Erhard
Eppler

Die
tödliche Utopie
der Sicherheit

 

1983 bei Rowohlt

24.-33. Tausend Juli 1983

1983

220 Seiten

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detopia

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Eppler-1975

Eppler-1981

«Es gibt keinen Weg
zum Frieden auf dem
Weg der Sicherheit.
Denn Friede muß gewagt
werden, ist das eine große
Wagnis, und läßt sich nie
und nimmer sichern.» 
Dietrich Bonhoeffer

Dr. Eppler und detopia standen 2017 im Kontakt

Klappe 1

Utopia - dies ist das Land, das es nirgendwo gibt, das aber viele suchen. Und indem sie sich darauf zubewegen, vollzieht sich Geschichte. Utopien bringen Menschen in Bewegung.

Die zweite Hälfte unseres Jahrhunderts hat bislang nur trost-lose technokratische Utopien hervorgebracht: die Utopie immerwährenden Wachstums, die Utopie einer errüstbaren Sicherheit. Auch totale Sicherheit gibt es «nirgendwo» - außer im Tode, insofern handelt es sich um eine Utopie. Aber um eine nekrophile, todessüchtige Utopie. Alle Wahrscheinlichkeit spricht dafür: Wer so sein Leben erhalten will, wird es verlieren.

Eppler untersucht eine Sicherheitskonzeption, deren Logik sich im Bodenlosen, weit weg von den Realitäten menschlichen Lebens, verliert.

Wer, wie Ronald Reagans Planungsstäbe, die totale Abschreckung durch Drohung mit dem führbaren und gewinnbaren Atomkrieg will, erreicht im besten aller denkbaren Fälle nur das totale Wettrüsten. In einem solchen Denken hat der Frieden keine Chance.


Klappe 2

Der Versuch, das Fenster der Verwundbarkeit zu schließen und damit der Verletzbarkeit, der Hinfälligkeit und der Unsicherheit menschlichen Daseins zu endcommen, muß tödlich enden. Denn diese Verletzbarkeit und Unsicherheit ist auch ein Reflex menschlicher Freiheit. Eppler versucht Wege zu weisen, die herausführen können aus dieser Sackgasse einer tödlichen Utopie, die gegen die militärische Logik der Abschreckung politische Handlungsspielräume wiedererobern. Wo der Selbstmord der Gattung möglich scheint, ist Frieden selbst zur lebensnotwendigen Utopie geworden.

Wenn Krieg heute nicht mehr die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist, nicht mehr ein begrenztes militärisches Kräftemessen, sondern Auslöschung bedeutet, ist «Frieden» auch nicht mehr das Ende oder das Ausbleiben des Kampfes. Wo «Krieg» ein anderes Wort für «Tod» wird, muß «Frieden» ein anderes Wort für «Leben» werden.

«Auch der Weg nach dem Utopia der überlebensfähigen Menschheit wird an Abgründen vorbei und über schmale und wacklige Stege führen. Auch die über-lebensfahige Erde wird kein Ort vollkommener Sicherheit sein, sondern ein Planet, auf dem geboren und gestorben wird. Auch dort werden Menschen mitten im Leben vom Tod umfangen sein. Wer aus dieser Realität ausbrechen will, zerstört auch noch den Rest relativer Sicherheit, der uns als Menschen zukommt.»

Inhalt

I   Von den bewegenden zu den schäbigen Utopien  (9)

II   Das Utopia der Unverwundbaren   (21)

III   Vom Gleichgewicht des Schreckens zum Erschrecken vor dem Gleichgewicht (31)

IV  Die Rettung des Krieges   (43)

V   Muß man den gewinnbaren Atomkrieg gewinnen?   (57)

VI  Der Kanzler denkt, der Präsident lenkt   (71) 

VII  Sprache ohne Wirklichkeit  (95)

VIII  Die Wirklichkeit hinter den Feindbildern  (111)

IX  Von Gewißheit und Sicherheit der Christen  (127)

X  Die lebensnotwendige Utopie  (147)

XI  Auf dem Weg zur überlebensfähigen Welt  (159)

XII  Politik des Friedens  (173)

XIII  Die vorweggenommene Utopie  (205-220)

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Von den bewegenden zu den schäbigen Utopien

«Ein unaufhebbarer Rest an Unsicherheit gehört zur conditio humana,
zu den Bedingungen menschlichen Lebens.
Wer diesen Rest leugnen oder gar tilgen will,
sichert unser Leben nicht, er zerstört es.» (S.17)

11-20

Menschliches Leben vollzieht sich im Erinnern von Vergangenheit und in der Vorwegnahme von Zukunft. Wir leben auf der Schwelle zwischen einer Vergangenheit, die uns trägt oder bedrückt, und einer Zukunft, die uns beflügelt oder lähmt. Wie wir in und von der Vergangenheit leben, so auch in und von der Zukunft.

Wir finden uns nicht ab mit dem, was wir hier und heute erfahren, auch nicht damit, wie wir uns selbst vorfinden. Unserem Ungenügen an der Wirklichkeit, an der Welt, wie wir sie kennen, an uns, wie wir uns kennen, an der alten Welt und am alten Adam, entspricht unsere Hoffnung auf eine neue Welt und den neuen Menschen. Christlicher Glaube erwartet den neuen Himmel und die neue Erde, die Vollendung der Schöpfung und des Menschen endgültig in der Wiederkunft Christi, also außerhalb oder als Abschluß menschlicher Geschichte. Und doch bestehen die Christen darauf, daß schon hier und heute, in unserer Geschichte, das Reich Gottes keimhaft wirksam sei.

Thomas Morus verlegt zu Beginn der Neuzeit die vollkommene Schöpfung, den neuen Adam und die neue Eva, auf unsere Erde, allerdings in ein Land, das es, zumindest bislang, noch nirgendwo gibt, nach Utopia. Jede große Utopie zielt auf den neuen Menschen, den neuen Adam und die neue Eva und auf eine Welt, in der sie sich unter Brüdern und Schwestern entfalten können. Morus läßt einen Weltreisenden erzählen von der Insel Utopia, der Nirgendwo-Insel, auf der die Menschen ohne Privateigentum, ohne Konkurrenz, ohne Neid, ohne Kränkung, ohne äußeren Zwang sich ihres Lebens freuen.

Die Insel Utopia ist zwar unerreichbar für uns, in unbekannter Ferne, aber sie liegt im Diesseits, auf unserer Erde. Man kann und darf sie suchen, und, vor allem, man kann und soll sich an ihr ein Beispiel nehmen, man darf sogar, was dort geschieht, zeichenhaft vorwegnehmen.

Was die Bitte des Vaterunsers «Dein Reich komme» als Hoffnung und Erwartung ausspricht, gerät nun, im 16. Jahrhundert, in die Reichweite menschlichen Strebens. Aber da liegt nicht, wie manche vermuten, eine Verwechslung der Ebenen zugrunde. Thomas Morus, der Staatsmann, der später für seinen Glauben starb, wußte nur zu gut, wie die Wirklichkeit unserer Welt aussieht. Er war kein Mann der Illusionen. Er wußte, daß das Reich Gottes sich nicht in unsere Welt hineinzwängen läßt. Aber er wußte wohl auch, was aus Menschen wird, die weder Gottes Reich erwarten noch Utopia suchen. Er ahnte, was aus einer Menschheit werden könnte, der die Dimension des anderen, menschlicheren Lebens verlorengeht.

Spätestens seit Morus lebt das Abendland im Spannungsfeld zwischen Utopie und Wirklichkeit. Wir sind, auch und gerade wenn wir unsere ernüchternde Wirklichkeit voll wahrnehmen, immer auch unterwegs nach Utopia. Wie die unvollkommene, unerträgliche Wirklichkeit nach der Utopie schreit, so erhält die Wirklichkeit erst von der Utopie her ihre klaren Konturen. Die Utopie vom neuen Menschen ist der Hintergrund, auf dem der Mensch, wie er ist, erst voll erkennbar wird als das Wesen, das Pascal im folgenden Jahrhundert dadurch bestimmt sieht, daß es groß genug ist, sein Elend wahrzunehmen.

Utopia läßt sich nicht erreichen, erst recht nicht erobern, besitzen, aber wir können uns Utopia nähern, auf Utopia zugehen. Utopien sind Orientierungspunkte auf dem Weg durch unsere Wirklichkeit, nicht mehr, nicht weniger. Diese Wirklichkeit wird schal, dumpf, hoffnungslos, wo solche Orientierungspunkte fehlen. Und sie kann zur Hölle werden, wo Utopia mit Gewalt herbeigezwungen werden soll.

Eines haben die beflügelnden Utopien des Abendlandes gemein: Weil sie Spiegelungen, Säkularisierungen der alten Hoffnung sind auf den neuen Himmel, die neue Erde und den neuen Adam, zielen sie immer auf den neuen Menschen, der, aus seiner Entfremdung erlöst, dem Mitmenschen als Nächster, als Bruder oder Schwester, als Genosse gegenübertritt, der mit ihm die Güter dieser Erde, die Früchte des Geistes, vor allem aber die allen Menschen zukommende Freiheit genießt.

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Alle Utopien von Thomas Morus bis Karl Marx waren Utopien vom neuen, befreiten Menschen in einer neuen Gesellschaft der Freien und Gleichen. Zu diesen bewegenden Utopien gehört auch die vom ewigen Frieden, vom Umschmieden der Schwerter zu Pflugscharen, eine Verheißung, die vom frühen Judentum bis in unsere Zeit Menschen auf den Weg der Hoffnung gebracht hat.

Politik hat es mit dem alten Adam zu tun, sie muß mit ihm rechnen, ihn gewinnen und zusammen mit ihm handeln. Der Politiker muß den alten Adam - in sich selbst und anderen -nicht nur hinnehmen, er sollte sogar ein Mindestmaß an Zuneigung, an Liebe für ihn aufbringen. Und gleichzeitig muß er versuchen, dem neuen Adam eine Chance zu geben - bei sich und anderen -, winzige Räume für seine Entfaltung freizumachen, kurz: unsere Welt zur Utopie hin zu öffnen. Wo der alte Adam ernstgenommen und angenommen, der neue aber nicht aufgegeben wird, leben wir in der fruchtbaren Spannung zwischen Utopie und Wirklichkeit, aus der Neues hervorgehen kann.

Fragwürdig bei Marx erscheint daher nicht seine Utopie der klassenlosen Gesellschaft, sondern das besondere Verhältnis von Utopie und Wirklichkeit, der Kurzschluß zwischen Wirklichkeit und Utopie. Das Neue bei Marx war nicht seine Utopie - die entstammt jüdisch-christlicher Tradition -, sondern sein Versprechen, die wissenschaftlich feststellbaren Gesetze der Geschichte führten notwendig dahin, sie bewirkten in unserer Welt und in durchaus überschaubarer Zeit jene klassenlose Gesellschaft, in der die Entfremdung des Menschen ihr Ende finde und das Reich der Freiheit anbreche. Weil hier Utopie im Kleide der Wissenschaft auftrat, weil Utopie hier nicht mehr nur gemalt, sondern, so schien es, errechnet wurde, geht die Bestürzung über das, was im Namen von Marx geschehen ist, besonders tief. Daß der Weg zur Freiheit über Jahrzehnte gesteigerter Unfreiheit führe, leuchtet auch dem Gutwilligen nicht ein.

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Nicht, daß der real existierende Sozialismus sein Utopia nicht erreicht, ja verfehlt hat, ist ihm anzulasten. Kein Mensch kommt nach Utopia, also auch kein Kommunist. Was so viel Hoffnung verdorren ließ, ist schlimmer: Der real existierende Sozialismus hat nicht nur sein Utopia, er hat sogar die Richtung dahin verfehlt. Er hat sich noch weiter von der Gesellschaft der Freien und Gleichen entfernt als jener demokratische Sozialismus des Westens, der seit langem nicht mehr an das Utopia des Endzustandes glaubt, in dem alle Entfremdung aufgehoben ist.

Auch im Reich der Utopien gibt es kein Vakuum. Wir leben nie ohne Utopie, auch wenn wir es uns einreden. Wo die großen Utopien verblassen oder - was schlimmer ist - dem Gelächter der Skeptiker und dem Hohn der Gegner preisgegeben werden, schleichen sich die kleinen banalen, schäbigen Utopien ein. Da geht es dann nicht mehr um die Vision des neuen, sondern um die Wünsche des alten Adam. Die schäbige Utopie meint nicht die neue Gesellschaft, sondern die alte, in der man sich einrichtet, jeder für sich.

Adressat der schäbigen, heruntergekommenen Utopie ist das ego, nicht die Gesellschaft. Aber sie hat eine gesellschaftliche Funktion: für die beflügelnde Utopie einen Ersatz zu bieten. Es gibt auch das Utopia aus Plastik. Was es offenbar nicht gibt, ist die Gesellschaft ohne Utopie, zumindest nicht im historischen Horizont jüdisch-christlicher Tradition. Wichtigstes Kennzeichen der schäbigen Utopie ist, daß sie breitbeinig als Realismus auftritt, sich als Utopie nicht zu erkennen gibt. Sie kann sehr wohl als Polemik gegen jede Utopie daherkommen. Sie bedarf auch keiner Revolution. Man müsse, so sagen ihre Propheten, nur so weitermachen wie bisher, die bislang Mächtigen walten lassen, dann werde das kleinbürgerliche ego alles bekommen, was sein Herz begehrt: perfekten Wohlstand und lückenlose Sicherheit. Dahin führe die Fortschreibung, die sich als Fortschritt ausgibt, sie allerdings dürfe nicht gestört werden von Träumern und Utopisten. Die schäbige Utopie ist die der Technokraten.

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Sie läßt sich prognostizieren, errechnen. Sie befriedigt das ego des alten Adam um so mehr, als sie ihn in Ruhe läßt und seinem Sinn für Realismus schmeichelt. Nur: Utopie bleibt sie allemal, weil es das, was da versprochen wird, nirgendwo gibt. Dies ist die entscheidende Einsicht, die wir dem Bewußtseinswandel des letzten Jahrzehnts verdanken, dem, was sich seit Ende der sechziger Jahre in der Wirklichkeit und in unseren Köpfen verändert hat. Niemand sollte sich darauf etwas einbilden, wenn er plötzlich erkennt: Die Plastikutopien sind dem verwandt, was Ernst Bloch den «Tagtraum bequemer, läppischer, fluchthafter, abwegiger und lähmender Art» genannt hat.' Kaum einer, der die Nachkriegszeit schon bewußt erlebt hat, wird von sich sagen können, er sei von solchen Tagträumen verschont geblieben.

Eine heruntergekommene Utopie war der Glaube an jenes Wachstum, das, auch und gerade wenn sonst alles beim alten bleibt, jedem eines Tages geben sollte, was jetzt nur der Reiche hat. Von dieser bequemen Utopie hat unsere Gesellschaft mehr als drei Jahrzehnte gelebt. Und noch heute halten sich ihre Anhänger für Realisten.

Seit der Zäsur der ersten Ölkrise wachsen die Zweifel, auch wenn die Strukturkonservativen ihre Plastikutopie täglich neu beschwören. Das Reich des technokratisch erzeugten Glücks durch immerwährendes Wachstum ist nirgendwo, jedenfalls nicht auf unserer begrenzten Erde. Eine so dürftige Utopie konnte nur bei desillusionierten Menschen wirksam werden, denen alle großen Utopien aus dem Blickfeld geraten waren. In unseren Tagen verflüchtigt sich auch noch diese kleine Utopie, erweist sich als banale Illusion, hochgehalten nur noch von denen, die daran ein handfestes Interesse haben . Was sie hinterläßt, sind Millionen Arbeitslose, vergiftete Luft und sterbende Wälder, vor allem aber orientierungslose Menschen.

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Inzwischen bietet sich der Ausweg an in eine wesentlich gefährlichere Utopie: die der vollkommenen Sicherheit. Auch diese Utopie meint nur den alten Adam, ihn allein in seiner Ichbezogenheit. Sie verspricht ihm die totale Erfüllung eines Wunsches, der die moderne, bürgerliche Ausgabe des alten Adam besonders auszeichnet. Auch die Plastikutopie perfekter Sicherheit gibt sich als schierer, ja alternativloser Realismus, und dies gegen alle geschichtliche Erfahrung.

Helmut Schelsky hat die «skeptische» Kriegsgeneration durchaus richtig verstanden, als er ihr schon 1957 folgende Prognose stellte:

«Man wird sich auf keine Abenteuer einlassen, sondern immer auf die Karte der Sicherheit setzen, des minimalen Risikos, damit das mühselig und glücklich wieder Erreichte, der Wohlstand und das gute Gewissen, die gebilligte Demokratie und die private Zurückgezogenheit nicht wieder aufs Spiel gesetzt wird.»2

Aber eben: Was menschlich verständlich ist, kann trotzdem zum Verhängnis werden, zumal in einer Welt, in der nichts riskanter ist als der Versuch, allen Risiken aus dem Wege zu gehen.

Damit niemand mißverstehe: Seit es Menschen gibt, streben sie nach Sicherheit. Sie tun es, eben weil sie Zukunft vorwegnehmen in Furcht und Hoffnung. Sie mußten sich sichern gegen Hitze, Frost, Sturm, Gewitter, aber auch gegen Hunger, wilde Tiere, Konkurrenten oder Feinde. Deshalb haben sie Höhlen gesucht, Häuser gebaut, Waffen erfunden, Städte gegründet. Aber sie waren sich immer im klaren: Dies alles minderte die Unsicherheit. Es änderte nichts daran, daß schon morgen Krankheit, Unfall, Hunger, Feuer, Krieg losbrechen konnten. Es ist menschlich, daß Sicherheit auch gesucht wird in der Gruppe, der Familie, der Sippe, dem Stamm oder der Klasse, dem Staat oder der Kirche. Wer sich einfügt, sich an die Normen hält, ist sicher; wer ausbricht, Fragen stellt oder gar in Frage stellt, ist ausgesetzt, unsicher. Nur:

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Wer die totale Sicherheit in der Gruppe will oder braucht, wird unfrei.

Es ist durchaus menschlich, wenn im 20. Jahrhundert eine Generation, die einen oder gar zwei Weltkriege, eine oder zwei Geldentwertungen mit Mühe überstanden hat, besonders auf Sicherheit drängt. Es ist nicht nur menschlich, sondern richtig, wenn in einer sozialen Solidargemeinschaft der jeweils Gesunde für den jeweils Kranken, der jeweils Junge für den jeweils Alten, der jeweils Arbeitende für den jeweils Arbeitslosen einsteht - wobei jeder weiß, wie rasch dabei die Rollen neu verteilt werden.

Aber was geschieht, wenn Sicherheit zum obersten der Werte, zur «kollektiven Obsession» (Johano Strasser) wird?

Es ist gut so, daß Menschen, wenn sie krank werden, die Sorge um die Arztrechnung abgenommen wird. Aber geht unsere Sicherheitsvorstellung nicht weiter? Versicherungen «gegen Krankheit» werden angeboten, als sicherten sie uns nicht gegen die Kosten der Krankheit, sondern gegen die Krankheit selbst. Daß ein Gesundheitswesen, dessen Erfolge in ein immer kläglicheres Mißverhältnis zu seinen Kosten geraten, nicht härter angegangen wird, hat damit zu tun, daß es so etwas wie Sicherheit verspricht: Im Notfall ist immer ein Arzt, ein Krankenwagen, ein Krankenbett da, was immer dies helfen mag. Gegen jeden Schmerz gibt es eine Pille, was immer dieses Medikament sonst noch anrichtet. Man kann sich auch vorsorglich impfen lassen, nicht nur gegen Pocken und Kinderlähmung, auch gegen Grippe, was immer dies nützen oder schaden mag. Es gibt so etwas wie ein Anrecht, gegen Krankheit abgesichert zu werden, und dieses Anrecht gilt es notfalls einzuklagen bei dem riesigen Apparat, den wir zu diesem Zweck aufgebaut haben.

Spätestens hier überschreiten wir die Grenze vom Menschlichen zum nicht mehr Menschlichen, zum Unmenschlichen. Den absolut sicheren Menschen gibt es nicht. Es hat ihn nie gegeben, und es wird ihn nie geben.

Ein unaufhebbarer Rest an Unsicherheit gehört zur conditio humana, zu den Bedingungen menschlichen Lebens. Wer diesen Rest leugnen oder gar tilgen will, sichert unser Leben nicht, er zerstört es.

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Die Mutter, die alle denkbaren Bakterien von ihrem Kind fernhalten will, verweigert ihm Leben, läßt sein Leben verkümmern. Der Mensch, der sich gegen jede denkbare Krankheit mit allen Methoden der medizinischen Wissenschaft absichern wollte, müßte wohl in psychischer Krankheit enden. So wichtig es ist, daß Menschen sich gegenseitig Risiken abnehmen, daß «einer des andern Last» trägt, so tödlich muß der Versuch enden, der Verletzbarkeit, der Anfälligkeit und Hinfälligkeit und damit der Unsicherheit menschlichen Daseins zu entlaufen.

Denn diese Verletzbarkeit und Unsicherheit ist auch ein Reflex menschlicher Freiheit. So richtig es ist, daß soziale Sicherheit für viele erst die Chance gibt, Freiheit zu praktizieren, so unausweichlich endet der Wahn absoluter Sicherheit im Tod der Freiheit.

Das gilt auch für das, was wir «innere Sicherheit» nennen. Nach den Erfahrungen von Weimar ist es verständlich, wenn wir unseren Staat nicht in die Hände von Leuten fallen lassen wollen, für die Freiheit keineswegs zuerst die Freiheit des Andersdenkenden ist. Aber haben die Berufsverbote für eine jämmerlich kleine Zahl bekennender Kommunisten etwa der Freiheit in unserem Gemeinwesen gedient? Im Grunde haben sich unsere Behörden verhalten wie jene Mutter, die ihr Kind niemals irgendeiner Ansteckung aussetzen will. Das Resultat war weniger, nicht mehr Freiheit, dazu eine Vergiftung des politischen Organismus, die unsere politische Kultur schwächen muß.

Nicht ohne Grund hat die Sozialdemokratie, als sie 1959 ihr Godesberger Programm beschloß, Sicherheit nicht zum Grundwert erhoben. So wichtig in der Geschichte des demokratischen Sozialismus die soziale Sicherheit des arbeitenden Menschen immer war, sie blieb abgeleitet von den Grundwerten der Gerechtigkeit und der Solidarität. Wo arbeitenden Menschen Gerechtigkeit widerfährt und wo Menschen solidarisch füreinander einstehen, entsteht jenes Maß an Sicherheit, das Freiheit praktizierbar macht. Wo Sicherheit zum Grundwert erhoben würde, müßte die Freiheit leiden.

Wo immer heute das Utopia der absoluten Sicherheit angepeilt wird, ist technokratisches Denken am Werk. Um jedes Risiko in unserer Energieversorgung auszuschließen, haben Technokraten die Zuwachsraten im Energieverbrauch aus den sechziger Jahren hochgerechnet und den Politikern klargemacht, welch gewaltiger Aufwand nötig sei, um den Energiebedarf für das Jahr 2000 zu decken. Hätte die Wirklichkeit diese Theorien nicht so erbarmungslos lächerlich werden lassen, wir hätten - nach Wolf Häfeles Berechnungen - schon 1977 unseren Verbrauch um 12% einschränken müssen, nur um das Geld für die nötigen Kraftwerke aufzubringen. Und er hatte uns sogar gedroht, wenn wir nicht sogleich mit dem Sparen für die sichere Energieversorgung begännen, müßten wir 1992 unseren Konsum schon um 25 % reduzieren.

Wer ganz sicher gehen will, fördert nicht Leben, er hemmt es. Und er findet dann immer noch eine Lücke im Schutzwall seiner Sicherheit.

Wo immer technokratisch absolute Sicherheit verheißen wird, sind Lücken-Theorien unausweichlich. Die geschichtliche Zäsur, erkennbar geworden im Jahr 1973 (erste Ölkrise) wurde als «Wachstumslücke» mißverstanden, als eine Lücke im - ansonsten fraglosen - Wachstumsprozeß. Das war ein Irrtum, der teuer zu stehen kam. Die Differenz zwischen technokratischen Energieprognosen und der Wirklichkeit wurde zur Energielücke hochgerechnet. Glücklicherweise kam es anders.

Weigern sich die Menschen, den Sicherheitstechnokraten zu glauben, so bescheinigt man ihnen mitleidig eine «Informationslücke», die es zu füllen gilt. Und trauen sie schließlich den Politikern nicht mehr, die sich von technokratischen Utopien leiten lassen, dann tut sich die «Glaubwürdigkeitslücke» auf, mit der die Politiker um so weniger fertig werden, je weiter sich die technokratischen Abstraktionen von der Wirklichkeit entfernt haben.

Die Denkfigur der Lücke setzt immer das technokratisch konstruierte Ganze, das perfekte Gesamtgebäude voraus, bei dem jeder Mangel an Perfektion als Lücke erscheint, die zu schließen ist. Sollte es sich bei den diversen Raketenlücken anders verhalten?

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Eppler-1983 : Die tödliche Utopie der Sicherheit