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12.  Wann wird Europa demokratisch ?

Ferst-2002

 

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So wünschenswert eine stärkere europäische Einigung nach den Erfahrungen der beiden von Deutschland angezettelten Weltkriege war, so kann diese Einigung trotzdem nicht das Allheilmittel sein, insbesondere nicht, wenn dieser Prozeß auf eine Wirtschafts­gemeinschaft verengt wird, die in der Regie von großen Konzernen und verselbständigten Bürokratien liegt. So erwachsen unter Umständen aus der Zentralisierung der Macht in Europa Gefahren, die die Nachteile der heutigen nationalstaatlichen Zersplitterung als gering erscheinen lassen müssen.

Insbesondere begleitet die Europäische Union eine mangelnde demokratische Legitimation. Das meint, die gewachsene Entscheidungs­macht der europäischen Organe müßte durch ein neues Zusammenspiel der politischen Institutionen getragen werden, um rechts­staatlichen Ansprüchen zu genügen.

Zwar wird seit 1979 das Europäische Parlament nicht mehr durch Abgesandte aus den nationalen Parlamenten besetzt, sondern durch direkte Wahl konstituiert, aber im Grunde genommen besitzt es nur eine Alibifunktion, es ist ein Scheinparlament. Es verfügt über keine Gestaltungs-, keine Initiativrechte und auch nur über unzureichende Kontrollrechte.  

Die parlamentarischen Möglichkeiten beschränken sich im wesentlichen auf Anhörungsrechte, Kommentare zur europäischen Politik, manchmal lassen sich Entscheidungen abwandeln.104) Die Spielregeln für solche Entscheidungs­prozesse weisen eine große Beliebigkeit auf. So resümiert Christian Hey: "Je strategisch und politisch bedeutungsvoller ein Bereich ist, desto schwächer ist die Rolle des Parlaments und desto höher ist die Entscheidungshürde."105

Die wirkliche politische Macht konzentriert sich im Ministerrat der EU. Hier haben die nationalen Regierungen das Sagen. Minister oder Staats­sekretäre der Mitglieds­staaten nehmen in diesem beschlußfassenden Organ Platz. Die konkrete Zusammensetzung hängt von den zu beratenden Themen ab.106 Die jeweilige parlamentarische Opposition ist ausgeschlossen. Die Kommissionen als Verwaltung der EU erarbeiten Vorschläge und Richtlinien an den Ministerrat, führen dessen Beschlüsse durch und überwachen die EU-Rechtsvorschriften und -verträge. Die eingebrachten Richtlinien und Vorschläge können von der Kommission wiederholt geändert werden. Sie verwaltet Fonds und Programme der EU und damit den größten Teil des Haushalts.

Die Kommission verfügt über viel weitreichendere Rechte als das Parlament und bedarf keinerlei demokratischer Legitimation. Das Personal dafür wird von den nationalen Regierungen entsandt und durch den Ministerrat bestätigt. Die Kommissare fungieren insofern als Trittbrettfahrer der nationalen Regierungen. 

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Die inzwischen eingeführte Wahl des Kommissionspräsidenten durch das Parlament baut das demokratische Defizit ab, kann aber nur ein Zwischen­schritt sein. Ein entscheidender Reformschritt müßte darin bestehen, die Rechte der Europäischen Kommission an das Parlament zu übergeben. Natürlich wird weiterhin ein Verwaltungsapparat gebraucht, aber die bisherige Tätigkeit der Kommission erlischt. Nicht weniger problematisch ist die Rolle des Ministerrates. Auch er sollte der Vergangenheit angehören. 

Im Grunde stellen beide Institutionen eine Entrechtung des Parlaments dar, einen Verstoß gegen elementare demokratische Regeln. Die mangelnde Transparenz der Entscheidungs­prozesse macht dann das Maß voll. Diese Regentschaft im Schatten zog inzwischen über 10.000 Lobbyisten an, die dafür sorgen, daß die Interessen der Wirtschaft optimal gewahrt werden. Die Korruptionsskandale, die 1999 zum Rücktritt der gesamten Kommission führten, dürften kaum verwundern. Eine nicht kontrollierbare politische Obrigkeitsstruktur brachte in der Vergangenheit immer wieder recht ähnliche Phänomene hervor.

Aus dem europäischen Parlament selbst heraus sollten die Aufgaben artikuliert werden, die für eine sinnvolle europäische Integration zweckmäßig sind, ohne daß sich neue zentralisierte politische Organe dazwischen stellen. Dazu könnte sich das Europaparlament Gremien aus den eigenen Reihen wählen, die aber nicht losgelöst vom parlamentarischen Willen agieren können. Ihnen würden analog wie der einstigen Kommission Ressorts zugeordnet sein. Die nationalen Parlamente müßten die Beschlußbestände des europäischen Parlamentes mit einfacher Mehrheit bestätigen, soweit es nicht tragende Säulen des National­staates betrifft, für die eine weit höhere Hürde genommen werden sollte, in aller Regel ein Volksentscheid. Das hätte z.B. die Währungsunion mit der Einführung des Euro betreffen müssen.

Die Überlegung, aus den nationalen Parlamenten Abgeordnete für eine zweite Kammer zu entsenden — Hermann Scheer nennt sie <Europäischen Senat> — hatte ich zunächst auch, also eine Art Bundesrat auf Europa­ebene, ohne die kritikwürdigen politischen Verzerrungen selbstverständlich, die wir bereits erörtert haben. Angesichts der Tragweite der übernationalen Entscheidungsbefugnis scheint mir diese halbe Lösung nicht auszureichen. 

Zwar führt die direkte parlamentarische Verantwortung zu einem Mehraufwand in den nationalen Parlamenten, der aber in Kauf genommen werden muß. Eher wäre zu überprüfen, ob nicht eine Umstrukturierung der parlamentarischen Arbeitspraxis zu einer Zeitersparnis führen könnte, ohne daß dabei wichtige Rechte vom Parlament wegdelegiert werden. Hier gibt es ohnehin schon genug eklatanten Demokratieabbau

Wenn der Bundestag einen mitentscheidenden Einfluß auf die Europapolitik bekommt, inwiefern also europäische Maßgaben angenommen werden oder nicht, so führt das dazu, daß die europäische Entwicklung ungleichzeitiger wird. Das läßt aber auch den Eigeninitiativen der Staaten für ökologische und soziale Umsteuerungen mehr Raum. Kurskorrekturen werden nicht durch eine Brüsseler Bürokratie blockiert. 

Ohnehin kann ein zentralisierter europäischer Superstaat keine erstrebenswerte Perspektive sein. Spätestens im ökologischen Notstand könnte er uns das Fürchten lehren, denn alle Weichen in Europa sind auf Diktatur gestellt. Vor diesem Faktum darf man nicht die Augen verschließen. 

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So ist es wohl auch eher angemessen, die europäische Integration zumindest so lange auf Eis zu legen, bis die gravierendsten Fehler im Fundament korrigiert sind. Auch in einer ökologischen Ordnung - Europa ist davon galaxienweit entfernt - wird es sinnvoll sein, übernationale politische Organe zu haben. 

Eine gemeinsame Währung muß nicht falsch sein, sogar eine Weltwährung wäre vorstellbar, sofern dann die wirtschaftlichen und sozialen Folgeprozesse nicht zusätzlich zum Ausverkauf ärmerer Regionen einladen. Ökologische Planung sollte im übrigen ohnehin mit den überregionalen Strukturen rechnen, auch wenn diese dann nur noch einen Bruchteil des heutigen Volumens ausmachen. Daher muß viel umsichtiger mit dem dann noch Bestehenden umgegangen werden.

Die Aufteilung der parlamentarischen Arbeit auf zwei Institutionen wäre auch für den europäischen Rahmen sinnvoll. Was in Deutschland das Ökologische Oberhaus repräsentiert, könnte für die EU das Ökologische Europahaus sein. Es würde ebenso als oberstes politisches Organ agieren. Es ginge darum, daß diese politische Einrichtung sich über das tägliche parlamentarische Klein-Klein erhebt, über die so raumgreifende Artikulation der verschiedenen Besitzstands­kämpfe, sich maßsetzend für die strategischen Zukunftsaufgaben engagiert und der geistig-seelischen Sphäre der Gesellschaft mehr Rückhalt für das höhere Selbst im Menschen einräumt, ja von dorther den politischen Gestus des neuen Europa speist.

Das Ökologische Europahaus fungiert als Instanz für die zukünftigen Generationen, denen wir mit unserer jetzigen Produktions- und Lebensweise über Jahrhunderte Elend und Siechtum bereiten werden, wenn keine durch­greifenden Änderungen mehr zum Zuge kommen. Ihre Anliegen, die bisher aus dem Demokratieprozeß ausgeschlossen sind, sollen dort ihren Platz finden, ebenso wie die Anliegen der von Europa aus im kolonialen Zugriff geschädigten Völker, die heute dem Zugriff ungerechter Weltwirtschafts­beziehungen ausgeliefert sind. Ihre Stimme bekommen sollen dort auch die Tiere und Pflanzen, die nicht für sich selbst sprechen können. 

Der Bruch mit dem rein anthropozentrischen Weltbild muß auch auf der parlamentarischen Ebene vollzogen werden. Im Grunde kann das Ökologische Europahaus analog nach den vorgestellten Bedingungen für das deutsche oberste Regierungsorgan konstituiert werden. Die Kandidatinnen würden jedoch nur aus dem eigenen Land gewählt. Auch dürfte sich das Ökologische Europahaus nicht als Allmacht über nationale Entscheidungen hinwegsetzen, zumindest nicht über deren oberste Instanzen. Acht geben muß man darauf, daß hier nicht eine zusätzliche Politik­verflechtungsfalle eröffnet wird. Am Beispiel erläutert: Das Europahaus kann meinen, Entscheidungen treffen zu müssen, die eigentlich dem deutschen Oberhaus zustünden. Sind die Kompetenzen nicht klar und eindeutig getrennt, entsteht schnell ein unüberschaubarer Entscheidungscocktail.

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 Marko Ferst - Wege zur ökologischen Zeitenwende - 2002