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IX   Von Gewißheit und Sicherheit der Christen      Eppler-1983

«Wieviele Verhungerte dürfen Christen am Wegrand liegenlassen, wenn sie auf dem Weg zum Plastik-Utopia der perfekten Sicherheit mitlaufen? Wo steht denn geschrieben, Christen sollten zuerst nach der perfekten Sicherheit trachten ? Gehört nicht Sicherheit, das was Menschen an -relativer- Sicherheit zukommt, zu dem, was ihnen «zufällt», wenn sie nach Anderem, Wichtigerem trachten?»

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Auf die Frage an einen Theologen, wo im Neuen Testament von Sicherheit die Rede sei, erhielt ich nach eintägiger Nachschlagpause die Antwort: Lasse man einmal alle Stellen außen vor, wo von Gewißheit (etwa des Glaubens, also lateinisch certitudo) und nicht von Sicherheit (lateinisch securitas) die Rede sei, so bleibe eine einzige Stelle übrig: Bei der Gefangennahme Jesu stehe der Satz: «Ergreift ihn und führt ihn sicher ab.» Es geht dabei offenkundig nicht um Jesu Vorstellungen von Sicherheit, sondern um die Sicherheit der römischen Besatzungsmacht vor dem Unruhestifter Jesus von Nazareth.

Securitas, Sicherheit vor Barbaren und Rechtsbrechern ist das, was die Römer mit ihrer pax romana garantieren wollten. Jesus ging es um etwas anderes: Er wollte die Gewißheit vermitteln, daß sein «Vater im Himmel» sich nicht nur jedes Menschen, sondern auch der Vögel unter dem Himmel und der Lilien auf dem Felde so annehme, daß menschliches Streben nach Sicherheit dagegen eher kleinlich, kleingläubig, schäbig, erscheine und im übrigen vom Entscheidenden, der Gewißheit der Gotteskindschaft, ablenke.

Dietrich Bonhoeffer wußte dies schon 1934: «Wie wird Friede? Durch ein System von politischen Verträgen? Durch Investierung internationalen Kapitals in den verschiedenen Ländern? Oder gar durch eine allseitige friedliche Aufrüstung zum Zweck der Sicherstellung des Friedens?

Nein, durch dieses alles aus dem einen Grunde nicht, weil hier überall Friede und Sicherheit verwechselt wird.

Es gibt keinen Weg zum Frieden auf dem Weg der Sicherheit. Denn Friede muß gewagt werden, ist das eine große Wagnis und läßt sich nie und nimmer sichern. Friede ist das Gegenteil von Sicherung. Sicherheiten fordern heißt Mißtrauen haben, und dieses Mißtrauen gebiert wiederum Krieg.

Sicherheiten suchen heißt sich selber schützen wollen. Friede heißt sich gänzlich ausliefern dem Gebot Gottes, keine Sicherung wollen, sondern in Glaube und Gehorsam dem allmächtigen Gott die Geschichte der Völker in die Hand legen und nicht selbstsüchtig über sie verfügen wollen.»

Erstaunlich, daß dieser fundamentale Unterschied zwischen der Gewißheit des Christen und der Sicherheit, die Staaten versprechen, in der kirchlichen Friedensdiskussion immer am Rande blieb. In der Friedensdenkschrift der EKD (1981) hießt es zwar: «Im Glauben vertrauen wir darauf, daß wir in Gottes Frieden bewahrt sind. Dieses Vertrauen ist das Fundament für die Gewißheit des Glaubens, daß der Gott des Friedens mit Euch sein wird.»1 Aber diese Gewißheit wird keineswegs als Kontrapunkt zum Sicherheitsdenken der Menschen und Staaten empfunden, das nicht auf Gottes Zusage, sondern auf Bomben und Raketen setzt. Wo Christen sich um Krieg und Frieden, Aufrüstung und Abrüstung streiten, geht es um das Verhältnis zwischen dem Frieden Gottes, der höher ist als alle Vernunft, und dem Frieden zwischen Menschen und Staaten, der von Haß und Feindbildern bedroht wird, die tiefer sitzen als alle Vernunft. Und es geht darum, ob, wann und womit sich Krieg rechtfertigen lasse, welche Mittel die Staaten zu ihrer Verteidigung anwenden dürfen. Seit drei Jahrzehnten spitzt sich der Disput in der Frage zu, ob das Ja Gottes zu seiner Schöpfung das Nein des Christen zu Massenvernichtungsmitteln nach sich ziehen müsse.

Nach dem Zweiten Weltkrieg hat in Deutschland der leidenschaftliche Streit um den christlichen Dienst am Frieden vor allem die evangelischen Kirchen aufgewühlt, während die offiziellen katholischen Verlautbarungen - von kleinen, kritischen Gruppen angefochten - lange Zeit eher als theologische Rechtfertigung dessen aufzufassen waren, was die Politik an Rüstungsmaßnahmen gegen die «bolschewistische Gefahr» jeweils für angemessen hielt.

  • 1 Frieden wahren, fördern und erneuern. Eine Denkschrift der EKD, Gütersloh 1981, S. 44

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Dies gilt im Grunde auch noch für die Erklärung des Zentralkomitees der Deutschen Katholiken aus dem Jahre 1981.2

Ende der fünfziger Jahre, als zur Frage nach der Aufrüstung der beiden Teile Deutschlands gegeneinander die nach Besitz und Einsatz atomarer Massenvernichtungsmittel getreten war, schienen die evangelischen Kirchen daran zu zerbrechen. Keine Brücke zwischen dem Für und dem Wider war erkennbar, so daß die Spandauer Synode am 30.4.1958 nur erklären konnte: «Wie bleiben unter dem Evangelium zusammen und mühen uns um die Überwindung dieser Gegensätze.»3

Diese Spandauer «Ohnmachtsformel» war der Hintergrund, auf dem einige theologisch, wissenschaftlich und politisch engagierte Glieder der Kirche die Thesen ausarbeiteten, die von Günter Howe entworfen, von C. F. v. Weizsäcker gutgeheißen und nach langer Diskussion von Gegnern und Befürwortern atomarer Rüstung akzeptiert, als «Heidelberger Thesen» (1959) in die Kirchengeschichte eingingen, obwohl sie übrigens nie von einem Entscheidungsgremium beschlossen wurden. Hier sollte gemeinsam gesagt werden, was noch gemeinsam zu sagen war, z. B. die These 1:

«Der Weltfriede wird zur Lebensbedingung des technischen Zeitalters», oder These 3:

«Der Krieg muß in andauernden und fortschreitenden Anstrengungen abgeschafft werden», oder These 4:

«Die tätige Teilnahme an dieser Arbeit für den Frieden ist unsere einfachste und selbstverständlichste Pflicht.»4

  • 2 Zur aktuellen Friedensdiskussion. Stellungnahme der Vollversammlung des ZDK vom 14. November 1981, zit. in: Christen im Streit um den Frieden, Freiburg 1982, S. 302 ff

  • 3 a.a.O., S.343

  • 4 a.a.O., S.346

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Aber es sollte auch das, was die evangelische Christenheit trennte, benannt und «komplementär» formuliert werden. Die beiden Grundhaltungen fanden Ausdruck in der These 7: «Die Kirche muß den Waffenverzicht als eine christliche Handlungsweise anerkennen» und These 8:

«Die Kirche muß auch die Beteiligung an dem Versuch, durch das Dasein von Atomwaffen einen Frieden in Freiheit zu sichern, als eine heute noch mögliche christliche Handlungsweise anerkennen».5

Das unbedingte Nein und das bedingte Ja zu atomaren Massenvernichtungsmitteln sollten sich gegenseitig ergänzen, zumindest insoweit, als beide Positionen sich immer von der jeweils anderen anfechten, herausfordern, korrigieren, in Frage stellen lassen sollten. Der Zwang, die eigene Position im Gespräch mit dem andersdenkenden Bruder zu erklären und zu rechtfertigen, hat sicher die Diskussion vertieft und den kritischen Blick geschärft. Aber konnte es dabei bleiben?

Der Kirchentag von Hannover 1967 - auch er kein Entscheidungsgremium - hatte aus der Komplementarität der Heidelberger Thesen die eingängige, hilfreiche, aber etwas zu bequeme Formel vom «Friedensdienst mit und ohne Waffen» abgeleitet. Natürlich war und ist diese Formel nur zu berechtigt, wenn man sie auf das subjektive Wollen bezieht, also die Motive des Soldaten und des Kriegsdienstverweigerers. Beide wollen auf ihre Weise dem Frieden dienen, und wer ihnen dies abspräche, handelte lieblos.

Nur: wie verhielt es sich mit der atomaren Abschreckung, mit der Friede gesichert werden sollte? Wie lange sollte das «heute noch möglich» gelten? Von wann ab war es keine «christliche Handlungsweise» mehr, den Frieden «durch das Dasein von Atomwaffen» sichern zu wollen?

Die Verfasser der Heidelberger Thesen empfanden das «Gleichgewicht des Schreckens», das sich damals anbahnte,

  • 5 a.a. O.,S.350ff

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nicht als «Sicherheit», als etwas, worauf man vertrauen, worauf man sich ausruhen konnte, sondern als eine letzte Gnadenfrist für die «andauernden und fortschreitenden Anstrengungen», in denen der Krieg abgeschafft werden sollte (These 3). Wenn der Krieg sich schon technisch durch Massenvernichtungsmittel ad absurdum führte, warum sollte er dann nicht auch politisch überwunden werden können? Alles, was auf diesem Wege geschah, auch der winzigste Schritt, war gut, und wenn das atomare Patt dazu Zeit ließ, so sollte man sie nutzen. Die Heidelberger Thesen zogen aus der Unmöglichkeit, mit Bomben von Megatonnengröße Krieg zu führen, einen Schluß, der dem genau entgegengesetzt war, worum sich später die Atomstrategen mühten. Ging es den Heidelbergern um die Abschaffung, so ging es Schlesinger, allen seinen Nachfolgern und wohl auch ihren Gegenspielern auf der andern Seite um die Rettung des Krieges. Sagten die Heidelberger: Was technisch unsinnig geworden ist, muß politisch unmöglich gemacht werden, so meinten die Strategen: Was technisch unmöglich zu werden droht, muß technisch wieder möglich gemacht werden. Wenn Krieg mit Megatonnenbomben nicht zu führen war, dann brauchte man eben kleinere, genauere, zahlreichere Sprengkörper. Die Gnadenfrist, die sich aus dem Gleichgewicht des Schreckens ergab, wurde durchaus genutzt, aber nicht, um den Krieg als Institution zu überwinden, sondern um ihn durch verfeinerte Waffentechnik zu rehabilitieren, ihn wieder führbar und dann eben auch gewinnbar zu machen.

Im übrigen hatte die These 8 nur mit dem Risiko argumentiert, das entstehe, wenn eine Seite einfach auf Atomrüstung verzichte. In der Erläuterung zu These 8 heißt es:

«Verzichtet eine Seite freiwillig auf Atomwaffen, so wäre die totale militärische Überlegenheit der andern Seite damit besiegelt.»6

Auch daraus ergibt sich ein Risiko: «Die Beibehaltung der

6 a.a. 0.,S. 351

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westlichen Atomrüstung strebt an, dieses Risiko zu vermeiden. Sie läuft dafür das Risiko des Atomkrieges.»7

Beide Risiken, sagen die Erläuterungen, müßten «als nahezu tödlich» empfunden werden. Daher könne der Weg «des Friedensschutzes durch Atomrüstung heute nicht verworfen» werden.

Aber: «Es muß unbedingt feststehen, daß sein einziges Ziel ist, den Frieden zu bewahren und den Einsatz dieser Waffen zu vermeiden und daß nie über seine (des Friedensschutzes) Vorläufigkeit eine Täuschung zugelassen wird.»8

Nun wird jede Atomstrategie sich darauf berufen, sie wolle lediglich durch Abschreckung den Frieden bewahren. Auch wenn wir dies gutgläubig abnehmen sollten, ist dies das «einzige Ziel»? Atomare Sprengkörper werden ja nicht nur zu dem Zweck gebaut, nie eingesetzt zu werden. Sie sollen auch helfen, die Interessen des Staates zu wahren, der sie konstruiert. Das war so von Anfang an. Und heute sollen sie sogar die außenpolitische Handlungsfähigkeit festigen oder zurückgewinnen, die durch das Gleichgewicht gelitten hatte. Sie sollen so perfektioniert werden, daß strategische Überlegenheit einen Atomkrieg wieder führbar und gewinnbar macht, so eindeutig und auch für den Gegner einsichtig, daß er - so hoffen die Urheber dieser Strategie - nicht mehr geführt und gewonnen zu werden braucht. Das mag man auch noch Abschrek-kung nennen. Aber diese totale, einseitige Abschreckung durch die Androhung des gewinnbaren Atomkrieges hätte mit dem, was die Heidelberger Thesen meinten, allenfalls noch das Wort gemein. Daher dürfte es für alle, die sich auf die Heidelberger Thesen berufen, sei es die These 7 oder die These 8, zu dem, was heute, für jeden erkennbar, geredet, geplant und atomar gerüstet wird, nur ein gemeinsames «Nein, so jedenfalls nicht!» geben.

Das wäre dann immer noch nicht das definitive Nein zu jeder Atomrüstung zu allen Zeiten, aber es wäre das Nein

7 a.a.O.,S. 352

8 a.a.O.,S.352

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zu dem, wozu atomare Vernichtungsmittel heute - auch in der Bundesrepublik Deutschland - angehäuft werden sollen.

Als die Kammer für öffentliche Verantwortung der EKD sich in den Jahren 1979-1981 um ein gemeinsames Wort zum Frieden abmühte, drangen hin und wieder Einzelinformationen über jene neuen Strategien an die Öffentlichkeit. Aber sie waren schwer zu greifen, als Wahlparolen abzutun, vor allem nicht so präzise auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, daß sich daraus der Schluß hätte ziehen lassen, das «heute noch möglich» von 1959 sei erledigt, nicht einfach durch Zeitablauf, wohl aber durch das, was seither geschehen - und nicht geschehen - war. Die Kammer konstatiert zwar, daß Menschen, die auf eine andere Art der Kriegsverhinderung als die der atomaren Abschreckung gehofft hätten, sich enttäuscht sähen:

«Nicht nur wurden keine entscheidenden Fortschritte in der Ablösung der militärischen Kriegsverhütung durch nichtmilitärische Friedenssicherung erzielt. Darüber hinaus wird auch die Gefahr ihres Mißlingens immer deutlicher. Darum sehen es viele Christen als überholt an, die Beteiligung am Versuch der Kriegsverhütung durch militärische Abschrek-kung noch als mögliche christliche Handlung anzuerkennen. Sie erwarten als Friedensdienst der Kirche heute, daß die Kirche die Beteiligung am Versuch, einen Frieden in Freiheit durch atomare Abschreckung zu sichern, nicht mehr als christliche Handlungsmöglichkeit anerkenne.»9

Das war sehr zurückhaltend formuliert. Die dramatische Veränderung der Abschreckungskonzepte ist durch den Hinweis auf «die Gefahr des Mißlingens» (der atomaren Abschreckung) eher verdeckt als benannt. Aber was ließ sich 1981 schon nachweisen? Die bodenlos törichten Reden des US-Wahlkampfes bewiesen schließlich nichts. So setzte sich in der Kammer die Auffassung durch, daß bei allen Zweifeln nach wie vor «beide Optionen», also das bedingte Ja zur

9 Frieden wahren, fördern und erneuern, S. 56

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Atomrüstung und das schlichte Nein dazu, «mit hohen Risiken verbunden» seien.

Schließlich kam die Kammer nach langem Ringen um Nuancen zu folgendem Kompromiß:

«Die Kirche muß auch heute, 22 Jahre nach den Heidelberger Thesen>, die Beteiligung am Versuch, einen Frieden in Freiheit durch Atomwaffen zu sichern, weiterhin als eine für Christen noch mögliche Handlungsweise anerkennen.»

Andererseits wurde dieses «immer noch mögliche» an neue Bedingungen gebunden:

«Allein, diese Handlungsweise ist nur in einem Rahmen ethisch vertretbar, in welchem alle politischen Anstrengungen darauf gerichtet sind, Kriegsursachen zu verringern, Möglichkeiten gewaltfreier Konfliktbewältigung auszubauen und wirksame Schritte zur Senkung des Rüstungsniveaus zu unternehmen.»10

Nun hätte sich mit Fug und Recht schon 1981 argumentieren lassen, wir seien von der Erfüllung solcher Bedingungen weiter entfernt denn je. Seit dem Dezember 1979, als der Brüsseler NATO-Beschluß und die sowjetische Invasion Afghanistans den Kalten Krieg neu belebten, konnte man wahrlich nicht mehr behaupten, «alle politischen Anstrengungen» seien darauf gerichtet, «Kriegsursachen zu verringern». Von ernsthaften «Versuchen gewaltfreier Konfliktlösung» war weder in Moskau noch in Washington irgend etwas zu bemerken, und das «Rüstungsniveau» wurde nicht «gesenkt», sondern in einem Wettlauf ohnegleichen in die Höhe getrieben.

Welche Konzepte hinter alldem standen, wurde allerdings erst nach Abschluß der Denkschrift aktenkundig. Es mag dem Leser aufgefallen sein, daß die meisten Quellen, die in diesem Buch herangezogen wurden, jünger sind als die Denkschrift. Dies gilt für die inneramerikanische Diskussion über die Politik der Reagan-Regierung, für das Heraussickern der Verteidigungsleitlinien 1984-88, für die Erklärungen von Weinberger und Reagan, schließlich für die Erläuterungen

10 a.a. 0.,S. 58

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zum Verteidigungshaushalt 1983. Auch für mich selbst wurde die präzise Folgerichtigkeit dieser Strategie erst im Laufe des Herbstes 1982, vor allem durch einen Besuch in den USA, erkennbar. Unter dem Eindruck des Erschreckens, der einen packen kann, wenn man sich im Pentagon informieren will, gab ich dem «Sonntagsblatt» Anfang November 1982 ein Interview. Unter Hinweis auf die Formulierung im US-Haushalt, daß die USA in der Lage sein müßten, wenn nötig, «einen konventionellen oder nuklearen Krieg mit Erfolg zu führen» (successfully fight either conventional or nuclear war), sagte ich:

«Wenn ich damals (Mitte 1981) sicher gewußt hätte, was ich heute weiß, wäre ich nicht in der Lage gewesen, die modifizierte Weitergeltung der 8. Heidelberger These mit zu verantworten.»11

Wer in diesem Buch mitverfolgt hat, mit welcher Konsequenz der Krieg gerettet, führbar und gewinnbar gemacht wurde und wird, dürfte davon nicht überrascht sein. Was auch immer die Heidelberger Thesen noch rechtfertigen konnten und wollten, zu dem, was sich jetzt an strategischer Planung und atomarer Aufrüstung vollzieht, kann es nur ein unumwundenes Nein geben.

Wer die Strategie Weinbergers - in die heute auch die Stationierung neuer Mittelstreckenraketen in Westeuropa fugenlos eingepaßt ist - rechtfertigen will, kann dies nicht unter Hinweis auf die Heidelberger Thesen und auch nicht unter Berufung auf die Denkschrift von 1981 tun, es sei denn, er wolle beides, Thesen und Denkschrift, nachträglich entwerten zu mehr oder minder schlauen Beschwichtigungsversuchen mit dem einzigen Zweck, jede denkbare Rüstungsmaßnahme durch einen Schwall von Worten der präzisen Kritik zu entziehen und alles passieren zu lassen, was Regierung und NATO für nötig halten. Es geht letztlich darum, ob die Kirche, was sie sagt, selbst so ernst meint, daß daraus auch ein eindeutiges Nein zu einer ganz bestimmten Politik folgen kann.

11 Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, Nr. 46/1982, S. 12

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Man mag das Konzept der totalen, einseitigen Abschrek-kung damit relativieren, daß auch die USA nicht genug Geld aufbringen könnten, um die Träume Weinbergers in stählerne MX, Pershing II und Trident II (oder gar III) umzusetzen.

Man mag auf diese Widerstände setzen, die sich in der amerikanischen Öffentlichkeit, inzwischen auch im Kongreß regen, man mag also meinen, die Reagan-Administration werde letztlich mit und an ihrer schäbig-tödlichen Utopie scheitern. Nur ändert das nichts an unserer Pflicht zum Nein, auch und gerade dann, wenn wir uns - wie nahezu alle Protestanten in der Bundesrepublik - auf die Heidelberger Thesen berufen. Wer die Fortgeltung der 8. Heidelberger These damit rechtfertigen will, daß im Grunde alles beim alten geblieben sei, daß die Abschreckung bislang funktioniert habe und also wohl auch künftig der beste Schutz sei, verkennt die Thesen nicht weniger als die Wirklichkeit der achtziger Jahre.

Näher an dieser Realität sind offenbar die evangelischen Kirchen in der DDR. Die Synode des Bundes evangelischer Kirchen in der DDR hat am 28. September 1982 einen Beschluß gefaßt, in dem es heißt:

«Die Absage an Geist und Logik der Abschreckung wirft theologische Grundfragen auf.

Neue Waffensysteme sollen den atomaren Erstschlag ermöglichen; neue Strategien suchen, seinen Erfolg zu sichern. Diese Bedrohung allen Lebens durch eine übersteigerte Rüstung fordert unseren Glauben heraus. Wenn wir sie stillschweigend hinnehmen, geraten wir in Widerspruch zu Gott dem Schöpfer, denn sein Auftrag verpflichtet uns zur Bewahrung der Schöpfung und schließt das Recht zu ihrer Zerstörung aus. Deshalb geht es hier um Gehorsam oder Ungehorsam gegen Gott.»12

Das Ja oder Nein zu atomaren Vernichtungsmitteln hat also durchaus, so empfinden es die Christen in der DDR, mit dem Glauben zu tun. Die Ausrottung von Millionen Nächsten -und auch die Menschen in Kiew sind unsere Nächsten - kann

12 EPD-Dokumentation 47/82, S. 30

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niemals die Frucht christlichen Glaubens sein. Wer also für Massenvernichtungsmittel eintritt, trägt die Beweislast dafür, daß sie - und nur sie - eben das verhindern, was sie androhen. Dieser Beweis war schon immer schwer zu erbringen. Im Zeichen der neuen «Waffen» und Strategien ist er nicht mehr zu führen. Jetzt darf die Beweislast nicht verschoben werden. Natürlich kann niemand «sicher» sein, daß ein Nein zu den «neuen Waffensystemen» und den «neuen Strategien» schon den Frieden garantiere. Nichts kann heute Frieden garantieren. Aber damit ist noch lange nicht alles, was wir tun oder unterlassen, gleich richtig und gleich falsch.

Der Reformierte Bund hat im Oktober 1981 eine Erklärung seines «Moderamens» veröffentlicht, die noch weiter geht als die Kirchen in der DDR. Für die Reformierten gilt:

«Jetzt, da stärker als zuvor die Möglichkeit des Atomkrieges zur Wahrscheinlichkeit wird, erkennen wir: Die Friedensfrage ist eine Bekenntnisfrage. Durch sie ist für uns der Status confessionis gegeben, weil es in der Stellung zu den Massenvernichtungsmitteln um das Bekennen oder Verleugnen des Evangeliums geht.»13

Dies muß alle aufbringen, die in der Lehre Luthers von den zwei Reichen leben. Kann es überhaupt bei einer Frage der Politik um «Bekennen und Verleugnen des Evangeliums» gehen? Die Reformierten, der Tradition Calvins verpflichtet, lassen sich von diesem Einwand nicht anfechten:

«Gott ist der Schöpfer und Erhalter der Welt. Trotz unserer Schuld hält und erneuert er in Treue den Bund mit uns Menschen und gibt nicht preis das Werk seiner Hände.

Dieses Bekenntnis unseres Glaubens ist unvereinbar mit der Entwicklung, Bereitstellung und Anwendung von Massenvernichtungsmitteln, die den von Gott geliebten und zum Bundespartner erwählten Menschen ausrotten und die Schöpfung verwüsten können.

Im Vertrauen auf den Gott des Bundes und der Treue wol-

13 Das Bekenntnis zu Jesus Christus und die Friedensverantwortung der Kirche, Gütersloh 1982, S. 6

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len wir uns nicht länger von solchen <Waffen> umgeben, <schützen> und gefährden lassen.»14

Der Glaube hat etwas damit zu tun, ob die Gewißheit der Gotteskindschaft ausreicht, einem Sicherheitsstreben abzusagen, das sich darin ausdrückt, daß Millionen Menschen mit dem Tode bedroht werden. Wo auch immer die technokratische Utopie der Sicherheit durch die totale Abschreckung entworfen wurde, jedenfalls war sie nicht das Ergebnis christlicher Glaubensgewißheit.

Jetzt muß wirklich, wie die Reformierten es tun, über die Kosten dessen gesprochen werden, was manche für ihre und unsere Sicherheit halten:

«Dieses Bekenntnis unseres Glaubens ist unvereinbar mit der Bejahung oder auch nur Duldung eines <Sicherheitssy-stems>, das auf Kosten der Hungernden und Elenden der Erde und um den Preis ihres Todes erhalten wird.»15

Wie viele Verhungerte dürfen Christen am Wegrand liegen lassen, wenn sie auf dem Weg zum Plastik-Utopia der perfekten Sicherheit mitlaufen? Wo steht denn geschrieben, Christen sollten zuerst nach der perfekten Sicherheit trachten? Gehört nicht Sicherheit, das, was Menschen an - relativer -Sicherheit zukommt, zu dem, was ihnen «zufällt», wenn sie nach Anderem, Wichtigerem trachten?

Man mag den Reformierten vorhalten, sie drängten mit ihrer These vom Status confessionis alle Christen in den Stand von Ketzern, die ihre Meinung zur Atomrüstung nicht teilten. Dies wäre in der Tat weder hilfreich, noch entspräche es dem Geist christlicher Liebe, den das Moderamen beschwört. Aber es ist doch wohl möglich zu sagen: «Dies entspricht oder widerspricht meinem, unserem Verständnis des Evangeliums.» Dies tun Tausende von Kriegsdienstverweigerern auch, ohne den Soldaten ihr Heimatrecht in der Kirche streitig zu machen.

14 a.a. O..S. 7

15 a.a. O..S.8

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Wolfgang Huber hat daher vorgeschlagen, nicht vom «Status confessionis», sondern vom «processus confessionis» zu sprechen, «in dem auch die Frage nach dem der Kirche und den Christen heute aufgetragenen Gehorsam ihren Ort hat. In diesem Prozeß ist heute um der Eindeutigkeit des christlichen Friedenszeugnisses willen der Schritt zu einem klaren Nein nötig».16

So schwer diese Eindeutigkeit der Kirche fallen mag, niemand sollte, wie Trutz Rendtorff17, aus der Not der Kontroverse, auch aus der Not der Heidelberger Thesen eine Tugend der Widersprüchlichkeit ableiten. Daß die Kirche Ende der fünfziger Jahre nicht klar und gemeinsam zeigen konnte, wie Christen es mit atomaren Vernichtungsmitteln halten sollten, haben alle als - hoffentlich überwindbare - Not, nicht als Teilhabe an «der Widersprüchlichkeit der Welt» verstanden.

Der Satz Rendtorffs

«Wahrhaftige christliche Eindeutigkeit schließt daher Kontroversen über den Weg zum Frieden ein und nicht aus, solange das Ziel des Friedens von allen klar bejaht wird» erklärt letztlich die Vielfalt oder gar die Vieldeutigkeit zum Kriterium «wahrhaftiger christlicher Eindeutigkeit».

Da heute niemand, der seiner Sinne mächtig ist, sich gegen das Ziel des Friedens wenden wird, heißt die These Rendtorffs in der Praxis: Die Kirche erweist sich gerade dadurch als Kirche, daß ihre Glieder sich nicht darüber einigen können, ob z.B. Sicherheit darin gesucht werden darf, daß der gewinnbare Atomkrieg vorbereitet, angedroht und - wie das Drohungen so an sich haben - notfalls auch geführt werden kann. Wie anders soll Rendtorffs Antwort auf das reformierte «Moderamen» zu verstehen sein:

«Die Friedensfrage ist eine Frage des Bekenntnisses, weil

16 Wolfgang Huber, Vortrag in Bad Boll am 19.11.1982, zit. nach EPD-Dokumentation Nr. 6/83 vom 31.1.1983, S. 45

17 Trutz Rendtorff, Der Friedensteil bedeutet Gefahr für die Kirche, FAZm. 247/1982 vom 25. Okt. 1982, S. 8

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die Kirche dem Mißbrauch des christlichen Bekenntnisses zu wehren hat.»18

Wäre eine Kirche, die an einem bestimmten Punkt sagen müßte: «Was immer wir an Friedenswillen auch bei den Atomstrategen unterstellen wollen, dies kann für Christen nicht der Weg zum Frieden sein», wäre eine Kirche, die sich verpflichtet fühlte, dies zu sagen, etwa weniger Kirche als eine, die ihre Glieder - und so empfinden es viele - mit einem Wust von interpretierbarem «einerseits - andererseits» abspeist? Sind etwa die evangelischen Kirchen in der DDR deshalb keine Kirchen mehr, weil sie schlicht erklären, die Bedrohung allen Lebens durch übersteigerte Rüstung fordere unseren Glauben heraus? Weil sie feststellen:

«Wenn wir sie (die Bedrohung) stillschweigend hinnehmen, geraten wir in Widerspruch zu Gott dem Schöpfer.» Und läuft nicht alles, was da zum Lobe der Vielfalt und der unaufhebbaren Kontroverse gesagt wird, in der Praxis immer auf das «stillschweigende Hinnehmen» hinaus? Und sollte dies Zufall sein?

Ist es Zufall, daß die Kirchen in der DDR, die durch keinerlei personelle Querverbindungen oder gar Personalunionen mit dem SED-Regime verflochten sind, sich so viel klarer äußern als die EKD?

Wer einmal in der DDR erlebt hat, wie furchtlos und zuversichtlich da die «Freiheit eines Christenmenschen» gegenüber einer - offen atheistischen - Regierung gelebt und praktiziert wird, kann nicht umhin, hinter den unterschiedlichen Graden der Eindeutigkeit in Fragen des Friedens keine theologischen, sondern sehr handfeste, praktische Gründe zu vermuten. Über diese Gründe nachzudenken, stünde Christen besser an, als sie theologisch zu überhöhen.

Als ich Anfang Mai 1982 in Ostberlin den Staatssekretär für Kirchenfragen, Gysi, bedrängte, in der DDR die Jagd nach Aufklebern «Schwerter zu Pflugscharen» endlich abzublasen,

18 a.a.O.

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hatte er nur ein einziges stichhaltiges Gegenargument. Er fragte, warum die Kirchen in der DDR so viel eindeutiger gegen das atomare Wettrüsten, auch im eigenen Lager, einträten als die Kirchen in der Bundesrepublik, warum die Kirchenleitungen in der DDR sich so unmißverständlich hinter kirchliche Friedensgruppen stellten, während die EKD immer mehr auf Distanz zur kirchlichen Friedensbewegung gehe. Darauf gab es in der Tat keine befriedigende Antwort. Die Kirchen in der DDR werden ihr Friedensengagement nur schwer durchhalten können, wenn Herrn Gysi und seiner Regierung dieses Argument nicht genommen wird.

Die Eigentümlichkeiten der deutschen Debatte bekommen ein sehr viel schärferes Profil, wenn wir einen Blick über den Atlantik tun.'9 Die meisten protestantischen Kirchen in den USA engagieren sich - ohne Umschweife und ohne theologische Gewissensbisse - für die Freeze-Bewegung, also die Bemühungen um das Einfrieren der atomaren Rüstung, obwohl die Gemeindeglieder in der Regierung und ihre Anhänger entschieden darauf bestehen, ihre Form der totalen Abschreckung sei der richtige, ja der einzige Weg zum Frieden. Im Nationalen Kirchenrat gibt es sogar ein Büro, das für die Aktivitäten in der Freeze-Bewegung zuständig ist.

Noch spannender läßt sich an, was in der katholischen Kirche der Vereinigten Staaten vorgeht. Wenn dieses Buch ausgeliefert wird, dürfte die endgültige Fassung des Hirtenbriefes der Nationalen Bischofskonferenz zu den Fragen der atomaren Abschreckung vorliegen. Schon der zweite Entwurf20, der im Herbst 1982 veröffentlicht wurde, ist ein Dokument, das manchen Katholiken in Europa, besonders in Deutschland, verwirren muß. Dieselbe Kirche, die sich zu Zeiten von Dulles und Kardinal Spellmann im Kalten Krieg durch besonders strammen Anti-Bolschewismus hervortrat, wendet sich

19 siehe Ulrich Duchrow, Unsere Friedensbewegung in den USA. Theologische Wurzeln und Perspektiven, Pastoral Theologie 1983/1, S.33ff

20 zit. nach Die Zeit, Nr. 46/1982,12. Nov. 1982, S. 17ff

Kirche, nach innen, wo manche verstört werden (wie heute manche Katholiken in den USA oder 1965 manche Protestanten in Deutschland durch die Ostdenkschrift), nach außen, weil da ganze Pressekonzerne ohne Nachsicht auf der Kirche herumhacken können, von Politikern unterstützt. Aber die Kirche ist nicht für sich selber da, sondern für alle. Wie ihr Stifter auch. Der innerkirchliche Friede, soweit er nicht mit oberflächlicher Befriedung oder gar Beschwichtigung verwechselt wird, ist ein hohes Gut. Der Güter höchstes ist er nicht.

Irgendwann werden sich die christlichen Kirchen zu der Einsicht durchringen müssen, daß man in der Nachfolge Jesu Christi nicht der Sicherheit nachjagen kann, die Strategen und Technokraten uns versprechen. Jesus hat diese Art von Sicherheit nicht nur der römischen Besatzungsmacht überlassen, für ihn war Sicherheit bestenfalls eine schäbige Utopie, tödlich für die Gewißheit, die er ausstrahlte und vermitteln wollte. Daß ausgerechnet das «christliche Abendland» die Bombe hervorbrachte, die jene schäbige Utopie noch in einem andern Sinne tödlich werden ließ, könnte Christen neu vor die Frage stellen, worauf sie sich verlassen wollen: auf ihre tödliche Fähigkeit, den «Feind» und vielleicht sich selbst notfalls «mit Sicherheit» umzubringen, oder auf die Leben schaffende Gewißheit, daß sie niemals anderswohin fallen als in die Hände des lebendigen Gottes.

143-144

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Die lebensnotwendige Utopie

«Wir haben uns zu unumschränkten Herren der Schöpfung gemacht und noch nicht andeutungsweise begriffen, was dies bedeutet. An der Wirklichkeit vorbei hasten wir dem Utopia der totalen Sicherheit entgegen und stehen plötzlich dem totalen, dem «zweiten Tod>, gegenüber. Niemand wird das Utopia, das Nirgendwo der gerechten und solidarischen Welt, in der Gewalt sich völlig erübrigt, je erblicken. Aber wenn wir nicht dahin aufbrechen, werden wir dem Nirgendwo des «zweiten Todes» nicht entgehen.»

 

Wo Utopien schäbig werden, leidet die Wirklichkeit. Wird die technokratische Utopie der totalen Sicherheit ohne Sentimentalität zu Ende gedacht, steht unsere Wirklichkeit jederzeit zur Disposition. Hermann Kahn, ungeschlagener Weltmeister im Entwerfen technokratischer Utopien, meint, man könne - theoretisch - alle Gebrechen der Abschreckungsdoktrin beheben, wenn man eine «Weltuntergangsmaschine» baue, die den ganzen Globus in die Luft jagen könne, sobald der Gegner etwas tue, was der Besitzer der Maschine für «nicht akzeptabel» halte. Die Maschine lasse sich für ganze zehn Milliarden Dollar konstruieren (die «dichte Packung» für 100 MX-Raketen kostet fast das Dreifache).

Wäre diese Maschine in Betrieb, so gäbe es nur noch eine Wirklichkeit auf Abruf. Irgendein Mensch, möglicherweise der Präsident der Vereinigten Staaten, nach einiger Zeit wahrscheinlich mehrere Menschen in verschiedenen Hauptstädten der Erde, hätten dann die Fähigkeit, allem Leben ein Ende zu setzen. Und früher oder später würde einer von ihnen, aus welchen Gründen auch immer, den Knopf drücken.

Man muß Kahn dankbar sein für seine Konsequenz. Seine Untergangsmaschine zeigt: Was Technokraten uns als Sicherheit bieten, ist eine nekrophile, todessüchtige Utopie. Darin ist allenfalls die Hoffnung, es könne noch ein paar Jahre gutgehen, sonst springt einen aus dieser Utopie das kalte Nichts an. Wie sollen Menschen leben, wenn auf die Wirklichkeit, deren Teil sie sind, kein Verlaß mehr ist? Wenn Günther Anders schon 1959 recht hatte, als er die Diagnose stellte: «Unsere Epoche ist nicht nur bestandlos, vielmehr besteht ihr Wesen in ihrer Bestandlosigkeit. Sie kann in keine andere Epoche übergehen, sondern nur untergehen.»1

  • 1 Günther Anders, a. a. O., S. 59

  • 2 Jonathan Schell, Das Schicksal der Erde, München 1982

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Jonathan Schell2 hat mit wissenschaftlicher Sorgfalt dargetan, daß es zur Auslöschung der Menschheit nicht der Kahn-schen Maschine bedarf. Es kann nicht Aufgabe dieses Buches sein, den schaurigen Weg nachzuzeichnen, auf dem Schell zu diesem Ergebnis kommt. Aber seinem Fazit können wir nicht ausweichen. Schell bekennt sich zu der Vorstellung, unsere Erde sei «ein System, ein Organismus»3 den man töten kann wie jeden anderen Organismus:

«Bedenken wir einmal die möglichen Folgen der Detonation von Tausenden von Megatonnen atomarer Explosivkraft - das Erblinden von Insekten, Vögeln und Säugetieren überall auf der Erde; das Aussterben vieler Meerestiere, von denen einige am Anfang der Nahrungskette stehen; die zeitweilige oder dauerhafte Veränderung des Erdklimas ...; die Verseuchung der gesamten Okosphäre mit Stickoxyden; das Auftreten schwerster Verbrennungen bei allen Menschen, die dem (durch keine Ozonschicht gemilderten) Sonnenlicht zehn Minuten lang ausgesetzt wären; das Erblinden der Menschen, die sich längere Zeit in der Sonne aufhalten; ... das Verdorren und Absterben vieler Nahrungspflanzen; die Zunahme von Krebserkrankungen und Mutationshäufigkeit überall auf dem Erdball, besonders aber in den Zielgebieten; die erhöhte Gefahr von weltweiten Epidemien; die mögliche Vergiftung aller Wirbeltiere durch extreme Zunahme von Vitamin D in der Haut infolge erhöhter ultravioletter Strahlung; schließlich das Massensterben fast aller Menschen in den betroffenen Kontinenten durch anfängliche Kernstrahlung, Feuerbälle, Hitzewellen, Druckwellen, Massenbrände und den radioaktiven Niederschlag der Detonation -, bedenken wir weiterhin, daß alle diese Folgen in unabsehbaren Wechselbeziehungen zueinander stehen würden und es sich bei der obigen Aufzählung aller Wahrscheinlichkeit nach um eine unvollständige Liste handelt, ... dann müssen wir zu dem Schluß kommen, daß ein großflächiger atomarer Holocaust zur Vernichtung der Menschheit führen könnte.»4

  • 3 a.a.O.,S. llOf

  • 4 a.a.O.,S. llOf

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Niemand, meint Schell, könne wissen, ob ein atomarer Schlagabtausch zum totalen Holocaust führe, auch nicht, ob die Menschheit sich bereits damit ausrotten könne, aber auszuschließen sei es nicht mehr. Damit habe der Tod «den ihm zugewiesenen Platz in der natürlichen Ordnung» verlassen. Der Tod sei nicht mehr jener grimmige Gehilfe des Lebens, als den die Natur ihn kennt. Jetzt könne er zerstören, «was die Evolution in Jahrmilliarden aufgebaut hat».s Damit bedrohe der Tod sogar sich selbst, denn wo bliebe er, wenn es kein Leben gäbe?

Schell spricht vom «zweiten Tod», wenn er den Tod der Gattung oder gar das Ende allen Lebens meint. Erst vor der Vision vom Ende allen Lebens leuchtet das Leben in letzter Schönheit auf. So wie wir erst nach der Landung von Menschen auf dem Mond sehen konnten, wie unvergleichlich großartig dieser Erdball ist, so begreifen wir erst auf dem Hintergrund des «zweiten Todes» ganz, was der Mensch ist: Das Wesen, das sich längst zum Herrn der Evolution aufgeschwungen hat, Pflanzen- und Tierarten ausrottet, die in Millionen von Jahren entstanden, durch Manipulation von Genen die Evolution in die ihm genehme Richtung lenkt und, durchaus konsequent, ihr nun auch ein Ende setzen kann. Wir haben uns zu unumschränkten Herren der Schöpfung gemacht und noch nicht andeutungsweise begriffen, was dies bedeutet. An der Wirklichkeit vorbei hasten wir dem Utopia der totalen Sicherheit entgegen und stehen plötzlich dem totalen, dem «zweiten Tod» gegenüber.

Ist man erst einmal in diese Dimension vorgedrungen und hat das Schwindelgefühl gemeistert, das einen dabei überfällt, dann erscheint einem das, was die Atomstrategen treiben, unendlich weit entfernt und seltsam unwirklich, fast wie das Spielen von Kindern mit zufällig aufgestöberten Granaten aus einem vergangenen Krieg.

Wer war das, der da in der letzten Fernsehansprache gegen

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den bösen Feind wetterte, war das der alte Cato, der gegen die Karthager loszog, oder war es wirklich der Präsident der Vereinigten Staaten im Jahre 1983, der vor den Sowjets warnte?

Oder haben wir das alles etwa nur geträumt, die letzte Pressekonferenz von Weinberger, die letzte Andropow-Rede, das letzte Interview des deutschen Außenministers, die letzten Beschimpfungen im Wahlkampf? Waren das solche Träume, über die man nicht weiter nachdenkt, weil sie einem einfach belanglos, albern vorkommen? Wenn es wahr ist, daß die Menschheit in den letzten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts einen Prozeß beenden kann, der in Milliarden Jahren zu dem geführt hat, was wir unsere Erde und die Menschen auf dieser Erde nennen, dann ist das, was sich heute Politik nennt, dieser Realität in einer fast schon komischen Weise unangemessen.

Kein Wunder, daß immer häufiger einer den andern für verrückt hält. Denn die Wirklichkeit des jeweils andern erscheint ver-rückt, je nachdem, in welcher Realität man lebt. Ist die sterile Geschäftigkeit politischen Agierens, wie es die Fernsehschirme ins Haus bringen, die Wirklichkeit, dann muß manches, was in der Friedensbewegung gärt und brodelt, verrückt erscheinen.

Ist Wirklichkeit das Leben und Sterben, das Essen und Hungern, das Lieben und Hassen von 4 Milliarden Menschen, die der «zweite Tod» jederzeit endgültig und unwiederbringlich auslöschen kann, ist Wirklichkeit das Wunder des Lebens und im besonderen menschlichen Lebens, das sich selbst - durch Menschenhand - ein Ende setzen kann, dann leben die Minister, die da mit staatsmännischen Minen Plattheiten abspulen, in einer ver-rückten Welt.

Man hat Jonathan Schells Feststellungen meist ohne Widerspruch hingenommen. Aber man hat ihm vorgeworfen, die Auswege, die er weise, seien utopisch. Das stimmt. Fragt sich nur, ob es sich dabei um schäbige oder um bewegende Utopien handelt, um todessüchtige oder lebenweckende.

Schell will eine «politische Welt errichten, die auf Gewalt

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verzichtet».6 Diese Aufgabe umfasse zwei Zielsetzungen: «Erstens gilt es, die Welt dadurch vor der Vernichtung zu retten, daß man sie von Atomwaffen befreit.» Es gehe einmal darum, wie dies der alte US-Admiral Rickover empfohlen habe, «alle Schiffe zu versenken, alle Flugzeuge am Boden zu zerstören, alle Raketensilos zuzuschütten und alle Atomsprengköpfe zu verschrotten».7

Zum andern, dies sei das zweite Ziel, müsse der souveräne Staat, praktisch der Nationalstaat, überwunden werden. Nötig sei «die Schaffung einer politischen Instanz, mit deren Hilfe die Welt zu jenen Entscheidungen gelangen kann, welche die souveränen Staaten einst durch Krieg herbeiführten».8 Das ist, wie jeder wache Beobachter der Weltpolitik weiß, utopisch in dem Sinne, daß wir unendlich weit von diesem Zustand entfernt scheinen und nicht wissen, ob wir ihn je erreichen werden. Aber es ist auch durchaus realistisch, denn niemand kann uns sagen, wie die Menschheit überleben soll, wenn sie nicht die Massenvernichtungsmittel vernichtet, ehe diese ihre Funktion erfüllen. Und dies ist wohl nur denkbar, wenn die Staaten auf Souveränitätsrechte verzichten, die sie nach geltender Rechtstradition erst zu Staaten machen.

Schell begründet: Durch die Erfindung der Atomwaffen habe sich der Mensch «schrankenlosen Zugang zu den Naturkräften» verschafft. «Als der Mensch zum Beherrscher der Natur und mächtiger wurde als der Mensch, der verwundbarer, sterblicher Teil der Natur geblieben war, bedeutete dies, daß der Krieg überholt war.»9

Kein Wunder, daß der Widerspruch zwischen dem allmächtigen Herrn über die Natur und dem verwundbaren Teil der Natur schwer auszuhalten ist, daß der Herr der Natur sich nicht mit seiner natürlichen Verwundbarkeit abfinden will. Diesem Zwiespalt ist wohl die tödliche Utopie der Sicherheit

  • 6 a. a. 0.,S. 249

  • 7 a.a. 0.,S.249

  • 8 a.a. 0.,S.249

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entwachsen. Sie war eine konsequente Antwort des alten Adam auf diesen Widerspruch. Aber daraus kann auch eine andere Utopie wachsen, die Utopie von der gewaltlosen Welt.

Nach Schell ist sie zwingend:

«Da der Krieg das Mittel gewesen war, das Gewaltanwendung in ein nützliches politisches Werkzeug verwandelte, kam es mit dem Verderb des Krieges durch Kernwaffen zu einer Trennung von Gewaltanwendung und Politik.»10

Eben dies ist es, was die Supermächte nicht hinnehmen wollen. Wenn Gewaltanwendung kein «nützliches politisches Werkzeug» mehr sein kann, was wird dann aus ihrer Macht? Dann wäre auch ihnen der Ausweg in die Gewalt - oder die Drohung damit - versperrt.

Schell besteht darauf: Der Krieg ist nicht zu retten, auch nicht durch immer raffiniertere Waffen, auch nicht, indem man in die Leiter der «Eskalation» immer neue Sprossen einfügt. Wer den Krieg retten will, riskiert den Untergang, den «zweiten Tod»:

«Ich behaupte, daß diese Trennung (von Gewaltanwendung und Politik), die auf einem unwiderruflichen Fortschritt der wissenschaftlichen Erkenntnis beruht, nicht nur endgültig ist, sondern auch eine umfassende politische Lösung verlangt.»11

Die Gewalt des Atoms, die da heute zur Anwendung drängt, ist der Politik entwachsen. Und da sie, auch wenn ein «Krieg» ohne Massenvernichtungsmittel beginnt, immer im Hintergrund lauert, bleibt nur der Verzicht der Politik auf die Gewalt. Kurz: die Utopie der Gewaltlosigkeit ist die einzig hoffnungsvolle Antwort auf die Gefahr des zweiten Todes.

Die alte Utopie des Propheten Micha, die Schwerter zu Pflugscharen umzuschmieden, erscheint jetzt als unerläßliche Umkehr zum Leben. Sie zielt, wie jede große Utopie, auf die neue Gesellschaft, die dem neuen Adam und der neuen Eva

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Raum gibt, ihre Entfaltung ermöglicht, aber ebenso auf den neuen Menschen, der diese Gesellschaft baut.

Nur geht es diesmal um die Utopie, ohne die Leben sich nicht halten kann. Der alte Adam unseres Jahrhunderts, der Adam bürgerlicher Herkunft, ist zu einem Lebewesen geworden, das in der Umwelt, die es sich selbst geschaffen hat, nicht überleben kann. Der alte Adam ist eine nicht überlebensfähige Spezies, wie es deren viele im Laufe der Erdgeschichte gegeben hat. Nur mit dem Unterschied, daß diese Spezies Mensch den Rest der Lebewesen, vielleicht sogar den Gesamtorganismus Erde mit verderben kann.

Wenn Politik, zumindest zwischen Gruppen, Völkern und Staaten der Gewalt entraten muß, dann läßt sich nichts bewahren, was nur auf Gewalt aufgebaut ist. Und Ungerechtigkeit ist allemal auf Gewalt aufgebaut, auf Waffengewalt, militärische Gewalt, die ihrerseits meist das Instrument wirtschaftlicher oder gesellschaftlicher Macht ist. Wenn wir Gewaltanwendung und Politik trennen müssen, um zu überleben, dann folgt daraus das Streben nach einer gerechteren Welt.

Dies bedeutet, bezogen auf die Weltwirtschaft, daß sich die industrialisierte Welt des Nordens nicht mehr lange durch weit überlegene militärische Macht den Ansprüchen des Südens entziehen kann. Dies bedeutet aber auch, daß die Menschen weder im Süden noch im Norden sich damit abfinden können, daß ein paar hundert multinationale Konzerne ihnen diktieren, wie sie sich «entwickeln», was sie konsumieren sollen oder gar, wer sie regieren darf. Wo die Utopie von der gewaltlosen Welt lebensnotwendig geworden ist, wird auch die Utopie von der ausbeutungsfreien, klassenlosen Welt rehabilitiert, und zwar überall, wo es Klassen und wo es Ausbeutung gibt, also in Ost und West, in Nord und Süd.

Wenn Politik irgendwann einmal ohne Waffengewalt auskommen muß, falls die Menschheit überleben soll, dann muß an die Stelle des Zwanges durch Gewalt die Suche nach dem demokratischen Konsens, vor allem nach brauchbaren Regeln gewaltfreier Konfliktaustragung treten.

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Solche Regeln sind in einem Teil der Welt, in parlamentarischen Demokratien - annäherungsweise, wie dies bei Menschenwerk üblich ist - gefunden worden. Diese Regeln lassen sich nicht einfach übertragen, weder auf die innere Ordnung von Ländern des Südens noch auf die Austragung zwischenstaatlicher Konflikte. Aber sie zeigen, daß gewaltlose Austragung von schweren, erbitterten Konflikten nicht von vornherein unmöglich ist.

Eine gerechtere Welt ohne militärische Gewalt wird nicht entstehen können ohne Solidarität. Lebenschancen für alle-und dies bedeutet auch eine Lebenschance für die Natur, die wir so erbarmungslos malträtieren - gibt es nicht ohne solidarische Bereitschaft, auf die Bedürfnisse des andern, auch der andern Geschöpfe, einzugehen. Solange jeder meint, auf Kosten des andern unsere natürliche Umwelt überfordern oder vergiften zu können, wird es nicht einmal des atomaren Holocausts bedürfen, um Milliarden von Menschen auszurotten. Solange jeder auf den andern zeigt - und auf das Handeln des andern wartet -, wenn seine Wälder sterben, gibt es keine Überlebenschance. Erst wenn wir im Norden das Sterben unserer Wälder auch als eine ironische Quittung für das ansehen, was wir den tropischen und subtropischen Wäldern des Südens seit Jahrzehnten antun, erst wenn jeder nach seinem eigenen Beitrag für das Überleben des Ganzen fragt, öffnet sich eine Chance.

Wer auch nur die gröbste Skizze vom Utopia der gewaltlosen, gerechten, solidarischen und dadurch überlebensfähigen Welt zu entwerfen versucht, spürt sofort, wie weit diese Utopie entfernt ist von unserer Wirklichkeit, von der äußeren wie von der inneren. Da werden keine Übergänge sichtbar. Und trotzdem: In diesem Utopia gibt es nichts, was in unserer Wirklichkeit nicht schon keimhaft enthalten wäre.

Es gibt schon heute Gewaltlosigkeit, erzwungene und freiwillige. Es gibt ein Streben nach Gerechtigkeit, und es gibt Erfolge dieses Strebens. Es gibt, wir erleben es täglich, Solidarität zwischen Menschen, Gruppen und sogar Ansätze zu Solidarität zwischen Völkern. Der neue Adam und die neue Eva, die überlebensfähige Spezies Mensch, ist im alten Adam und der alten Eva schon angelegt, so wie durch den neuen Adam der alte immer durchschimmern und durchbrechen wird. Es kommt darauf an, ob wir uns mit dem alten Adam abfinden oder dem neuen Raum geben wollen, in der Gesellschaft und in uns selbst.

Niemand wird das Utopia, das Nirgendwo der gerechten und solidarischen Welt, in der Gewalt sich völlig erübrigt, je erblicken. Aber wenn wir nicht dahin aufbrechen, werden wir dem Nirgendwo des zweiten Todes nicht entgehen. Niemals wird der Augenblick kommen, an dem ein neuer Mensch den alten endgültig abgelöst hat. Trotzdem liegt unsere Hoffnung da, wo die Züge des überlebensfähigen Menschen erkennbar werden.

Die große, bewegende Utopie ist Orientierungspunkt auf dem mühseligen Weg durch die Wirklichkeit, durch eine Realität, deren zähflüssiges Beharrungsvermögen schon ganze Generationen ermüdet, erschöpft und in die Resignation getrieben hat. Aber gerade von Utopia her erhält unsere Realität Konturen, läßt sie sich deuten und be-greifen.

Auch der winzigste Schritt hin zur überlebensfähigen Erde, zu gewaltlosen Lösungen, zu solidarischem Füreinander-Ein-stehen, bekommt von dieser Utopie her seinen Ort, seine (relative) Bedeutung, seinen Charakter als Zwischenschritt auf einem Weg und als Vorbereitung des nächsten Schrittes. Das wehrt der Resignation, läßt Hoffnung wachsen, erspart vielleicht auch manchen Streit um Einzelziele.

Von der Wirklichkeit, wie sie von Utopia gesehen erscheint, soll im nächsten Kapitel die Rede sein. Dann soll versucht werden, einige Richtungsweiser auf dem Weg nach Utopia aufzustellen. Das letzte Kapitel soll von einer anderen Eigentümlichkeit der lebensnotwendigen Utopie handeln, davon, daß und wie sie sich im kleinen vorwegnehmen, hier und heute als Zeichen verwirklichen läßt.

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