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18. Auf dem Weg zu einer hohen, liebevollen Kultur

  

 

 

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Zuweilen mag es uns gar nicht mehr auffallen, aber die helle Seite der menschlichen Existenz scheint allzu oft in unserem täglichen Tun zu ent­flieh­en. Gewiß, sie ist aufgespeichertes gutes Karma, und sie wird nur dort wachsen können, wo ihr lebendiges Geflecht bewahrt und gepflegt wird.

Wo rauhe Bemerkungen zum guten Ton gehören, der schlechte Witz die Normalität bezeichnet, kann man sich dabei auch noch gut fühlen, aber man ist nur auf einer sehr niedrigen Ebene erfolgreich. Worauf es ankommt, ist, die Freiräume zu schaffen, in denen sich eine herzzugewandte Lebens­weise entfalten kann, wo ein Öffnen dafür möglich ist. 

Unablässig sind wir mit wichtigen Aufgaben beschäftigt, müssen arbeiten gehen, dies und jenes erledigen. Hier und dort tauchen Sorgen und Probleme auf, und in diesem ganzen Gemenge wird der liebebetonte Umgang geradezu automatisch weggedrückt. In unserem unablässigen Machen fehlt, oder ist wenigstens zu schwach ausgeprägt, eine innere wie gesellschaftliche Instanz, die liebendem Werden eine einbettende, das Ganze durchwirkende Aura verleiht.

Im täglichen Lauf der Dinge verliert bei vielen Menschen der Himmel sein wirkliches Blau, und die Natur wird zu einer bloßen Kulisse, wir atmen nicht mehr durch den Reichtum des Lebens. Die eigene Existenz gerinnt zu einer immergleichen Masse von festgefügtem Handeln und Denken. Es nimmt sich selbst gefangen. Für eine alternative Kultur kommt es darauf an, das Streben nach Konsum, Karriere, Leistung und Sicherheit zunächst einmal zurücktreten zu lassen, ohne die damit verbundenen Risiken zu ignorieren. Uns ist aufgegeben, in den Zyklus des immerwährenden inneren Geboren­werdens einzutauchen.

Ohne Frage schränken die gängigen Alltagsstrukturen und -zwänge den eigenen geistig-seelischen Radius ein. Die ganze Gesellschaft läuft in ihrem Aufbau einer hohen Liebeskultur zuwider. Jedoch wirken wir auch aktiv mit unserer ganzen Persönlichkeit auf die Gesellschaft ein. Indem wir unseren eigenen Beitrag herunterrechnen, mag er denn auch noch so klein sein, unterschätzen wir die Großmacht, als die die psychische Wirklichkeit des Menschen hervortritt. Jeder einzelne Mensch verfügt über das Potential, das für einen neuen Anfang einsetzbar ist. 

Zunächst bedeutet das, sich selbst aus dem Automatismus des Gelebt-Werdens beziehungsweise des Sich-Leben-Lassens wenigstens ein Stück weit auszuklinken. Peter Lauster schreibt: 

"Die Wahrnehmungsfähigkeit stumpft im täglichen Einerlei ab, denn die Gedanken kreisen immer um dieselben Probleme wie Erfolg, Leistung, Konsum und Sicherheit. In dieser Stumpfheit, Eintönigkeit und Gleichförmigkeit erschöpft sich der Mensch, und er fühlt sich gestreßt von seinen Zwangsgedanken, die täglich gleich sind und deshalb ermüdend wirken und ihn nicht erfrischen und beleben können."134

Wenn wir uns nicht in den üblichen Weg der Abstumpfung, Sicherheit und Langeweile einreihen wollen, müssen wir lernen, den Pfad zum Herzen zu suchen, empfindsamen Wahrnehmen und seelischer Lebendigkeit den Vortritt lassen, wo bisher routiniertes Handeln üblich war.

Liebe und Freude als Lebensstimmung muß sich verbinden mit kritischem Denken und einer Alltagsrealität, in der sich das schöpferische Potential des Menschen entfalten kann. Gelingt dies nicht oder nur zum Teil, greifen destruktivere Elemente im Gefüge der Psyche und diktieren ihre Regeln. Mit liebebetonter Existenzweise zur Mitwelt und zu sich selbst ist natürlich nicht gemeint, das eigene Verhalten in der gesellschaftlichen Atmosphäre zu beschönigen, es sich besser zu retuschieren, als es tatsächlich ist.

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Zuweilen neigt der Mensch dazu, sein Handeln und die eigenen Fehler mit größerer Nachsicht zu begutachten. Demnach kann es nicht das Ziel sein, mit dem Anspruch einer neuen Kultur die Widersprüche im eigenen Leben und der Gesellschaft zuzukitten. 

Wir müssen auf ein Zeitalter der Sanftmut zugehen, auf ein Auferstehen dieser menschlichen Wesenskräfte. Jenes Gebot aus dem neuen Testament: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, besitzt größte Aktualität, unabhängig davon, ob man dem herkömmlichen Gottesbegriff folgen will oder nicht. Unsere allzu stur-rationalistische Kultursicht muß aufgebrochen werden, hinter der der Homo oekonomicus lauert mit seiner genormten Arbeitswelt, der Gottheit Geld und dem Ideal, wie sich der Mensch als flinkes Rädchen der Megamaschine zu verhalten habe. Zudem ist es wichtig, die eigene innere Natur anzunehmen und sie zu genießen, statt vor ihr zu fliehen.135 Dazu gehört aber auch die Bewußtheit, was ich in mir kultivieren möchte.

Daß der Mensch zu einer liebegeleiteten inneren Verfassung gelangt gegenüber einer permanent besitzorientierten Existenzweise, ist ein maßgebliches Moment der Tiefenwandlung unseres Bewußtseins. Das Haben darf das Mensch-Werden nicht abschnüren. Als Voraussetzung für die Existenzweise des Seins bezeichnet Erich Fromm Unabhängigkeit, Freiheit und Vorhandensein kritischer Vernunft. 

"Ihr wesentlichstes Merkmal ist die Aktivität, nicht im Sinne von Geschäftigkeit, sondern im Sinne eines inneren Tätigseins, dem produktiven Gebrauch der menschlichen Kräfte. Tätigsein heißt, seinen Anlagen, seinen Talenten, dem Reichtum menschlicher Gaben Ausdruck zu verleihen, mit denen jeder — wenn auch in verschiedenem Maß — ausgestattet ist. Es bedeutet, sich zu erneuern, zu wachsen, sich zu verströmen, zu lieben, das Gefängnis des eigenen isolierten Ichs zu transzendieren, sich zu interessieren, zu lauschen, zu geben. Keine dieser Erfahrungen ist jedoch vollständig in Worten wiederzugeben."136

In der Verfaßtheit des Besitzen-Müssens von Sachen und Menschen kann der Mensch sich selbst nie genug sein. Er engagiert sich unablässig für weiteres Haben. Gewiß muß man dafür Sorge tragen, Essen auf dem Tisch und ein Dach über dem Kopf zu erlangen. Aber überall steckt schon der Keim darin, das angemessene Maß zu verlassen. Die ganze patriarchal-kapitalistische Gesellschaft richtet sich weitgehend darauf aus, beständig die Schranken niederzureißen, die zukunftsfähige und humane Ziele setzen müßten. Sie kennt nur das äußere Wachstum, inneres Wachstum ist ihr weitgehend wesensfremd.

Der geschaffene Reichtum wird ihr zur tödlichen Falle, weil es offenkundig nicht gelingt, die Ausgewogenheit zwischen materiellem und geistigem Reichtum zu erreichen. Haben-Müssen ist zu großen Anteilen wie ein Pflichtgebot in unsere Gesellschaft integriert. Erich Fromm weist darauf hin, Gewinnstreben ist nicht nur ein persönlich psychologischer Zug von habgierigen Menschen, auch wenn dies vorkommt. Es gilt insbesondere als ein Maßstab für die Richtigkeit ökonomischen Verhaltens. Der Gewinn ist Beleg für eine erfolgreiche ökonomische Bilanz.137)

Für künftige gesellschaftliche Veränderungen wird von entscheidender Bedeutung sein, wie viele einzelne Individuen sich auf einen alternativen Weg begeben. Die Qualität des zugrundeliegenden Bewußtseins­wandels wird prägend für das Niveau eines möglichen Kulturumbruchs ausfallen.

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Wir stehen heute vor der Situation, daß die geistig-seelische Wirklichkeit in der ganzen Welt entscheidenden Einfluß auf das ökologische Überleben der Menschheit gewinnen wird. Ökologischer Strukturwandel, wenn kosmetische Verbesserungen am Bestehenden nicht mehr ausreichen, sondern ein gravierender Einschnitt in die Lebensverhältnisse unausweichlich ist, wird nicht allein von technisch-politischen Sachverstand her bewirkt werden können, sondern er muß sich mit einer inneren Umkehr verbinden. Wir müssen den ungeheuren Ernst der Lage erkennen, ohne uns von der Angst des Untergangs paralysieren zu lassen, unsere Motivation zu sehr von dort her abhängig zu machen.

Die großen Weltreligionen — vom Buddhismus über den Islam bis zum Christentum und andere — artikulierten das höhere Selbst im Menschen. Gewiß wurden sie immer wieder auch für niedere Beweggründe instrumentalisiert und boten die geistige Staffage für ungeheure Verbrechen. Hier sei nur die Inquisition stellvertretend genannt. Gewiß sind auch die Ausdrucksformen der Religionen nicht unbedingt geeignet, um in der heutigen Welt als angemessen zu erscheinen.

Aber das sinnmachende Moment der Religionen ist bei der Kritik an ihnen zu oft ausgespart worden. Wenn man Jesus oder Buddha als Vorboten für ein zukünftiges Zeitalter begreift, so tragen sie eine andere Botschaft als wenn man sie in ihrer Rolle beläßt, religiöse Statussymbole zu sein. Dem Glauben an Gott wird nur der Gläubige folgen. Eine spirituelle Erneuerung jenseits konventioneller Religion eröffnet einen weiteren Raum. Dies erfordert ein kulturelles Fundament, daß heute nur in sehr wenigen Ansätzen vorliegt. Aber gerade darauf kommt es an. 

Wir müssen uns bemühen, nach einer besseren inneren Gestalt unseres kulturellen Eingewobenseins zu suchen. Wie gelingt es, in eine freudig festliche Stimmung uns einzuwohnen, die zugleich höchste Verantwortung mit lebendiger Kreativität verbindet? Kann der "göttliche Funken" im Menschen stärkeren Einfluß gewinnen auf ihn selbst und das gesellschaftliche Geschehen?

Vielen Zeitgenossen reicht es festzuhalten, der Mensch ist wie er ist und alle Geschichte möge beweisen, nichts wird sich daran ändern. Das klingt einfach und klar und doch ist die Wirklichkeit schon immer komplizierter gewesen. Auch künftig werden nicht alle Menschen und auch nicht jeder Mensch in Gänze das ideale Bild abgeben. Ein solcher Anspruch wäre nicht einlösbar.

Wohl aber könnten sich innerhalb der gesamten Gesellschaft Verschiebungen einstellen, wenn ein sozialökonomischer und seelisch-geistiger Wandel Fuß fassen würde. So etwas geschieht natürlich nicht im Selbstlauf, dies muß errungen werden und ganz klar ist: Das geistige Klima einer Gesellschaft kann sich auch verschlechtern, wenn die inneren und äußeren Umstände darauf hinwirken. Wir sollten dabei nicht aus den Augen verlieren, jeder einzelne ist mit verantwortlich. 

Die Evolution von Innen gehört zu den entscheidenden Eckpfeilern auf dem Weg in eine ökologisch lebende Gesellschaft.

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 Marko Ferst - Wege zur ökologischen Zeitenwende - Reformalternativen und Visionen für ein zukunftsfähiges Kultursystem -  2002