Teil 1
Die Prüfung durch die ökologische Krise
Interview, Vorlesung, Aufsatz von Rudolf Bahro 

   

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1. Es gibt keine Instanz für das Naturverhältnis

Das Interview führten D. Lüneberg und M. Weisfeld, 1994

erschien im Berliner Universitäts­magazin "Happy-Uni", 3/1994

im Reader der Ökologischen Plattform "Ökovision", 1/1994 

 

 

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1) Warum ist mit unserer Verfassung keine Politik der ökologischen Umkehr möglich?

Bahro: Seit der Mensch in die Städte gezogen ist, und das ist auch die Zeit von geschriebenen Verfassungen, rückt das Verhältnis von Hinz zu Kunz gegenüber dem Verhältnis dieser beiden Leute zu dem was außerhalb der Stadtmauern liegt in den Hintergrund. Das Naturverhältnis ist kein Gegenstand mehr. Die Themen, die wir hier in Europa seit der Revolution von 1789 in den Verfassungen hin- und herdrehen, betreffen immer die Regelung innergesell­schaftlicher Kämpfe. Das übrige wird in einem ziemlich umfassenden Sinne als Kolonie behandelt.

Amerika zum Beispiel wird in dieser Zeit noch als leerer Kontinent betrachtet. Die Indianer zählen nur für die Neugier. Im Grunde sind auch die Frauen von der Verfassung ausgeschlossen, später hat sich das dann geändert. Sokrates sagte einmal den Satz: "Bäume können mich nichts lehren". Dies zu einer Zeit, als die Verkarstung des athenischen Umlandes schon angefangen hatte: Es fuhren schon sehr viele Bäume als Kaufmanns- oder Kriegsschiffe auf dem Meer spazieren.

Unsere Verfassungen sind für das Verhältnis von Mensch und Natur weitgehend blind. Es ist ein Phänomen der Nichtbehandlung. Ich bin davon ausgegangen, daß nachträglich, und zwar wieder aus gesellschaft­lichem Interesse eingesetzte Umweltminister das nicht mehr nachholen können. Die Funktion, die dort wahrgenommen wird, nämlich den Katastrophen hinterher zu laufen, hat nichts mit der Persönlichkeit des Umweltministers zu tun, sondern ist programmiert.

Sokrates wollte sich bei seinem Satz damals sicherlich nicht gegen Bäume äußern. Er wollte nur sagen, hier bei unseren inner­athenischenen Angelegenheiten, wenn es darum geht wie ich, Hinz, mit dir, Kunz, umgehe, da können mich Bäume nichts lehren. Das war wahrscheinlich ein Irrtum. Vielleicht hätten die vorsokratischen Philosophen, die der Naturkontakt noch interessierte, diesen Fehler nicht gemacht. Die Indianer mit ihren Baumzeremonien würden nicht auf den Gedanken kommen, daß das für die Verhältnisse zwischen Hinz und Kunz — ich weiß nicht wie sie bei den Indianern heißen — nichts zu sagen hat.


2)  Wie sieht denn jetzt die Alternative aus?  Muß die Verfassung ganz abgeschafft werden und eine völlig neue geschrieben werden, damit die Natur eingebracht werden kann? 

Bahro: Das weiß ich nicht. Das hängt davon ab, ob die gesellschaftliche Psyche reformfähig funktioniert oder nicht. Wenn sie reformfähig funktioniert, dann wäre die Verfassung allerdings fundamental zu ergänzen. Das heißt, die Reform würde einen Umsturz der Prioritäten einschließen. Der Punkt ist, daß sich Hinz und Kunz für das Wichtigste im Universum halten.

Wenn man jetzt mit ihnen zusammen sitzt und ein philosophisches oder theologisches Gespräch führt, dann kann es sein, daß einer von beiden oder sogar beide für einen Augenblick mal leugnen, das Wichtigste zu sein. Sie verhalten sich aber empirisch so, daß allein schon die Sorge um die Brötchen für den nächsten Tag dazu führt, die Natur, und überhaupt alles, was nicht Ich bin, vornehmlich als Ressource in Erscheinung treten zu lassen. Diese Ressource ist entweder vorhanden oder nicht. Und wenn sie fehlt oder knapp ist, muß um den Zugang zu ihr gekämpft werden. Das wird in den Verfassungen geregelt.

Die Initialzündung für eine Verfassungsdebatte, wie sie mir vorschwebt, ist der Schreck darüber, daß wir uns auf unseren Hinz-und-Kunz-Wegen an den Rand der Natur gearbeitet haben. Wir überwiegen so sehr, daß man, wenn man ein Biolehrbuch aufschlägt, für uns als Gattung im Ökotop Erde nur schwarz sehen kann. Die Frage Mensch-Natur muß gegenüber der Frage Mensch-Mensch Priorität erhalten. Selbstverständlich kann eine Verfassung nur funktionieren, wenn sie beide Verhältnisse integriert.

Die Frage ist nur, von woher die beiden Verhältnisse integriert werden. Bisher herrscht eine Große Koalition, die zuerst auf die Verteilungsfrage in den reichen Ländern achtet und dann auf die Verteilungsfrage im Weltmaßstab, da nicht etwa auf die Ärmsten, sondern erstmal auf die Japaner, auch auf die, die neu kommen, auf andere fernöstlichen "Tiger" sowie auf Brasilien etwa. Auf Afrika zu allerletzt. Das ist die zweite Ebene. Und drittens schließlich wollen wir ja die Gans nicht schlachten, die die goldenen Eier legt, also muß von der Natur noch irgend etwas übrigbleiben.

Und so stellt sich die Frage nach Umweltschutz: Wie kann man die Massenproduktion nachträglich mit der Natur versöhnen. So ist auch die Realverfassung gebaut. Eine Verfassung, die uns erlaubt, ins Naturgleich­gewicht zurückzukehren, müßte eigentlich umgekehrt integrieren. Ich meine, in der Richtung von der dritten zur ersten Ebene, so daß erst verteilt wird, wenn die Balance gesichert ist. Sie müßte zuerst die Frage stellen, was erlaubt uns — oder besser was erfordert — die Wahrung des Naturgleichgewichtes?

Um die Weltzerstörung zu beenden, müssen allerdings die sozialen Verhältnisse in der Dritten Welt und neuerdings auch im Osten Priorität erhalten: Solange die Frauen in Afrika keine andere Möglichkeit für ihre Kochtöpfe haben, als den letzten Rest Wald zu roden, werden sie das natürlich machen. Die ganze Kalamität in der Dritten Weit ist größtenteils eine Ableitung der hiesigen Verhältnisse.

3) Glauben Sie denn an die Reformfähigkeit der gesellschaftlichen Psyche?  

Bahro: Ich habe zwar einen Reformvorschlag anzubieten, von dem ich aber keineswegs sicher bin, daß er angenommen wird. Mein Vorschlag ist, daß wir uns ein Oberhaus geben. Eine der Form nach aristokratische Instanz. In den ältesten Verhältnissen waren dort immer Leute vertreten, die einen tieferen Einblick hatten.

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4) Sie meinen Adel im guten Sinne? 

Bahro: Ja, Menschen, die einen tieferen Einblick hatten. Ich rede von den Zeiten, da der Schamanismus uns geführt hat. Und Schamanen hatten Naturkontakt. Durch die Verstädterung ist auch unsere Wissenschaft fern von diesem Kontakt. Sie muß die Maus erst aufschneiden, um zu wissen, was in ihr ist. Sie will Leben begreifen, indem sie tötet. Eine Zerstörungstechnik, um zu erfahren, was die Welt im Innersten zusammenhält. Die Schamanen hatten da andere Zugänge.

Wie sieht es aus in dem Oberhaus? Sind es die Schamanen, die da bestimmen?

Bahro: Der moderne Geist irrt sich, wenn er meint, auf die Schamanen herabsehen zu können. Andererseits würde sich der Schamane irren, wenn er meint, er könnte den modernen Geist ersetzen. Ich lasse mich da von Jean Gebser leiten, einem genialen Geist der um 1900 geborenen Generation.

Er zeigt, daß es eine Stufenleiter von Bewußtseinszuständen gab, eine archaische Verfassung, dann eine dominant magische, das ist wahrscheinlich die schamanische Zeit und dann eine mythische, das ist die Zeit der griechischen Götter. Darauf folgte dann die mentale Zeit, das ist unsere wissen­schaft­liche Zeit, unsere rationale, die dann aber rationalistisch entartet ist. Die Verstandesherrschaft nimmt überhand.

Und er sieht eine neue, eine integrale Zeit voraus. Integral heißt, auch das Schamanische ist eingeschlossen. Da gibt es etwas wiederzuholen, es gibt die Notwendigkeit partieller Regression, wir müssen uns auf solche Erfahrungen wieder einlassen. Aber nicht um dann Schamanen zu sein und zu bleiben, sondern um diese Erfahrungsweisen auch zu teilen. Das wird jetzt auch wieder häufig geübt. Daß dann der eine oder die andere sich in solchen Erfahrungen etwas anachronistisch für immer einhausen möchte und erstmal drei Jahre lang denkt, das-ist-es-jetzt, das ist eine unvermeidliche Neben­erscheinung.

Aber dieses Thema, das menschliche Bewußtsein neu zu integrieren, steht zweifellos an. Es verlangt, die Verengung, die mit der Verstädterung verbunden ist, und die Städte selbst wieder aufzubrechen. Ja, die Städte stehen in Frage! Sie stehen schon materialistisch gedacht in Frage, weil der Aufwand pro Kopf in der Stadt ungleich viel höher ist als auf dem Land, zumal in der Summe. Aber zurück zum Oberhaus. Dieses Oberhaus hätte gar keine andere Aufgabe, als dem damit zum Unterhaus erklärten Bundestag, in dem die innergesellschaftlichen Kämpfe ausgetragen werden, ein Korrektiv an die Seite zu stellen. Im Grunde muß es sogar übergeordnet sein.

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Wegen der umfassenden Sorge um das Ganze?

Bahro: Begreift die Gesellschaft, daß es eine riesige Lücke gibt? Wir haben seit Jahrtausenden, spätestens aber nach der Renaissance, als das Geld zum Regulator des ganzen Prozesses, zum entscheidenden Machtansammlungsinstrument wurde, eine Instanz verloren, die unsere Einordnung regelt. Die ist einfach ausgefallen, die gibt es nicht mehr. Es gibt keine Instanz für das Naturverhältnis. Es gibt zur Zeit nur nachgestellte Dinge, wie Umweltminister oder einen kleinen Zusatz im Grundgesetz, daß der Staat die Umwelt schützen soll. Noch ist es so, daß zum Beispiel die Freiheit der Wissenschaft vor dem Schutz der Tiere rangiert, denn sie steht als Grundwert drin, der Schutz der Tiere nicht. Also verlieren die Tierschützer gegen den, der im Labor die Mäuse aufschneidet. So eine neue Verfassung wäre auch ein Ausdruck für den Begreifensprozeß, und zugleich würde eine entsprechende Debatte den Prozeß des allgemeinen Umdenkens fördern.

Ich denke also, wir brauchen solch ein Oberhaus, mit der Kompetenz, die Entwicklungsrichtung anzugeben, und mit der Kompetenz, uns den Zugriff auf die Naturressourcen zu beschränken. Das ist zunächst ein symbolischer Vorschlag. Eine ursprüngliche Verfassung, eine Stammesverfassung wäre nie auf zwei Häuser gekommen. Zwei Häuser sind nur der Ausdruck dafür, wie weit wir von guten Institutionen abgekommen sind. Es wäre schön, wenn ein Haus ausreichen würde, wenn also der Bundestag zur Verantwortung für das Naturverhältnis erwachte. Die Gewohnheiten, die da vorherrschen, sind völlig andere. Wenn man Gewohnheiten ändern will, ist es ein Vorteil, auch eine institutionelle Zäsur zu setzen.

Ich denke da an eine Art Doppelherrschaft, deren Spiegel die verschiedenen Bewußtseinsteile in jedem Menschen sind. Jeder vernünftige Mensch kandidiert tendenziell fürs Oberhaus. Es gibt natürlich welche, die sitzen so im Raffen fest, daß, selbst wenn man ihnen den Auftrag gäbe, das mal für eine Stunde zu vergessen, sie dazu nicht in der Lage wären. Wenn man Wahlen ausschreiben würde für dieses Oberhaus, müßte man für dort auf einen anderer Typus von Frauen und Männern orientieren, als fürs Unterhaus. Das Unterhaus hat ja sein relatives Recht. Was aber unsere Gesamteinordnung betrifft, können wir von dort nicht gut regiert werden. Dieses Prinzip genügt da nicht.

Die GRÜNEN stellen in diesem Zusammenhang auch keine Alternative zu den großen Parteien dar?

Bahro: Ich habe das damals gelernt, als ich bei den GRÜNEN war. Vom Vorkongreß 1979 bis 1985 war ich dabei und da habe ich gesehen, daß die Grünen die Frage nach dem Naturverhältnis nur in der Phrase stellen, während sie ihre Politik praktisch dem Spiel auf der Verteilungsebene unterordnen. Beschränkt auf diesen Kontext die grünen Werte zu vertreten — sei es auch vehement —, das wird es nicht bringen.

Es geht also nur noch um kurzfristige Einflußnahmen?

Bahro: Offenbar ist es bei diesem Modell nie wirklich um mehr gegangen. Die kurzfristigen Egoismen haben systematisch Vorfahrt. Dahinter steht ein verdrängtes Projekt der menschlichen Emanzipation. Sein Subjekt ist der Mann als Ritter, der aber jetzt nicht mehr mit dem Schwert kämpft, sondern mit Geld, Produktionsanlagen, Forschungslabors und der als Wissenschaftler zum Beispiel auf Nobelpreisjagd ist.

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Das hat eine lange Tradition, aber indem wir auf die Grenzen des Planeten stoßen, zeigt sich, das war nie der Weisheit letzter Schluß. Da war ein Moment von Emanzipation, aber auf individualistischer Grundlage. Individualismus ist etwas anderes als Individualität, eigentlich die Entartung des Individualitäts­prinzips. In Wirtschaft und Technik ein besonders verheerendes Konzept. Diese Überlebens­konkurrenz zwischen Individuen tragen wir auf dem Rücken des Planeten aus und fragen uns dann immer hinterher, beim Betrachten des angerichteten Schadens, wie können wir jetzt ein Gesetz formulieren, damit solche Fehler in Zukunft vermieden werden.

Aber immer nachträglich, wenn das Kind schon im Brunnen liegt. Das kann man nicht länger machen, und deswegen paßt diese ganze Parteiendemokratie nicht zu dem zweiten, dem umgekehrten Integrationsprinzip. Sie ist der Versuch, von der Seite der inneren Verteilungskämpfe zu integrieren, dann über den Verteilungs­kampf mit der Dritten Welt — genannt Entwicklungshilfe — und dann erst zur Naturfrage. Daß das nicht gutgeht, macht sich unterschwellig immer fühlbarer, auch Leuten, die es eigentlich nicht wissen wollen.

Ist die Demokratie die geeignete Staatsform für die Verfassung?

Bahro: Demokratie und Parteienstaat sind nicht dasselbe. Die Demokratie, wie wir sie haben, versagt offenbar vor der ökologischen Krise. Nur sagt das noch nichts über das damit gemeinte Prinzip aus. Das Prinzip der Demokratie ist, daß die Individuen, jedes einzelne, fürs Gemeinwohl verantwortlich sind. Fichte hat es mal so formuliert, er hat den kategorischen Imperativ von Kant übersetzt in:

"Und handeln sollst Du so als hinge
von Dir und Deinem Tun allein
das Schicksal ab der deutschen Dinge
und die Verantwortung war Dein,"

Das war um 1813 gesagt, wo es gegen Napoleon ging, also um die "deutschen Dinge". Die deutschen Dinge sind etwas sehr Beschränktes, eigentlich müßte dort folgendes eingesetzt werden: Es hinge von Dir und Deinem Tun allein das Menschheits­schicksal ab, also die weitere Evolution. Das ist auch, was Kant mit seinem kategorischen Imperativ gemeint hat. Es impliziert eine Staatsform, wo alle verantwortlich sind.

Wir haben es dagegen auf eine Karikatur der Demokratie gebracht. Man wählt Parteien, deren Kandidaten nachher an einen Fraktionszwang gebunden sind. Die Verantwortung gegenüber dem Gewissen ist durch den Fraktionszwang ausgesetzt. Der ist eigentlich ein ständiger Verfassungsbruch. Mit dieser Art von Demokratie bringen wir uns um die Ecke. Sie ist nur der institutionalisierte Kampf der Interessenhaufen.

Die Vertreter im Oberhaus dagegen, müssen ihrem Gewissen verantwortlich sein. Dieses Gewissen wiederum kann nur als eine zum Universum offene Instanz gesehen werden, eine Antenne für das, was der Große Zusammenhang verlangt. Zu dem Großen Zusammenhang gehört das Gesellschaftliche genauso wie das Individuelle, das Thema der sozialen Gerechtigkeit gehört zu diesem Horizont. Es muß bloß weltweit gedacht werden. Wir müssen stets daran denken, daß wir hier auf dem Rücken der übrigen Menschheit und unserer Enkel verteilen.

Wenn wir von Verfassung reden, dann sind wir beim Nationalstaat. Eine Ebene, die eigentlich zu hoch liegt. 80 Millionen, das ist pseudodemokratisch. Das ist zu groß für wirkliche Mitbestimmung. Unsere Diskussion bewegt sich aber auf dieser Nationalstaatsebene. Dieses System des Ober- und des Unterhauses müßte aber eigentlich auf jeder gesellschaftlichen Entscheidungsebene existieren.

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Welche ist da die niedrigste Ebene?

Bahro: Die Gemeinde.

Was ist die Gemeinde? Wie groß ist sie?

Bahro: Im günstigen Fall ist sie kleiner als der Prenzlauer Berg.

Der Kiez.

Bahro: Ja, eigentlich müßte das der Kiez oder die Kommune sein. Die Kommune, der Kreis, die Provinz, die Region und dann Nation, EG und UNO wäre die Reihenfolge. Ein Schwerpunkt dieser Verfassungsänderung wäre auch eine Gewichtsverlagerung nach unten. Die Abhängigkeit des Oben vom Unten müßte so geregelt werden, daß Unten ein leichtes Übergewicht bekommt. Es geht nicht darum, der nationalen Ebene oder der EG-Ebene ihre Legitimation abzusprechen, denn es gibt Dinge, die sind nicht lokal zu regeln. Es geht darum, daß dies ein durchgängiges Verfassungsprinzip wird. Daß bei allem, was wir betreiben, die Naturfrage in den Vordergrund rückt.

Das ist übrigens eine Sache, die immer häufiger vertreten wird. Al Gore sagt, die Ökologie muß das zentrale Organisationsprinzip sein. Ich habe da nur gedacht, daß das nicht ohne eine institutionelle Veränderung geht. Auch Ernst Ulrich von Weizsäcker vom Wuppertaler-Institut kommt zu dem Schluß, daß das "Jahrhundert der Umwelt" kommt. Wir werden unter dem Diktat der ökologischen Herausforderung leben, meint er. Damit ist nicht eine Ökodiktatur gemeint, sondern der Problemdruck. Ich halte auch die Sache mit den zwei Häusern nicht für die endgültige Lösung dieses Themas, sondern nur für ein Eingeständnis unseres institutionellen Festgefahrenseins.

Das Oberhaus achtet dann auf die Umweltverträglichkeit?

Bahro: Es würde verfassungsgemäß verhindern, über die Naturinteressen hinwegzugehen.

In Großbritannien gibt es ja schon ein Oberhaus, deutet denn etwas darauf hin, daß solch eine Struktur in ihrem Sinne tragfähig wäre?

Bahro: Insofern kein House of Lords brauchen wir, sondern ein House of This Lord, wie die Engländer Jesus bezeichnen. Der kann ja auch als ein kosmisches Prinzip gesehen werden: "Kosmokrator", "Pantokrator", obgleich das zugegebene altmodische, patriarchal besetzte Formeln sind. Dieses Haus soll einfach den Bewußtseinsanteil in uns repräsentieren, der mit diesem Naturverhältnis zu tun hat. Es könnte zunächstmal Instanz wenigstens eines vernünftigen Egoismus sein, eines Egoismus, der weit genug denkt, der die langfristigen, die fundamentalen Interessen im Auge hat.

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Können Sie auch eine ganz konkrete Empfehlung geben, was wäre als nächstes zu tun? Die Bedrohlichkeit der Lage ist ja gegeben?

Bahro: Als erstes wäre die Idee eines Oberhauses breit in die Diskussion zu bringen. Vorschläge, die niedriger ansetzen, gibt es schon. Zum Beispiel den, einen Ökologischen Rat einzurichten, der dann aber keine Richtlinienkompetenz besitzt. Dies mit der Begründung, wenn er sie hätte, dann stürzten sich die Lobbyisten darauf und verzerrten die Richtlinien gemäß ihren eigenen Vorstellungen. Ich meine allerdings, das würde heißen, man traut keinem Bundespräsidenten zu, sich vor Lobbyisten einigermaßen zu schützen.

Um den ökologischen Gedanken müßte sich eine Bewegung neu formen. Etwas noch über eine Bürger­bewegung hinaus. Das eigentliche Ding der Bürger­bewegung in der DDR war, gegen den SED-Staat zu sein, aber das ist nicht viel. Da definierte sich der Widerstand an einem noch rückständigeren Typus des Industrialismus, der noch nicht mal das Stockwerk Umweltschutz auf die Industrie zu setzen vermocht hat. Denn eine Bürgerbewegung ist schon dem Namen nach eine Bewegung, die eigentlich meint, man müßte ersteinmal das, was man 1789 wollte, verwirklichen: Mehr Demokratie wagen. Der Bürger ist ja gerade das einzelne Mitglied dieser verrückten bürgerlichen Gesellschaft.

Man muß noch weiter zurück gehen, vor 1789.

Bahro: Ja und nach vorwärts über die heutige Gesellschaft hinaus. Es braucht eine Bewegung von Menschen, die wissen, daß sie sich zu weit aus dem Natur­zusammenhang hinaus begeben haben und in ihn zurückfinden wollen.

Sehen Sie für die Zukunft eine Hoffnung, das noch in Griff zu bekommen?

Bahro: Also ich sag's immer so, daß der Mensch "wie er nun mal ist", ist verloren. Vor allem hat er den Staat, der zu ihm paßt, das heißt seine Beschränkt­heit in die politische Reputation übersetzt. Nach Hobbes sollte der Staat die menschlichen Egoismen wenigstens kompensieren. Das gelingt aber nicht, wenn man sie erst einmal zur Grundlage der ganzen Konstruktion nimmt. Individualismus bedeutet, daß die Gesellschaft nach den persönlichen Bedürfnissen erst an zweiter Stelle kommt. Das ist ein kulturloser Zustand. Es ist die Frage, ob wir es schaffen können, uns im sozialen Verband, das heißt in grundsätzlicher Rücksicht aufs Gemeinwesen, Autonomie zu verschaffen.

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Individualität also im sozialen Gefüge.

Bahro: Im sozialen Gefüge. In Amerika gibt es zur Zeit eine Kommunitarismus-Diskussion. Dort wird gesagt, wir Amerikaner stehen doch nicht nur für Individualismus. Als wir hierher gekommen sind, haben wir doch in Gruppen den Kontinent erobert, wir waren also gemeindefähig und sind es noch. Die vielen Kirchen in Amerika sind bindender für ihre jeweiligen Mitglieder als unser protestantischer Überbau hier. Es kommt die Erfahrung auf, es geht nicht ohne Gemeinschaft. Eigentlich sind wir dazu fähig, so zu handeln, daß wir den Großen Zusammenhang nicht gleich stören. Daß wir als Teil davon nicht störend wirken. Was wir aber jetzt haben, ist die große Gleichgewichtsstörung, und der Mensch ist der große Störer. Dahinter steckt aber, daß wir die Ichhaftigkeit der menschlichen Existenz nicht bewältigt haben.

Was meinen Sie damit? 

Bahro: Schon das kleine Kind lernt unweigerlich, Ich zu sagen und wenn es Geschwister hat, dann fängt es in der Regel an, mit ihnen zu konkurrieren. Christus hat das mit Angst wegen Mangels am Lieben und Geliebtwerden in Zusammenhang gebracht: "In der Welt habt ihr Angst." Angst und die entsprechende Sicherheitspolitik bilden eigentlich das Ich. Die moderne Psychologie ist dann darauf gekommen, zu sagen, das Ich ist die Summe unserer Abwehrmechanismen, unser Verteidigungssystem. Daß wir Ich werden müssen, ist dem Menschen von Natur auf den Weg gegeben, aber wir haben es nie bewältigt.

Dann meinen Sie, das Individuum ist abgeschnürt und kann deshalb seine Angst nicht überwinden.

Bahro: Das Individuum als abgeschnürtes und gegen andere gestelltes. Es genügt irgendeine Maske, die du an einem anderen siehst, die er vielleicht gar nicht trägt, aber du siehst sie, und sie macht dir Angst. Das ist das Thema der Ichhaftigkeit und diese zu bewältigen, wäre die Aufgabe des Menschen.

Ist das der Fluch des Selbstbewußtseins?

Bahro: Könnte man sagen. Und zwar das Selbstbewußtsein als auf das Privatschicksal begrenzt. Man muß versuchen, diese Besessenheit von unserem Privatschicksal aufzubrechen. Sonst sucht der Gelehrte immer nur für einen kleinen Augenblick die Wahrheit, sein Antrieb aber ist der zu erwartende Ruhm. Vielleicht hat ihm irgend jemand in der Familie gesagt: "Du bringst es sowieso zu nichts!"

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1)  Die Aussage in diesem Satz bezog sich im Originalinterview direkt auf den damaligen Umweltminister Klaus Töpfer.