgaben:

1. Die Stärkung der Waffen, die zielgenauer als alle bisher bekannten, die Raketen und Kommandozentralen der Gegenseite treffen können. Dazu gehören vor allem die MX und die Pershing-II-Raketen. Dabei bieten die 100 MX-Raketen tausend sehr exakte Sprengköpfe, während sich die Pershing II durch ihre geringe Vorwarnzeit auszeichnet.

2. Die Ortung und Bekämpfung von U-Booten, die einen zweiten Schlag führen könnten. Dabei sind die USA gegenüber der Sowjetunion nicht nur geographisch überlegen (für die Sowjetunion gibt es nur zwei Zugänge zu den Ozeanen, die beide unter der Kontrolle amerikanischer Informations-Systeme stehen), sondern auch technisch. Das SIPRI-Jahr-buch 81/82 konstatiert: «Die heutige Asymmetrie in der U-Boot-Aufklärung begünstigt die USA stark.»10

3. Die Sicherung der eigenen Kommando-Struktur. Das beginnt bei Evakuierungsplänen für US-Ministerien und geht bis zum Ausweichquartier in der Nähe von London für das Oberkommando der nicht der NATO unterstellten US-Streitkräfte in Europa (Eucom), das bisher bei Stuttgart-Vaihingen liegt.

4. Die neuen Anstrengungen, doch noch das aufzubauen, worauf man 1972 verzichtet hatte: Abwehrsysteme gegen Raketen. Weinberger hat am 8.12.82 vor dem Senat bestätigt, daß zum Schutze der MX auch «ballistic missile defense» erwogen werde. Forschungsarbeiten dafür laufen auf Hochtouren.

Und dies, obwohl der Palme-Bericht recht hat mit der Fest-

  • 10 SIPRI-Rüstungsjahrbuch 81/82, Reinbek 1981, S. 82

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Stellung: «Der Verzicht auf den ABM (antiballistic mis-sile)-Vertrag würde ... ein erhöhtes Atomkriegsrisiko zur Folge haben.»11 Wer die eigene Verwundbarkeit durch Anti-Raketen ausschalten will, bereitet sich - zumindest in den Augen des Gegners - auf den Atomkrieg vor. 5. Zivilschutz.

Man mag die Vorstellungen des Thomas V Jones zum Zivilschutz, von denen Robert Scheer berichtet, für Wahnvorstellungen eines Verrückten halten, immerhin hat Reagan diesen Jones zum stellvertretenden Staatssekretär im Verteidigungsministerium gemacht. Zwischen Scheer und Jones soll sich folgender Dialog abgespielt haben: «Scheer: Die Bombe ist also gefallen (über Los Angeles). Nun, wenn einer sich innerhalb einer Drei-Kilometer-Zone befindet, ist es aus mit ihm, oder? Wenn er aber nicht in der Drei-Kilometer-Zone ist, was ist ihm passiert? Jones: Sein Haus ist weg, er ist da, wo er sein Loch gegraben hat... Man muß in einem Loch sein. Erde ist wirklich das, was einen sowohl vor der Druckwelle als auch vor der Strahlung schützt, falls es Strahlung gibt. Wissen Sie, Erde ist wirklich ein großartiger Stoff (You know, dirt is just great stuff).»12

Wie gesagt, über solchen Unsinn könnte man hinwegsehen, gäbe es nicht wirklich den ernstgemeinten Versuch, durch Zivilschutz die Schrecken des Atomkriegs zu mildern und, vor allem, die Bevölkerung zu täuschen, und gäbe es nicht Äußerungen wie die des Mannes, der heute nicht Stellvertreter eines Staatssekretärs, sondern Stellvertreter des Präsidenten ist. George Bush antwortete im Januar 1980 auf die Frage, ob es einen Sieger im Atomkrieg geben könne:

«Man braucht die Überlebensfähigkeit der Befehls- und Kontrollinstanzen, überlebensfähiges Industriepotential, den Schutz eines gewissen Prozentsatzes der Bevölkerung, und

  • 11 Palme-Bericht. Bericht der Unabhängigen Kommission für Abrüstung und Sicherheit 1982, S. 161

  • 12 Robert Scheer, a. a. O., S. 23f

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man braucht die Fähigkeit, dem Gegner mehr Schaden zuzufügen, als dieser einem zufügen kann. So kommt es zu einem Sieger.»13

Bush fuhr fort - und damit nähern wir uns dem, was möglicherweise spiegelbildlich auf der andern Seite geschieht -:

«Die sowjetische Planung fußt auf diesem häßlichen Konzept eines Siegers im Atomkrieg.»14 Nun gibt es unzählige Äußerungen von Breschnew und neuerdings von Andropow, die eben dies leidenschaftlich bestreiten. Auch wenn man die Glaubwürdigkeit sowjetischer Führer nicht hoch veranschlagt, so spricht doch die notwendige Konzentration der Landmacht Sowjetunion auf leicht verwundbare landgestützte Raketen dafür, daß für die Sowjetunion ein Sieg im Atomkrieg schon aus Gründen der Geographie unerreichbar erscheint. Die landgestützten Raketen der Sowjetunion lassen sich leichter präventiv zerstören als die seegestützten des Westens. Trotzdem läßt sich die sowjetische Rüstung auch so interpretieren, wie Bush dies tut.

Innerhalb der Logik der Abschreckung schließt jeder beim andern von der angestrebten Fähigkeit auf die Absicht. Und die Angst vor den Absichten des Gegners versucht man zu überwinden, indem man sich Fähigkeiten zulegt, die der andere wiederum als Absicht deutet.

Schlimmer noch: Jeder unterstellt, zumindest öffentlich, wenn er einen neuen Schritt hin zur Führbarkeit des Atomkriegs tut, der andere habe diesen Schritt längst getan, man müsse jetzt «nachrüsten». Und der andere, der die neuen Waffen beim Gegner wahrnimmt, glaubt nun wirklich tun zu müssen, was man ihm vorher zu unrecht unterstellt hat.

Im Rückblick ist dann schwer festzustellen, wer wirklich den andern provoziert hat. Und wenn es wirklich einmal einen Sieger im Atomkrieg geben sollte, so dürfte er die Geschichte schreiben und feststellen, was wahr ist und was falsch.

  • 13 a.a.O.,S. 29

  • 14 a.a.O.,S.29

Wir dürfen uns an dieser Stelle nicht dazu verleiten lassen, moralische Empörung an die Stelle von Analyse und Argument zu setzen. Denn was uns da erschreckt, von theoretischen Gedankenspielen bis zur praktischen Zielplanung, zeugt nicht nur von einer bestechenden Kontinuität, und zwar von Kissinger über Schlesinger und Carter bis zu Weinberger, es hat auch eine faszinierende Logik.

Denn es stimmt ja: Vernichtungsmittel, die das eigene Land nicht weniger bedrohen als das des Gegners, bieten nicht die Sicherheit, für die ein Sicherheitsberater sich zuständig weiß.

Es stimmt: Mit Waffen, die sich nicht einsetzen lassen, kann man nicht drohen. Ein Krieg, den man nicht führen kann, laß sich nicht glaubwürdig androhen. Es stimmt: Wer nicht mit Krieg drohen kann, muß Kompromisse schließen, vielleicht sogar Einbußen hinnehmen. Er kann keine Außenpolitik führen, bei der er immer seinen Willen durchsetzt. Es stimmt: Nur der überlegene Riese kann seine Fesseln loswerden.

Aber eben: Wie wird man im Atomzeitalter ein so eindeutig überlegener Riese? Es mag sein: Wer glaubwürdig Krieg anzudrohen vermag, kann ihn - vielleicht - sogar vermeiden. Mag sein: Wer dem Gegner klarmachen kann, daß er ihn notfalls niederzuringen vermag, hat die totale Abschreckung erreicht. Aber eben: Dann ist nur noch einer abgeschreckt. Nur wer auch einen längeren Atomkrieg durchstehen kann, wird ihn verhindern, meinen die Leute um Weinberger. Das walte Gott! Denn in der Logik dieser Strategie liegt auch dies: Nur wer entschlossen ist, einen Atomkrieg durchzufechten, kann damit drohen. Und irgendwann wird er auf die Probe gestellt.

In einem allerdings hat Weinberger völlig recht: Wenn er darauf besteht, er führe nur konsequent zu Ende, was frühere Re gierungen begonnen hätten. Dieser Wahnsinn wäre ja nur halb so gefährlich, hätte er keine Methode. Und keine Tradition.

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