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XII   Politik des Friedens

«Es bleibt eine schauerliche Binsenweisheit, daß Rüstung auch dann tötet, wenn Kriegsschiffe nicht versenkt, Flugzeuge nicht abgeschossen werden. Der Rüstungswettlauf im Norden ist unerklärter Krieg gegen den Süden.»


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1. Die Nord-Süd-Dimension

Friedenspolitik muß unserer geistigen und emotionalen Fixierung auf den Ost-West-Gegensatz ein Ende setzen, indem sie sich stärker den Problemen zuwendet, die zwischen Nord und Süd anstehen. Geht es im Verhältnis Ost-West vorläufig nur um ein recht steriles Kräftemessen auf allen Gebieten, vor allem dem der Rüstung, so entscheidet sich im Nord-Süd-Verhältnis schon heute, ob es je eine überlebensfähige Menschheit geben kann. Es ist die kaum mehr entwirrbare Verflechtung von Ausweglosigkeiten der Dritten Welt mit denen von Rüstung und Ökologie, die unsere Zukunft auch ohne Holocaust in Frage stellen. Es bleibt eine schauerliche Binsenweisheit, daß Rüstung auch dann tötet, wenn Kriegsschiffe nicht versenkt, Flugzeuge nicht abgeschossen werden. Man mag es schon kaum mehr wiederholen, wie jammerwürdig das Zahlenverhältnis zwischen den Ausgaben für Rüstung und Entwicklungshilfe aussieht, allenfalls wäre nachzutragen, daß es sich weiter zugunsten der Rüstung verschiebt, nicht nur in den USA. Der Rüstungswettlauf im Norden ist unerklärter Krieg gegen den Süden.

Weniger genau reflektiert ist die Kriegsgefahr, die uns vom Süden her einholen kann. Natürlich hat kein Land der Dritten Welt in absehbarer Zeit die militärische Kraft, es mit einer Supermacht aufzunehmen. Aber wenn ein atomarer Schlagabtausch Europas Ende einläuten sollte, dann dürfte das Morden mit größter Wahrscheinlichkeit nicht in Europa beginnen. Sehr viel eher vorstellbar als ein Überfall des einen Blocks auf den andern in Europa wäre ein Konflikt in der Dritten Welt, in den beide Weltmächte so unentrinnbar verwickelt würden, daß sie keinen friedlichen Ausweg mehr fänden. Im britischargentinischen Krieg war nur eine Weltmacht unmittelbar gefordert, und ihr Interesse war eindeutig, diesen Krieg zu verhindern. Trotzdem fand er statt. Im Nahen Osten sind beide Weltmächte mehr als nur tangiert und zwar, das wissen wir schon heute, die eine an der Seite Israels, die andere auf der Seite der Araber. Dort können rasch Funken fliegen, und ein Mann wie Menachem Begin dürfte die Chance nützen, die Ronald Reagan für ihn bedeutet. Ein einziger Funke in das zentraleuropäische Pulverfaß reicht aus, die deutsche Geschichte zu beenden.

Die Strategien der NATO sind eurozentrische Strategien. Nur: was geschieht, wenn diese eurozentrischen «Strategien» in den Köpfen der Brüsseler Strategen mehr Rückhalt haben als an der Wirklichkeit?

Dabei müssen die Funken nicht vom Libanon und nicht von Syrien geflogen kommen, sie können in Südasien, Südafrika, Zentralamerika, praktisch in allen Teilen der Dritten Welt zum Glühen kommen. Reibungsflächen und Waffen gibt es mehr als genug, um so mehr, j e größer die Versuchung von Regierungen wird, durch außenpolitisches Auftrumpfen Hunger und Hoffnungslosigkeit im eigenen Land zu überspielen. Auch da sollten wir die argentinische Lektion rasch lernen.

Weil wir die Dritte Welt in dem von uns selbst gebrauten Saft schmoren lassen, erhöhen wir die Kriegsgefahr. Weil viele noch - wie Reagan - daran glauben, daß man durch Rüstung Sicherheit kaufen könne, lassen wir die Dritte Welt in Hoffnungslosigkeit verkommen; weil ökologische Zusammenbrüche allenfalls dann stören, wenn es an unsere eigenen Lebensgrundlagen geht, bereiten wir ökologische Katastrophen in der Dritten Welt vor, die nicht nur die Kriegsgefahr -auch für uns - erhöhen, sondern eines Tages auch ohne Krieg den Norden gefährden können. Eins greift ins andere mit einer unabweisbaren, tödlichen Logik.

Im Ost-West-Verhältnis geht es schlicht darum, ob wir miteinander leben lernen oder uns gegenseitig umbringen. Dabei sind beide noch nicht einmal wirtschaftliche Konkurrenten auf den Weltmärkten.

Im Nord-Süd-Verhältnis entscheidet sich, ob wir diesen Erdball auch ohne Krieg zugrunde richten. Bisher hat man uns beigebracht, alles, was sich zwischen Nord und Süd abspielt, unter dem Aspekt der Ost-West-Konkurrenz zu sehen. Jetzt müssen wir lernen, wie irrational die Formen des Ost-

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West-Konfliktes sind, wenn man sie aus der Perspektive des Südens betrachtet. Im Süden ist schon der Zirkel von Elend, Übervölkerung und Umweltzerstörung tödlich. Weil immer mehr Menschen Brennholz brauchen, um ihren Hirsebrei zu kochen, müssen immer mehr Bäume sterben. Und weil immer mehr Bäume sterben, wird das Land, auf dem man Hirse anbauen kann, immer weniger. Weil das Land weniger wird, dringt die Wüste vor und immer mehr Menschen drängen sich da, wo die Wüste noch nicht angekommen ist, und sorgen dafür, daß sie noch etwas früher dort ankommt.

Es stimmt, daß ein Ende des Wettrüstens Kräfte für die Dritte Welt freimachen könnte. Wer die überlebensfähige Welt will, muß aber auch umgekehrt ansetzen: Erst wenn wir den Süden so ernst nehmen, wie er es verdient, können wir uns aus dem Krampf des Ost-West-Denkens lösen. Erst wenn wir unsere Energien dem Nord-Süd-Verhältnis zuwenden, werden wir frei von den Denkzwängen der Ost-West-Konfrontation. Erst wenn wir uns unsere Köpfe darüber zerbrechen - und mit den Menschen dort darüber ins Gespräch kommen -, wie für jedes einzelne Land im Süden der Ausweg aus Verschuldung, Hunger, Massenarbeitslosigkeit, Umweltzerstörung, Bevölkerungszuwachs und Verslumung zu finden sei, beginnen wir das, was zwischen Ost und West zu ordnen wäre, in seiner richtigen Dimension zu sehen. Die Völker des Südens können, wenn wir uns ihnen, ihren Hoffnungen und ihrer Verzweiflung zuwenden, uns ein Bild dieser Welt vermitteln, das sehr viel dichter, farbiger, realistischer und vor allem menschlicher ist als die heillos verzerrten Abstraktionen, die den ausgedörrten Köpfen kommunistischer oder antikommunistischer Ideologen entstammen. Wenn wir den Völkern Asiens und Lateinamerikas helfen, ihren jeweils eigenen Weg zu einem menschenwürdigen Dasein zu finden, der ihren Bodenschätzen, ihrem Klima, ihren Traditionen, ihren Fertigkeiten entspricht, werden wir unseren eigenen Weg eher erkennen und gehen können.

Die Wirklichkeit, die sich von der Utopie der lebensfähigen Menschheit abhebt, ist zuerst die von zweieinhalb Milliarden Menschen im Süden, deren Ausweglosigkeiten unser aller Überleben gerade dann gefährden könnten, wenn wir uns weiterhin darauf versteifen, Sicherheit vor dem «Feind» im Osten zu «kaufen».

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2. Entideologisierung der Außenpolitik

Friedenspolitik muß die Entideologisierung der Außenpolitik anstreben. Wir haben im siebten Kapitel dieses Buches gesehen, daß es der jeweilige Anspruch auf Allgemeingültigkeit ist, durch den westliche und östliche Ideologien den ohnehin gefährlichen Hegemonialkampf der Supermächte verschärfen. Wenn jeder überzeugt ist, die jeweils andere Ideologie, das jeweils andere System dürfe es eigentlich nicht geben, so muß sich diese Überzeugung, die zumindest jeder beim anderen voraussetzt, bis zu der fixen Idee verfestigen, der «final struggle», der Endkampf, sei unvermeidlich.

Nun hat sich in den letzten Jahren etwas Überraschendes ergeben: Während die Ideologie des Marxismus-Leninismus an Bindekraft verloren hat, wurden die USA von einer Welle der Re-Ideologisierung überschwemmt, die auch Reagan ins Weiße Haus getragen hat. Peter Bender hat den Prozeß im einzelnen nachgezeichnet, der die östliche Ideologie «zersetzt» und, wie er meint, den Ostblock zu einem «normalen Imperium» gemacht habe:

«Die Sowjetunion säkularisierte sich von einem Hort der Welterlösung oder Weltbedrohung zu einer ganz gewöhnlichen Großmacht; ihre Verbündeten normalisierten sich von einer verschworenen Gemeinschaft zu einem Bündel durchschnittlicher Mittel- und Kleinstaaten, die bemüht sind, leidlich durch die schweren Zeiten zu kommen. Sie haben allesamt verloren, was ihre Führungen legitimierte und was sie als Genossen verband. Alle waren gezwungen, neue Antriebe, neue Ziele, neue Rechtfertigungen und neue Gemeinsamkeiten zu suchen.

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Zugleich wurden sie vom Zwang zur Feindschaft mit allen Andersgläubigen befreit.»1

Man mag diesem genauen Kenner und wachen Beobachter Osteuropas entgegenhalten, das «Absterben der Ideologie» sei noch nicht so weit fortgeschritten, wie er meint: Natürlich beherrscht die Ideologie nach wie vor die Universitäten und Schulen, die Zeitungen und Festreden, aber doch wohl eher als Versuch, die Herrschaft der Parteibürokratie zu legitimieren, denn als beflügelnder Antrieb zu praktischem Tun. Wer etwa die Thesen der SED zum 500. Geburtstag Martin Luthers aufmerksam liest, wird nicht nur erstaunlich viel Nachsicht für den später sehr konservativen Reformator finden, sondern auch eine positive Würdigung konservativer Tugenden . Die «15 Thesen über Luther» deuten darauf hin, daß die Führung der DDR es wohl aufgegeben hat, die Mehrzahl der DDR-Bürger zu feurigen Kommunisten, zu Revolutionären im Sinne Thomas Münzers zu erziehen. Es reicht, wenn sie loyal mitarbeiten, fleißig sind und nicht gegen die Obrigkeit rebellieren. Und da paßt dann manches, was aus Luthers konservativer Geisteswelt kommt: Da passen die Tugenden der Arbeitsamkeit, der Pflichterfüllung, da paßt die Lehre von den zwei Regimenten als Mahnung, der SED das Regieren zu überlassen und selbst das Evangelium zu predigen. Und da paßt vor allem die Verteufelung allen Aufruhrs: Der Obrigkeit muß man nach Luther schließlich nicht nur gehorchen, wenn und weil sie gut ist, sondern weil sie Obrigkeit ist. Und daß die SED dies ist, läßt sich schwer bestreiten.

Es ist der Eindruck einer zutiefst konservativen Welt, der den westlichen Besucher im Osten, besonders in der Sowjetunion, erstaunen, abstoßen oder auch beruhigen kann. Und der neue Generalsekretär der KPdSU, Andropow, hat sich seit November 1982 dadurch einen Namen gemacht, daß er auf Tugenden wie Pünktlichkeit, Bescheidenheit, Fleiß, Zuverlässigkeit, Unbestechlichkeit energischer besteht als seine Vorgänger.

  • 1 Peter Bender, a.a.O., S. 73f

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Neue Impulse kommen meist nicht aus Moskau, sondern aus dem Westen. Wenn sich westliche Moden in Architektur, Musik, Farbe, Kleidung, Tanz gar nicht mehr aussperren lassen, werden sie auch im Osten geduldet. Wenn die Ökologiediskussion aus dem Westen schließlich doch eindringt, wird sie mehr oder minder halbherzig und mit den unerläßlichen ideologischen Randnotizen aufgenommen. Aber welcher neue Impuls geht vom Osten noch aus? Welche Dynamik? Welche bewegende Idee? Da herrscht eine bürokratisierte Partei mit ausgeprägtem Machtgefühl, ihre Repräsentanten nehmen ziemlich ungeniert Privilegien in Anspruch, die man im Westen zumindest besser verbirgt. Alles Neue ist erst einmal verdächtig, weil es die erstarrten Machtstrukturen in Frage stellen könnte. Und was die Außenpolitik angeht, so erinnere ich mich lebhaft an ein ausführliches Gespräch mit dem damaligen Sowjetbotschafter Zarapkin im Sommer 1968, wenige Wochen vor dem Einmarsch in die CSSR. Als der Sowjetdiplomat in der - bei konservativen Machteliten üblichen - Ausführlichkeit die Ansichten seiner Regierung über die Zukunft Europas dargelegt hatte, bekam er die Antwort, dies alles komme einem, der die europäische Geschichte etwas übersehe, recht bekannt vor. Auf die erstaunte Nachfrage des Botschafters erläuterte ich, die Darlegungen des Diplomaten erinnerten doch sehr an Fürst Metternich: Es dürfe sich in Europa nichts ändern, es müsse alles so bleiben, wie es ist. Man müsse nur statt dem Ausgangspunkt 1815 (Wiener Kongreß) das Stichjahr 1945 einsetzen. Der Diplomat blieb freundlich, diplomatisch, vielleicht fühlte er sich gar nicht so sehr mißverstanden.

Wer in der Sowjetunion eine Weltmacht sieht, die, von der Konkurrenz mit den ökonomisch und geostrategisch weit überlegenen USA überfordert, krampfhaft halten will, was sie hat, vor allem ihren Status als gleichberechtigte Weltmacht, dürfte heute der Realität näher sein als jene Ultrakonservativen in den USA, die hinter jeder Explosion nach-kolo-nialer Ausbeutungsstrukturen in Lateinamerika die teuflischen Revolutionäre aus Moskau wittern.

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Von daher verbietet sich auch jene historische Parallele, die, wie die meisten Nutzanwendungen aus der Geschichte, so kurzschlüssig ist, daß sie die Wirklichkeit nur verdunkelt: die Gleichsetzung von Nazismus und Kommunismus und, vor allem, die Gleichsetzung sowjetischer und großdeutsch-nazistischer Außenpolitik. Schon die unmittelbar einleuchtende Parallele zwischen den Verbrechen des Kommunismus und Nazismus ist nicht ganz exakt. Sicher sind die Brutalitäten Stalins vergleichbar mit denen Hitlers. Nur bleibt auch da ein kleiner, für die jeweiligen Opfer belangloser, für die Geschichte notierenswerter Unterschied: War die Ausrottung der Juden die letzte, zwingende Konsequenz aus der NS-Ideologie, so war das Wüten Stalins - sogar gegen seine eigenen Weggefährten - Folge der grauenhaften Deformierung einer im Ansatz humanistischen Ideologie. Ging es Marx und Lenin um die Aufhebung menschlicher Entfremdung, so ging es Hitler um die Unterwerfung oder «Ausmerzung» rassisch minderwertiger Völker durch die nordische Herrenrasse.

Bei Marx und noch mehr bei Lenin ist manches angelegt, was zur Herrschaft einer allwissenden Partei über ein entmündigtes Volk führen konnte. Daß in der Sowjetunion demokratische Freiheiten nicht gedeihen, liegt nicht allein an dem Beharrungsvermögen zaristischer Traditionen. Aber daß da ein argwöhnischer Alleinherrscher alles umbrachte, was er als Bedrohung empfand, läßt sich nicht bei Marx abladen.

So blieb bei den führenden Kommunisten auch unter Stalin der Rest eines schlechten Gewissens, während Himmler die Ausrottung der Juden als Tat heldischer Pflichterfüllung feierte. Daher gab es schließlich eine Ent-Stalinisierung, während es im NS-Staat auch nach Hitler wohl nie eine Ent-Hitlerisierung gegeben hätte.

Krasser ist der Unterschied in der Außenpolitik. Natürlich hat die Sowjetunion in Osteuropa alles geschluckt, was Hitler ihr anbot (das Baltikum, Bessarabien, Ostpolen). Stalin hat Europa bis zu den Grenzen sein System aufgezwungen,

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die von der Roten Armee in der Verfolgung der deutschen Angreifer erreicht wurden. Wo sich da Eigenständiges regte, wurde es niedergewalzt. Und die Invasion Afghanistans, wie plausibel sie sich auch begründen läßt, war eine jener im Kern dummen Ausflüchte in die Gewalt, für die es keine Rechtfertigung geben kann. Nur: Wo ist die Parallele zu dem Hitler, der, als er auf sein fünfzigstes Lebensjahr zuging, die Vorbereitung des Krieges, seines Krieges beschleunigte, damit er selbst ihn noch im vollen Besitz seiner Kräfte führen konnte? Hitler ohne das Abenteuer des Krieges zur Landnahme im Osten wäre seinem Ansatz untreu geworden, jeder konnte dies seit 1925 in <Mein Kampf> nachlesen.

Ob die siebzigjährigen, durch böse Erfahrungen ernüchterten Bürokraten im Kreml noch an die kommende Welt ihres «Sozialismus» glauben oder nicht: Sie wissen sehr wohl, daß militärische Expansion sie niemals dahin bringen kann. Sie fürchten den Krieg, wie Hitler ihm entgegenfieberte, und sei es nur, weil sie wissen, daß aus der geostrategischen Lage der Sowjetunion ein Krieg gegen den Rest der Welt nicht zu gewinnen ist.

Das Starren auf die ideologische Gefahr lenkt den Blick auch von einer anderen Realität ab: Der ökonomische Konkurrenzkampf um die Märkte der Welt spielt sich nicht zwischen den USA und der Sowjetunion ab, sondern zwischen den USA, der Europäischen Gemeinschaft und Japan, wobei jeder in diesem - in sich differenzierten - Dreieck des andern Konkurrent ist.

Es liegt an der Diskretion unserer Medien, daß die Härte ökonomischer Auseinandersetzungen zwischen Europäern und Amerikanern nicht voll ins Bewußtsein der Menschen dringt. Ob es sich um europäische Stahlexporte oder Weizenimporte, um amerikanische Steinkohle oder deutsche Autos handelt: Beim Geld hört die Gemütlichkeit auf. Und man darf doch wohl vermuten, daß solche Konflikte, lebten wir erst einmal in der Pax Americana, noch ein wenig robuster ausgetragen würden als heute. Es mag sein, daß die Hegemonial-konkurrenz der Giganten den Europäern wesentlich mehr

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schadet als nützt. Aber wenn es einmal kein ernsthaftes Gegengewicht zu den USA mehr gäbe, hätten wir auch daran keine reine Freude.

Das Streben nach Entideologisierung der Außenpolitik hat nichts zu tun mit ideologischer Neutralität. Der Tatbestand, daß Weltmächte sich, meist ohne große Skrupel, an ihren Interessen orientieren, sagt noch nichts darüber aus, was man von ihrer inneren Ordnung hält. Daß für die US-Außenpolitik, wenn es ernst wird, Menschenleben so wenig zählen wie für die sowjetische, bedeutet nicht, daß man die innere Ordnung der beiden Supermächte gleichsetzen könnte. Die Einsicht , daß es zwischen Interessen, sogar Weltmachtinteressen, Kompromisse eher geben kann als zwischen Ideologien und Systemen, die sich überdies eine dauerhafte Existenzberechtigung gegenseitig absprechen, bedeutet noch lange nicht, daß die Unterschiede zwischen den Systemen verwischt werden sollen. Es ist keineswegs gleichgültig, ob ein System bei allen seinen Verkrustungen und Vermachtungen, seinen Umsetzungen von ökonomischer Macht in politische, schließlich doch Raum für freie Diskussion läßt, jenen Raum, ohne den es die notwendigen Veränderungen nicht geben kann. Man muß schon wissen, wohin man gehört, in welchem System man lieber leben, arbeiten, sich für Veränderung engagieren will.

Entideologisierung der Außenpolitik bedeutet Abschied von der Zwangsvorstellung, früher oder später müsse eines der Systeme das andere schlucken. Sollte es jemals dazu kommen, dann wäre das überlebende System von seiner heutigen Ausformung so weit entfernt, daß man zweifeln könnte, wer denn da gewonnen hat. Die Geschichte - und das verdrängen die Dogmatiker - ist nach vorn offen. Keines der heutigen Systeme wird die nächsten Jahrzehnte ohne Wandlungen überstehen, von denen wir heute noch keine Vorstellung haben. Keines der Systeme ist so beschaffen, daß es den Völkern der Dritten Welt einfach als Vorbild dienen könnte. Weder die kapitalistischen noch die sozialistischen Modelle haben die Völker des Südens vor Sackgassen bewahrt.

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Streit, wohl aber unsere Folgerungen daraus. Wer sich zum Ziel gesetzt hat, die Sowjets niederzuringen, damit endlich ein Irrweg der Geschichte an sein Ende komme, wird die ökonomische Unterlegenheit des Ostens nicht nur begrüßen, sondern auch nach Kräften fördern. Wer auf eine friedliche, solidarische Welt hinarbeitet, kann an dieser offenkundigen Unterlegenheit nur insofern seine Freude haben, als sich daraus Ansatzpunkte für eine langfristige Kooperation ergeben.

Nun wird heute schon sehr viel mehr zusammengearbeitet, als in unser Bewußtsein eingedrungen ist. Die Liste deutscher Firmen, die ihre Produkte zum guten Teil - man nennt dies Lohnveredelung - in Ungarn fertigen lassen, ist lang. Deutsche Unternehmer wissen sehr wohl von den niedrigen Löhnen im «real existierenden Sozialismus» Gebrauch zu machen, auf die sie beim Vergleich der Systeme so gerne diskriminierend verweisen. Und Kommunisten lassen die Arbeitskraft ihrer «Werktätigen» gerne von westlichen Kapitalisten ausbeuten, wenn dies nur harte Devisen bringt.

Die Überschuldung des Ostens liegt so wenig in unserem Interesse wie die der Dritten Welt. Beides kostes letztlich unsere Arbeitsplätze. Es ist nicht nur gut für Russen oder Bulgaren, wenn schließlich jeder sich dort eine ordentliche Wohnung, feste Schuhe und frisches Obst leisten kann, wenn modernere Busse mit besserem Treibstoff durch die Straßen Leningrads oder Odessas fahren. Dies bedeutet auch Arbeit für manches deutsche Unternehmen. Noch wichtiger: Alles, was zur ökonomischen Verflechtung von Ost und West beiträgt, alles, was gemeinsame ökonomische Interessen schafft, dient dem Frieden.

Die Antwort auf Reagans Versuch, den Austausch von Erdgas gegen Röhren für die sibirisch-europäische Gasleitung zu verhindern, hätte von selbstbewußten Westeuropäern nicht mit dem formalen Einwand zurückgewiesen werden dürfen, Verträge seien nun einmal einzuhalten. Die angemessene Antwort wäre gewesen: Wir halten an diesem Geschäft fest, weil wir dies so wollen. Und wir wollen es, weil es in unserem Interesse liegt. Und es liegt in unserem

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Interesse, weil es unsere Energieversorgung sichert und Arbeitsplätze schafft, vor allem aber, weil wir die gegenseitige ökonomische Abhängigkeit und damit das wachsende Interesse am Wohlergehen des jeweils andern verstärken wollen. Und dies wollen wir, weil es den Frieden zwar noch lange nicht garantiert, wohl aber fördert.

So seltsam es klingen mag: Ökonomisch sind für uns die USA vor allem Konkurrent, ein Konkurrent, der gleichzeitig Ansporn und - nicht immer zu unserem Nutzen - auch Leitbild ist, der Osten ist für uns Partner, ein viel zu schwacher, schwerfälliger, bürokratischer, oft ineffizienter, aber doch zuverlässiger Partner. Dieser Partner ist reich an Rohstoffen und hat einen gewaltigen Bedarf an moderner Technik, wenn er seine Bevölkerung besser versorgen will.

Wir haben ein Interesse daran, daß dieser Partner beweglicher, austauschfähiger, reicher, stärker, kreditwürdiger wird, ein wirtschaftliches und politisches Interesse. Die Europäer müssen ihren Verbündeten auf der andern Seite des Atlantik klarmachen, daß jedes Handeln gegen dieses Interesse nicht unsere Beziehungen zum Osten belastet, wohl aber die zu den USA.

Die Wirtschaft in West- und Osteuropa bedarf der Perspektiven. Es macht schon einen Unterschied, ob beide eine langfristige Kooperation vor Augen haben oder nur die Geschäfte abwickeln, die sich gerade aufdrängen. Was wir brauchen, ist ein Wirtschaftsabkommen mit der Sowjetunion für 30 oder 50 Jahre.

Inzwischen haben auch die orthodoxen Ideologen auf der andern Seite eingesehen, daß unser aller natürliche Lebensgrundlagen nicht nur durch den Kapitalismus aufgezehrt werden. Das Wäldersterben kümmert sich nicht um Schlagbäume und Stacheldraht, da zählen allenfalls Windrichtungen. In der Danziger Bucht ist die Ostsee noch etwas giftiger als anderswo, die Elbe transportiert volksdemokratischen Schmutz in die Nordsee, Schwermetalle geraten überall in die Nahrungskette, und die Feststellung eines deutschen Forschers, in 100 Jahren sei das Blei bereits «wirtschaftlich abbauwürdig», das sich heute auf unseren Waldböden ansammelt, gilt wohl auch für den Thüringer Wald oder die Karpathen.

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Wo es gemeinsame Gefahren gibt, liegt gemeinsames Handeln nahe. Seit es im Osten - reichlich spät - erste Ansätze zu einer Ökologiediskussion gibt, wächst die Chance einer breitgefächerten Kooperation. Auch wenn sie noch nicht sofort zu bindenden Abmachungen führt, es wäre ein Anfang, wenn z.B. eine oder mehrere gemeinsame Kommissionen aus Fachleuten West- und Osteuropas gemeinsame Empfehlungen ausarbeiten, die der Öffentlichkeit beider Seiten vorzulegen wären. Vielleicht wird dann deutlich, daß die Art, wie man in der CSSR Braunkohle verheizt, Bayern mehr gefährdet als alle dort stationierten Divisionen, daß der saure Regen aggressiver ist als Bundeswehr und Volksarmee zusammengenommen. So wie die Beschäftigung mit der Dritten Welt als krampflösendes Mittel in den Verkrallungen zwischen Ost und West wirken kann, so macht schon das Bewußtsein gemeinsamer ökologischer Gefahren und Aufgaben eine Wirklichkeit sichtbar, vor der ideologische Unversöhnlichkeit sich eher komisch ausnimmt.

 

4. Europäische Solidarität

Wer mit Repräsentanten der Weltmächte zu tun hat, wird sich des Eindrucks schwer erwehren können, daß sie an einem Punkt gelegentlich gemeinsame Sache machen: wenn es um die Disziplin innerhalb der Blöcke geht. Beide wissen, daß Regungen der Eigenständigkeit auf der einen Seite meist solche auf der andern nach sich ziehen. Kommt der Gleichschritt bei der einen Truppe durcheinander, so ist er auch bei der anderen in Gefahr. Deshalb geht man wohl nicht fehl in der Annahme, daß die Friedensbewegung im Westen der Sowjetunion keine ungetrübte Freude bereitet. Nicht nur, daß die Bewegung - wenn auch in den dort angemessenen Formen -auf die DDR und andere Paktstaaten übergreifen könnte. Sie ist ein Zeichen von Widersetzlichkeit gegen die westliche Su-

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permacht, die ähnliche Widerborstigkeit im sowjetischen Lager ermutigen könnte. Manchmal will es scheinen, als ziehe die Sowjetunion eine kleinere, von Kommunisten gesteuerte und damit zur Erfolglosigkeit verurteilte Friedensbewegung einer großen, unabhängigen und damit mehrheitsfähigen Friedensbewegung vor. Sicher schwingt im westlichen Reden von der «blockübergreifenden» Friedensbewegung manche Illusion und manche Rücksichtslosigkeit gegenüber den Friedensgruppen im Osten mit, aber dies rechtfertigt nicht die kommunistische Polemik gegen den leisesten Zweifel an der Weisheit sowjetischer Rüstung. Nichts beunruhigt sowjetische Funktionäre mehr als Vergleiche zwischen westdeutscher Friedensbewegung und polnischer Gewerkschaftsbewegung. Aber auch die USA wissen, was der NATO-Diszi-plin schaden könnte: Sie haben nichts getan, was mehr polnische Eigenständigkeit hätte fördern können. Moralische Entrüstung über ein illegales Militärregime - das sich, verglichen mit den vom CIA in Lateinamerika geförderten, noch geradezu zivil ausnahm -, die These von der russischen Marionette Jaruzelsky, dazu wirtschaftlicher Boykott gegen das hungernde Polen, das alles war dazu angetan, den polnischen Handlungsspielraum nicht zu erweitern, sondern einzuengen, Polen noch abhängiger von Moskau zu machen. Man würde die im State Department und im Weißen Haus konzentrierte Intelligenz doch wohl unterschätzen, unterstellte man, die US-Regierung hätte nicht gewußt, was sie tat. So dumm kann auch eine Weltmacht nicht sein, daß sie - ganz aus Versehen -immer genau das Gegenteil dessen erreicht, was sie als ihr Ziel ausgibt.

Die Ängste der Weltmächte zeigen den Europäern: Strammer Gleichschritt auf der einen Seite ist immer das durchschlagende Argument für mehr Gleichschritt auf der andern. Aber eben auch: Politischer Spielraum, der auf der einen Seite der Demarkationslinie genutzt, gefüllt und ausgeweitet wird, schafft neuen Spielraum auf der andern Seite. Hier gibt es gemeinsame Interessen von Bukarest bis Paris, von Bonn bis Warschau, gemeinsame Interessen der Mittleren und Kleine-

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ren gegenüber den Großen. Niemand kann die Paktsysteme von heute auf morgen auflösen. Und es wäre kaum zu erwarten, daß ein abruptes Aufbrechen der Fronten den Frieden herbeizwingen könnte. Aber auf mittlere Sicht muß eine Dynamik gemeinsamer europäischer Interessen, ja eine Form europäischer Solidarität die Paktsysteme relativieren, lokkern, überwölben und schließlich ersetzen.

Ulrich Albrecht hat daran erinnert, daß Stalin, als er die Deutschen aus Schlesien, Pommern und Ostpreußen unter schrecklichen Opfern verjagen ließ - so seltsam dies klingen mag -, russische Sicherheitsinteressen im Auge hatte. Er habe auf diese Weise die ewige Feindschaft zwischen Deutschen und Polen sicherstellen wollen, damit Polen für immer an Rußland gebunden werde.

«Polen diente den Deutschen regelmäßig als Korridor für den Angriff auf Rußland», so zitiert Albrecht den sowjetischen Diktator, «und dieser Korridor muß blockiert werden, ... am besten durch die Polen selbst.»3

Ausgerechnet bei dieser, nach aller historischen Erfahrung narrensicheren Rechnung hat Stalin sich geirrt. Die bewundernswerte Nüchternheit der weitaus meisten Vertriebenen, die Hinnahme der für viele schmerzlichen Grenze, der Kniefall Willy Brandts in Warschau, schließlich Millionen von Paketen haben eine Feindschaft überwunden, die jede Bewegung zwischen den Paktsystemen in Europa blockieren sollte und in der Tat hätte blockieren können. Aber Stalin hat sich noch ein zweitesmal verrechnet: Als er die Völker Osteuropas nicht nur zwang, sich sowjetischen Sicherheitsinteressen zu beugen, sondern ihnen auch sein System auferlegte. Nirgendwo - allenfalls mit der Ausnahme Ungarns - hat dieses System in nahezu vier Jahrzehnten die Unterstützung einer Mehrheit erringen können.

Während in Finnland die sowjetischen Sicherheitsinteressen von einer nichtkommunistischen Regierung seit vierzig

3 Ulrich Albrecht, Kündigt den Nachrüstungsbeschluß! Ffm. 1982, S. 127

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Jahren zuverlässig gewahrt werden, muß die Sowjetunion bei allen Warschauer Paktstaaten befürchten, daß jede Rebellion gegen das Machtmonopol eines bürokratischen Parteiapparates, sogar wenn sie sich zuerst nur gegen wirtschaftliche Mißstände richtet, umschlägt in eine anti-sowjetische Bewegung und damit in die Mißachtung aller sowjetischen Sicherheitsinteressen.

Niemand kann wissen, ob je eine sowjetische Führung daraus den Schluß ziehen wird, der für den Unvoreingenommenen naheläge: daß man von Sofia bis Warschau einen Prozeß zulassen oder fördern könnte, bei dem zwar die Produktionsmittel nicht privatisiert würden, aber doch geheiligte Grundsätze des Leninismus, wie die «führende Rolle der Partei» zumindest anders ausgelegt würden als heute, einen Prozeß, in dem so etwas wie freie Diskussion aufkeimen, so etwas wie sozialistische Marktwirtschaft sich entfalten könnte, wobei die unausgesprochene Gegenleistung immer die Respektierung der russischen Sicherheitsinteressen wäre. Auch wenn niemand die Sowjetführung zu dem Risiko des Klugen zwingen kann, steht schon heute fest: Nur eine Lockerung im westlichen Bündnis kann eine Chance dazu öffnen. Die Westeuropäer, eben weil sie freier sind, müssen vorangehen.

Als der sowjetische Außenminister am 23.2.83 die Westeuropäer ermahnte, ihre eigenen Sicherheitsinteressen auch gegenüber den USA wahrzunehmen, reagierte die Bundesregierung mit beflissener Empörung: Dies sei Einmischung in die inneren Angelegenheiten. Abgesehen davon, daß Interessenkonflikte im Bündnis zu den auswärtigen nicht zu den inneren Angelegenheiten gehören, hätte es den Westeuropäern besser angestanden, Gromyko darauf zu verweisen, daß es auch in Osteuropa Interessen gibt, die mit den sowjetischen nicht übereinstimmen, daß sowjetische Rücksicht auf polnische Interessen es den Westeuropäern erleichtern könnte, europäische Belange auch gegenüber Washington geltend zu machen.

Ob und wann die Europäisierung Europas dann, wie Albrecht vorschlägt, zu einem Rückzug aller sowjetischen und

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amerikanischen Truppen aus Europa führen könnte, ob in einer Zwischenphase beide Supermächte ein System kollektiver Sicherheit - vielleicht sogar durch symbolische Verbände - garantieren sollten, dies alles läßt sich nicht auf dem Reißbrett entwerfen und dann in Geschichte umsetzen. Aber die Richtung ist klar: Was immer die Europäer in Ost und West eigenständiger macht, vor allem aber verbindet, zusammenführt und solidarisiert, entschärft die Konfrontation in Europa und dient dem Frieden.

Dabei sind der Phantasie allenfalls bürokratische Grenzen gesetzt: Von Städte-Partnerschaften über Konzertreisen, von Dichterlesungen über die Bereinigung von Schulbüchern, vom Tourismus bis zum Sport, von der Suche nach energiesparenden Technologien bis zum christlich-marxistischen Dialog, von der Versachlichung von Radiosendungen bis zum Umweltschutz gibt es unzählige Möglichkeiten, Menschen, Gruppen und Völker zusammenzuführen, gemeinsame Wurzeln bewußt zu machen und gemeinsame Zukunft zu erschließen. Vielleicht kommt sogar der Tag, an dem wirtschaftliche Not und politische Einsicht so etwas wie einen Marshall-Plan der Europäischen Gemeinschaft für die Länder westlich der Sowjetgrenzen denkbar erscheinen läßt.

5. Den Nationalstaat aufheben

Jonathan Schell besteht darauf, daß, wo Gewaltanwendung-zumindest zwischen Staaten - sich mit Politik nicht mehr vereinbaren läßt, sei die Zeit des souveränen Nationalstaats abgelaufen. Zu den Exportartikeln, mit denen Europa die Kontinente des Südens beglückt hat, gehört der - zumindest formal - souveräne Nationalstaat. Jedes Land, so willkürlich die Kolonialherren auch seine Grenzen zugeschnitten hatten, brauchte eine Flagge, eine Hymne, eine Armee, einen Präsidenten und - vor allem - eine Staatsnation. Wo sie - und das gilt vor allem für Afrika - vorher nicht bestand, mußte sie geschaffen werden.

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Nun mag das «nation-building» seine Vorzüge haben, wenn man ein Land nach westlichem - oder östlichem - Muster «entwickeln» will. Aber die Kehrseite ist die - glücklicherweise oft dilettantische - Nachahmung aller Torheiten und Grausamkeiten, die Europas Nationalstaaten im 19. und 20. Jahrhundert vorexerziert haben: eine Rüstung, die noch weit größere Anteile an der Finanzkraft des Staates verschlingt als im reichen Europa, Sezessionskriege, Grenzkriege (oft von multinationalen Wirtschaftsinteressen entfacht), oder auch Kriege, in denen sich machtpolitischer Opportunismus und nationalreligiöser Fanatismus ineinander verkrallen (Iran-Irak).

In Europa ist das Verhältnis zwischen Nationalstaat und Frieden zwiespältig. Egon Bahr hat recht, wenn er unbeirrbar darauf besteht, im Nuklearzeitalter sei «der oberste Bezugspunkt politischen Denkens und Handelns»4 der Frieden, nicht die Nation. Wo also nationale Einheit nur unter Gefährdung des Friedens zu erreichen wäre, muß sie zurückstehen. Aber die europäischen Nationen können, indem sie ihrem Interesse an einem Abbau der Block-Konfrontation folgen, durchaus auch Gewichte in der Waagschale des Friedens sein. Polnisches, französisches, tschechisches oder deutsches Nationalbewußtsein kann und muß sich einer Logik der Blöcke widersetzen, in der diese Nationen die ersten Opfer der Konfrontation werden müssen. Aber auf längere Sicht hat Schell recht: Das Prinzip des souveränen Nationalstaates hat keinen Platz in einer Welt, die sich Gewaltanwendung zwischen Staaten nicht mehr leisten kann.

Wer den souveränen Nationalstaat überwinden will, muß sogar da anfangen, wo er geboren wurde: in Europa. Glücklicherweise haben die Europäer schon damit begonnen, im Westen übrigens konsequenter als im Osten, aber überall noch sehr zaghaft. In Westeuropa ist ein Prozeß nach zwei Richtungen in Gang gekommen: Er führt einmal zur Abgabe von Souveränitätsrechten nach oben, vor allem hin zur europäischen

4 Egon Bahr, a.a.O., S. 14

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Gemeinschaft. Dies gilt etwa für die Landwirtschaft, Kohle und Stahl, Handel und Zölle. Schon wo es um gemeinsame Währungspolitik oder gemeinsame Entwicklungspolitik geht, regen sich schwer überwindbare Widerstände. Diese werden noch um einiges hartnäckiger, manchmal zur totalen Sperre, wenn es darum geht, einem weltweiten Gremium, etwa den Vereinten Nationen, Souveränitätsrechte zu opfern. Sind es in Westeuropa oft die Franzosen, die ihre nationalen Traditionen gegen neue Institutionen der Gemeinschaft setzen, so sind in der UN die Deutschen dafür bekannt, daß sie weltweiten Abmachungen ihren marktwirtschaftlichen Dogmatismus entgegensetzen.

Die Haltung der diversen Bundesregierungen auf und nach der internationalen Seerechtskonferenz über die Nutzung des Meeresbodens war und ist alles andere als bahnbrechend, und wo immer über neue Wirtschaftsbeziehungen zwischen Nord und Süd verhandelt wurde und wird, ist das Nein der deutschen Delegation sicherer als das Njet der Sowjetunion im Weltsicherheitsrat.

Nicht weniger wichtig als der Abbau der Souveränität nach oben ist die andere Richtung, in der die Nationalstaaten zunehmend Kompetenzen abgeben müssen: nach unten. Was heute an Dezentralisierung vor sich geht, ist in einem extrem zentralistischen Land wie Frankreich leichter sichtbar als in einem Staat, der, wie die Bundesrepublik, von seiner Verfassung her föderativ aufgebaut ist. In ganz Westeuropa, vom Baskenland über die Bretagne bis nach Wales regt sich der Wille zur lokalen und regionalen Selbstverwaltung oder gar zur Autonomie von Stämmen, die sich wieder als «Nationen» verstehen. Und die Führung der Sowjetunion, wo die Russen noch in diesem Jahrhundert in die Minderheit geraten dürften, hat alle Mühe, die zentrifugalen Kräfte in den 15 Sowjetrepubliken zu bändigen und die Rivalitäten zwischen ihnen zu mildern. Der Nationalstaat in seiner heutigen Gestalt ist ein ziemlich junges Gewächs, keineswegs jene notwendige Endstation aller Geschichte, als die er uns im 20. Jahrhundert präsentiert wurde. Die «Nationen» des Mittelalters waren

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nicht Deutsche, Tschechen, Franzosen oder Spanier, sondern Sachsen, Böhmen, Schwaben, Burgunder oder Katalonien

Auch in der Bundesrepublik hat das Gewicht der Bundesländer in den letzten Jahren nicht mehr - wie in den sechziger Jahren - abgenommen. Sie treten wieder selbstbewußter auf. Bei entscheidenden Themen unserer Zeit wie der Energiepolitik, Regionalpolitik, Medienpolitik, beim Datenschutz, bei Teilen des Umweltschutzes nutzen die Länder ihre Zuständigkeit. In der Kulturpolitik, ihrer verfassungsrechtlichen Domäne, gehen sie immer deutlicher ihre eigenen Wege. Daß dies alles für den Bürger nicht nur Vorteile hat, ist eine Seite der Medaille. Die andere ist, daß hier ein gesamteuropäischer Trend wirksam wird, der eher hoffen läßt. Aber auch die Bundesländer werden sich daran gewöhnen müssen, daß Landeshauptstädte als ferne Zentralen beargwöhnt werden, von denen aus lebensferne Bürokratien das Leben im Lande regulieren wollen. Kommunale Selbstverwaltung wird Handlungsspielräume zurückgewinnen müssen, die sie in den letzten Jahrzehnten verloren hat. Und innerhalb der Städte und Gemeinden wird die Willensbildung in Teilgemeinden, Stadtteilen oder Nachbarschaften an Gewicht gewinnen.

Wenn Frieden auf die Dauer nicht zwischen voll souveränen zentralistischen Nationalstaaten zu haben ist, wenn vor allem das Souveränitätsrecht der militärischen Gewaltanwendung sich mit den Realitäten des Atomzeitalters nicht mehr vereinbaren läßt, dann ist im Prinzip alles gut, was Souveränitätsrechte - nach oben oder unten - abbaut. Dies bedeutet nach innen ein klares Ja zum Prinzip des - noch längst nicht konsequent durchgesetzten - Föderalismus. Nichts soll im Land entschieden werden, was in Teilgemeinde, Gemeinde oder Kreis geregelt werden kann, nichts soll der Bund an sich ziehen, was die Länder besser übersehen können.

Es bedeutet nach außen, daß Überwindung der Blöcke nicht Rückkehr zur nationalen Verfügungsgewalt über eigene Armeen bedeuten kann. Es heißt, daß Souveränitätsabtretungen zur EG hin auch dann richtig sind, wenn man sie gerne auf eine größere Gemeinschaft der Europäer übertragen sehen möchte.

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Und es heißt vor allem: Stärkung der viel geschmähten Vereinten Nationen. Die UNO spiegelt, wie sollte es anders sein, auf eine erbarmungswürdige Weise den jämmerlichen Zustand der Völkerwelt. Ihre Resolutionen, etwa zum Rüstungsstopp oder zur Abrüstung, von Männern wie Begin offen verhöhnt, werden in den deutschen Medien kaum zur Kenntnis genommen. Ihre Fachorganisationen gelten als bü-rokratisiert und ineffizient.

Die Tagungen der UNCTAD (UN-Kommission für Handel und Entwicklung) werden seit zwei Jahrzehnten, fast unabhängig von Regierungswechseln, von denselben Bürokraten beschickt - und blockiert.

Es ist, zumal in den USA Reagans, Mode geworden, die UNO mit einer Mischung aus spöttischer Verachtung und unterschwelliger Drohung - etwa mit Geldentzug - zu behandeln. «Get the UN out of the US, get the US out of the UN!» lautet eine ultrarechte Parole. Schwächung der UN mag im Interesse der einen oder manchmal auch der andern Supermacht liegen. Sie kommen allemal besser ohne die Weltorganisation aus, die für sie nur soviel wert ist, wie sie sich als Werkzeug hergibt. Die Interessen der kleinen und mittleren Staaten liegen anders. Für die Völker der Dritten Welt sind die UN eine blasse, verblassende Hoffnung, aber eben: eine Hoffnung.

Politische und finanzielle Unterstützung der UN-Sonderorganisationen, konstruktive Beiträge zum Nord-Süd-Dialog innerhalb der UN, Reden vor der Vollversammlung, die mehr sind als die Klischees, die in den Ämtern aus denselben Kistchen immer neu zusammengestellt werden, ein weniger willfähriges Abstimmungsverhalten, eine seriösere Berichterstattung - wie etwa in Skandinavien -, dies alles sind winzige Schritte in Richtung auf das, was nottut: Der Aufbau einer Instanz, die mehr Autorität und bessere Instrumente als heute zur gewaltfreien Regelung von Konflikten anbieten und einsetzen kann.

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6. Friedensfähige Energieversorgung

Es gibt keine Aufgabe im Innern der Staaten, die so unmittelbar mit dem Frieden zu tun hat wie die Versorgung energiesüchtiger Gesellschaften mit dem Stoff, ohne den sie nicht auskommen. Daß Leute wie Colin Gray und Weinberger sich mit ihren Strategien gegen alle Vernunft durchsetzen konnten, hat mit dem Schock der ersten Ölkrise und später der iranischen Revolution zu tun. Wo es um Öl geht, sind die USA verwundbarer als die Sowjetunion, die sich selbst versorgen kann. Noch vor dem 2. Weltkrieg hatten die USA mehr Öl, als sie verbrauchen konnten. Heute hängen auch die USA am Ölhahn der Golfstaaten. In den Planspielen der Strategen - denen die totale Abschreckung den Manövrierraum schaffen soll - geht es meist um Öl, um das Eingreifen bei einer Revolution in Saudi-Arabien oder den Emiraten.

Und nicht nur in den USA weiß man: An dieser Stelle sind auch die Westeuropäer höchst empfindlich. Auch in Europa stehen Räder still ohne das Öl vom Golf, wenn nicht die Räder der Fabriken, so doch die der Autos. Und sollen die USA alleine dafür geradestehen, daß die Tanker fahren? Daß 1983 nicht mehr wie 1979 offen und unverblümt über die militärische Sicherung der Ölquellen diskutiert wird, hat weniger mit der inneren Umkehr der Strategen zu tun als mit einem deutlich verminderten Ölverbrauch. Wenn einmal in einem Land wie der Bundesrepublik jeder fünfte, schließlich jeder vierte Liter Öl eingespart wird, denken die Ölstaaten eher über die Zuteilung von Produktionsquoten und die Senkung der Preise nach als über das Abdrehen des Ölhahns. Vor allem befreit das Sinken des Ölverbrauchs von jedem Zeitdruck. Hätten wir im Westen jedes Jahr zwei oder drei Prozent mehr Öl verbrannt, so wäre das Ende der Vorräte um viele Jahrzehnte früher absehbar gewesen als jetzt, wo die Förderung gedrosselt werden muß, damit die Preise nicht völlig zusammensacken. Die Zeitspanne, die uns zur Erarbeitung von Alternativen bleibt, hat sich innerhalb von drei Jahren um mehr als drei Jahrzehnte verlängert. Und damit hat die Gefahr des

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panikartigen Zugriffs auf die Ölquellen abgenommen; der gefährlichste Zünder für den großen Schlagabtausch wurde -vorläufig - entschärft. Dies bedeutet positiv: Jeder Liter Öl, den wir einsparen, kann uns noch etwas mehr Zeit schaffen für die Suche nach dem Frieden, für den Weg nach dem Uto-pia der gewaltlosen Weltgesellschaft.

Noch unmittelbarer mit dem Frieden ist eine andere Energieart gekoppelt: die Atomenergie. Wer in den sechziger Jahren mitgeholfen hat, den Atomwaffensperrvertrag über die administrativen und parlamentarischen Hürden zu bringen, weiß, mit wieviel Mißtrauen die Atom-Lobby diesen Versuch, die «friedliche Nutzung» der Atomenergie von der militärischen zu trennen,5 verfolgt und erschwert hat.

Aber das System des Non-Proliferations-Vertrages war nie so dicht, daß es die Verbreitung atomarer Rüstung hätte abwenden können. Frankreich, China, Indien, Ägypten, Argentinien, Brasilien, Pakistan, Südafrika und Israel haben den Vertrag nicht unterschrieben oder nie ratifiziert. Und wer ratifiziert hat, kann jederzeit sein Ausscheiden aus dem Vertrag erklären.

Aber sogar für solche Staaten, die sich offiziell in das System der Nichtverbreitung einfügen, gibt es allerhand Schlupflöcher. Für eine Atombombe, wie sie die USA über Nagasaki abwarfen, braucht man wenige Kilogramm Plutonium. Ein Großreaktor zur Stromerzeugung produziert jährlich Hunderte von Kilogramm, ein «Schneller Brüter» Tausende, eine Wiederaufbereitungsanlage Zehntausende von Kilogramm, also auch das Zehntausendfache dessen, was für eine Bombe nötig ist.

Wir brauchen uns hier nicht auf die Details der Herstellung einzulassen. Nur soviel ist klar: Wer in einem Brüter oder einer Wiederaufbereitungsanlage riesige Mengen Plutonium herstellen kann, beherrscht meist auch die Technologie der Bombe. Amory und Hunter Lovins haben, wie es scheint, zwingend nachgewiesen, daß atomare Abrüstung nicht vereinbar ist mit der Verbreitung der Atomtechnologie.6

5 Erhard Eppler, Spannungsfelder, Stuttgart 1968, S. 251 ff

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Man mag darüber streiten, ob Israel, die Südafrikanische Union, Indien oder gar Pakistan schon heute die Bombe besitzen. In jedem Fall wird die Zahl der Bomben-Staaten in dem Maße anwachsen, wie die Atomtechnologie sich über die Kontinente verbreitet. Das Tempo, in dem atomare Reaktoren gebaut werden, hat überall nachgelassen, zumal die Ergiebigkeit, die Wirtschaftlichkeit und noch mehr die Notwendigkeit dieser Energiequelle immer schwerer nachweisbar wird. Trotzdem: das entscheidende Argument gegen Atomreaktoren, Schnelle Brüter und Wiederaufbereitungsanlagen liegt nicht in den rapide wachsenden Kosten oder dem sinkenden Energieverbrauch. Wir können uns die Atomtechnik nicht leisten, wenn wir nicht an der Atomrüstung zugrunde gehen wollen. Die Vorstellung, man könne glaubhaft atomar abrüsten und gleichzeitig unbeschwert vom Leichtwasser-Reaktor zum Brüter und damit auch zur Wiederaufbereitungsanlage «fort»schreiten, ist nicht realistischer als die Hoffnung, man könne Dutzende von Katzen so abrichten, daß sie, brav und geduldig auf einer Tribüne sitzend, mit angelegten Pfoten stundenlang eine Parade leckerer Mäuse abnehmen.

Die Abkehr von der Gewalt, ohne die wir nicht überleben, ist undenkbar ohne die Umkehr zu weniger gewalttätigen Technologien. Sicher: die Menschheit muß mit dem Wissen leben, das zu Atombomben und Schnellen Brütern geführt hat. Vielleicht ist dieses Wissen die Abschreckung, deren wir bedürfen. Aber der Schritt zum Atomreaktor ist größer, langwieriger, leichter feststellbar und kontrollierbarer als der vom Reaktor oder gar vom Brüter zur Bombe. Wenn wir überleben wollen, dürfen wir unsere Energieversorgung nicht auf die Bändigung von Kräften abstellen, deren Entfesselung die Gattung Mensch ausrotten kann.

6 Amory B. Lovins, L. Hunter Lovins, Atomenergie und Kriegsgefahr, Reinbek 1981

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7. Kontrolle von Wirtschaftsmacht

Wer sich die Mühe nimmt, all die Schriftsätze und Vernehmungsprotokolle auch nur zu überfliegen, die von der Flick-Affäre in die Öffentlichkeit dringen, kann dabei lernen, wie unsere Gesellschaft, unsere Politik und Publizistik aus der Perspektive eines Mächtigen aussieht. Auch den Abgebrühten mag es da schaudern: Für die Manager des Flick-Konzerns erscheint so ziemlich alles käuflich, auch und gerade politische Entscheidungen. Da werden insgesamt Millionen von Mark - meist unversteuert und nach Rückfluß von einer karitativen Organisation in schwarzen Kassen gehortet - mit dem Vermerk ausgegeben, sie seien «wegen» (Abkürzung wg) irgendeines Politikers ausbezahlt worden. Eberhard von Brauchitsch, von dem sich Flick inzwischen getrennt hat, ließ in einer «Schutzschrift» vom 7.12.1982 die «vielgestaltige Bedeutung» erläutern, die dieses «wg» haben konnte:

«In Einzelfällen besagt der Buchungstext <wegen XY> für den mit den Tatsachen Vertrauten ... daß das Geld zur Verwendung <gegen XY> eingesetzt werden sollte.»

«<Wegen XY> kann durchaus auch bedeuten, daß der quittierte Betrag für die namentlich ausgewiesene Person als Endempfänger bestimmt war.»

«<Wegen> in Verbindung mit dem Namen eines Politikers könne schließlich bedeuten, daß ein Betrag <zur Verwendung im Bereich und zur Förderung von Zwecken dieser Politiker bestimmt war>, ohne daß sie stets davon erfahren haben.»7

Da werden also Politiker in drei Kategorien eingeteilt: in eine Kategorie von Leuten, denen man «als Endempfänger» einfach einen Scheck oder besser ein geschlossenes Kuvert mit einigen Dutzend Tausendmarkscheinen in die Hand drük-ken kann; in eine zweite, bei denen man z. B. politische Stiftungen Zwischenschalten muß, denen Flick riesige Summen zukommen läßt in dem stillen Einverständnis, daß sie für die politische Arbeit - sprich vor allem Publizität - von Politikern

7 Der Spiegel vom 24.1.1983, Nr. 4/1983, S. 21

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ausgegeben seien, die für eine bestimmte Entscheidung wichtig sind. Dabei ist tunlichst zu vermeiden, daß die Begünstigten «davon erfahren», woher das Geld stammt. Und schließlich gibt es noch eine dritte Kategorie von hoffnungslosen Fällen, denen man nicht anders beikommen kann als dadurch, daß man Geld «gegen» sie ausgibt, was nach anderen Quellen bedeutet, daß man Journalisten schmiert, die solche Querköpfe überwachen und wohl auch nach Kräften madig machen.

Wer sich das politische Weltbild eines solchen Managers voll vergegenwärtigt, dürfte einem gelinden Schwindelgefühl kaum entgehen. Wo allgemeine Käuflichkeit mit solch gelok-kerter Selbstverständlichkeit unterstellt wird, kann Korruption nicht die bedauerliche Ausnahme sein. Warum sollte, was Flick recht war, nicht anderen Interessengruppen billig sein? Warum sollte sich die politische und publizistische Welt für die Lobby der Großchemie, der Atomindustrie, des Straßenbaus und vor allem der Rüstungsindustrie so ganz anders darstellen als für Herrn von Brauchitsch? Dabei muß sich ja nicht alles so lehrbuchhaft direkt abspielen wie im Falle Flick. Es gibt subtilere Methoden der Korruption, die nicht weniger wirksam zu sein brauchen.

Gibt es möglicherweise einen Zusammenhang zwischen solchem Geld und dem Konformismus in Politik und Tagespresse, wenn Atomreaktoren gebaut oder Raketen aufgestellt werden? Wer wird da auf den Pfad kapitalistischer Tugend gebracht, wer wird von wem eingeschüchtert, wer von wem für Geld «bekämpft»? Nach der Flick-Affäre wird solcher Verdacht nicht mehr zur Ruhe kommen, sicher auch viele Unschuldige treffen und verletzen.

Bei Flick wurde höchst direkt, äußerst ungeniert, im genauen Wortsinne scham-los wirtschaftliche Macht in politische umgesetzt. Und dies hat nun allerdings mit Frieden zu tun. Solange die Wirtschaftsmacht der Rüstungslobby ebenso ungeniert in politische Entscheidungen umzusetzen ist, hat der Friede keine Chance. Frieden hat mit der Kontrolle wirtschaftlicher Macht zu tun. Solange der Übermacht multina-

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tionaler Konzerne meist nur kleine, hoch verschuldete Nationalstaaten - nicht nur in der Dritten Welt -gegenüberstehen, solange Gewerkschaften, sofern es sie gibt, meist ohne internationalen Rückhalt operieren, werden sich in vielen politischen Entscheidungen eher die Gewinninteressen von Multis als der Friedenswille der Völker niederschlagen. Eine Menschheit, die überleben will, wird sich die Verschmelzung wirtschaftlicher und politischer Macht nicht leisten können, sei es die Macht von Unternehmensleitungen, die sich Parteien halten, Regierungen gängeln, Parlamente und Verwaltungen korrumpieren, sei es die Macht von Parteifunktionären, die gleichzeitig über Wirtschaftsmacht verfügen.

Hier ist nicht der Ort, all die Methoden durchzubuchstabie-ren, die für solche Kontrolle in Frage kommen. Nur: Es muß Kontrolle sein und nicht nur eine neue Form von Machtballung, wie sie etwa durch die simple Verstaatlichung entsteht.

Mitbestimmung kann ein Weg sein, aber nur unter zwei Bedingungen: Einmal, daß nicht doch am Ende die Aktionäre entscheiden, zum andern, daß nicht nur die im Unternehmen beschäftigten Arbeiter mitzureden haben, sondern auch Vertreter der Menschen, die von der jeweiligen Produktion direkt betroffen sind, etwa als Hauptverbraucher oder als Bürger derselben Gemeinde. Der geballte Betriebsegoismus von Unternehmern und Arbeitern kann nicht das letzte Wort sein.

Eine Mitbestimmung, die über die Arbeitnehmer hinaus auch Allgemeininteressen Sitz und Stimme gäbe, wäre bereits eine Vorform jener Ver-gesellschaftung, die uns bei manchen wirtschaftlichen Giganten nicht erspart bleiben dürfte, wenn unsere Demokratie nicht Flickwerk im doppelten Sinne des Wortes bleiben soll. Die Modelle dafür müssen sich wohl herausschälen" aus den Erfahrungen der mageren Jahre, die hinter und vor uns liegen, und aus einer öffentlichen Diskussion, die auch die Lehren aus der Flick-Affäre verarbeitet.

Harmloser, aber kurzfristig und unmittelbar noch wirksamer ist ein anderer Zusammenhang zwischen Wirtschaft, Rüstung und Frieden: die Suche nach Arbeitsplätzen.

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Wo Rationalisierung Arbeitsplätze vernichtet, wo gleichzeitig die einzig vernünftige Antwort darauf, nämlich die Verkürzung der Arbeitszeit, von den wirtschaftlich Mächtigen mit einem Tabu belegt wird, darf niemand sich wundern, wenn Rüstung als Mittel gegen Arbeitslosigkeit angepriesen wird.

Niemand wird bestreiten wollen, daß in der Tat bei mancher Firma Hunderte von Arbeitsplätzen vom einen oder anderen Rüstungsauftrag abhängen. Aber langsam spricht sich herum, daß, auf eine ganze Volkswirtschaft gesehen, Rüstung eher Arbeitsplätze vernichtet. Es ist doch wohl kein Zufall, daß von allen kapitalistischen Industrieländern dasjenige am wenigsten unter Arbeitslosigkeit leidet, das am wenigsten rüstet: Japan. Und daß die USA, das Land mit dem gewaltigsten Rüstungsprogramm auch in der Arbeitslosigkeit mit an der Spitze liegt. Hier ist nicht der Ort, die Untersuchungen nachzuzeichnen, die alle zu demselben Ergebnis kommen: Wenn schon der Staat Geld ausgibt, so schafft er damit nirgendwo weniger Arbeit als mit Rüstung.

Wichtiger ist ein anderer Zusammenhang, der sogar in Wallstreet inzwischen gesehen wird: Überfordert ein Rüstungsprogramm die Leistungsfähigkeit einer Volkswirtschaft und vor allem eines Staatshaushalts, so steigt die öffentliche Verschuldung ins Uferlose. (In den USA wird für 1983 ein Defizit der Bundesfinanzen von ungefähr 200 Mrd. Dollar erwartet.) Solche Defizite können den Kapitalmarkt so strapazieren, daß sich das Zinsniveau nicht dauerhaft senken läßt. Wo Geld und Kredit knapp werden, sind sie auch teuer. Und die hohen Zinsen strangulieren den Teil der Wirtschaft, der sich nun einmal nicht, wie manche Konzerne, von Bankzinsen unabhängig machen kann. Dies ist heute der Weg, auf dem Rüstung mehr Arbeitsplätze vernichtet als sie schafft.

Es ist also keineswegs so, wie manche Interessenten unseren Gewerkschaften einreden wollen: Arbeitsplätze hier und heute seien nun einmal wichtiger als der Streit um Raketen und Rüstung. Arbeitsplätze, wenn notwendig durch Rüstung, seien Aufgabe eines gestandenen Gewerkschafters, die Sorge um Raketen könne man getrost Intellektuellen oder Ökologen überlassen. Die Wirklichkeit sieht so aus: Wer die Überforderung von Wirtschaft und Kapitalmarkt durch das Wettrüsten nicht bremsen kann, wird zusehen müssen, wie immer mehr Menschen ohne Arbeit sind. Keine, nicht einmal die reichste Gesellschaft kann es sich erlauben, beliebig viele Güter herzustellen, die sich zum Töten, nicht aber zum Konsumieren eignen.

Von daher ist es ebenso konsequent wie ermutigend, daß Arbeiter und Gerwerkschaften sich zunehmend um «Rüstungskonversion» bemühen, also um die Produktion von Gebrauchsgütern anstelle von Waffen. Ausgangs­punkt dieser Versuche ist der britische Luftfahrtkonzern Lucas Aerospace gewesen,8 wo gewerkschaftliche Vertrauensleute einen Alternativplan zu Kampfflugzeugen wie «Tornado» ausgearbeitet haben: vom Straßen-Schienen-Bus über Solarheizsysteme bis zur künstlichen Niere. Niemand wird überrascht sein, wenn solche Ansätze heute, in Zeiten des Rüstungsbooms, von Konzernleitungen und Regierungen weggewischt werden. Aber im Rahmen einer Politik des Friedens und damit auch der Kontrolle wirtschaftlicher Macht könnten sie Zukunft haben. Einfluß der Arbeitnehmer auf die Produktion kann erst dann ein Instrument des Friedens sein, wenn diese Arbeiter Wege gefunden haben, sich, ohne den eigenen Arbeitsplatz und den der Kollegen zu opfern, den Zwängen der Rüstungsproduktion zu entziehen.

  • 8 siehe Mike Cooley, Produkte für das Leben statt Waffen für den Tod, Reinbek 1982

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