VIII
Die Wirklichkeit hinter den Feindbildern«Es gibt Zeiten und Augenblicke, in denen behutsames Abwägen, vielleicht sogar
das Aufschieben einer Entscheidung gefordert ist,
und es gibt Augenblicke und
Entscheidungen, wo nur Eindeutigkeit helfen kann.»
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Ein Grund dafür, daß offenkundig tödliche Utopien mehrheitsfähig werden können, liegt, wie wir gesehen haben, im Auseinanderfallen von Wirklichkeit und Sprache. Ein anderer ist zu suchen im Abstand zwischen Feindbild und Wirklichkeit. Das Bild des Feindes verstellt die Wirklichkeit des Gegners.
Es spricht einiges dafür, daß wir heute auch dann im Zeichen eines Ost-West-Konfliktes zu leben hätten, wenn in Rußland noch der Zar regierte. Aus dem Zweiten Weltkrieg gingen nur noch zwei Mächte hervor, die der Vorherrschaft, der Hegemonie, fähig waren. Jede von beiden war zu stark, als daß sie sich der Hegemonie der andern hätte unterordnen können, so wie die Europäer sich an Hegemonialmächte anlehnten oder sich ihnen unterordnen mußten. Auch wenn ideologische Differenzen gar nicht ins Spiel gekommen wären, die beiden verbliebenen Weltmächte wären wohl am Konkurrenzkampf um die Vorherrschaft auf diesem Globus nicht vorbeigekommen.
Regionale Hegemonialkämpfe aber sind schließlich immer militärisch entschieden worden, manchmal in mehr als einem Krieg. Das war so zwischen Athen und Sparta, zwischen Rom und Karthago, zwischen Österreich und Preußen, zwischen Frankreich und Preußen-Deutschland. Und eigentlich spricht alles dafür, daß dies erst recht gilt, wenn nicht regional, sondern global, also auf dieser Erde, nur noch zwei hegemoniefähige Mächte übrig sind. Auch wenn es keinen Kommunismus und keinen Kapitalismus gäbe, würde jede der beiden Mächte die Fehler der andern nutzen: Wenn die USA - samt ihren europäischen Verbündeten - so lange die portugiesische Kolonialherrschaft stützen, bis diese - für jeden Denkenden errechenbar - in sich zusammenfällt, dann liegt es in der Natur hegemonialer Konkurrenz, daß die Sowjetunion dies nutzt, um ihren Einfluß auszudehnen. Wenn die Sowjetunion ihre ägyptischen Freunde enttäuscht und verärgert, dann ist zu erwarten, daß die USA sich dies zunutze machen und die Sowjetunion vom Nil verdrängen.
Wer darin schon abgründige Bosheit der einen oder andern Seite wittert, müßte alle Hegemonialkämpfe der Geschichte nachträglich moralisieren. Dazu kommt - auch dies ist älter als die Ideologie - die profunde Unkenntnis, mit der die Führungsschichten in beiden Ländern dem jeweils andern begegnen. Wenn Peter Bender feststellt, für die Mehrzahl der ZK-Mitglieder der KPdSU liege Amerika auf einem andern Stern und auch für die Senatoren auf dem Kapitol erscheine Moskau ähnlich entrückt,1 so ist dies nur teilweise ideologischen Barrieren anzulasten. Beide Riesenreiche genügen sich selbst, haben mit sich selbst genug zu tun. Mit dem andern verbindet nur die weltpolitische Konkurrenz. Es liegt auch noch jenseits aller Ideologie, daß, wie Bender bemerkt, Macht die Tendenz hat, dumm zu machen:
«Jeder kleine oder mittlere Staat braucht Intelligenz, Einfühlungsvermögen, Phantasie und Anpassungsfähigkeit, um in schlechten Zeiten leidlich durchzukommen. Auch für Großmächte ... sind alle diese Eigenschaften höchst nützlich, aber eben auch entbehrlich.»2
Die Schwachen, meint Bender, seien, wollten sie etwas erreichen, auf Diplomatie angewiesen. Die Starken könnten notfalls die geistigen Waffen mit militärischen vertauschen und auf Gewalt oder deren Androhung ausweichen. Deshalb hat Günther Anders schon 1958 das Gesetz von der «akkumulierenden Hemmungslosigkeit bei akkumulierender Macht» aufgestellt.3
Für all dies gibt es ausreichend Beispiele in den letzten drei Jahrzehnten, von Zentralamerika bis Ungarn, von Vietnam bis Afghanistan, wobei die USA den Vorteil hatten, ihre überlegene Wirtschaftsmacht subtiler einsetzen zu können als
1 Peter Bender, Das Ende des ideologischen Zeitalters, Berlin 1981, S. 101
2 a. a.O.,S. 130
3 Günther Anders, a. a. O., S. 21
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die Sowjetunion ihre Divisionen. Insgesamt, so das Ergebnis einer amerikanischen Untersuchung, sollen beide seit dem Zweiten Weltkrieg je etwa 200mal militärische Gewalt eingesetzt haben, um ihre Interessen zu wahren.
Älter als der Marxismus-Leninismus sind auch die russischen Ängste vor dem Westen. Nicht die USA sind dafür verantwortlich, daß die heutige Sowjetunion in diesem Jahrhundert zwei lebensgefährliche Invasionen zu überstehen hatte. Aber der russische Sicherheitskomplex, der daraus entstand, führt dazu, daß die Sowjetunion im Zweifel immer zu viel als zu wenig rüsten will. Und dies belastet auch die Beziehungen zur anderen Supermacht.
Zu den unterschiedlichen historischen Erfahrungen beider Weltmächte gehört auch, daß Bürger der Sowjetunion wissen, was Krieg im eigenen Lande bedeutet, die der Vereinigten Staaten nicht. Für Ukrainer oder Russen bedeutet Krieg Verwüstung, Flucht in Schlamm oder Eis, Hunger, Partisanenjagd, Exekutionen, millionenfaches, aber eben doch auch sehr individuelles Sterben. Für den Bürger der USA bedeutet Krieg das Bangen und nicht selten auch das Trauern um die ausgerückten Söhne. Erst in den achtziger Jahren ist in das Bewußtsein der Amerikaner das Bild eines atomar verwüsteten Amerikas eingedrungen.
Scheinbar unberührt von aller Ideologie vollzieht sich das Schachspiel der Militärstrategen. Sie denken und rechnen auf beiden Seiten in denselben - technokratischen - Kategorien. Jeder versucht dem andern Schach zu bieten, ihn matt zu setzen. Sowjetexperten erläutern ihre Gedanken nicht selten im - weltweit unangefochtenen - Jargon der US-Planer. Da scheint für Ideologie kein Platz.
Aber vielleicht scheint es nur so. Was bedeutet es, wenn zu der Hegemonialkonkurrenz, zu der Introvertiertheit beider Riesenreiche, zu allerhand historischen Belastungen noch gegensätzliche Ideologien kommen? Zumal dann, wenn diese sich zueinander, so meinen sie wenigstens, wie Feuer und Wasser verhalten, wobei wohl jeder die des anderen für das zerstörende Feuer, die eigene für das lebenspendende Wasser
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hält? Daß man in verschiedenen Systemen lebt und anderen Werten den Vorzug gibt, hat es in der Geschichte immer gegeben, ohne daß dies zu Kriegen führen mußte. Das liberale Frankreich von 1914 war in seiner inneren Ordnung und seinen Wertvorstellungen vom Zarenreich weiter entfernt als das kaiserliche Deutschland. Das änderte nichts am französisch-russischen Bündnis.
Neu und gefährlich ist dies: daß beide Ideologien und Systeme den Anspruch erheben, allgemeingültig zu sein. Beide behaupten, dem Wohle der Menschheit sei am besten gedient, wenn sie schließlich überall gelten. Das ist der Kern der Lehre von der Weltrevolution, jener Lehre, die - offiziell unangefochten - mehr Menschen im Westen erschreckt, als sie im Osten motiviert. Sie besagt nicht, die Sowjetunion hätte die Welt zu erobern, wohl aber, die von Marx erkannten Gesetze der Geschichte führten schließlich dazu, daß überall der Kapitalismus durch den Sozialismus und dieser durch den Kommunismus abgelöst und überwunden werde.
Was wir meist vergessen, ist, daß der westliche Anspruch auch nicht bescheidener ausfällt. Reagan hat uns wieder daran erinnert: Auch das westlich-kapitalistische System, politisch geprägt durch parlamentarische Demokratie, empfindet sich als gültiger Maßstab für die Welt. Wer die Welt «sicher für die Demokratie» machen will, meint doch wohl, daß unsere Form von Demokratie überall am Platze wäre, in Argentinien und Polen, in Zimbabwe und in der CSSR.
Dies bedeutet übrigens nicht, daß die Außenpolitik ideologischen Wertvorstellungen folgt. Die amerikanischen Streiter für Freiheit und Menschenrechte pflegen auch die brutalsten Diktaturen so lange zu unterstützen, wie sie eindeutig auf der richtigen Seite stehen. Und die Sowjetunion freute sich ihrer Freundschaft mit Nasser, obwohl dieser einheimische Kommunisten kurzerhand einsperrte. Auf die Frage, warum die Sowjetunion in Frankreich nicht den Kandidaten gestützt habe, für den die KPF focht, erhielt ich von einem Sowjetdiplomaten die bündige Antwort: «Weil wir Mitterrand für gefährlicher hielten.»
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Aus dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit folgt nun aber
- und dies vergiftet die Beziehungen bis in die Militärstrategie hinein -, daß beide Ideologien die Überzeugung einschließen, das andere System dürfe es eigentlich nicht geben.
Den Kommunismus, meint Reagan, dürfte es eigentlich gar nicht geben, den Kapitalismus, meint die Sowjet-Ideologie, dürfte es - bald - nicht mehr geben. Darin liegt ein feiner Unterschied: Die Kommunisten billigen dem Kapitalismus eine beschränkte, vorläufige, auslaufende Existenzberechtigung zu. Der Kapitalismus, als Fortschritt gegenüber dem Feudalismus von Marx hymnisch gefeiert, hat seinen Ort, seine Funktion in der Geschichte, er ist für den Marxisten eine notwendige Vorstufe zum Sozialismus; darin hat er seinen relativen historischen Wert. Für Ronald Reagan ist der Bolschewismus ein Irrweg der Geschichte, für den es keinerlei Rechtfertigung gibt. Wenn die Geschichte einen Sinn haben soll, so muß irgendwann Schluß sein mit den «gottlosen Ungeheuern», von denen alle Übel der Welt ausgehen. Dazu muß eine seltsam verschmierte Seite aus dem Buch der Geschichte gerissen werden, je früher, desto besser.
Reagan will, wie er am 18.5.1981 sagte, den Kommunismus «abschließen als ein trauriges, bizarres Kapitel der Geschichte, dessen letzte Seiten eben geschrieben werden. Wir werden uns nicht damit abgeben, ihn anzuprangern, wir werden uns seiner entledigen ... auf daß künftige Generationen diese amerikanische Nation und ihre großen Ideale ehren können.»4 Und er hat dies am 9.3.1983 in seiner Rede vor Evangelikaien in Florida fast wörtlich wiederholt.5
Aus der Überzeugung, daß es den jeweils anderen eigentlich nicht geben dürfte, wächst die selten ausgesprochene, aber wohl sehr wirksame Vorstellung, wie gut, friedlich, harmonisch und glücklich die Welt doch wäre, wenn es den andern -endlich - nicht mehr gäbe. Zwar sprechen alle Fakten dagegen
- vom chinesisch-sowjetischen bis zum britisch-argentini-
4 Neue Zürcher Zeitung vom 20.5.1981
5 Stuttgarter Zeitung vom 10.3.1983, S. 4
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sehen Konflikt -, aber letztlich sieht jedes System, jede Ideologie im jeweils andern die Quelle alles Unheils, deren Beseitigung Harmonie und Frieden für alle Welt aufblühen lasse. Auch wenn dies eine der banalen, heruntergekommenen Utopien sein sollte - sie hat ihren Platz in vielen Köpfen und bestimmt mehr, als gut sein kann, politisches Handeln.
Da jede Seite weiß, daß die andere ihr auf die Dauer keine Daseinsberechtigung zuerkennt, empfinden sich beide Seiten ständig angefochten, in Frage gestellt, bedroht, sie wähnen sich in einem Kampf auf Leben und Tod, der sich letztlich nur durch Tod des andern beenden läßt. Dann, erst dann könne die Welt aufatmen, so meinen sie. Daß solche Vorstellungen bis in strategische Planungen durchschlagen, werden wir sehen.
Von der Überzeugung, daß es das andere System eigentlich nicht geben dürfte, ist es nicht weit bis zum Kampf zwischen Gut und Böse, wobei jede Seite sich selbst mit dem Guten, die andere mit dem Bösen identifiziert. Denn das Gute ist das, was sein soll, das Böse ist das, was nicht sein soll. Was ein Recht zum Dasein hat, ist gut, was kein Recht zum Dasein hat, ist böse. Das simple Bild einer Welt, in der die Guten gegen die Bösen kämpfen müssen, hat Ronald Reagan wieder ins - ultrarechte - Licht gerückt, entworfen hat er es nicht. Kein Geringerer als Richard Nixon, den sicher nicht moralische Sensibilität um sein Amt brachte, fühlte sich als Kämpfer gegen das Böse:
«Es mag melodramatisch erscheinen, wenn man die beiden Pole menschlicher Lebensform, repräsentiert durch die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion, gleichsetzt mit Gut und Böse, Licht und Dunkelheit, Gott und Teufel. Dennoch, wenn wir sie uns so vorstellen, wenigstens hypothetisch, kann uns dies helfen, das Ringen in der Welt besser zu verstehen.»
Dieses Weltbild kann zwar nicht helfen, die Wirklichkeit zu verstehen, es hilft aber unsicheren Naturen, sich selbst zu bestätigen und zu entlasten und eigene Aggressionen abzureagieren. Wie gut läßt es sich leben, wenn man alles Böse auf den anderen projizieren, sich selbst als Streiter Gottes gegen
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den Teufel feiern kann6, sogar wenn man als Schurke (crook) aus dem Amt gejagt wurde. Daß Ronald Reagan sich den Ost-West-Konflikt nur vorstellen kann als «Kampf zwischen Recht und Unrecht, Gut und Böse»7, steht seit Jahrzehnten außer Zweifel.
Der Ideologisierung folgt also die Moralisierung. Jede Seite hält die andere für bedenkenlos, menschenverachtend, für zynisch, wo es um Menschenleben geht. «Wir haben eine andere Vorstellung von menschlichem Leben als jene Ungeheuer», sagte Ronald Reagan zu Robert Scheer.8 In der Tat: Wo sowjetische Interessen auf dem Spiel stehen, gilt ein Menschenleben wenig. Die Sowjets verweisen dafür auf den Wert eines Menschenlebens da, wo im Hinterhof der USA mit Maschinenpistolen regiert wird, in El Salvador oder Guatemala.
Wo Weltmächte ihre Interessen berührt sehen, sind sie nie zimperlich gewesen. Wenn aber jede Seite in der andern eine Ausgeburt von Menschenverachtung sieht, muß auch jede Seite der andern zutrauen, daß sie bereit wäre, zwanzig, fünfzig oder auch hundert Millionen Menschen umzubringen und umbringen zu lassen, nur um endlich Ruhe zu haben, um endlich vom Erdboden zu tilgen, was dort ohnehin kein Existenzrecht hat.
Richard Pipes, einer der Berater des Präsidenten, unterstellt der anderen Seite jene zynische Rechnung, aus der sich die Rechtfertigung für eigene Kalkulationen dieser Art ableiten läßt:
«Im Zweiten Weltkrieg hat die Sowjetunion 20 Millionen Einwohner verloren, bei einer Bevölkerung von 170 Millionen also 12 Prozent; dennoch hat das Land nicht nur überlebt, sondern es wurde politisch und militärisch stärker, als es je zuvor gewesen war. Wenn, man das seither eingetretene Be-
6 siehe auch H. E. Richter, Zur Psychologie des Friedens, Rein-bek 1982, S. 144f
7 Reagan am 9.3.1983 in einer Rede vor Evangelikern in Florida, zitiert nach Stuttgarter Zeitung vom 10.3.1983, S. 4
8 Robert Scheer, a. a. O., S. 31
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Völkerungswachstum berücksichtigt, legt diese Erfahrung die Annahme nahe, daß die UdSSR heute den Verlust von 30 Millionen ihrer Menschen absorbieren (!) könnte und dabei nicht schlechter dran wäre, hinsichtlich der menschlichen Verluste, als am Ende des Zweiten Weltkrieges.»9
Also: Warum sollten die Leute, die - nicht ganz aus eigenem Antrieb - 20 Millionen ihrer Bürger opferten, nicht auch den atomaren Schlagabtausch riskieren? Zuzutrauen ist ihnen alles.
Und Weinberger, Sachwalter des Guten und der Guten, traut, wie wir gesehen haben, der eigenen Seite niemals zu, einen Erstschlag zu führen, wohl aber der andern. Natürlich gehen auch sowjetische Strategen davon aus, daß man selbst nie zuerst schlage. Schließlich, so begründen sie, habe die Sowjetunion - im Gegensatz zu den USA - mehr als einmal feierlich auf jeden Ersteinsatz von Atomwaffen verzichtet. Wohl aber trauen die Sowjets den Leuten um Weinberger zu, den Vorteil eines Erstschlags zu nutzen. Wenn schon ein präziser Analytiker wie Theodore Draper argwöhnt, die Strategie seines Verteidigungsministers ziele auf den «Endkampf (final struggle) um die Macht mit Hilfe eines längeren (protracted) Atomkrieges»10, was mag dann in sowjetischen Köpfen vorgehen? Und wenn Weinberger dies wirklich wollte - meine These ist, daß er hofft, diesen Endkampf dann vermeiden zu können, wenn er ihn jederzeit gewinnen kann -, rührt dies dann nicht auch daher, daß er die Entschlossenheit der andern Seite zu diesem Endkampf einfach voraussetzt? Es reicht, wenn einer von beiden glaubt, der andere halte diesen «final struggle for power» für unausweichlich. Der Rest folgt einem tödlichen Automatismus. Der Kampf findet dann - irgendwann - statt, auch wenn beide ihn nicht wollen. Zwischen Gut und Böse gibt es keinen Frieden, sondern nur den Kampf bis zum bitteren Ende. Wenn, wie Admiral La Rocque11 meint,
9 Zit. nach Robert Scheer, a. a. O., S. 63
10 New York Review ofBooks, 4.11.1982, S. 30
11 Frankfurter Rundschau vom 29.4.1981
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die Planer in den USA überzeugt sind, daß es früher oder später zum großen Kräftemessen zwischen den Giganten kommt, dann gehen auch die Strategen in Moskau davon aus. Was aber geschieht in einem Fall extremer Spannung, wenn sich beide damit abgefunden haben, der Schlagabtausch lasse sich ohnehin nicht vermeiden, es gehe nur um den günstigsten Zeitpunkt?
Wo die ohnehin robuste Hegemonialkonkurrenz zweier Mächte in solcher Weise ideologisch überhöht und absolut gesetzt, gleichzeitig moralisch vergiftet wird, hat der Friede keine Chance. Es gibt eine Verbindung von machtpolitischem Zynismus, ideologischem Fanatismus und technokratischer Borniertheit, die ohne Hoffnung ist.
Hätte der Friede nur eine Chance, wenn die beiden Giganten aufhörten, Rivalen zu sein, so bliebe wohl nur Resignation. Sie werden es noch lange bleiben. Aber sie können ihre Rivalität auch austragen, ohne ganze Völker auszulöschen und ganze Kontinente zu verheeren.
Hätte der Friede nur eine Chance, wenn eine Seite - oder gar beide - ihrer Ideologie abschwörten oder ihr System aufgäben, so könnten wir auch dann die Hoffnung auf Frieden begraben. Die Systeme und Ideologien werden bleiben, auch wenn ihre Ausstrahlungskraft weiter abnimmt. Aber die Frage nach der «richtigen», «gültigen» Ideologie muß nicht mit Massenvernichtungsmitteln ausgetragen werden, vorausgesetzt:
1. Das jeder dem andern für die absehbare Zukunft das Recht auf Existenz zuspricht.
2. Daß beide es der Dynamik gesellschaftlicher, ökonomischer und geistiger Auseinandersetzung und damit der Offenheit der Geschichte überlassen, ob ein System das andere überwindet oder ob beide, wie dies in der Geschichte üblich ist, eines Tages an neuen Aufgaben scheitern und von neuen Kräften verwandelt oder abgelöst werden.
3. Daß beide Seiten ihre Feindbilder abbauen. Es gibt keinen Frieden zwischen Gut und Böse, wohl aber zwischen Menschen, die im jeweils anderen die eigenen Hoffnungen und
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Ängste, Sehnsüchte und Aggressionen, Einsichten und Irrtümer, Erfahrungen und Ernüchterungen wiederfinden. 4. Daß, wer immer dies kann, sich dem tödlichen Automatismus entzieht, der sich aus der Verquickung von Hegemoniestreben, ideologischer Blickverengung und technokratischer Phantasielosigkeit ergibt. Dies gilt für Bürger der Supermächte, noch mehr für all jene, die, wie die Europäer in West und Ost, im «Endkampf um die Macht» nur als Opfer eingeplant sein können.
Was bleibt, wenn jeder der Giganten die Existenz des andern hinnimmt, wenn die Systeme und Ideologien ihren Anspruch auf allgemeine Gültigkeit relativieren, wenn sie ihre -spiegelbildlichen - Feindbilder abbauen? Wie sieht die Wirklichkeit hinter den Feindbildern aus? Hinter den Feindbildern bleiben Interessen, Weltmachtinteressen. Sie mögen sich beziehen auf Rohstoffe und Absatzmärkte, auf Ölquellen und Verbindungslinien zur See und zu Lande, auf politische Einflußsphären oder militärische Absicherung.
Was die Sowjetunion angeht, so kommt hinter dem Feindbild des Bösen, Aggressiven, Destruktiven, nicht das lächelnde Gesicht des allzeit Nachgiebigen hervor, sondern die Wirklichkeit einer Weltmacht, die dauernd in der Versuchung ist, ihre ökonomische und politische Schwäche durch militärisches Auftrumpfen zu überspielen, aber auch die Realität eines durch Leiden geprägten Volkes, das, wie die Deutschen, nicht nur aus Büchern und Filmen weiß, was Krieg im eigenen Lande bedeutet.
Robert McNamara hat dieses Bild so gezeichnet: «Die Russen sind Leute, denen ich nicht zutrauen würde, daß sie ihre Handlungen an etwas anderem als ihren eigenen beschränkten nationalen Interessen orientieren. Ich bin also nicht naiv. Aber sie sind nicht verrückt. Sie sind nicht verrückt. Sie haben Verluste hinnehmen müssen, und ihre Regierung fühlt sich ihrem Volk gegenüber verantwortlich dafür, daß solche Situationen in der Zukunft vermieden werden.
Sie sind, was die Auswirkungen von Kriegsverlusten auf ihre Volk angeht, sensibler, als wir es in einigen unserer State-
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ments und Analysen zu sein scheinen, die vom Führen und Gewinnen monatelang anhaltender Atomkriege handeln.»12
Wo Interessen offen dargelegt und nicht hinter ideologischen Phrasen versteckt werden, wo nicht mehr die Furcht vor dem Vernichtungswillen des andern den eigenen Vernichtungswillen hervorbringt und spiegelt, wo keiner blind wird für fremde Interessen, stellt sich manche Frage weniger dramatisch, auch die, welches Interesse die Sowjetunion an dem Überfall auf Westeuropa haben sollte, vor dem man uns seit beinahe vier Jahrzehnten Angst einjagt. Ganz abgesehen davon, daß sie damit einen militärischen Konflikt riskiert, der, sollte er nicht zur totalen gegenseitigen Auslöschung führen, eine schwer verwundete Sowjetunion in einem zerstörten Europa der intakten Weltmacht USA ausliefern dürfte, welche Aussicht könnte die Sowjetunion verlocken, ihre Existenz so aufs Spiel zu setzen? Daß sie Deutsche, Niederländer und Franzosen so regieren lassen müßte wie heute Tschechen und Polen? Daß sie sich in Frankfurt oder gar Madrid und Neapel all die Widerstände auf den Hals ziehen könnte, mit denen sie in Danzig und Prag nicht zu Rande kommt?
Könnte es nicht so sein, daß die Europäische Gemeinschaft, wie sie heute ist, der Sowjetunion mehr Vorteile bietet: ein technisch und ökonomisch potenter Handelspartner, der Röhren liefert und Gas abnimmt und überdies amerikanischen Kreuzzugsgeist zu bändigen vermag?
Peter Bender sieht die sowjetischen Interessen ähnlich:
«Nicht erst die polnische Entwicklung seit 1980 zeigt, daß der Kreml erhebliche Mühe hat, seinen Besitzstand in Europa auch nur zu halten, von Integration oder irgendeiner Art «organischer» Verbindung der sechs verbündeten Staaten mit der Sowjetunion ganz zu schweigen. Was sich auf der Landkarte nur als Anhängsel der europäischen Erdmasse ausnimmt, wäre für die Sowjetunion «unverdaulich». Sogar die - auf den ersten Blick - für Moskau reizvolle Vorstellung, die hochentwickelte Industrie Westeuropas zur eigenen Verfügung zulia-
12 Robert Scheer, a. a. O., S. 221
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ben, beruhte auf schlimmer Täuschung. Mit der Einführung des sowjetischen Systems wäre die westeuropäische Wirtschaft bald ebenso ruiniert wie die des Ostens. Schon Anfang der 70er Jahre räumten kompetente Vertreter Moskaus ein, daß der bestehende Zustand in Westeuropa der beste für sie sei: nicht allzu starke Staaten, aber eine Ökonomie, aus der sie für die eigene Entwicklung großen Nutzen ziehen könnten.»13
Wo es um Interessen geht, kann es Kompromisse geben, mit denen man leben kann. Jeder kann sich bemühen, den andern an seinen empfindlichen Stellen zu schonen. Schließlich können sogar gemeinsame Interessen ins Blickfeld kommen: das Interesse, die eigene Wirtschaft nicht durch Rüstung zu überfordern, die eigenen Wälder nicht durch Abgase anderer sterben zu sehen, die Meere nicht zu überfischen, das Chaos des Elends in Südasien zu mildern, schließlich sogar den andern etwas genauer kennenzulernen.
Weltmächte haben eine besonders ruppige Art, ihren Interessen Nachdruck zu verleihen. Sie pflegen robust und rücksichtslos von ihrer Macht Gebrauch zu machen, wo sie ihre unmittelbaren Lebensinteressen berührt sehen. Dies dürfte sich so rasch nicht ändern. Aber es schließt zweierlei nicht aus: Einmal, daß selbst kleinere Staaten mit den Weltmächten darüber ins Gespräch kommen können, ob die Weltmachtinteressen gelegentlich nicht doch etwas anders gelagert sein könnten, als diese selbst sie sehen. Dies gilt vor allem für Europa. Daß beide Supermächte Sicherheitsinteressen in Europa haben und wahrnehmen, damit werden wir noch einige Zeit leben müssen. Ob sie aber, die Sowjetunion in Osteuropa, die USA in Westeuropa, schon die vernünftigste Form dafür gefunden haben, darüber dürfte mit ihnen im Laufe der achtziger Jahre zu reden sein.
13 Vortrag am 19.11.1982 in Bad Boll, zit. nach EPD-Dokumen-tation Nr. 6/83, vom 31. 1.1983, S. 25
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Zum andern lassen sich, wo offen über Interessen gesprochen wird, die eigenen Interessen der kleinen und mittleren Mächte eher einbringen. Solange die US-Regierung meint, die Bürger und Regierungen ihrer Verbündeten hätten sich, so sie etwas vorzubringen haben, erst einmal laut und feierlich zu den gemeinsamen Werten (values) zu bekennen und das gemeinsame antikommunistische Credo aufzusagen, dann erübrige sich die Darstellung unterschiedlicher Interessen von selbst, ist ein vernünftiger Dialog nicht einmal innerhalb des Bündnisses möglich.
Wenn Freiheit der zentrale Wert der westlichen Welt sein soll, wenn die freie Diskussion uns von der kommunistischen Welt unterscheidet, dann muß sich unsere Freiheit darin bewähren, daß wir offen und freimütig unsere Besorgnisse und Wünsche vortragen, für unsere Interessen einstehen und unsere Ziele formulieren können.
Friedensbewegung, wie sie sich heute ausbreitet, ist ein typisch westliches, in seinen Graswurzeln und Methoden sogar amerikanisches Gewächs. Das wissen ihre Anhänger besser als ihre Kritiker. Sie sind Bürgerinnen und Bürger freier Gesellschaften und wollen es bleiben. Sie nehmen die Verantwortung wahr, die sie als Bürgerinnen und Bürger der USA oder der Bundesrepublik Deutschland verspüren, Verantwortung für ihr eigenes Land und den Frieden aller. Sie sind nicht ideologisch neutral, sondern als sehr bewußte Demokraten engagiert. Aber sie lassen sich nicht in das Weltbild der Guten und Bösen einordnen, das Weltbild der unrettbaren Friedlosigkeit. Ihr Ziel ist das Gespräch, die Bildung einer öffentlichen Meinung, die sich Interessen nicht durch Feindbilder verstellen läßt.
Bis wir dahin kommen, bleibt es uns nicht erspart, an einigen Punkten schlicht nein zu sagen. Gegen das lebensgefährliche Gemenge aus technokratischem Übermut, fanatischem Haß und ökonomischem Imperialismus ist vorläufig mit gutem Zureden nicht anzukommen. Da kann nur jeder da, wo er zu Hause ist, wo er als Bürger mitverantwortlich ist, Stopp-Signale setzen.
Nicht daß diese Signale schon eine ausgereifte politische Alternative böten. Sie sind nötig, um die Mitbürger, vor allem die Regierungen, zur Besinnung zu bringen, wenn sie den tödlichen Utopien nachjagen. Stopp-Signale erschließen noch keine friedlichere Zukunft, sie schaffen die Zeit dafür, sie können den Zug zum Stehen bringen, der dem Abgrund entgegenrast. Wo es um Stopp-Signale geht, ist Eindeutigkeit verlangt. Es gibt Zeiten und Augenblicke, in denen behutsames Abwägen, vielleicht sogar das Aufschieben einer Entscheidung gefordert ist. Und es gibt Augenblicke und Entscheidungen, wo nur Eindeutigkeit helfen kann.
Dies gilt zum Beispiel für die Zumutung, den Westeuropäern und vor allem den Deutschen Ende 1983 neue amerikanische Mittelstreckenraketen in ihre Länder zu stellen.
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