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"Sich nicht vom Schein trügen lassen" 

 

Fernsehengespräch mit Erich Fromm,
M. Lämmle und J. Lodemann

zum Buch <Haben oder Sein> (1977)

 

12-23

Sie schreiben einmal: Wir leben in einer Gesellschaft von notorisch unglücklichen Menschen. Wie kommen sie zu dieser eigentlich ungeheuren Aussage? 

FROMM:   Für mich ist sie gar nicht ungeheuer, im Gegenteil. Wenn man nur die Augen aufmacht, sieht man es. Die meisten Menschen geben vor, auch für sich selbst, daß sie glücklich sind, denn wenn man unglücklich ist, dann ist man - im Englischen würde man sagen; eine "failure", dann ist man ein Mißerfolg. So muß man die Maske des Zufriedenseins, des Glücklichseins tragen, denn sonst verliert man den Kredit auf dem Markt, dann ist man ja kein normaler Mensch, kein tüchtiger Mensch. Aber sehen Sie sich doch nur die Menschen an! Man braucht nur zu sehen, wie hinter der Maske Unruhe, Gereiztheit, Ärger, Depressionen, Schlaflosigkeit, Unglücklichsein liegt, also das, was die Franzosen die "malaise" nennen. 

Man hat ja schon am Beginn des Jahrhunderts von der "malaise du ciècle" gesprochen. Das, was Freud das Unbehagen in der Kultur genannt hat. Aber es ist gar nicht das Unbehagen in der Kultur, es ist das Unbehagen in der bürgerlichen Gesellschaft, die den Menschen zum Arbeitstier macht und alles vernachlässigt, was wichtig ist: die Fähigkeit zu lieben, für sich und für andere dazusein, zu denken, kein Instrument für die Wirtschaft zu sein, sondern der Zweck alles wirtschaftlichen Geschehens. Das macht eben die Menschen so, wie sie sind, und ich glaube, es ist eine allgemeine Fiktion, die die Menschen miteinander teilen, daß der moderne Mensch glücklich sei. Aber diese Beobachtung habe nicht nur ich gemacht, das können Sie bei einer ganzen Reihe von Leuten finden, und man braucht nur selbst die Augen aufzumachen und sich nicht vom Schein trügen zu lassen.

Sich nicht vom Schein trügen zu lassen, das haben Sie ja als Therapeut gemacht. Sie greifen bei dieser Aussage also auf Ihre Erfahrungen als Therapeut zurück.

FROMM: Ja, genau. Ich habe seit 1926 analysiert und viele Hunderte von Patienten analysiert und jüngeren Kollegen supervidiert. Es sind also empirische Dinge, die sich herausstellten. Die Leute, die als Patienten kamen, kamen gewöhnlich, weil sie irgendein kleines Symptom hatten oder dieses oder jenes. Wozu sie erst aufwachen mußten, war, daß sie tief unglücklich sind, daß sie mit dem Leben unzufrieden sind, das Leben keinen Sinn macht und daß daraus erst die verschiedenen Symptome kommen, weil die Symptome Versuche sind, dieses Unglücklichsein zu kompensieren.

Heißt das auch, daß jene Menschen, die wir gemeinhin als normal bezeichnen, von Ihrem Standpunkt aus krank sind?

FROMM: Oh ja. Die Normalsten sind die Kränkesten. Und die Kranken sind die Gesündesten. Das klingt geistreich oder vielleicht zugespitzt. Aber es ist mir ganz ernst damit, es ist nicht eine witzige Formel. 

Der Mensch, der krank ist, zeigt, daß bei ihm gewisse menschliche Dinge noch nicht so unterdrückt sind, so daß sie in Konflikt kommen mit den Mustern der Kultur und durch diese Friktion Symptome erzeugen. Das Symptom ist ja wie der Schmerz nur ein Anzeichen, daß etwas nicht stimmt. Glücklich der, der ein Symptom hat. Wie glücklich der, der einen Schmerz hat, wenn ihm etwas fehlt! Wir wissen ja: Wenn der Mensch keine Schmerzen empfinden würde, wäre er in einer sehr gefährlichen Lage. 

Aber sehr viele Menschen, das heißt, die Normalen, sind so angepaßt, daß sie alles, was ihr eigen ist, verlassen haben. Sie sind so entfremdet, so sehr Instrumente geworden, so roboterhaft, daß sie schon gar keinen Konflikt mehr empfinden. Ihr wirkliches Gefühl, ihre Liebe, ihr Haß sind schon so verdrängt oder sogar verkümmert, daß sie das Bild einer chronischen leichten Schizophrenie geben.

Sehen Sie die Ursachen dafür in unserer Gesellschaft?

FROMM: Nun, die Ursachen scheinen mir ganz offenliegend zu sein: Unsere Gesellschaft ist auf dem Prinzip aufgebaut, das Ziel des Lebens sei größere Produktion sowie als Kompensation und auch als Notwendigkeit die größere Konsumtion. Wir leben für die Wirtschaft, den Fortschritt der Wirtschaft und den Fortschritt der Technik. Das Ziel des Lebens ist nicht der Mensch! Und was dem Menschen nützt, das interessiert wenig. Nicht einmal, was dem Menschen schadet, spielt eine Rolle. Das ist ja notorisch: Viele Anzeigen und Reklamen preisen Dinge an, die ausgesprochen schädlich sind. [...]

In ihrem Buch "Haben oder Sein" schreiben Sie, daß unsere Gesellschaft heute schon aus ökonomischen Gründen gezwungen ist, sich zu besinnen, weil sonst die Katastrophe bevorsteht. Sie verweisen auf den Club of Rome, der aus innerkapitalistischen Argumenten auf eine solche Katastrophe hinweist.

FROMM: Ich glaube, es gibt heute nicht nur von den Veröffentlichungen, die vom Club of Rome veranlaßt worden sind, sondern bei einer ganzen Reihe von Forschern die Einsicht: Wenn wir so weitermachen und alles verkonsumieren, die Natur zerstören, unseren Nachkommen nichts hinterlassen, nichts als eine zerstörte und verarmte und vergiftete Welt, und wenn die Menschen weiter nicht am Leben hängen, sondern am Profit und an der Macht, dann wird das mit Notwendigkeit zur atomaren Katastrophe, zum Krieg führen. Es sieht heute schon viel schlimmer aus. Man sagt, heute seien schon vierzig Mächte imstande, atomare Energie zu benutzen. All dies wird verkauft aus Profitgründen. 

Eine ganze Reihe von Forschern hat darüber hinaus gezeigt, daß aus rein ökonomischen Gründen in 20, 50, 60 Jahren die Erde, unsere Ressourcen so verarmt sind, daß die armen Völker immer ärmer werden, die reichen Völker immer reicher, so daß es dann zur Katastrophe kommen muß: Wenn schließlich zwei Drittel der Welt, oder der Teil der Welt, der arm ist, immer ärmer wird - und heute ist die Welt eine Welt -, dann wird sich eben diese arme Welt rächen mit hundert Möglichkeiten. Die Festung, die weiße Festung - die Festung der Industriegesellschaft ist heute nicht mehr uneinnehmbar. [...]

Sehen Sie nicht hier auch eine aufklärende Aufgabe der Wissenschaft?

FROMM: Ich glaube schon. Und die Wissenschaft hat auch schon viel aufgeklärt. Das phantastische ist ja, daß heute jeder Mensch, und gewiß auch die Regierungsvertreter, alle Daten zur Verfügung hat, die zeigen, daß wir ökologisch schwer bedroht sind. Daß, wenn das so weitergeht, Katastrophen kommen müssen. Daß wir in einem Maße verschwenden, wozu wir überhaupt keine Rechte haben. Wir leben wie Bankrotteure. Wir können die Folgen sehen. Aber keiner zieht die Konsequenz! Man macht so weiter, weil man nicht den Mut, nicht die Initiative hat, zu sehen: Wo gibt es etwas Neues? [...] 

Fast alle Argumente sprechen dafür, daß, wenn wir so weitermachen, in die Katastrophe schlittern. Ich sage aber auch: Solange noch in Fragen des Lebens eine kleine Chance besteht, sagen wir von 1 oder 2 Prozent, so lange darf man nicht aufgeben. So lange muß man alles versuchen, die Katastrophe zu vermeiden. Denn wenn es um das Leben geht, ist es anders als wenn man mit Geld handelt. Wenn man Geld investieren will, und nur 2% Chance hat, daß es einem nicht verloren geht, dann wird nur ein Narr es investieren. Wenn ein Mensch schwer krank ist, und nur 2% Chance besteht, daß sein Leben gerettet werden kann, wird die Medizin wegen dieser 2% alle Mittel einsetzen, um sein Leben zu retten. 

Bei den gesellschaftlichen Fragen geht es schließlich um das Leben der Menschheit. Man muß also den Standpunkt der Hoffnung einnehmen, selbst wenn die Chancen ganz gering sind! 

Solange man den Glauben haben kann, daß doch noch fast ein Wunder geschehen kann, solange man nicht beweisen kann, daß es unmöglich ist - und das kann man, wo es sich um lebende Prozesse handelt, eigentlich nie oder sehr selten -, solange muß man jeden Versuch machen.

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