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2. Überlebensbedingungen der Menschheit - Zur Dialektik des Fortschritts

Fetscher-1985

 

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Ralf Dahrendorf hat in seiner Konstanzer Antrittsvorlesung mit Rene König zwischen Fragen, die das Leben stellt, und Problemen der Wissenschaft unterschieden.1

1] Ralf Dahrendorf: Die Soziologie und der Soziologe, zur Frage von Theorie und Praxis, Konstanzer Universitätsreden, Nr. 6, 1970, S. 5 f.

Überlebensbedingungen der Menschheit, das sind sicher Fragen, die - wenn auch noch nicht heute, so doch schon in absehbarer Zeit - das Leben uns stellt.

Und doch scheint mir das Wagnis, das im Versuch einer vorläufigen Antwort liegt, legitimierbar. Die uns bedrängenden Fragen des Lebens sind nicht nach dem Schema der Fachbereichs- oder Fakultätskompetenzen präformiert. Das Leben kümmert sich nicht um akademische Zuständigkeiten. Wo sonst aber sollte ein Ort sein, an dem diese Fragen - in gehöriger Distanz zur unmittelbaren politischen, sozialen und ökonomischen Praxis - kritisch durchdacht und bewußt gemacht werden, wenn nicht in einer Universität oder einer Akademie der Wissenschaften?

Nicht zuletzt die Erinnerung an meinen Kollegen und Freund Waldemar Besson, dessen Gedächtnis diese Vorlesung gewidmet ist, hat mich zu solchem Versuch ermutigt, weil auch er den subalternen Einwand der Unzuständigkeit nie gescheut hat, wenn es ihm um lebenswichtige Fragen ging.    wikipedia  Waldemar_Besson   *1929 in Stuttgart bis 1971

2]  Martin Heidegger: Spiegelgespräch mit Rudolph Augstein, Der Spiegel, Nr. 23/1976 (31. 5. 1976), S. 212. - Martin Heidegger versteht freilich sehr wohl die von seinem eigenen Denken geforderte »Kehre«, die Überwindung der seit den frühen Griechen das abendländische Denken bestimmenden Metaphysik, als Voraussetzung jener »Rettung«, die allerdings nicht von Menschen »veranstaltet«, sondern lediglich vom »Seinsgeschick« her ihnen »zugesprochen« werden könnte. Auf seine Weise hat Heidegger jedenfalls die naturzerstörende Tendenz eines Denkens erkannt, das die menschliche, erkennende Vernunft zum übermächtigen Prinzip der Welterfassung und Weltbemächtigung erhoben hat. »Der Mensch ist gestellt, beansprucht und herausgefordert von einer Macht, die im Wesen der Technik offenbar wird, und die er selbst nicht beherrscht« (Martin Heidegger: Die Technik und die Kehre, Pfullingen 1962). - »In der Vorausberechnung wird die Natur... gleichsam gestellt... Diese Vergegenständlichung des Seienden vollzieht sich in einem Vorstellen, das darauf zielt, jegliches Seiende so vor sich zu bringen, daß der rechnende Mensch des Seienden sicher und d. h. gewiß sein kann« (ebenda). - Was Heidegger freilich schlechthin als Wesen der Technik beschreibt, ist die Gestalt, welche Technik unter den spezifischen Bedingungen der kapitalistischen Wirtschaftsweise angenommen hat. Da dies aber die einzige Gestalt ist, der wir täglich begegnen, ist seine Aussage verständlich. Die Konsequenz der Heideggerschen Sichtweise ist eine Abkehr von der gesamten abendländischen Tradition und eine Rückkehr hinter die Vorsokratiker zu einem »andenkenden Denken«, das sich in Dichtung verwandelt.

Siehe hierzu auch C. F. v. Weizsäcker: Heidegger und die Naturwissenschaft. In: Gadamer u. a. (Hg.): Freiburger Universitätsvorträge zum Gedenken an Martin Heidegger, Freiburg/München 1977.

 

   Worin besteht die Dialektik des Fortschritts? 

 

Fortschritt ist nicht notwendig und von Haus aus ein positiver Wert. Es gibt einen Fortschritt der Krankheit, ein Fortschreiten von Zerstörung.

Nicht alles, was fortschreitet, muß auch gut für die Menschheit sein.

Der Gedanke, daß das menschliche Leben der Individuen wie der Menschheit im ganzen überhaupt eines Fortschritts zum Besseren fähig sei, ist erst mit dem Christentum in unsere Welt gekommen.

Aber zunächst war dieses Fortschreiten das von dieser Welt in jene, bezog sich auf die eschatologische Erwartung eines »neuen Himmels und einer neuen Erde« als Resultat eines göttlichen Heilsplanes, an dem die Menschen zwar kooperieren, den sie aber nicht selbst gestalten können. Augustin hat bekanntlich im Namen dieser linearen Konzeption des menschlichen Schicksals - im Hinblick also auf die Auferstehung und die civitas Dei - die »trostlosen Kreisläufe« der antiken Philosophen verurteilt. Aber deren zirkuläres Bild vom sublunaren Geschehen blieb gleichwohl - unterhalb des christlichen Heilsgeschehens - noch bis in die Neuzeit hinein erhalten.

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Politische Denker wie Hume gingen noch im 18. Jahrhundert von der klassischen Lehre des Kreislaufs der Verfassungsformen aus. Der Siegeszug eines säkularen Denkens, das vom Fortschritt als Richtschnur der Weltgeschichte überzeugt ist, hatte freilich schon im 17. Jahrhundert begonnen. Vollendet wurde er durch die Deutung, welche Aufklärer wie Kant der Französischen Revolution und dem von ihr ausgelösten »interesselosen Enthusiasmus der Beobachter« gaben.3

Grundlage dieses Fortschrittsglaubens war - ohne daß es immer klar bewußt gemacht wurde - die wachsende Naturbeherrschung durch die wissenschaftlich fundierte Technik. Wissenschaft, Technik, Entdeckungen ließen jede Generation weiter fortschreiten auf dem Weg zur Besiegung des Widerstands der nichtmenschlichen Natur. Rene Descartes macht es der Wissenschaft zur Aufgabe, »de nous rendre comme maitres et posses-seurs de la nature«,4 und folgt damit der schon von Francis Bacon in »De dignitate et augmentis scientiarum« (1623) formulierten Spur.

3 Immanuel Kant: Der Streit der Fakultäten (1798), 2. Abschnitt, erneuerte Frage: »Ob das menschliche Geschlecht im beständigen Fortschreiten zum Besseren sei?« »Durch Erfahrung unmittelbar ist die Aufgabe des Fortschreitens nicht aufzulösen ...« »Es muß irgendeine Erfahrung im Menschengeschlechte vorkommen, die als Begebenheit auf eine Beschaffenheit und ein Vermögen desselben hinweist, Ursache von dem Fortrücken desselben zum Besseren und (da dieses die Tat eines mit Freiheit begabten Wesens sein soll) Urheber desselben zu sein.« »Von einer Begebenheit unserer Zeit, welche diese moralische Tendenz des Menschengeschlechts beweist: Diese Begebenheit ... ist bloß die Denkungsart der Zuschauer, welche sich bei diesem Spiele großer Umwandlungen öffentlich verrät, und eine so allgemeine und doch uneigennützige Teilnehmung der Spielenden auf einer Seite gegen die auf der anderen, selbst mit Gefahr, diese Parteilichkeit könnte ihnen sehr nachteilig werden, dennoch laut werden läßt, so aber (der Allgemeinheit wegen) einen Charakter des Menschengeschlechts im ganzen und zugleich (der Uneigennützigkeit wegen) einen moralischen Charakter desselben wenigstens in der Anlage beweist, der das Fortschreiten zum Besseren nicht allein hoffen läßt, sondern selbst schon ein solcher ist, soweit das Vermögen desselben für jetzt zureicht.

Die Revolution eines geistreichen Volkes, die wir in unseren Tagen haben vor sich gehen sehen ... findet doch in den Gemütern aller Zuschauer (die nicht selbst in diesem Spiele verwickelt sind) eine Teilnehmung dem Wunsche nach, die selbst an Enthusiasmus grenzt, und deren Äußerung selbst mit Gefahr verbunden war, die also keine andere als eine moralische Anlage im Menschengeschlecht zur Ursache haben kann« (Kant: Kleinere Schriften zur Logik und Metaphysik, 4. Abteilung, Schriften von 1796-1798. Ed. K. Vorländer, Leipzig 1905, S. 131).

4 Rene Descartes: Discours de la Methode (1637). Ed. Etienne Gilson, S. 121: »Mais sitöt que j'ai eu acquis quelques notions generales touchant la physique, et lue ... j'ai remarque jusques oü elles peuvent conduire, et combien elles different des principes dont on s'est servi jusques ä present, j'ai cru que je ne pouvais les te-nir cachees, sans pecher grandement contre la loi qui nous oblige ä procurer ... le bien general de tous les hommes. Car elles m'ont fait voir qu'il est possible de par-venir ä des connaissances qui soient fort utiles ä la vie, et ... on peut trouver une (Philosophie) pratique, par laquelle connaissant la force et les actions du feu, de l'eau, de l'air, des astres, des cieux et de tous les autres corps qui nous environ-nent, aussi distinctement que nous connaissons les divers metiers de nos artisans, nous les pourrions employer en meme facon ä tous les usages auxquels ils sont propres, et ainsi nous rendre comme maitres et possesseurs de la nature.« Hier wird die für die Renaissance-Wissenschaft charakteristische Aufhebung des Gegensatzes und der Trennung von theoretischem Denken und instrumentaler Praxis programmatisch formuliert. Die durch mechanische Naturwissenschaft erworbene Kenntnis der natürlichen Körper wird unserer Kenntnis der Tätigkeiten der Handwerker gleichgesetzt und führt zu einer entsprechenden Steigerung der technischen Bewältigung der Natur.

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Der Wissenschaftspropagandist und Politiker Bacon beabsichtigte mit seinem Werk nicht nur die wissenschaftlichen Grundlagen der Technik, sondern auch die Macht seines Vaterlandes und die Herrschaft der Menschheit über die Natur zu vermehren. »Die Macht und Herrschaft der Menschheit selbst über das Universum der Dinge herzustellen und zu erweitern, ... ist... unter allen der vernünftigste und erhabenste Ehrgeiz. Aber die Macht des Menschen über die Dinge beruht allein auf Kunst und Wissenschaft; denn nur durch Gehorsam wird die Natur beherrscht.«5

Schon im 18. Jahrhundert beginnt freilich mit Rousseau der Zweifel an der Allgemeinheit und Wünschbarkeit des Fortschritts. Mit seiner negativen Antwort auf die Preisfrage der Akademie von Dijon im Jahre 1751 »Si le retablissement des sciences et des arts a contribue a epurer les moeurs« wird zum ersten Mal der - unbezweifelte - Fortschritt von Wissenschaft und technischer Naturbeherrschung mit dem moralischen Verlust konfrontiert, der mit ihm parallelläuft.

5 In einem von Benjamin Farrington erstmals veröffentlichten Fragment Bacons wird der Zusammenhang zwischen der Naturbeherrschung und der Unterwerfung der Frau durch den Mann deutlich, auf den in jüngster Zeit u. a. Feministinnen hingewiesen haben (siehe Fußnote 56). Siehe das Ms. The Masculine Birth of Time: »Now, I am come in very truth leading to you Nature with all her children to bind her to your senke and make her your slave«, erklärt der Lehrer dem jungen Schüler und fährt fort: »So may I succeed in my only earthly wish, namely to Stretch the deplorably narrow limits of man's dominion over the unrverse to their pro-mised bounds; as I shall hand on to you, with the most loyal faith, out the profoun-dest care for the future of which I am capable, after prolonged examination both of the State of nature and the State of the human mind, by the most legitimate me-thod, the Instruction I have to convey« (Benjamin Farrington: The Philosophy of Francis Bacon. An essay on its development from 1603 to 1609 with new Transla-tions of Fundamental Texts, Liverpool 1964, S. 62).

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Mag nun dieser moralische Verfall als Folge jenes Fortschritts bezeichnet werden oder jener Fortschritt lediglich als unfähig, ihn zu verhindern. Rousseau ist eindeutig der Meinung, daß der Fortschritt auf Kosten der Sittlichkeit der Individuen und damit zugleich zu Lasten des sozialen Zusammenhalts der politischen Gemeinschaften gehe. Das Tempo des als unvermeidlich angesehenen Fortschritts zu bremsen wird daher eine der wichtigsten Aufgaben, die er den Politikern stellt.

In dem Vorwort zu seiner Komödie »Narcisse ou l'amant de lui-meme« schildert Rousseau etwas genauer, welche moralischen Schäden er im Auge hat, wenn er den Fortschritt von »Wissenschaften und Künsten« kritisiert.

»Von allen Wahrheiten, die ich den Weisen vorgelegt habe, ist folgende die erstaunlichste und grausamste. Unsere Schriftsteller (gemeint sind die zeitgenössischen progressistischen Ökonomen, I. F.) halten sämtlich die Wissenschaften, die Künste (Gewerbe), den Luxus, den Handel, die Gesetze und die anderen Bänder, welche die Vereinigung der Gesellschaft durch das persönliche Interesse fester knüpfen, für ein Meisterwerk der Politik unserer Tage. Diese (Luxus, Handel usw.) machen die Menschen abhängig voneinander, geben ihnen wechselseitige Bedürfnisse und gemeinsame Interessen und zwingen einen jeden von ihnen, zum Glück des anderen beizutragen, um so sein eigenes machen zu können.

Diese Ideen sind zweifellos schön und in günstigem Lichte dargestellt; wenn man sie aber näher und vorurteilslos betrachtet, dann muß man manches von den Vorzügen wieder abstreichen, die sie zunächst zu haben scheinen. Es ist doch eine höchst wunderbare Sache, daß man die Menschen in eine solche Lage versetzt hat, daß sie unmöglich zusammenleben können, ohne sich zu übervorteilen, sich auszustechen, sich zu täuschen, sich zu verraten und sich wechselseitig zu vernichten. Man muß sich hinfort davor hüten, uns so erscheinen zu lassen, wie wir sind: denn auf zwei Menschen, deren Interessen übereinstimmen, kommen vielleicht 100.000, die entgegengesetzte Interessen haben, und es gibt kein anderes Mittel, um zum Erfolg zu kommen, als all diese Leute zu täuschen oder zugrunde zu richten.

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Hier haben wir die verderbliche Quelle der Gewalttätigkeiten, des Verrats, der Heimtücke und all der anderen Scheußlichkeiten, die ein Zustand notwendig macht, in dem jeder, während er vorgibt, zum Glück, zum Wohlstand und zum Ansehen der anderen beizutragen, nur danach strebt, das seine über sie und auf ihre Kosten zu heben. Was haben wir dadurch gewonnen? Viel Geschwätz, Reiche und Sophisten, das heißt Feinde der Tugend und des gesunden Menschenverstandes. Dafür haben wir die Unschuld und die guten Sitten verloren. Die Menge kriecht im Elend dahin; alle sind Sklaven des Lasters. Die noch unausgeführten Verbrechen liegen schon im Herzen bereit, und zu ihrer Verwirklichung fehlt nichts als die Gewißheit der Straflosigkeit.

Welch seltsamer und verderblicher Zustand, in dem die bereits aufgehäuften Reichtümer stets die Mittel zu ihrer Vermehrung erleichtern und in dem es demjenigen, der nichts hat, unmöglich ist, etwas zu erwerben; wo der anständige Mensch keine Mittel besitzt, dem Elend zu entkommen, die größten Gauner am höchsten geehrt werden und man gezwungen ist, auf Tugend zu verzichten, wenn man ein Ehrenmann werden will.«6

Was uns - vor allem seit Adam Smith' »Wealth of Nations« - als Grundlage des wirtschaftlichen und technologischen Fortschritts erscheint: die weltweite Arbeitsteilung, die Steigerung von Produktion und Produktivkraft, die erfolgreiche Indienststellung des persönlichen Interesses zur Förderung des Wohles aller - Rousseau verurteilt es, weil es die Sittlichkeit unterminiert und Ungleichheit und sklavische Abhängigkeit bewirkt.

Angesichts dieser Widersprüche gibt es zwei Wege, um den Fortschritt dennoch festzuhalten: Der eine besteht in dem energischen Postulat einer Anpassung des moralischen Fortschritts an den technischen. Ihn sucht offenbar Robespierre zu gehen, wenn er in einer Konventsrede davon spricht, daß die »eine Hälfte« des Fortschritts bereits erreicht sei, die andere - moralische - noch ausstehe. Die Erzwingung des moralischen Fortschritts wird zu einer der Rechtfertigungen des Terreur. - Der andere Weg ist der des Dialektikers, der Widersprüche, Antagonismen usw. als objektiv notwendige, unvermeidliche Mittel des letztlich allein entscheidenden Fortschritts hinnimmt.

6  J.-J. Rousseau: CEuvres completes. Ed Hachette, Bd. 5, S. 106.

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Dieser Gedanke taucht schon in Mandevilles »Bienenfabel« auf, wo (1709) »private vices« als Mittel des »public benefit« erwiesen werden, aber auch Adam Smith leugnet nicht, daß in seiner Gesellschaftstheorie die Laster zum Motor des Fortschritts gemacht werden. Nur sehen beide in diesem Zusammenhang weniger einen Einwand als vielmehr einen Grund der Überlegenheit dieses Systems. Immanuel Kant läßt ganz ähnlich eine weise Vorsehung die »ungesellige Gesellgigkeit«, den innerpsychischen und den gesellschaftlichen Antagonismus, als Mittel einsetzen, um die Menschheit aus ihrer natürlichen Trägheit herauszureißen und zum Fortschritt zu führen. Selbst die Kriege werden zum Mittel des gesellschaftlichen (nicht nur des technologischen) Fortschritts, indem sie zur Einsicht in die Überlegenheit demokratischer Verfassungen und damit endlich zum Weltfrieden führen.7

Hegels Geschichtsphilosophie hat es sich schließlich zur Aufgabe gemacht, alles Leiden und alle Not der Geschichte durch den Aufweis des durch sie bewirkten »Fortschritts im Bewußtsein der Freiheit« zu rechtfertigen. Die Theodizee wird zur Historizee und der Inhalt der Geschichte zum Fortschritt. - Karl Marx bleibt dieser Weltsicht verbunden, auch wenn er die Vergangenheit nicht durch die Gegenwart des bürgerlichen Verfassungsstaats, sondern die kapitalistische Gegenwart erst durch die künftige sozialistische Weltgesellschaft zu rechtfertigen sucht.8

7  Siehe Immanuel Kant: Allgemeine Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784): »Das Mittel, dessen sich die Natur bedient, die Entwicklung aller ihrer Anlagen zustande zu bringen, ist der Antagonismus derselben in der Gesellschaft, sofern dieser doch am Ende die Ursache einer gesetzmäßigen Ordnung derselben wird. Ich verstehe unter Antagonismus die ungesellige Geselligkeit der Menschen, das ist, den Hang derselben in Gesellschaft zu treten, der doch mit einem durchgängigen Widerstände, welcher diese Gesellschaft beständig zu trennen droht, verbunden ist...« (vierter Satz). »Ohne jene ... Eigenschaften der Ungeselligkeit ... würden in einem arkadischen Schäferleben bei vollkommener Eintracht, Genügsamkeit und Wechselliebe alle Talente auf ewig in ihren Keimen verborgen bleiben: die Menschen gutartig wie Schafe, die sie weiden, würden ihrem Dasein kaum einen größeren Wert verschaffen, als dieses ihr Hausvieh hat; sie würden das Leere der Schöpfung in Ansehung ihres Zwecks, als vernünftige Natur, nicht ausfüllen. Dank sei also der Natur für die Unvertragsamkeit, für die mißgünstige wetteifernde Eitelkeit, für die nicht zu befriedigende Begierde zum Haben oder auch zum Herrschen! Ohne sie würden alle vortrefflichen Naturanlagen in der Menschheit ewig unentwickelt schlummern« (ebenda). Siehe »Zum ewigen Frieden«: »Ihre (der Natur) provisorische Veranstaltung besteht darin: daß sie 1. für die Menschen in allen Erdgegenden gesorgt hat, daselbst leben zu können; 2. sie durch Krieg allerwärts hin ... getrieben hat; 3. durch ebendenselben sie in mehr oder weniger gesetzliche Verhältnisse zu treten genötigt hat...« (Definitivartikel zum ewigen Frieden, 1. Zusatz).

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Sehr viel undifferenzierter ist freilich der Fortschrittsglaube, der sich in der Linie von Comte über einen populär gedeuteten Darwinismus (bei Haeckel) als Grundstimmung der europäischen Völker vor dem Ersten Weltkrieg durchgesetzt hat und der in den USA wie in der Sowjetunion noch immer zahlreiche Anhänger haben dürfte. Seine Basis sind die wachsende Herrschaft der Menschheit über die Natur und die Errungenschaften der modernen Technologie, von denen übrigens einige in der Tat ihre Entstehung dem Zweiten Weltkrieg verdanken, auch wenn heute niemand mehr ernsthaft Weltkriege durch solche Nebenprodukte wird rechtfertigen wollen.

Charakteristisch für diesen Vulgärprogressismus dürfte eine Äußerung von Ernst Haeckel sein, der die Deszendenztheorie als »Bestätigung« für seinen Glauben an den unbegrenzten Fortschritt benutzt: »Wir sind stolz darauf, unsere niederen tierischen Vorfahren so unendlich weit überflügelt zu haben, und entnehmen daraus die tröstliche Gewißheit, daß auch in Zukunft das Menschengeschlecht im großen und ganzen die ruhmvolle Bahn fortschreitender Entwicklung verfolgen und eine immer höhere Stufe geistiger Vollkommenheit erklimmen wird.

8 Siehe Karl Marx: Das Kommunistische Manifest (1848): »Die Bourgeoisie hat in ihrer kaum hundertjährigen Klassenherrschaft massenhaftere und kolossalere Produktionskräfte geschaffen als alle vergangenen Generationen zusammen. Unterjochung der Naturkräfte, Maschinerie, Anwendung der Chemie auf Industrie und Ackerbau, Dampfschiffahrt, Eisenbahnen, elektrische Telegrafen, Urbarmachung ganzer Weltteile, Schiffbarmachung der Flüsse, ganze aus dem Boden hervorgestampfte Bevölkerungen - welch früheres Jahrhundert ahnte, daß solche Produktionskräfte im Schöße der gesellschaftlichen Arbeit schlummerten ...« (Marx/Engels: Werke [MEW], Bd. 4, S. 467). »Der Fortschritt der Industrie, dessen willenloser und widerstandsloser Träger die Bourgeoisie ist, setzt an die Stelle der Isolierung der Arbeiter durch die Konkurrenz ihre revolutionäre Vereinigung durch die Assoziation. Mit der Entwicklung der großen Industrie wird also unter den Füßen der Bourgeoisie die Grundlage selbst weggezogen, worauf sie produziert und die Produkte sich aneignet. Sie produziert vor allem ihre eigenen Totengräber. Ihr Untergang und der Sieg des Proletariats sind gleich unvermeidbar« (MEW, Bd. 4, S. 474). «... ist die Produktion in den Händen der assoziierten Individuen konzentriert, so verliert die öffentliche Gewalt den politischen Charakter ... An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist« (MEW, Bd. 4, S. 482).

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In diesem Sinne betrachtet, eröffnet uns die Deszendenztheorie in ihrer Anwendung auf den Menschen die ermutigendste Aussicht in die Zukunft und entkräftet alle Befürchtungen, welche man ihrer Verbreitung entgegengehalten hat.«9 Zwar sieht auch Haeckel eine Diskrepanz zwischen den Fortschritten der physikalischen Wissenschaften und dem Zurückbleiben auf dem Gebiet der Politik und Moral, aber er hofft offenbar, daß durch Verbreitung der »monistischen Weltanschauung« dieser Rückstand schließlich aufgeholt werden wird.

Der Glaube an die Unbegrenztheit des Fortschritts ist inzwischen in mehrfacher Hinsicht fragwürdig geworden. Die Hoffnungen auf das demokratische, das liberale und auf ein sozialistisches Millennium haben bislang alle getrogen. Die Annahme, daß die Rohstoff- und Energievorräte der Erde unerschöpflich seien, ist zumindest erschüttert. Eine grenzenlose Verlängerung der Wachstumskurven der Produktion, auf die viele noch immer ihre Hoffnung setzen, ist unmöglich. Das Ende des Fortschritts, oder doch eine Art von Fortschritt, wird sichtbar.

Immer deutlicher sehen wir, daß die Probleme, die technologischer Fortschritt mit sich bringt, oft größer sind als der Gewinn, den er der Menschheit verschafft. Lassen Sie mich das an einem sehr banalen Beispiel erläutern: Wachsende Konzentration von Industrie und Handel ließ Riesenstädte entstehen, dadurch wurden die Entfernungen zwischen Wohn- und Arbeitsplatz vergrößert, die Automobilproduktion wurde aus einem Luxus zu einer dringenden Notwendigkeit. Mit der Verdichtung des Verkehrs wurden die Städte unbewohnbar, immer mehr Familien zogen in die nähere und weitere Umgebung und vergrößerten damit zugleich die Zahl der Verkehrsteilnehmer und die Unbewohnbarkeit der städtischen Zentren. Straßen mußten gebaut werden und vernichteten Teile der Naherholungsgebiete, immer weiter mußten die Städter fahren, um frische Luft und sauberes Wasser zu finden. Immer abhängiger wurden sie vom Auto ... So hat technologischer Fortschritt ständig neue Probleme geschaffen und neue technologische Lösungen, die wiederum neue Probleme erzeugten.

9 Ernst Haeckel: Natürliche Schöpfungsgeschichte, Berlin und Leipzig 1920, S.632.

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Ein gigantischer Aufwand, der am Ende zu vergleichsweise höchst bescheidenen oder auch zu gar keinen realen Verbesserungen der konkreten Lebensbedingungen führt. - Was ich eben beschrieben habe, stellt für den Ökonomen, der ein expansives Wirtschaftssystem für optimal hält, keineswegs einen Alptraum dar. Im Gegenteil, die Dialektik des Fortschritts hält das Wachstum in Gang. Solange für die Beseitigung der Schäden, die von der zunehmenden Industrialisierung bewirkt werden, stets neue Industrien entstehen, scheinen ihm Wachstum und damit Fortschritt gerade nicht gefährdet.

Schließlich könnte sogar noch die Verschlechterung der Luft in den Großstädten zur Expansion der Produktion von Klimaanlagen und Gasmasken führen und damit das BSP (Bruttosozialprodukt) steigern! Vom Standpunkt der Gasmaskenträger wäre solcher Fortschritt freilich mehr als fragwürdig. Mir scheint daher auch eine Äußerung von J. S. Mill aus dem Jahre 1848 bei weitem nicht so lächerlich, wie ein amerikanischer Ökonom 1973 meinte.

Schon damals schien Mill die unkritische Verherrlichung der industriellen Dynamik als fragwürdig, zumal wenn sie mit unbeschränkter Aggressivität und unerbittlicher individueller Konkurrenz verbunden ist:

»I cannot regard the stationary State of capital and wealth with the unaffected aversion so generally manifested towards it by political econo-mists of the old school. I am inclined to believe that it would be, on the whole, a very considerable improvement on our present condition. I confess I am not charmed with the ideal of life held out by those who think that the normal State of human beings is that of struggling to get on; that the trampling, crushing, elbo-wing and treading on each others' heels, which form the existing type of social life, are the most desirable lot of human kind, or anything but the disagreeable Symptoms of one of the phases of industrial progress ...«10  Gesellschaft

10 J. S. Mill: Principles of Political Economy, Bd. II. Der frühe Reformsozialist Friedrich August Lange hat in seiner Schrift »J. S. Mills Ansichten über die soziale Frage« (1866) dessen Auffassungen zustimmend zitiert: »Nur wenn die Expansion des Industrialismus schon zu einem Zeitpunkt gestoppt wird, da es noch unbebaute, wilde Natur und ihre zwecklose Schönheit gibt und die Bevölkerungsdichte nicht ein Maximum erreicht hat, wird eine glückliche Menschheit entstehen.« Und Lange würde es bedauern, »wenn die Erde jenen großen Bestandteil ihrer Lieblichkeit verlieren müßte, den sie jetzt Dingen verdankt, welche die unbegrenzte Vermehrung des Vermögens und der Bevölkerung ihr entziehen würde, lediglich zu dem Zweck, um eine zahlreichere, aber nicht eine bessere oder eine glücklichere Bevölkerung ernähren zu können« ... »Ein stationärer Zustand des Kapitals müßte keineswegs einen stationären Zustand der menschlichen Verbesserungen bedingen« ... »Der Spielraum für alle Arten geistiger Entwicklung sowie des moralischen und sozialen Fortschritts würde dabei nicht verkürzt ... und es bliebe ebenso viel Gelegenheit, um die Kunst des wahren Lebensgenusses auszubilden; auch sei es sehr wahrscheinlich, daß diese Ausbildung besser gelänge, sobald die Geisteskräfte nicht mehr so von der Sorge um das bloße Fortkommen in Anspruch genommen würden.«

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J. S. Mill trat also für eine des Nullwachstums schon zu einem Zeitpunkt ein, wo das BSP pro Kopf in Großbritannien noch weit unter seiner jetzigen Höhle lag und die Bevölkerung nur etwa ein Drittel der heutigen ausmachte. Aber deshalb scheinen mir seine Thesen noch nicht lächerlich zu sein. Inzwischen haben wir freilich weit gewichtigere Gründe, uns auf eine Verlangsamung des industriellen Wachstums beziehungsweise auf eine Umstellung der Richtung und der Qualität dieses Wachstums einzustellen als zu Mills Zeiten. Es geht nicht mehr nur um die Bedingungen »guten Lebens«, die Mill wie Rousseau bei ihrer Kritik vorschwebten, sondern um die des schlichten Überlebens. Es wird sich zeigen, daß der Streit unter den Prognostikern unter anderem auch darum geht, ob diese Überlebensbedingungen zusammen mit einer Einschränkung des linearen Produktionswachstums notwendig zu einer erheblichen Einschränkung an individueller Freiheit und individuellem Glück führen müssen oder ob Bedingungen des Überlebens denkbar und realisierbar sind, die zugleich ein »gutes« Leben ermöglichen, das sich positiv von dem der Individuen der kapitalistischen wie der staatssozialistischen Industriegesellschaften von heute unterscheidet.

Wodurch sind die Überlebenschancen der Menschheit bedroht? Seit Jahren schon verfügen die beiden Supermächte über ein nukleares Potential, das inzwischen zum dutzendfachen Overkill der Menschheit ausreicht. Wir haben uns im Schatten des Gleichgewichts des Schreckens häuslich eingerichtet und das Ausmaß der Gefahr erfolgreich verdrängt. Fast alle scheinen daran zu glauben, daß der suizide Weltkrieg zumindest ausbleiben wird. Die Kernenergie ist das gigantischste Beispiel dafür, daß mit der Reichweite wissenschaftlicher Entdeckungen und

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praktischer Erfindungen zugleich mit dem produktiven das destruktive Potential der Menschheit wächst, daß mit jedem -oder doch fast jedem - Schritt auf dem Wege zur vollkommeneren technischen Beherrschung der Natur auch die Mittel der Herrschaft über Menschen und der Tötung und Erpressung von Menschen wachsen. So scheint wenigstens die Technik ihre »Unschuld«, ihre Neutralität verloren zu haben. Aber vergessen wir nicht, daß es Menschen gibt, die die Technik gestalten und ihre Ziele auswählen. Auch wenn diese Menschen ihrerseits von gesellschaftlichen oder psychischen Zwängen geprägt werden, sind es doch nicht die »objektiven« technologischen Möglichkeiten als solche, die die Entscheidungen herbeizwingen.

Lassen Sie mich in einem Exkurs die Dimension der Gefahr eines atomaren Weltkrieges und kleinerer, beschränkter atomarer Kriege wenigstens kurz skizzieren. Robert Heilbroner bemerkt in seinem »Inquiry into the Human Prospect«11 mit Recht, daß das vollkommen Neue, das durch das Auftauchen des Atompotentials in die Geschichte der Kriege gebracht wird, die Möglichkeit irreparabler Schäden ist. Einmal erreicht das neue Zerstörungspotential Dimensionen, die weit über unsere Vorstellungskraft hinausreichen, zum anderen würden selbst die Überlebenden eines atomaren Weltkrieges noch generationenlang von den Nachwirkungen: radioaktiver Verseuchung und genetischer Verkrüppelung, bedroht. Eine einzige H-Bombe würde heute genügen, um so gut wie die gesamte Bevölkerung der Großstädte Chicago oder Moskau zu töten. Die Großmächte aber verfügen über Zehntausende von Sprengköpfen dieser Dimension. »Schätzungen« über einen atomaren Waffengang kalkulieren - allein für die USA - 50 bis 135 Millionen Tote - je nach der »Verteidigungslage«. Dennoch erblickt Heilbroner die Hauptgefahr nicht in dem nuklearen Potential der beiden Supermächte, die sich gegenseitig neutralisieren, sondern in der unvermeidlichen »Proliferation«, in dem wachsenden Zugang anderer Staaten zu diesen Waffen: »Es gibt kaum einen Zweifel daran, daß ein gewisses nukleares Potential in die Hände der

11 Robert L. Heilbroner: An Inquiry into the Human Prospect, New York 1974. Dt.: Die Zukunft der Menschheit, Frankfurt a. M. 1976.

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größeren unterentwickelten Nationen gelangen wird, mit Sicherheit innerhalb der nächsten Jahrzehnte, und wahrscheinlich viel früher.«12 Die Motivation für einen eventuellen Einsatz dieser Waffen ist aber im Fall hungernder Entwicklungsländer weit größer als bei den Supermächten, die beide durch den zu erwartenden Gegenschlag allzuviel zu verlieren haben. »Angesichts der bisherigen Abneigung der entwickelten Welt, mehr als symbolische Hilfe zu leisten, und der Wahrscheinlichkeit, daß Unterstützungsmaßnahmen, die groß genug wären, um den Lebensstandard der sechs oder acht Milliarden (künftig) Armut leidender Einwohner der armen Länder anzuheben, das Ende jeglicher Steigerung oder sogar ein Sinken des Lebensstandards in den wohlhabenden Ländern notwendig machen würden«, ist der Versuch einer atomaren Erpressung durch Entwicklungsländer »nicht als bloße Phantasie abzutun«.

Atomare Umverteilungskriege könnten sich - meint Heilbroner - »als der einzige Weg erweisen, auf dem die armen Länder ihre Lage zu verbessern hoffen können«.

Die Proliferation der Kernwaffen, die schon durch die Errichtung von Kernkraftwerken in Entwicklungsländern als Nebenprodukt unvermeidlich ist, stellt für sich genommen noch keine Gefahr dar, wohl aber der denkbare Einsatz dieser Waffen in einem unvermeidlich gewordenen Umverteilungskonflikt. Dabei schließt Heilbroner auch den umgekehrten Einsatz von Nuklearwaffen durch die Industriestaaten gegen die Entwicklungsländer nicht aus. In diesem Falle könnte er z. B. als Mittel zur Brechung eines möglichen Rohstoffboykotts dienen: »Es liegt« - meint Heilbroner - »immerhin auf der Hand, daß die Konkurrenz um die natürlichen Schätze der Erde auch zu einer Aggression in die andere, >normale< Richtung führen kann - das heißt zu einer Aggression der reichen Nationen gegen die armen.« Die Art und Weise, wie nordamerikanische und europäische Politiker und Kommentatoren auf politische Veränderungen in den ölproduzierenden Staaten des Mittleren Ostens reagieren und wie sei diese Länder wegen ihrer Rohstoffvorräte als »eigenes Interessengebiet« betrachten, läßt die Befürchtungen von Heilbroner realistisch genug erscheinen.

12 Ebenda, S. 28.

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Die widervernünftige Voraussetzung der jeweils eigenen Rüstungsanstrengungen aller Großmächte ist nach wie vor, daß nur die Waffe »in der Hand des anderen« lebensgefährlich ist, während das eigene Kernwaffenpotential selbstverständlich nur dem Frieden und der Verteidigung dient. Eine Behauptung, die allerdings vollends fragwürdig wird, wenn auch die Beherrschung von Rohstoffquellen in anderen Ländern zu den »verteidigungswürdigen« Aufgaben gezählt wird. Auf der Voraussetzung -, daß die eigene waffentechnische Überlegenheit die beste Friedensgarantie sei, weil die friedfertigen Intentionen des »anderen« nicht unterstellt werden könnten -, beruht der Rüstungswettlauf. Vom Standpunkt des »anderen« aus muß aber gerade diese Anstrengung notwendig Verdacht erwecken usw.

Die eigentliche Bedrohung des Weltfriedens geht also von der Ungleichheit der Lebensbedingungen und Lebenschancen zwischen den Nationen und Staaten aus oder auch vom Fehlen einer akzeptierten, als gerecht anerkannten und anerkennbaren ökonomischen Weltordnung. Solange aber die potentielle Kriegsdrohung besteht, erscheinen die Nationalstaaten als Subjekte der Verteidigung legitimiert, während umgekehrt das Vorhandensein souveräner Nationalstaaten die Voraussetzung weiterer Kriegsdrohungen schafft. »Aus diesem Teufelskreis gibt es« - meint Heilbroner - »vorläufig keinen Ausweg ...«n

Aber nicht von der potentiellen Gefahr atomarer Konflikte erwarte ich die gefährlichste Bedrohung der Überlebenschancen der Menschheit, sondern von der potentiellen Bedrohung, die von der expansiven Dynamik der industriellen Zivilisation selbst ausgeht.

Es gibt eine schlechte deutsche Tradition der Technikfeindschaft, wie sie am kräftigsten in der Antithese Kultur-Zivilisation zum Ausdruck kam, die eine unrühmliche Rolle in der deutschen Weltkriegsideologie von 1914-1918 gespielt hat. Intention dieser Herabsetzung der Zivilisation war es, die deutsche - verspätete - Entwicklung als höherwertig und tiefer der an Komfort und Hygiene orientierten der westlichen Industrienationen entgegenzustellen. Was freilich die gleichen Ideologen nicht hinderte, den barbarischen Gebrauch technologischer Errungenschaften für den Krieg hymnisch zu besingen.14

13 Ebenda, S. 29.

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Solche Technikfeindschaft und Zivilisationsskepsis, wie sie noch in den kritischen Reflexionen von Benjamin, Adorno und Marcuse nachklingen, bekommen aber heute - im Zeichen des wachsenden ökologischen Bewußtseins - eine völlig andere Relevanz. Jetzt geht es nicht mehr um eine Diskreditierung der technologischen Errungenschaften als solcher und der durch sie ermöglichten zivilisatorischen Erleichterungen menschlicher Lebensbedingungen, sondern um die immer deutlicher sichtbar werdenden negativen Folgen, die eine unumschränkte Herrschaft der technischen Zivilisation über das für sie unentbehrliche natürliche Milieu mit sich führt. Die Dialektik des Fortschritts besteht darin, daß sein durchschlagender Erfolg die eigenen Voraussetzungen zerstört.

Denker des 18. Jahrhunderts pflegten das Bevölkerungswachstum als Indiz erfolgreicher rationaler Politik anzusehen. Völker, denen es gutgeht, vermehren sich, Bevölkerungswachstum ist ein unleugbarer Fortschritt. Er wird ermöglicht durch Senkung der Säuglingssterblichkeit, Steigerung der Lebenserwartung und damit des Durchschnittsalters - also letztlich durch Verbesserung der hygienischen Verhältnisse. - I. S. R. Eyre hat aus einer Mehrzahl von Prognosen für das Ende dieses Jahrhunderts eine Erdbevölkerung von 5,96 Milliarden als Mittelwert errechnet. »Ein Biologe«, meint er, »würde angesichts dieser Wachstumskurve des Bevölkerungszuwachses ein >Schwärm-Stadium< diagnostizieren. Man beobachtet dies häufig sowohl in der Natur wie im Labor, wenn eine bestimmte Spezies günstigen Umweltbedingungen bei gleichzeitigem Fehlen umweltbedingter Beschränkungen ausgesetzt ist, denen sie normalerweise während ihrer Evolution unterworfen wäre. Dieses Stadium ist zwangsläufig von kurzer Dauer und kann auf verschiedene Weise sein Ende finden; einmal durch eine Massenneurose, verursacht durch Überbevölkerung, wie man sie bei den skandinavischen

14 Siehe Hermann Lübbe: Die philosophischen Ideen von 1914. In: Politische Philosophie in Deutschland, Basel und Stuttgart 1963, S. 173-238.

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Lemmingen vermutet; zum anderen durch eine bedeutende Zunahme der natürlichen Feinde; oder es kann zu einer Verkettung von Umständen kommen, wie sie sich gut an einer Bakterienkultur im Labor beobachten läßt: die Kultur breitet sich so lange aus, bis sie den ganzen Nährboden besetzt, und nimmt dann, vom ursprünglichen Kern ausgehend, nach außen rapide ab, zum Teil aufgrund von Nahrungsmangel, zum Teil aufgrund von Vergiftung durch ihre eigenen Abfallprodukte.«15

Eyre hält einen Vergleich der in ihr »Schwärm-Stadium« getretenen Menschen mit einer luxurierenden Bakterienkultur keineswegs für überzogen. Es scheint ihm zumindest fraglich, ob es der von Generation zu Generation verfeinerten Technologie tatsächlich gelingen werde, eine Weltbevölkerung von 6 Milliarden im Jahre 2000 oder gar von 12 Milliarden im Jahre 2035 und von 25 Milliarden im Jahre 2065 zu ernähren.

Robert Heilbroner gibt eine noch düsterere Prognose: Das Hauptproblem des Bevölkerungswachstums betrifft »die Fähigkeit jener Regionen der Welt, in denen heute noch keine Bevölkerungsstabilität abzusehen ist, die zu erwartenden Bevölkerungszahlen auch nur auf dem nacktesten Subsistenzminimum zu versorgen...«16 Zwar sind einige der Entwicklungsländer noch unterbevölkert, »aber im allgemeinen deutet die demographische Situation nahezu überall in Südostasien, weiten Landstrichen Lateinamerikas und Teilen Afrikas auf eine grausame malthusianische Prognose hin. In Südostasien z. B. wächst die Bevölkerung mit einer Rate, die ihre Zahl binnen weniger als 30 Jahren verdoppeln wird; auf dem afrikanischen Kontinent insgesamt binnen 27 Jahren, in Lateinamerika binnen 24 Jahren. Während wir also erwarten können, daß die industrialisierten Regionen der Welt in 100 Jahren etwa 1,4 bis 1,7 Milliarden Menschen werden ernähren müssen, wird die unterentwickelte Welt, die heute insgesamt 2,5 Milliarden Menschen repräsentiert, zu diesem Zeitpunkt um die 40 Milliarden ernähren müssen, wenn sie weiterhin ungefähr alle Vierteljahrhundert ihre Bevölkerungszahl verdoppelt.«16

15 I. S. R. Eyre: Man the Pest, New York Review of Books, 8. 11. 1971. Zit. nach Kursbuch 33, Oktober 1973, S. 55 f.

16 Robert Heilbroner: An Inquiry, S. 20.

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Diese Entwicklung könnte nur dann verhindert werden, wenn es gelingt, ein Programm der Geburtenkontrolle einzuführen und/oder den Lebensstandard der Bevölkerung so anzuheben und ihre Lebensbedingungen so zu verändern, daß die Kinderzahl aus persönlichem Eigeninteresse von allein beschränkt wird. Bisher hat offenbar nur die Volksrepublik China ein solches Programm mit einiger Erfolgsaussicht initiiert. Sie strebt für das Jahr 2000 ein Null-Wachstum ihrer Bevölkerung an.

Wenn aber keine der beiden von Menschen bewußt geplanten Formen der Geburtenbeschränkung vorgenommen wird oder wenn sie erfolglos bleiben, dann wird - so betont Heilbroner -»die Einschränkung des Bevölkerungswachstums ... hauptsächlich durch die malthusianischen Kontrollen von Hunger und Krankheit und dergleichen geschehen...«. Nach einer Erhebung des Presidential Advisory Panel on World Food Supply litten 1967 60 Prozent der Weltbevölkerung an schwerwiegender Fehlernährung, die zu erheblicher körperlicher und geistiger Retardierung führt, während 20 Prozent an Unterernährung leiden oder sogar langsam verhungern. Diese Tatsachen führen zu einer »drei- bis vierzigmal höheren Kindersterblichkeit als in den USA, eine menschliche Tragödie ungeheuren Ausmaßes, aber zugleich auch ein demographisches Sicherheitsventil von großer Bedeutung.«17

Der Terminus »Sicherheitsventil«, den Heilbroner mit erzwungener positivistischer Sachlichkeit wählt, zeigt die moralischen - oder vielmehr amoralischen - Konsequenzen auf, zu denen eine Verweigerung bewußter Bevölkerungsplanung führt. Es ist eben nicht so, daß mit natürlicher -oder gottgewollter - Gewißheit für eine wachsende Zahl von Mündern automatisch genügend Nahrung vorhanden ist. Aber auch bei gewaltig gesteigerter Anstrengung zur ausreichenden Versorgung der Weltbevölkerung könnte eine derart wachsende Menschenmenge nicht vor dem Hunger bewahrt werden. Um nicht mißverstanden zu werden: Sowohl die gegenwärtige Weltbevölkerung als auch eine noch erheblich größere Anzahl von Menschen könnten bei rationaler Organisation der Nahrungsmittelerzeugung, bei Einschränkung der Rüstungsproduktion

17 Ebenda, S. 22.

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und gerechter Verteilung der Produkte (von denen heute erhebliche Teile für die Luxus-Haustiere der Bewohner der Industrieländer verbraucht werden, die damit den bedürftigsten Teilen der Weltbevölkerung entzogen sind) ohne weiteres ausreichend versorgt werden.

Heute und in den nächsten 10 oder 20 Jahren muß das Dilemma, von dem ich rede, noch nicht auftreten, aber daß es unvermeidlich auf uns zukommt, scheint festzustehen. Zyniker würden vielleicht sogar sagen, je besser wir die gegenwärtig noch lösbaren Ernährungsprobleme der Welt bewältigen, desto früher kommen die absolut unlösbaren auf uns zu. Das heißt aber: Die Menschheit kann vor der Aufgabe einer bewußten Planung ihres eigenen Wachstums nicht ausweichen, ebensowenig wie sie um die bewußte Planung der Erhaltung der natürlichen Lebensbedingungen (Biosphäre) herumkommt, die von der Industriezivilisation zerstört werden. Man kann diese Notwendigkeit auch als logischen Zwang erklären, der aus dem ersten Eingriff in die Natur folgte. Nachdem durch die Erfolge der Medizin die gleichsam »natürlichen« Stabilisatoren beseitigt wurden, die jahrtausendelang für eine relativ konstante Bevölkerungszahl gesorgt haben, muß jetzt auch der zweite Schritt getan und die natürliche Bremse (Krankheit, Epidemien, Hungersnöte) durch bewußte Beschränkung der Zahl der Nachkommen ersetzt werden. Man kann diesen Schritt vielleicht in einigen Ländern noch etwas hinauszögern, aber er scheint mir in absehbarer Zeit einfach unvermeidlich.

Doch wenden wir uns der Problematik der Steigerung der Welternährungsproduktion zu.

Die Dialektik des technologischen Fortschritts kann deutlich am Beispiel der Agrarproduktion abgelesen werden. Eine erhebliche Steigerung der Bodenerträge in den armen Ländern der Erde würde mit der gegenwärtigen Agrartechnologie unter anderem die vermehrte Benützung von Kunstdünger und Bioziden erfordern. Phosphate aber sind gar nicht in ausreichender Menge für eine generelle Anhebung des Hektarverbrauches auf nordamerikanisches oder europäisches Niveau vorhanden! Von 17,3 Millionen Tonnen P205 der Weltproduktion wurden 1968/69 13,1 Millionen Tonnen von den hochentwickelten Industrieländern Europas, Nordamerikas und der UdSSR ver-

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braucht, während der Rest der Welt (mit Ausnahme Japans und Chinas) nur 2,2 Millionen Tonnen verbrauchte. - Die Verwendung von Bioziden in dem Ausmaß, in dem sie in Europa, Nordamerika und Japan benützt werden, würde zugleich mit der Ausdehnung industrieller Kapazitäten in der »Dritten Welt« katastrophale Folgen für die Biosphäre - insbesondere Flüssen, Seen und Meere - haben. - Die enorm hohe Produktivität der amerikanischen Landwirtschaft hat - und das wird meist bei internationalen Vergleichen übersehen - einen unerhört hohen Energie-, Düngemittel-, Biozid- und damit Kapitaleinsatz pro Hektar zur Voraussetzung, ist also nur auf der Basis einer entsprechend hochindustrialisierten Zivilisation möglich. Rechnet man aber den Kalorienverbrauch sämtlicher für die Produktion eines agrarischen Erzeugnisses in den USA erforderlichen Produktionsmittel zusammen, so ergibt sich eine Negativbilanz: Eine Kalorie Nahrungsmittel kostet mehr als eine Kalorie, nämlich 3,5 Kalorien. Die ökonomische Bilanz ist nur dadurch noch immer »positiv«, daß billige Kalorien in die Produktion hineingesteckt und teure herausgeholt werden. Unter dem Gesichtspunkt einer Energiebilanz ist das Resultat jedoch - im Unterschied zu minder fortgeschrittenen, nicht industrialisierten Agrarwirtschaften - negativ.18

Diese Negativbilanz wird in dem Augenblick relevant, wo die Weltvorräte - vor allem an billiger Energie (wie Rohöl) - erschöpft oder die Preise entsprechend angehoben worden sind. Und dieser Zeitpunkt ist schon heute einigermaßen voraussehbar.

18 Siehe zu der Berechnung des Kalorienverbrauchs für die Agrarproduktion auch den Artikel von Roger M. Gifford in der australischen Zeitschrift »Search« (Vol. 7, Nr. 10, Oktober 1976): »An Overview of Fuel used for Crops and National Agricultural Systems«. Dabei stellte sich heraus, daß die »Energy ratio« (0/1) in den hochindustrialisierten Staaten USA, England, Holland und Israel jeweils unter 1 (also die Energiebilanz negativ) ist, während sie für Australien wegen der verhältnismäßig geringen Verwendung industriell erzeugter Düngemittel bei 2,8 liegt (USA 0,7, England 0,5, Holland 0,6, Israel 0,5). »The ... impression one gets from the data points is that, for the already industrialised Systems included in the Fi-gure, one has to make a large energy investment for a relatively small yield in-crease. The zoning lines, which group the crops into sugar crops (beet and cane), starch crops (cereals and potatoes) and fruits, vegetables and nuts, suggest that for a given support energy intensity (say 20 (J/ha) the ranking of ER is sugar, starch, Protein, Vitamins, oil (luxury). This is consistent with the energy requirements of the biosynthesis of these products« (S. 414b) (ER = Energy ratio).

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Nahrungsmangel und Vergiftung durch die eigenen Abfallprodukte führte bei der luxurierenden Bakterienkultur zum Umschlag ins Massensterben. Eine solche Perspektive für die Menschheit scheint freilich noch immer den meisten Zeitgenossen als unbegründeter Pessimismus: »Es ist«, meint Eyre, »als ob die Menschheit ein blindes Vertrauen in die Unsterblichkeit der industriellen Revolution entwickelt hätte; seit die große Expansion vor mehr als 150 Jahren begann, waren immer Rohstoffe vorhanden, und es ist undenkbar, daß das nicht weiterhin der Fall sein sollte! Man hält die Technologie für allmächtig. Selbst wenn die Ressourcen aufgebraucht sein werden, wird man schon irgendwie Ersatz dafür finden! Dieser Glaube an nicht spezifizierte künftige technische Neuerungen, vielleicht das beunruhigendste Merkmal unserer derzeitigen Gesellschaftsphilosophie, ist gänzlich unwissenschaftlich und sollte zurückgewiesen werden.«19

Daß Politiker in kurzfristigen Perspektiven handeln und denken, hängt mit dem Zwang zu gleichfalls kurzfristiger Legitimationserneuerung zusammen, dem sie in demokratischen Staaten unterliegen. Aber wenn Wissenschaft, die zumindest partiell von solchen Zwängen frei ist, sich gleichfalls auf middle range-Perspektiven beschränken lassen wollte, wäre das verhängnisvoll. Was immer die Motive der Finanzierer gewesen sein mögen, die beiden Studien des Club of Rome haben doch wenigstens zur Weckung des Bewußtseins dafür beigetragen, daß die auf unbegrenztes quantitatives Wachstum angelegte industrielle Zivilisation in absehbarer Zeit auf unüberwindbare Schranken stoßen wird. In einer schnellebigen Zeit, in der Moden rasch einander ablösen und selbst ernsthafte Fragen allzuleicht nur als die Alltagsmonotonie angenehm unterbrechende Reize konsumiert werden, besteht die Gefahr, daß Warnungen wie die des Club of Rome rasch als trivial und daher uninteressant wieder verdrängt werden, statt Anstoß zu einer weiterführenden selbstkritischen Reflexion der blinden Träger und Diener der industriezivilisatorischen Dynamik zu werden.

19 I. S. R. Eyre: Man the Pest, S. 67.

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Paradoxerweise orientieren sich noch immer die meisten politischen Eliten allein am Maßstab des industriellen Wachstums, obgleich längst bekannt ist, daß Lebensqualität auch von anderen Bedingungen abhängt und daß manche Arten des Wachstums mehr negative Folgen mit sich führen als Vorteile. Weder die »invisible hand« Adam Smith's noch technokratische Planung haben bisher die verhängnisvollen Auswirkungen einseitigen Wachstums verhindern können. Noch immer gibt es keine weltweit verantwortliche und fähige Form der »Steuerung«, die zugleich individuelle Freiheit, ausreichenden Wohlstand und Erhaltung der Ökosphäre garantiert. Die Menschheit - die Summe der Menschen auf der Erde - ist nach wie vor Objekt, nicht Subjekt ihres Schicksals. Noch immer spielen die souverän sich wähnenden Staaten »Geschichte«, während die industrielle Weltzivilisation - freilich in einem etwas anderen Sinn, als Arnold Gehlen das Wort gemeint hat - längst in die Epoche des post-histoire eingetreten ist.

Arnold Gehlen meinte noch 1962: »Beide Prozeßarten, der technische Fortschritt und die biologische Entwicklung unter dem Druck des Industriesystems, sind eingetreten in die unabsehbare Endlosigkeit, und daraus allein folgt der Zwang, die Epoche, in der wir leben, in ihrem wesentlichen Schwerpunkt als post-histoire zu bezeichnen, als nachgeschichtliches Stadium, so wie es im echten Sinne ein vorgeschichtliches gab.«20

Geschichte ist eine Form der Veränderung, die durch das nichtvorhersehbare Zusammenspiel menschlicher Organisationen in ihrer Auseinandersetzung mit der Natur und untereinander zustande kommt. Auf sie trifft zu, daß sie zugleich von Menschen gemacht und nicht gemacht wird. Ihr Resultat unterscheidet sich stets von dem, was die an ihrem Zustandekommen Beteiligten intendiert haben. Post-histoire meint bei Gehlen den durch die technologische Zivilisation und ihre immer perfektere Naturbeherrschung ermöglichten grenzenlosen »Fortschritt«, den allerdings auch er mit schweren Opfern an Humanität und personaler Integrität erkauft sieht. Ich meine dagegen mit post-histoire den Zwang, die selbstzerstörerisch gewordene Industriezivilisation durch eine bewußt geplante, qualitativ andere Weltzivilisation abzulösen.

20 Arnold Gehlen: Über kulturelle Evolutionen. In: Helmut Kuhn, Franz Wiede-roann (Hrsg.): Die Philosophie und die Frage nach dem Fortschritt, München 1%4, S. 220.

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Denkbar, daß Arnold Gehlen in seinem Briefwechsel mit Wolfgang Harich unter anderem auch über das Problem der post-histoire sich geäußert hat. Wolfgang Harich hat in seinem Interview mit Freimut Duve den Versuch unternommen, die Studien des Club of Rome als aktuelles Argument gegen den dynamischen Kapitalismus und zur Rechtfertigung eines begrenzte Konsummöglichkeiten Individuen autoritär zuweisenden (asketischen) Staatssozialismus zu interpretieren.21 Wenn Kapitalismus nicht leben kann, ohne zu expandieren, aber Expansion von einem bestimmten Punkt an selbstmörderisch wird, dann - so folgert er - muß der Kapitalismus abgeschafft werden. Seine Überholtheit folgert er nicht mehr - wie der traditionelle Marxismus - aus der erlahmenden Dynamik der kapitalistischen Produktionsweise infolge des tendenziellen Falls der Profitrate, sondern umgekehrt aus seiner selbstmörderisch gewordenen Dynamik. Ähnliche Überlegungen haben schon vor Jahrzehnten Benjamin, Horkheimer und Adorno angestellt.22

21 Wolfgang Harich: Der »Club of Rome« wird ernst genommen. Ein Gespräch über die Einschätzung der Wachstumsfrage in der Sowjetunion und der DDR. In: Technologie und Politik, aktuell-Magazin, Nr. 2, Juli 1975, S. 109ff.

22 Siehe z. B. Theodor W. Adorno: »Auf die Frage nach dem Ziel der emanzipierten Gesellschaft ... Zart wäre (als Antwort) einzig das Gröbste: daß keiner mehr hungern soll. Alles andere setzt für einen Zustand, der nach menschlichen Bedürfnissen zu bestimmen wäre, ein menschliches Verhalten an, das am Modell der Produktion als Selbstzweck gebildet ist. In das Wunschdenken des ungehemmten, kraftstrotzenden, schöpferischen Menschen ist eben der Fetischismus der Ware eingesickert, der in der bürgerlichen Gesellschaft Hemmung, Ohnmacht, die Sterilität des Immergleichen mit sich führt. Der Begriff der >Dynamik<, der zu der bürgerlichen >Geschichtslosigkeit< komplementär gehört, wird zum Absoluten erhöht, während er doch, als anthropologischer Reflex der Produktionsgesetze in der emanzipierten Gesellschaft, selber dem Bedürfnis kritisch konfrontiert werden müßte ... Nicht das Erschlaffen der Menschheit in Wohlleben ist zu fürchten, sondern die wüste Erweiterung des in Allnatur vermummten Gesellschaftlichen, Kollektivität als blinde Wut des Machens. Die naiv unterstellte Eindeutigkeit der Entwicklungstendenz auf Steigerung der Produktion ist selbst ein Stück jener Bürgerlichkeit, die Entwicklung nach einer Richtung nur zuläßt, weil sie, als Totalität zusammengeschlossen, von Quantifizierung beherrscht, der qualitativen Differenz feindlich ist. Denkt man die emanzipierte Gesellschaft als Emanzipation gerade von solcher Totalität, dann werden Fluchtlinien sichtbar, die mit der Steigerung der Produktion und ihren menschlichen Spiegelungen wenig gemein haben ... Vielleicht wird die wahre Gesellschaft der Entfaltung überdrüssig und läßt aus Freiheit Möglichkeiten ungenützt, anstatt unter irrem Zwang auf fremde Sterne einzustürmen. Einer Menschheit, welche Not nicht mehr kennt, dämmert gar etwas von dem Wahnhaften, Vergeblichen, all der Veranstaltungen, welche bis dahin getroffen wurden, um der Not zu entgehen, und welche Not mit dem Reichtum erweitert reproduzieren« (Minima Moralia, Frankfurt a. M. 1951, S. 295 f.). 23 Wolfgang Harich: Der »Club of Rome«, S. 122.

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Da aber Harich auf der anderen Seite an dem in der Stalinzeit entstandenen verkürzten Bild der künftigen kommunistischen Überflußgesellschaft festhält, die sich nur als faktisch unrealisierbar erweist, muß er folgerichtig auf den Übergang von der reglementierten sozialistisch-bürokratischen Formation zur freien kommunistischen verzichten und kann daher der bürokratischen Elite von heute unbegrenztes Daseinsrecht attestieren. Da Mangel nie aufhebbar sein wird und unter Bedingungen des Mangels Produkte zugeteilt werden müssen, Zuteilung und Verwaltung des Mangels aber administrativen Zwang nötig machen, ist die bürokratisch-sozialistische Zukunftsgesellschaft kaum noch von der zeitgenössischen zu unterscheiden.

Mit einer solchen Zukunftsvision konnte offenbar auch der konservative Denker Arnold Gehlen sich befreunden. Sie war genügend düster und nüchtern, um seinen eigenen Konzeptionen nahezukommen. Harich nennt freilich sein Zukunftsbild des egalitären bürokratischen Verteilungsstaates »Kommunismus«: »Eine sozialistische Gesellschaft..., die sich dazu entschlösse, das zu tun, und eigens zu diesem Zweck, unter Ausschaltung der Marktbeziehungen, des Geldes, auch des Leistungsprinzips, ein umfassendes System rationierter Verteilung einführte, das die Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse auf die Erhaltung der Biosphäre abstimmt, wäre bereits kommunistisch.«23 Dieser Sprachgebrauch ist zumindest unüblich, jedenfalls nahm Marx im Gegensatz zu Harich an, daß erst eine Gesellschaft, in der »jedem nach seinen Bedürfnissen« ausgeteilt werden kann und in der aus diesem Grunde keine staatliche Zwangsgewalt mehr nötig wäre, kommunistisch genannt werden könnte. Angesichts der ökologischen Problematik, die zum Verzicht auf die Utopie eines schlecht unendlichen Progresses zwingt, entschließt sich Harich dazu, das Ideal einer solchen Zukunftsgesellschaft den zeitgenössischen Realitäten des bürokratischen Etatismus anzu-

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passen. Er liefert - von den herrschenden Eliten ungefragt -eine neue Rechtfertigungsideologie. Gegen Harich wurde von vielen Seiten eingewandt, daß ohne Wirtschaftswachstum die Probleme des Hungers in der Welt und der Kultivierung der Menschheit nicht gelöst werden können.24

In solchen Einwänden stecken Äquivokationen. Was in Frage steht, ist ja nicht jede Axt von Wachstum, sondern das des heutigen industriellen Systems, das seine eigenen Grundlagen unvermeidlich zerstört und die Biosphäre abbaut. Es ist aber gewiß kein Zufall, daß Theoretiker des Sowjetmarxismus (im Unterschied zu einigen sowjetischen Naturwissenschaftlern) für diese Gefahr blind sind, weil sie in der Schule Stalins gelernt haben, in der Schaffung »optimaler Entwicklungsbedingungen für die

24 Siehe u. a. die bei Harich zitierten Autoren, ebenda, S. 19f.; dort auch ein Zitat von Herman Kahn (S. 124). In seinem Artikel »The 21" Century: no case for Despair« hat Herman Kahn seine optimistische Prognose wie folgt zusammengefaßt: »The main ingredients of my own projection for the economic future of man-kind are largely based on the concept that, on the average, GWP now grows at about 5 per cent yearly, and world population at about two per cent yearly - and thus GWP per capita (the difference) at about 3 per cent.

While I expect, first population growth and the GWP growth to slow down, and then both to more or less flatten out to something like zero growth by the middle of the 21" Century, this growth in GWP per capita might easily be maintained for 100 years or so. If this occurs, it would mean a change in the current GWP per capita by a factor of 20 - or a change from today's $ 100 to 20000 or so (in 1972 dol-lars).

The reason I assume that current tendencies towards decrease in population growth rates will persist is not so much due to belief that official programs for population control will, by themselves, be totally effective. It is more the belief that, as countries reach $ 1000 or $ 2 000 per capita, first the middle class - and then others - will tend to adopt more effective family limitation programs. This limi-tation will occur not because of increased death rates due to pollution and starva-tion, but because the middleclass style of life, under current conditions, seems almost to force this result.« Zwar räumt auch Kahn ein, daß manche Annehmlichkeiten des Lebens in dieser schönen Zukunft dahinschwinden werden - z. B. »the kind of secluded life style for the rieh«, der jedenfalls »close to populated areas« nicht mehr möglich sein werde, weil es einfach zu viele wohlhabende und sogar reiche Leute geben werde. »This is no reason for being against the masses beco-ming affluent, but it does mean society - particularly the upper- and upper-middle-class portion - will pay a price when it happens. However, this price will surely be small in comparison with the gain due to developments which have now become feasible for the first time in human history: the permanent elimination of famine and absolute poverty, and the advent of the good life for almost all« (zit. nach Economic Impact, 1974, Nr. 4, S. 21.).

25 Siehe z. B. Stalins Deutung der Rolle des Marxismus: »Um ... die Möglichkeit zu haben, auf die Bedingungen des materiellen Lebens der Gesellschaft einzuwirken und die Entwicklung dieser Bedingungen zu beschleunigen, muß die Partei des Proletariats sich auf eine gesellschaftliche Theorie ... stützen, welche die Bedürfnisse der Entwicklung des materiellen Lebens der Gesellschaft richtig zum Ausdruck bringt und infolgedessen fähig ist, die breiten Massen des Volkes in Bewegung zu setzen« (Über dialektischen und historischen Materialismus [1936], Berlin 1946, S. 21). »Stärke und Lebenskraft des Marxismus-Leninismus bestehen darin, daß er sich auf die fortschrittliche Theorie stützt, die die Bedürfnisse der Entwicklung des materiellen Lebens der Gesellschaft richtig zum Ausdruck bringt...« (ebenda, S. 22). Der eigentliche Sinn der sozialistischen Revolution wird damit in der Befreiung der Produktivkräfte gesehen, deren unbeschränktes Wachstum als eine Art »Norm« die politische Tätigkeit orientieren soll. Damit wird ein nach Marx wesentliches Mittel zum eigentlichen und letzten Zweck gemacht. Aus der großen relativen Bedeutung der Produktions- und Produktivitätssteigerung wird ein Absolutum.

»Auf dem Moskauer Symposium >Mensch und Umwelt< erklärte der sowjetische Genetiker Rytschkow: >Wir sollten endlich von den immer noch dominierenden Vorstellungen über die Entwicklung der Menschheit als Prozeß der weiteren >Un-terwerfung<, >Umgestaltung< und >Verbesserung< der Natur, der Schaffung einer >Biotechnosphäre< usw., d. h. vom extensiven Typ der Entwicklung des Lebens übergehen zur politischen, psychologischen, ethisch-ästhetischen und naturwissenschaftlichen Analyse der Möglichkeiten eines stationären Zustandes der Menschheit im System der Natur. Die Realisierung dieser Möglichkeit würde den Übergang zu einem intensiven Entwicklungstyp der menschlichen Form des Lebens bedeuten, wie er nach einer Phase der Expansion bei allen neuen Formen des Lebens zu beobachten ist« (zit. nach Wolfgang Harich: Der »Club of Rome«, S. 126 f.).

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Produktivkräfte« die oberste Leistungsnorm einer Gesellschaftsordnung zu erblicken,25 und weil ihre Pläne noch immer von dem Ziel motiviert werden, »die höchstentwickelten kapitalistischen Industrienationen einzuholen und zu überholen«. Nur von dissidenten ungarischen Marxisten werden in jüngster Zeit Zweifel an solchen Planzielen angemeldet und die demokratische Ausarbeitung des Gegenmodells eines qualitativ anderen Planes für ein sozialistisches Alltagsleben gefordert.26 Einstwei-

 

26 Siehe u. a. die Arbeiten von Agnes Heller, Mihaly Vajda und Andräs Hegedüs in: Die neue Linke in Ungarn, Berlin, Internat, marxistische Diskussion 45, 1974. Die Arbeit von Andräs Hegedüs und Maria Markus, Die Wahl von Alternativen und Werten in der Perspektivplanung von Distribution und Konsumtion (1969), nimmt unmittelbar zu der Frage der Planziele Stellung: »Es ist sicher wahr, daß die sich entwickelnden Gesellschaften - und die sozialistischen Länder sind hierin keine Ausnahme - dazu neigen, das Konsummodell und Zivilisationsmuster der wirtschaftlich entwickelten Länder zu übernehmen« (S. 114). 

 

Es kommt aber offensichtlich darauf an, daß »die sozialistischen Länder ein eigenes Konsummodell entwickeln, welches die wahren Werte und Errungenschaften der Zivilisation aufnimmt und gleichzeitig die Entstellungen, die die Manipulation in den westlichen Konsumweisen hervorgerufen hat, vermeidet« (ebenda). Wichtiger als die bloße Steigerung von Produktion und Konsum sei es, »diejenigen gesellschaftlichen Verhältnisse abzubauen, unter denen jedes Mitglied der Gesellschaft in Übereinstimmung mit dem erreichten wirtschaftlichen Niveau seine Persönlichkeit weitestgehend entwickeln und sie in seinem Alltagsleben, d. h. bei seiner Arbeit und in seiner Freizeit, verwirklichen kann« (S. 116). »... Ein völlig gleiches Wirtschaftsniveau erlaubt sehr verschiedenartige Lösungen in Hinsicht auf den Aspekt der Humanisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Unserer Meinung nach ist die richtige Kombination von Zielsetzungen der Optimalisierung und der Humanisierung die entscheidende Frage der langfristigen Planung« (S. 117). Als wichtigen Faktor bei der Umgestaltung des Alltagslebens erwähnen die Verfasser die Mitbestimmung der Arbeiter: »Wenn man daher den gesellschaftlichen Mechanismus schaffen könnte, der es den Arbeitern wirklich erlaubte, mitzureden und Kontrolle über die Entscheidungen hinsichtlich Produktion und Distribution auszuüben, würde dies die Kultivierung des Menschen und die Änderung des Konsums in diese Richtung viel eher stimulieren als jede Art Propaganda für kulturelle Werte, wie intensiv sie auch sein mag« (S. 129). »Sinnvoller Konsum kann nur entstehen in Verbindung mit sinnvollem Leben. Das sozialistische Zivilisationsmodell muß deswegen auf alle Lebensbereiche, von der Produktion bis zur Konsumtion, ausgedehnt werden« (ebenda). Diesen ungarischen Marxisten kommt es also auf die humane Gestaltung der Arbeits- und Lebensverhältnisse aller an, die dann mit Sicherheit auch eine Änderung der (zur Zeit deformierten) Bedürfnisstruktur und eine Abkehr vom Prestigekonsum usw. zur Folge haben würde. An die Stelle des verabsolutierten »Ideals« einer Produktionssteigerung (bei Stalin und seinen Nachfolgern) tritt hier das Ziel der Humanisierung, der die Produktion dienend untergeordnet bleibt.

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len aber erblicken die leitenden Planbürokraten noch immer ihre Aufgabe darin, den aus blinder Dynamik resultierenden Zustand westlicher Industrienationen möglichst weitgehend, wenn auch unter Umgehung von Arbeitslosigkeit und privater Eigentumsakkumulation - und mit geringfügigen Detail-Korrekturen - zu kopieren.

Robert Heilbroner hat übrigens die Harichsche Annahme, daß es staatssozialistischen Ländern leichter möglich sein werde, die Industriegesellschaft an ein stationäres Gleichgewicht anzupassen, in Frage gestellt. Auf kurze Frist werde sich dieses System zwar in dieser Hinsicht als überlegen erweisen, aber langfristig würden sich hier ähnliche Probleme ergeben wie in den kapitalistischen Industrieländern: »Auch eine sozialistische Gesellschaft müßte eine politisch akzeptable Verteilung der Einkommen unter ihrer Bevölkerung erreichen. Die Aufgabe, eine solche Verteilung der Einkommen durchzuführen, dürfte in einer Periode des schrumpfenden materiellen Outputs viel schwieriger sein als in einer Wirtschaft, in der alle Schichten ein Steigen ihrer Realeinkommen erwarten konnten. Daher wird ein demokratisch regierter Sozialismus sehr wahrscheinlich mit dem gleichen

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Hobbesschen Kampf um die Güter rechnen müssen wie ein demokratisch regierter Kapitalismus; zwar könnte ein autoritärer Sozialismus zweifellos irgendeine Lösung erzwingen, doch es scheint wahrscheinlich, daß dies ein Maß an Zwang zur Folge hätte, das den >Sozialismus< praktisch ununterscheidbar von einem autoritären >Kapitalismus< machen würde.«27

Robert Heilbroner nimmt also an, daß für die Durchsetzung eines Verzichts auf Realeinkommen beim oberen Drittel oder Viertel der Bevölkerung auch in einem autoritär sozialistischen Staat eher noch mehr Repression erforderlich sein würde, als gegenwärtig schon vorhanden ist. Den eigentlichen Grund für diese Prognose deutet er freilich nur an. Er liegt meines Erach-tens darin, daß die gegenwärtige Legitimationsbasis der politischen Eliten bürokratisch-staatssozialistischer Länder, wenn nicht ausschließlich so doch primär, in der Steigerung der Konsumgüterversorgung der Bevölkerung liegt, die zugleich auch dazu dient, die ökonomischen Privilegien einer kleinen Oberschicht für die Mehrheit erträglich erscheinen zu lassen. Das »Ein- und Überholen« der entwickelten kapitalistischen Industriestaaten ist insofern sicher eine höchst populäre (vielleicht die einzig wirkliche populäre) wirtschaftspolitische Losung. Die im Interesse der Erhaltung der Biosphäre notwendige Umstellung der Produktion würde aber nicht nur einen Verzicht auf das lineare quantitative Wachstum und damit auf rasch wachsende Gütermengen für alle, sondern zugleich auch einen energischen Abbau der ökonomischen Privilegien erforderlich machen. Ein Privilegienabbau, der nämlich allein den Wachstumsverzicht für die übrige Bevölkerung erträglich werden ließe. Es ist aber kaum anzunehmen, daß die ökonomisch privilegierten Schichten der staatssozialistischen Länder gegen einen Abbau ihrer Vorrechte weniger energisch vorgehen werden als die kapitalistischer Gesellschaften. Ihre Kampfweisen werden andere sein, aber anzunehmen, daß es nicht zu Kämpfen kommen wird, scheint auch mir unrealistisch.

Einen gewissen Vorteil politischer Eliten staatssozialistischer Länder gegenüber denjenigen kapitalistischer Staaten könnte man lediglich darin erblik-

27 Robert Heilbroner: An Inquiry, S. 67.

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ken, daß jene immerhin auf eine offizielle Doktrin sich berufen können, die ökonomische Privilegien verurteilt.

Allerdings hat diese Doktrin in den letzten 60 Jahren in der Sowjetunion längst eine Form angenommen, die sich auch zur Rechtfertigung von Vergünstigungen eignet. Wo die herrschende Staatspartei-Elite faktisch einziger Arbeitsgeber ist beziehungsweise alle Arbeitgeber direkt oder indirekt kontrolliert, kann sie auch den Bewertungsmaßstab der Leistung so gestalten, daß ihre eigenen Mitglieder bevorzugt bleiben. Andererseits gibt es einen klaren Interessengegensatz zwischen dem gemeinsamen politischen Interesse an der Aufrechterhaltung der kollektiven Herrschaft der Staatselite - das eine Nivellierung der Einkommen auch und gerade der Elitemitglieder erforderlich macht -und dem persönlichen materiellen Interesse jedes einzelnen Mitglieds dieser Elite. Für die Durchsetzung des ersten und ausschlaggebenden Interesses dürften sich vermehrt diktatorische Herrschaftsformen - unter Einschränkung jenes Maßes an Demokratie innerhalb des größeren Führungszirkels, der als kollektive Führung ungenau umschrieben wird - anbieten.

Zu Harichs autoritär-staatssozialistischer Rationierung läßt sich ein westliches Pendant denken, das nicht minder unfreiheitlich und inhuman wäre. Der Umweltschutz könnte als zusätzliches Mittel der Kapitalkonzentration dienen, da er Investitionen eines Ausmaßes verlangt, denen nur Großunternehmen gewachsen sind. Mit dem Übergang zum Monopol würde darüber hinaus der Konkurrenzmechanismus für Preisbildung vollends aufgehoben, und die Kosten für die umweltschonende Produktion wären leicht auf die Verbraucher abzuwälzen, denen zugleich mit vermehrter Werbung ihre reale Konsumeinbuße versüßt werden könnte. In beiden Fällen könnte freilich die Diskrepanz zwischen den Lebensmöglichkeiten der entwickelten und der sogenannten unterentwickelten Länder kaum aufgehoben werden. Schon heute zeigt es sich ja, daß nicht einmal innerhalb des sogenannten sozialistischen Lagers ein befriedigender Lastenausgleich möglich ist. Der nationalstaatliche Egoismus wurde mit der Beseitigung des Privateigentums an den großen Produktionsmitteln keineswegs beseitigt, zumal nationale Führungsgruppen ihre Funktion noch stets durch solche relativ ökonomischen Vorteile legitmieren, die sie der eigenen Bevölkerung zu verschaffen wissen.

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Gerade dann aber, wenn die Herrschafslegitimierung durch wachsende Konsumgüterversorgung nicht mehr im alten Umfang möglich ist, dürften darüber hinaus vermehrt nationalistische Ideologien als Mittel der sozialen Integration benützt werden. Aggressive Formen des Nationalismus könnten zugleich dazu dienen, die »Schuld« für die mißliche eigene Lage fremden Völkern und Staaten zuzuschieben. Die relative Besserstellung der eigenen Bevölkerung im Vergleich mit der anderer Länder wäre dann nicht Motiv für uneigennützige Hilfe, sondern im Gegenteil Anlaß zur Zufriedenheit mit der eigenen Regierung und zur Selbstgerechtigkeit.

Es wird behauptet, daß z. B. sowjetische Führer Forderungen chinesischer Kommunisten nach solidarischer und uneigennütziger Hilfe seinerzeit mit dem Argument zurückgewiesen hätten, die sowjetische Bevölkerung habe sich ihren jetzigen Lebensstandard durch eigene Kraftanstrengung und Entbehrungen erobert und es sei nicht von ihr zu verlangen, daß sie auch nur partiell auf diese Resultate eigener vergangener Leistungen verzichte. Ähnlich könnten natürlich auch Eliten industriekapitalistischer Staaten gegenüber Entwicklungsländern argumentieren. Die unendlichen Leiden des Industrialisierungsprozesses im 19. Jahrhundert würden so zum Rechtfertigungsmittel ihrer heutigen dominierenden Position auf dem Weltmarkt. Das Argument läßt sich historisch (durch Hinweis auf die Rolle der kolonialen Ausbeutung in der Frühphase der europäischen Industrialisierung), moralisch (durch die in einer schrumpfenden Welt evidente Mitverantwortung für die »Objekte« der von den Metropolen beherrschten Weltwirtschaft) und politisch (durch die Gefahr weltweiter Nord-Süd-Konflikte) kritisieren, aber das ändert nichts an der Tatsache, daß der nationalstaatliche Kollektivegoismus noch immer ein probates und verbreitetes Mittel sozialer Integration darstellt.

Die ökologische Frage hat die noch vor zehn Jahren gängige Vorstellung vom technischen Zeitalter und vom »technischen Staat« gründlicher ad absurdum geführt, als es noch so gute Argumente vermochten. Eine verbreitete Antwort auf die Heraus-

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forderung durch die Gefahr der Umweltzerstörung, Ressourcenerschöpfung und Überbevölkerung ist aber nur eine gelinde Modifikation des alten technizistischen Progressismus. Neue Faktoren müßten in die Kalkulation einbezogen werden, eine vermehrte manipulative Beeinflussung der Bevölkerung im Sinne künftigen Stillstands des Konsumwachstums usf. sei ins Auge zu fassen. Mit anderen Worten: Die Sachgesetzlichkeiten haben sich durch neue Erkenntnisse als andere herausgestellt, als sie Helmut Schelsky noch 1965 (»Auf der Suche nach der Wirklichkeit«, Köln 1965) sah, aber das Prinzip: die Anpassung der Menschen und ihrer Ziele an die vorgegebenen Sachgesetzlichkeiten, bleibt für Technokraten unverändert bestehen. Um die Notwendigkeit eines radikalen Bruchs mit diesem Denken deutlich zu machen, möchte ich zunächst Schelskys Idee des technischen Staates in Erinnerung bringen.

Schelsky geht von der Einsicht aus, daß die Menschen unserer Tage in den entwickelten Industrieländern immer mehr in einer vom Menschen selbst geschaffenen Umwelt und immer weniger in natürlich gewachsenen Milieus leben. Die Technik habe damit eine völlig neue Qualität erreicht und aufgehört, bloßes Mittel in der Hand des Menschen zu sein, um sich in ein eigenständiges System zu verwandeln, dem sich die Menschen fügen müßten: »Wir müssen den Gedanken fallenlassen, als folge diese wissenschaftlichtechnische Selbstschöpfung des Menschen und seiner neuen Welt einem universalen Arbeitsplan, den zu manipulieren oder auch nur zu überdenken in unserer Macht stünde. Weil es sich um eine Rekonstruktion des Menschen handelt, gibt es kein menschliches Denken, das diesen Prozeß als Plan und Erkenntnis seines Ablaufs vorausliefe.«28 In der Erkenntnis der Zukunft sei der Mensch daher heute angewiesen auf die Sachgesetzlichkeit, die in den Mitteln steckt. Die Erkenntnis dieser Sachgesetzlichkeiten ist nach Schelsky ausschließlich die Aufgabe hochspezialisierter Experten, und da auch die Politik auf die Befolgung der Sachgesetzlichkeiten angewiesen ist, fällt ihre traditionelle Aufgabe »prinzipiell aus, sie sinkt auf den Rang eines Hilfsmittels für Unvollkommenheiten des technischen Staates herab«.29

28 Helmut Schelsky: Auf der Suche nach Wirklichkeit, Düsseldorf 1965, S. 450. Zur Kritik siehe Habermas: Praktische Folgen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts. In: Festschrift für Wolfgang Abendroth, Neuwied 1968, S. 121 ff.

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Die eigentliche »Legitimation« allen Handelns liege daher in .der Sachgesetzlichkeit selbst, Herrschaft von Menschen über Menschen sterbe virtuell ab, und der souveräne Sachzwang des technologischen Systems diktiere das Verhalten von Regierungen wie von Bürgern. »Hier herrscht gar niemand mehr, sondern hier läuft eine Apparatur, die sachgemäß bedient sein will.«30 Was 1965 noch abstrakte Theorie war, können wir inzwischen mit anschaulichen Beispielen illustrieren. Der Kampf von Bürgerinitiativen gegen den Bau von Kernkraftwerken in Wyhl oder Kaiseraugst würde aus der Perspektive des technischen Staates von Schelsky als ein anarchistisches Rückzugsgefecht der funktionslos gewordenen Basisdemokratie gegen die Sachgesetzlichkeit des technischen Systems und seiner Experten erscheinen. Aufgabe der Regierungen wäre es in dieser Lage, durch sachdienliche »Motivmanipulation« dafür zu sorgen, daß solche Störungen des Vollzugs technischer Sachzwänge weitgehend unterbleiben. Jürgen Habermas hat die in der Schelskyschen Argumentation liegende Verschleierung sichtbar gemacht, die in der behaupteten totalen Autonomie der Sachzwänge des technischen Mittelsystems liegt. Die Verschleierung wird durch die Substituierung der Frage, »wie wirksam wir ein verfügbares oder zu entwickelndes Potential ausschöpfen«, für die Frage, »ob wir dasjenige wählen, das wir zum Zwecke der Befriedung und Befriedigung der Existenz wollen können«, erreicht.31 Eine Menschheit, die durch immer exakter werdende Prognosen auf die Grenzen der Machbarkeit, Manipulierbarkeit, Beherrschbar-keit der Natur verwiesen wird, kann es sich aber nicht leisten, die Frage nach den Zielen weiterhin zu verdrängen. An die Stelle der blinden »Herrschaft« des Automatismus eines von Menschen geschaffenen verselbständigten Mittelsystems muß -bei Strafe des Untergangs - die - bewußte - Gestaltung des Zusammenlebens von Mensch und Natur in Hinblick auf die Schaffung optimaler und dauerhafter Existenzbedingungen auf der Erde treten.

29 Ebenda, S. 456.
30 Ebenda, S. 457.
31 Jürgen Habermas: Technik und Wissenschaft als Ideologie, Frankfurt a. M. 1?70, S. 99.

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Carl Amery hat im Entwurf seiner »Thesen zum ökologischen Materialismus« das in der europäischen Zivilisation zu weltweitem Sieg gelangte Verhältnis Mensch-Natur als »biologischen Triumphalismus« bezeichnet. Gemeint ist damit eine Verabsolutierung des menschlichen Herrschaftsanspruchs über die gesamte Natur ohne Rücksicht auf die Lebensrechte anderer Gattungen. Das von Menschen geschaffene technische System, dessen Absolutheitsanspruch Schelsky prokalmiert, ist - auch in seiner Interpretation - nichts anderes als die verselbständigte Gestalt, die dieser unbegrenzte Herrschaftswille angenommen hat. »Dieser blinde, biologistische Triumphalismus (der Menschheit), nacheinander theologisch, philosophisch und >wissenschaftlich< begründet, wird zur Theorie-Praxis sämtlicher Naturbeherrschungssysteme von den Offenbarungsreligionen bis zum marxistischen Sozialismus. Aber erst in den beiden letzten Ausprägungsformen - der kapitalistischen und der sozialistischen Version des Industriesystems - wird dieser Triumphalismus zur planetarischen Gefahr Nummer eins, weil er durch die Waffen des Materialismus unterstützt wird.«32

Unter biologistischem Triumphalismus der Menschheit versteht Carl Amery »die Ausweitung des Art-Raums auf Kosten anderer«, eine Tendenz, die bald an ihre Schranken gestoßen wäre, wenn sie sich nicht auf die »überorganischen Potenzen« der menschlichen Intelligenz, die ein System technischer Naturbeherrschung entwickelt hat, hätte stützen können. Die katastrophalen Folgen ergeben sich also daraus, daß ein unerhört leistungsfähiges Mittel, das seine Entstehung der überbiologischen Potentialität des Menschen verdankt, in den Dienst eines blinden - Amery meint - biologistischen Expansionsdranges gestellt wird. Was Amery an dieser Stelle biologistischen Expansionsdrang nennt, charakterisiert er an anderen Stellen als »kurzfristige Nutzenkalkulation für eine Klasse, eine Gruppe oder auch für die gegenwärtig lebende Generation«.

32 Carl Amery: Natur als Politik. Die ökologische Chance des Menschen, Reinbek 1976, S. 183.

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An die Stelle solchen blinden, kurzfristigen Interessenkalküls müßte in einer »ökomaterialistischen« Perspektive das langfristige Überlebens- und Lebensinteresse aller treten. Eine Chance für die Entwicklung menschlicher Gesellschaften, die jene neue Perspektive realisieren, erblickt Amery in der Bildung einer Vielzahl demokratisch sich selbst verwaltender kleiner Wirtschaftseinheiten, die Planungsfehler und Umweltkatastrophen sehr viel besser und reibungsloser vermeiden könnten als eine weltweite Öko-Diktatur (wie sie Wolfgang Harich voraussieht): »Abbau von Zentralmacht in jeder nur denkbaren Form wird zu den vordringlichsten Aufgaben der ökologisch-materialistischen Praxis gehören.«33

Einer »globalen Öko-Diktatur mit ständigen drastischen Vollmachten und ständigen drastischen Korrekturen (die, wie historische Erfahrung zeigt, fast nie rechtzeitig erfolgen)« wäre eine solche dezentralisierte Form der ökonomischen wie politischen Selbstverwaltung - meint Amery - bei weitem vorzuziehen.

Die Dringlichkeit des radikalen Wandels, den Amery im Auge hat, unterstreicht seine sechste These:

»Entweder das Industriesystem bricht vor dem Öko-System oder das Öko-System bricht vor dem Industriesystem zusammen. Die Logik des Überlebens der Menschheit erfordert deshalb die raschestmögliche Zerstörung des Industriesystems, und zwar fast um jeden Preis.«34

Ähnliche Reflexionen wie Carl Amery hat - vom Standpunkt eines humanistischen Reformkommunismus aus - Roger Garaudy in seinem Buch <Le Projet Esperance> angestellt.35 In einem ersten Teil schildert er »die Sackgasse und die Drohungen des wilden (industriellen) Wachstums«, die am Beispiel der Gefahren der nuklearen Energieerzeugung (Strahlungsschäden) und der Unmöglichkeit ausreichender Energiebeschaffung auf anderen, minder gefahrvollen Wegen erläutert werden.36

33 Ebenda, S. 169ff. Der Vorschlag zur Bildung kleinerer überschaubarer wirtschaftlicher und politischer Einheiten findet sich auch bei Robert Heilbroner: An Inquiry, S. 98, und wenigstens andeutungsweise bei Olof Palme: Ist Zukunft machbar? Aufgabe Zukunft, Qualität des Lebens. Beiträge zur 4. internat. Arbeitstagung der IG Metall, 11.-14. 4. 1972, Köln 1972, S. 116.

34 Carl Amery: Natur als Politik, S. 184.

35 Roger Garaudy: Le Projet Esp6rance, Paris 1976.

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Damit stellt sich die Aufgabe, »ein Gesellschafts- und Wachstumsmodell zu entwickeln, das nicht auf einem derartig wahnsinnigen Energieverbrauch beruht und nicht dem Wachstum des Profits und der Macht weniger, sondern der menschlichen Entfaltung aller dient« (S. 23).

Die Notwendigkeit dieser Korrektur wird dann durch den Widersinn des individuellen motorisierten Nahverkehrs und seiner Gesamtkosten (Autobahnen kosten achtmal mehr als Eisenbahnen, der Energieaufwand der Eisenbahn beträgt nur 20 Prozent des Autotransports usw.) erläutert. 

Während die USA 1965 in Vietnam 1.724 Tote und 6.000 Verwundete verloren haben, waren im gleichen Jahr auf den amerikanischen Straßen 49.000 umgekommen und 3,5 Millionen verwundet worden!

 

36 Robert Heilbroner (An Inquiry) sieht die Hauptgefahr in der durch die wachsende Energieerzeugung hervorgerufenen Erwärmung der Atmosphäre. Selbst wenn die Probleme der Rohstoffbeschaffung gelöst werden könnten, werde die Grenze des industriellen Wachstums von der Toleranz der Ökosphäre für die Absorption von Wärme abhängen. »Nach den Berechnungen von Robert Ayres und Allen Kneese über die Ressourcen der Zukunft stehen uns ... folgende Gefahren bevor: >Die gegenwärtige Energie-Emission beträgt etwa 1/15000 der absorbierten Sonnenenergie. Aber wenn die gegenwärtige Zuwachsrate weitere 250 Jahre anhält, dann würde die Emission 100% der absorbierten Sonnenenergie erreichen. Die daraus folgende Temperatursteigerung auf der Erde betrüge etwa 50°C - ein für menschliches Leben völlig unerträglicher Zustand< {R. U. Ayres und A. V. Kneese: Economic and Ecological Effects of a Stationary State, Resources for the Future, Reprint Nr. 99, Dez. 1972, S. 15).« Nach 150 Jahren würde sich die Erdatmosphäre um 3 Grad erwärmen, aber von da an würden die weiteren Schritte gefährlich. »In Wirklichkeit können ernstliche klimatische Schwierigkeiten auftreten, lange bevor diese gefährliche Schwelle erreicht ist. Die Klimatologen sehen spürbare Perturbationen voraus, sobald die von Menschen erzeugte globale Hitze-Emission - in etwas mehr als einem Jahrhundert - 1 % der Sonnenstrahlung erreicht. Dieser Zeitplan setzt jedoch voraus, daß die Rate der Energiesteigerung nicht von ihrem heutigen Wert einer jährlichen Zunahme von 4% auf etwa 5% oder höher steigen wird...« (Heilbroner: An Inquiry, S. 35, 36). Nun könnten einige dieser Gefahren durch Umstellung auf energiesparende Produktion und Nutzung vorhandener Energie (der Sonne etc.) hinausgeschoben werden. »Die unmittelbare Katastrophe steht also (für Heilbroner) nicht zur Debatte. Vielmehr erscheint die unausweichliche Notwendigkeit, das industrielle Wachstum zu beschränken, als die zentrale Herausforderung ... Alle Zeichen deuten in die gleiche Richtung: das industrielle Wachstum muß mit Sicherheit zurückgehen und wahrscheinlich zum Stillstand kommen, sehr wahrscheinlich lange bevor die klimatische Gefahrenzone erreicht ist« (ebenda, S. 37f.).

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Aber Garaudy geht auch auf die Motive der Automobilbegeisterung ein:

»Unsere Städte und das ganze Land werden dem Auto zum Opfer gebracht, nicht nur physisch, sondern auch moralisch, indem das Auto zu einem Kompensationsmittel unserer Frustrationen gemacht wird. Der von Arbeit, Schule und Eltern bedrückte Mensch entfesselt sich am Steuer seines Autos oder seines Motorrades, die ihm als kompensatorische Drogen dienen, die die archaischsten seiner Bewußtseinsschichten wiederbeleben und das Individuum in einen schwachsinnigen Aggressor verwandeln, sobald er das Steuer in die Hand nimmt und auf das Gaspedal drückt.«37

Eine nicht minder katastrophale Folge des industriellen Wachstums ist die Verstädterung, die durch die private Grundstücksspekulation energisch vorangetrieben wird. Auch Rüstung und Rüstungsgeschäft gehören in dieses Bild sowie die rasch wechselnden Moden mit ihrer Beschleunigung des sogenannten moralischen Verschleißes und die Produktion von bewußt kurzlebig gemachten Gebrauchsgegenständen. In diesem »univers consommationnaire«, meint Edgar Morin, »wird unsere Gesellschaft nicht von einer ökonomischen Rationalität geleitet, sondern somnambulisch von einer Dialektik irrender Bedürfnisse und blinder Kräfte getrieben«.38

Diese Wachstumsgesellschaft ist aber auch eine »societe criminogene«39 - Diebstahl, Raubmord, Erpressungen, Drogenmißbrauch sind ebenso viele »Antworten« auf die Reize, die von der Konsum-Konkurrenz-Gesellschaft ausgehen. Streß und Herzinfarkt sind die Folgen bei den »erfolgreich« Angepaßten, Kriminalität und Drogensucht die Reaktion der Unangepaßten. Wenn der Sozialismus eine Lösung der Probleme der zeitgenössischen westlichen Gesellschaften geben will, dann muß er imstande sein, »ein anderes Entwicklungsmodell zu entdecken, das nicht nur ökonomisch, sondern auch menschlich ist. Es kann nur zustande kommen zusammen mit... einem neuen Zivilisationsprojekt.«40 Die Zivilisation, die er ablösen muß, ist aber nicht nur die kapitalistische Marktökonomie mit ihren bourgeoisen Werten, sondern auch die staatskapitalistische oder staatssozialistische Sowjetzivilisation.

 

37 Roger Garaudy: Le Projet Esp6rance, S. 33 f.

38 Edgar Morin: Pr6face zum Buch von Andre Cadet und Bernard Cathelat, La Publicite, Paris 1968. Zit. nach Roger Garaudy: La Projet Esperance.

39 Siehe Jean Pinatel: La societe criminogene, Paris 1971.

40 Roger Garaudy: Le Projet Esperance, S. 71.

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»Der zentrale Plan wird von den sowjetischen Führern nur als eine andere Methode angesehen, um die gleichen Ziele zu erreichen wie der sogenannte >freie< Markt: das ökonomische Wachstum. Wir stehen heute vor einem doppelten Scheitern: Im Westen gibt es keine >freien Unternehmungen mehr - im Osten keinen Sozialismus.« Beide Wachstumsmodelle werden von Garaudy abgelehnt, weil sie die »kulturelle Kreativität ersticken und pervertieren - im Westen durch die Kommerzialisierung, im Osten durch den dogmatischen Dirigismus«.41

Eine Überwindung der industriellen Zivilisation in ihren beiden zeitgenössischen Spielarten hält Garaudy nur auf dem Wege über eine »Sozialisierung des Marktes, des Staates und der Kultur von unten« für möglich (Kapitel 4-6 seines Buches). »Diese wirkliche >Sozialisierung< des Habens, der Macht und des Wissens setzt voraus, daß die Institutionen und Gesetze mit den Realitäten von heute in Übereinstimmung gebracht werden.« So hat sich z. B. herausgestellt, daß die Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmitteln keineswegs die Entfremdung des Industriearbeiters in Betrieb, Staat und Kulturleben schon aufhebt, man muß daher »neue, unbekannte Formen der Machtübergabe im Betrieb und in der Gesamtgesellschaft definieren und Kultur und Erziehung neue Ziele stellen«.42

Was Garaudy an den zeitgenössischen Staaten sowjetischen Typs kritisiert, ist die Tatsache, »daß weder die fundamentalen Optionen über die Ziele der Produktion noch die Entscheidungen hinsichtlich der Prioritäten in der Verteilung der Ressourcen, noch die allgemeine Organisation der Wirtschaft durch demokratische Kontrolle von unten geregelt werden, sondern ausschließlich >von oben< und aufgrund von Kriterien des Wachstums, die denjenigen kapitalistischer Staaten ziemlich nahe kommen«.43 Eine tiefgreifende Reform der Betriebsorganisation - wie sie sogar von progressiven Unternehmern für notwendig erachtet werde44 - soll dazu führen, daß sich die Arbeitenden an

41 Ebenda, S. 72 f.

42 Ebenda, S. 90.

43 Ebenda, S. 95.

44 Ebenda, S. 102.

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der Organisation der Produktion und der Gestaltung der Produktionsprozesse aktiv, informiert, bewußt beteiligen können.

Damit soll aus dem Betrieb schließlich eine »lebendige Zelle des gesellschaftlichen Gefüges werden«. Seine drei Dimensionen beschreibt Garaudy wie folgt: »Ökonomisch: mit maximaler Effizienz und optimaler Verwaltung Güter und Dienste von unbestreitbarem sozialem Nutzen erzeugen; sozial: diese Aufgabe unter solchen Bedingungen verwirklichen, daß sie zur Entfaltung des Menschen und nicht zu seiner Entfremdung führt; kulturell: so, daß sie nicht nur der Fachbildung und den kurzfristigen Bedürfnissen des Betriebes dient, sondern dem Arbeiter eine ökonomische Ausbildung verschafft, die es ihm erlaubt, die Leitung der Unternehmung zu verstehen und an ihr teilzuhaben, ihm eine ästhetische Ausbildung verschafft, die seine Fähigkeit zur Reflexion über den kreativen Akt und die kreative Antizipation entwickelt, ihm eine prospektive Ausbildung gibt, die als eine Reflexion über die Zwecke und Ziele zu verstehen ist und der Stimulierung der Kreativität eines jeden dient.«45

Aber nicht nur im Bereich der Produktion, auch in dem der Konsumtion müssen und können nach Garaudy die Entfremdungen abgebaut werden. Erst dann werde es auch gelingen, andere und, so darf man annehmen, sinnvollere und vernünftigere Bedürfnisse zu entwickeln und damit auch von dieser Seite den Zwang zur linearen Produktionssteigerung zu überwinden. Solche Transformation der Verhaltensweise ist aber an neue Formen des Zusammenlebens gebunden, wie sie am Beispiel des neuen Betriebes illustriert wurden.

Damit wird eine Art Umkehr und Wende anvisiert, die sich radikal von den vergangenen Revolutionen unterscheidet: »Die neuzeitlichen Revolutionen von der Französischen Revolution bis zu den sozialistischen, die Marx und Lenin entworfen haben, basierten auf dem Postulat, daß die Entwicklung der Naturwissenschaften und Produktionstechniken ein Selbstwert sei und die Voraussetzung, wenn nicht die einzige, so doch die wesentlichste für die volle Entfaltung des Menschen - ja aller Menschen - bilde. Dagegen kann von dem Moment an, wo das

45 Ebenda, S. 112 f.

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Postulat der Renaissance, Descartes' Ruf nach einer Wissenschaft, die uns zu Herren und Eigentümern der Natur macht<, in Frage gestellt wird, das heißt von dem Augenblick an, wo man - im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, und vor allem nach 1968 - sich bewußt wird, daß die Wissenschaft und die Produktionstechnik zwar extrem mächtige Mittel, aber keine Zwecke und Ziele liefern können und unserem Leben wie der Geschichte keinen Sinn zu geben vermögen -, die theoretische Grundlage einer Revolution nicht mehr das Gesetz der Übereinstimmung des Charakters der Produktionsverhältnisse und der Produktivkräfte mit den politischen und kulturellen Überbauten sein, die der unbehinderten Entfaltung der Produktionstechnik zu dienen haben, sondern vielmehr ein Gesetz der Transzendenz, das von uns fordert, unsere Ziele nicht mehr in einer >Wissenschaft< zu suchen, die in Wahrheit nur die westliche, positivistische Wissenschaft war, sondern in einer weit umfassenderen Weisheit, die es uns erlaubt - zusammen mit den Menschen der anderen Kontinente - die Gesamtheit unserer Beziehungen zur Natur und zu den Mitmenschen zu überdenken - mit der stets offenen Totalität künftiger Möglichkeiten.«46

Lassen Sie mich nach diesem Exkurs zu zwei bedeutenden zeitgenössischen Kritikern der industriellen Wachstumsgesellschaft zu meinen eigenen Reflexionen zurückkehren, die den eben skizzierten durchaus verwandt sind.

 

46 Ebenda, S. 189ff. Im Gegensatz zu Garaudy hält Robert Heilbroner eine Überwindung der Entfremdung in den Sphären der Produktion und des Konsums offensichtlich für unmöglich. Kapitalismus und Sozialismus seien beide insofern erfolgreich gewesen, als es ihnen gelungen sei, »den materiellen Wohlstand zu heben«, aber »beide waren unfähig, ein Klima sozialer Zufriedenheit zu schaffen« (S. 53). Schuld daran trage die beiden gemeinsame Industriezivilisation. Da Heilbroner nicht weiterfragt, muß er notwendig zu einer düsteren Prognose gelangen und vermehrte staatliche Zwangsgewalt, aufgenötigten Konsumverzicht und, als Mittel der sozialen Integration, Nationalismus akzeptieren (S. 79ff.). Eine Gesellschaft, in der nicht mehr »ein solches als Vernunft verkleidetes Kalkül der Eigensucht« wie in den heutigen Industriegesellschaften hochgehalten wird, kann sich Heilbroner nicht gut vorstellen (S. 83). Er nimmt aber an, daß die Fähigkeit zur Identifikation (mit der Nation) dann, wenn es um das schiere Überleben (der Enkel) gehen wird, eine positive Rolle spielen kann.

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Die von Amery und anderen erhoffte und dringend für notwendig gehaltene ökologische Zivilisation setzt - im Unterschied zu Schelskys technischem Staat - ein bewußt steuerndes gesellschaftliches Subjekt voraus. Sie kann in einer humanen und freiheitlichen Gestalt nicht von einem Team von Experten im Dienste einer weltweiten Ökodiktatur erwartet werden, sondern allein von einer zutiefst veränderten Verhaltensweise möglichst vieler Menschen, die sich freiwillig demokratisch vereinigen. Die Epoche, in der die Hoffnungen sich auf den unendlichen Progreß richteten, geht zu Ende. Ein Zeitalter, für das der Mensch ohne jede Einschränkung zur Herrschaft über die Natur sich ermächtigt fühlte, ist in Frage zu stellen. Gerade um eines durchaus noch möglichen Fortschritts in Richtung auf humane Lebensformen in einer befriedeten Symbiose der Menschheit mit der nichtmenschlichen Natur willen muß der grenzenlose lineare technische Fortschritt kontrolliert und begrenzt werden. Ohne noch die ökologische Krise zu kennen oder vorauszuahnen, hat Karl Löwith schon 1962 in seinem Vortrag »Das Verhängnis des Fortschritts« diese Notwendigkeit aufgewiesen. Er führt dort das europäische Fortschrittsdenken auf seine christlichen Ursprünge zurück und konfrontiert es mit dem griechischen Denken, für das der physische Kosmos noch etwas Göttliches war, in das der Mensch nicht ungesühnt eingreifen darf. »Der Mensch empfängt die Gaben des Prometheus ... zusammen mit ihren Gefahren. Eine nackte Verherrlichung des technischen Könnens hat es im Griechentum nie gegeben. Prometheus befreit zwar die Menschen durch seine den Göttern gestohlene Gabe, er erlöst sie aber nicht, vielmehr wird er selber von Zeus gefesselt und bestraft. Und wir selber, die wir am Ende dieser ursprünglichen Geschichte stehen ..., sind auch sowohl befreit wie gefesselt durch unser Können. Daß die Befreiung fesseln kann, hatte der Fortschrittsoptimismus des 18. und 19. Jahrhunderts nicht vorausgesehen ... Er selbst, der Fortschritt, schreitet nun unaufhaltsam fort, wir können ihn nicht mehr aufhalten und umkehren, was ein merkwürdiges Licht auf Hegels Theorie wirft, daß die Geschichte eine Geschichte der fortschreitenden Freiheit sein soll.«47

 

47 Karl Löwith: Das Verhängnis des Fortschritts. In: Helmut Kuhn, Franz Wiede-mann (Hg.): Die Philosophie und die Frage nach dem Fortschritt, München 1964, S.28.

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Die Griechen sahen in dem Eingriff in den göttlichen Kosmos ein Sakrileg; das gilt für die moderne christliche und nachchristliche Haltung gegenüber der Natur nicht mehr. Ihr ist die Natur nichts als ein »in mathematischen Gleichungen darstellbares Beziehungssystem von Energiequanten«. Und Karl Löwith schließt mit der leise vorgetragenen Warnung: »Solange wir nicht unser gesamtes Verhältnis zur Welt von Grund aus revidieren, sondern mit der biblischen Schöpfungsgeschichte und den christlichen Begründern der modernen Naturwissenschaft voraussetzen, daß die Welt der Natur für den Menschen da ist, ist nicht abzusehen, wie sich an dem Dilemma des Fortschritts etwas ändern soll.«48

Soll freilich die von Karl Löwith angedeutete Alternative zum selbstzerstörerisch gewordenen technizistischen Fortschritt nicht als Aufruf zum Regredieren mißverstanden werden, muß auch Adornos Mahnung vor einer reaktionären Verachtung des Fortschritts und sein Hinweis auf dessen Dialektik gehört werden. »Die sprengende Tendenz des Fortschritts ist nicht einfach bloß das Andere der Bewegung fortschreitender Naturbeherrschung, ihre abstrakte Negation, sondern erheischt die Entfaltung der Vernunft durch die Naturbeherrschung. Nur die Vernunft, das ins Subjekt gewandte Prinzip gesellschaftlicher Herrschaft, wäre fähig, diese abzuschaffen.«49 Was aber Adorno einstweilen nur von gesellschaftlicher Herrschaft sagt, das gilt -in gewissen Grenzen - auch für die Herrschaft über Natur. »Die Möglichkeit des sich Entringenden wird vom Druck der Negati-vität gezeitigt« - das könnte man sehr wohl auch auf die Erfahrungen mit der vom technischen System bewirkten Negativität anwenden. »Andererseits prägt Vernunft, die aus Natur heraus möchte, diese erst zu dem, was sie zu fürchten hat«, erst die von menschlicher Technik entfesselte Natur, etwa die Atomenergie,

Neuere Literatur über den FortschrittsbegrifT: R. W. Meyer: Das Problem des Fortschritts - heute, Darmstadt 1969. E. Brück: Die Idee des Fortschritts. 9 Vorträge über Wege und Grenzen des Fortschrittsglaubens, München 1963. Leslie Skiair: Die Soziologie des Fortschritts, München 1972.

48 Karl Löwith: Das Verhängnis des Fortschritts, S. 29. Siehe auch Fußnote 23.

49 Theodor W. Adorno: Fortschritt. In: Helmut Kuhn, Franz Wiedemann (Hrsg.): Die Philosophie und die Frage des Fortschritts, S. 39.

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macht jene - die Natur - zu einer schier übermächtig bedrohlichen Gewalt. »Dialektisch, im strengen unmetaphorischen Sinn, ist der Begriff des Fortschritts darin, daß sein Organon, die Vernunft, eine ist; daß nicht in ihr eine naturbeherrschende und eine versöhnende Schicht nebeneinander sind, sondern beide all ihre Bestimmungen teilen. Das eine (das der Naturbeherrschung) schlägt nur dadurch in sein anderes um, daß es buchstäblich sich reflektiert, daß Vernunft sich auf Vernunft anwendet und in ihrer Selbsteinschränkung vom Dämon der Identität sich emanzipiert.«50

 

50) Ebenda. Siehe auch Max Horkheimer, Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung: »Nimmt Aufklärung die Reflexion auf dieses rückläufige Moment nicht in sich auf, so besiegelt sie ihr eigenes Schicksal. Indem die Besinnung auf das Destruktive des Fortschritts seinen Feinden überlassen bleibt, verliert das blindlings pragmatisierte Denken seinen aufhebenden Charakter und darum auch die Beziehung auf Wahrheit. An der rätselhaften Bereitschaft der technologisch erzogenen Massen, in den Bann eines jeglichen Despotismus zu geraten, an ihrer selbstzerstörerischen Affinität zur völkischen Paranoia, an all dem unbegriffenen Widersinn wird die Schwäche des gegenwärtigen theoretischen Verständnisses offenbar« (S. 7 f.). An der zum Positivismus heruntergekommenen aufgeklärten Vernunft machen Horkheimer und Adorno das Moment des Phantasieverbots, der Fixierung auf das je schon Bestehende, Immergleiche sichtbar, das schließlich Wissenschaft und Technologie selbst in Ideologie verwandelt und die Menschen an eine tote Dingwelt (und deren Gesetzmäßigkeiten) versklavt. Aus dem unre-flektierten und unkontrollierten Herrschaftswillen, der solcher Art Wissenschaft zugrunde liegt, resultiert die Anpassung an das zu beherrschende »Objekt«. Das vermeintliche Subjekt wird seines Subjektcharakters entkleidet und dem Objekt immer ähnlicher. »Die disqualifizierte Natur wird zum chaotischen Stoff bloßer Einteilung und das allgewaltige Selbst zum bloßen Haben, zur abstrakten Identität« (S. 20). »Jeder Versuch, den Naturzwang zu brechen, indem Natur gebrochen wird, gerät nur um so tiefer in den Naturzwang hinein. So ist die Bahn der europäischen Zivilisation verlaufen. Die Abstraktion, das Werkzeug der Aufklärung, verhält sich zu ihren Objekten wie das Schicksal, dessen Begriff sie ausmerzt: als Liquidation. Unter der nivellierenden Herrschaft des Abstrakten, die alles in der Natur zum Wiederholbaren macht, und der Industrie, für die sie es zurichtet, wurden schließlich die Befreiten selbst zu jenem >Trupp<, den Hegel als das Resultat der Aufklärung gezeichnet hat« (S. 24). »Die reine Immanenz des Positivismus, ihr letztes Produkt, ist nichts anderes als ein gleichsam universales Tabu. Es darf überhaupt nichts mehr draußen sein, weil die bloße Vorstellung eines Draußen die eigentliche Quelle der Angst ist« (S. 27). Roger Garaudy hat diese Einsicht in die Forderung nach qualitativer Transzendenz umgewandelt. Herbert Marcuses »Eindimensionaler Mensch« (Neuwied 1967) schildert anschaulich die solchem Positivismus zugeordnete moderne Zivilisation. Bei Horkheimer und Adorno steht am Ende der kritsierten Entwicklung: 

»Diesem Denken ... wird die Rechnung präsentiert: die Weltherrschaft über die Natur wendet sich gegen das denkende Subjekt selbst, nichts wird von ihm übriggelassen, als eben jenes ewig gleiche Ich denke, das alle meine Vorstellungen muß begleiten können. Subjekt und Objekt werden beide nichtig ... In der Reduktion des Denkens auf mathematische Apparatur ist die Sanktion der Welt als ihres eigenen Maßes beschlossen. Was als Triumph subjektiver Rationalität erscheint, die Unterwerfung alles Seienden unter den logischen Formalismus, wird mit der gehorsamen Unterordnung unters unmittelbar Vorfindliche erkauft« (S. 39).

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Carl Amery und Karl Löwith haben auf die Notwendigkeit einer Abkehr vom naiven Anthropozentrismus verwiesen, Adorno darauf, daß die Vernunft, welche allein Herrschaft zu kritisieren und damit zu ihrem Abbau beizutragen vermag, die gleiche ist, die sich im Zuge wachsender Herrschaft über die Natur entwik-kelt hat; daß aber erst die auf sich reflektierende, sich auf sich anwendende Vernunft zur »Selbsteinschränkung« verabsolutierter Herrschaft und zur Versöhnung von Mensch und Natur, Mensch und Mitmensch führen könne. Meine Frage nach dem Subjekt, das die Entwicklung steuern könnte, ist freilich durch diese Hinweise noch nicht beantwortet. Sie verweisen auf die Notwendigkeit einer Abkehr von Haltungen und Einstellungen, die gerade eben erst ihren Siegeszug um die Welt beendet haben.

Die Dimension des Problems in der Welt des Bewußtseins wird deutlich, aber die Chancen der Verwirklichung in der Welt der Gesellschaften, Völker, Staaten bleiben im dunkeln. Ich möchte deshalb noch einmal mit einer Reflexion einsetzen, die zu dem bisher Gesagten parallel läuft. Dabei gehe ich nicht von dem technologischen Fortschritt, sondern von dem individuellen Verhaltenstypus aus, der sich in den letzten Jahrhunderten, nachdem bürgerliche Produktionsverhältnisse geschaffen wurden, mehr und mehr durchgesetzt hat. Es ist die Haltung des »homo oeconomicus«, des seine persönlichen Vorteile rational kalkulierenden »individualistischen« Egoisten.51 Mit ihm rechnen unsere ökonomischen Modellkonstrukteure, auf ihn bezie-

 

51 Wenn ich hier vom Typus des »homo oeconomicus« rede, dann habe ich nicht die abstrakte Konstruktion der Ökonomen im Auge, sondern den realen Verhaltenstypus, wie er durch eine Markt- und Konkurrenzgesellschaft sich im Laufe der Jahrhunderte herausgebildet hat.

Eine höchst eindrucksvolle Kritik der ideologischen Implikate der »Rationalität« unserer Ökonomen hat der Konstanzer Philosoph Friedrich Kambartel in seinen »Bemerkungen zum normativen Fundament der Ökonomie« geliefert. Er weist dort nach, daß gerade dadurch, daß Ökonomen die kritische Reflexion auf Normen unterlassen, unbewußt die denaturierten Verhaltensweisen der existierenden Durchschnittsindividuen zur Norm erhoben werden. So hält Kambartel das unbefragte Ausgehen von den »vorhandenen Bedürfnissen« für ein bedenkliches Versäumnis. Wenn Ökonomie nur dort ihren Ort hat, wo knappe Mittel zur Befrie-

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digung von Bedürfnissen vorhanden sind, dann sollte zunächst einmal eine kritische Reflexion auf diese Bedürfnisse einsetzen: »Z. B. könnten Interessen schlicht nach Aufklärung über unbewußt zugrunde liegende Bedürfnisse oder unbekannte Konsequenzen ihrer Verfolgung entfallen. So ist der Hinweis auf den zu erwartenden Lungenkrebs kein ökonomisches Argument gegen das Rauchen. Wenn wir eine Modifikation faktischer Interessen, die aufgrund nicht ausreichender Verfügung über Güter oder Arbeit im engeren Sinne nötig wird, eine ... ökonomisch bedingte Interessenmodifikation nennen, so können wir kurz sagen: nicht jede begründete Interessenmodifikation ist ... ökonomisch bedingt ... Ökonomische ... Probleme sind (also) nur insoweit begründet, als Knappheit nicht auf sonst unvernünftigen Interessen beruht, also nicht bereits durch Interessenkritik, die nicht ... ökonomisch bedingt ist, bewältigt werden kann« (zit. nach: Methodische Probleme einer normativ-kritischen Gesellschaftstheorie, Frankfurt a. M. 1975, S. 116f.). Aufgrund dieser Klärung unterscheidet Kambartel zwischen ökonomischen Problemen, die nach vorheriger rationaler Interessenkritik übrigbleiben und einer ökonomistischen Haltung, die auf eine solche vorgängige Kritik verzichtet, also gleichsam nichtökonomische Probleme vollständig ausklammert. Auf diese Weise werde auch dort noch Mangel diagnostiziert, wo in Wirklichkeit nur Unaufgeklärt-heit und Selbstwiderspruch zu Konsumbedürfnissen führten. »Dem Mangel, welchen der Bau verschwenderischer Sakralbauten im Gefolge hat, wird jedoch nicht durch rationelleres Bauen, sondern durch Religionskritik begegnet, dem Mangel, welcher lediglich auf eine von vernünftiger Güterproduktion abgelöste Selbstverwertung des Wertes zurückgeht, durch Privat- und Staatskapitalismuskritik« (ebenda, S. 117). Dem würde ich bis auf eine einzuschiebendes »nur« zustimmen. Denn natürlich erleichtert auch eine Rationalisierung des Kirchenbaus die Mangelsituation.

Ähnlich wie bei den Bedürfnissen muß aber nach Kambartel auch auf der Seite der Lasten (Kosten) eine rationale Kritik einsetzen, bevor die ökonomische Kalkulation zu ihrem Recht kommen kann. Kosten ließen sich nicht einfach auf die benötigten Quanten von Arbeitszeit reduzieren. Vielmehr sei es nötig, »die bedürfnisbezogene Qualität von Arbeit selbst einzuschätzen, und zwar offenbar vernünftigerweise so, daß Arbeit, die in höherem Maße Bedürfnisse einschränkt, einen größeren Aufwand darstellt« (S. 120). Die geltenden Lohnsysteme (in kapitalistischen wie staatssozialistischen Ländern) bewerten aber umgekehrt gerade diejenigen Arbeiten am höchsten, die am meisten immanente Befriedigung verschaffen (also den Tätigen selbst am wenigsten »Unlust« kosten). Die besseren Arbeitsmarktchancen fallen häufig mit dem Lebensstandard-Privilegien zusammen. Umgekehrt sind die Arbeiten, die den Tätigen am meisten Unlust »kosten«, die billigsten. »Die gekennzeichnete >Verzerrung< des Lohnsystems führt zugleich zu einer spezifischen Verzerrung der gesamten Kostenrechnung: Arbeitsaufwand, der uns etwas >kostet<, nämlich Entfaltungsmöglichkeiten im Rahmen sinnvoller Bedürfnisse, ist billig, Aufwand, den wir kaum noch als solchen betrachten, teuer. Z. B. beruht die auch aus den Gehaltsprivilegien vieler Lehrer (insbesondere der Hochschullehrer) resultierende Kostenlawine der Bildungsreform auf der genannten ungerechtfertigten Verzerrung unserer lohnvermittelten Aufwandsmessung ...« (S. 121). Ein dritter normativer kritischer Gesichtspunkt ist die Isolierung der Kosten von den indirekten Folgen (Umweltzerstörung, Ausbau des Verkehrssystems, Zeitverlust bei entfernt wohnenden Arbeitenden usw.). So könne z. B. eine Verwaltungszusammenlegung unter Umständen nur scheinbar eine ökonomische Einsparung bringen, wenn sie für die Angestellten der Behörde und ihre Kunden mit erhöhten Fahrtkosten (Zeitverlust, zusätzlicher Aufwand) verbunden wäre, der den Rationalisierungseffekt aufwiegt (S. 123). »Soweit sich wirtschaftsrechtliche

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hen sich die meisten Argumente unserer Werbefachleute und Politiker. Die ungemein plausiblen Demokratiemodelle von Schumpeter und Downs setzen ihn ausdrücklich voraus.52 Ein herrschaftsfreier Diskurs unter zu homines oeconomici sozialisierten Individuen wird aber kaum zur Ermittlung des für alle Guten führen. Vor allem dann nicht, wenn die partikularen Egoismen sich auch noch in Gruppen formieren, deren Mitglieder gegenseitig die Legitimität ihrer Interessen anerkennen. Daß freilich die Heranwachsenden - in unserer Gesellschaft -erst auf dem Wege einer meist schwierigen und langwierigen Sozialisation zur Annahme dieses Verhaltenstypus gebracht werden müssen, zeigt, daß er keineswegs eine Naturkonstante darstellt und in historischen Epochen verändert werden kann. Theoretisch könnte die Überwindung der Verhaltensstruktur des homo oeconomicus, die Voraussetzung einer ökologischen Haltung wäre, durch moralische Anstrengung und sittliche Erziehung erfolgen. Aber - ganz abgesehen von dem Problem der Erzieher, die selbst erst erzogen werden müßten - würde dieser Weg für die meisten Erwachsenen, nach erfolgter Ausbildung ihrer Verhaltensstruktur, eine moralische Überforderung darstellen, und vermutlich könnte nur durch erheblichen äußeren Zwang eine Anpassung an die neuen Verhaltensweisen erreicht werden. Demgegenüber scheint mir ein Weg erfolgversprechender zu sein, der es gar nicht erst zur Ausbildung jener Verhaltensstruktur kommen ließe. Um ihn zu bahnen, würden freilich antiautoritäre Kindergärten und Schulen, die als isolierte Fremdkörper in einer kompetitiven Gesellschaft von Egoisten

Normen, z. B. das umweltschutzbezogene Verursacherprinzip, als Bemühungen in dieser Richtung verstehen lassen, >erhöhen< sie dann nicht die Kosten, wie es häufig heißt, sondern regulieren überhaupt erst ihre vernünftige >Feststellung<« (S. 124). Den Widersinn der zur Zeit üblichen ökonomischen Berechnungsweisen des Gross National Product illustriert Kambartel abschließend mit folgendem Beispiel: »Im Rahmen der z. Z. geltenden Kriterien sind Erhöhungen der Produktivität im Automobilbau denkbar, die hohe Unfallziffern zur Folge haben. Gleichzeitige Rationalisierungen im Bestattungswesen ließen sich damit zu einem höchst merkwürdigen realen Wirtschaftswachstum verbinden« (S. 125). 52 Joseph A. Schumpeter: Kapitalismus, Sozialismus, Demokratie, München 1950. Antony Downs: Ökonomische Theorie der Demokratie, Tübingen 1968. Zur Kritik siehe u. a. Peter Bachrach: Die Theorie demokratischer Eliteherrschaft, Frankfurt a. M. 1970. Iring Fetscher: Die Demokratie, Grundfragen und Erscheinungsformen, Stuttgart 1970, 1972.

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eher gegenproduktiv wirken, kaum ausreichen. Nur die Stiftung neuer Formen menschlichen Zusammenlebens und -arbeitens könnte hier helfen. Daß es existenzfähige Gemeinschaftsformen gibt, die eine Ausbildung des homo oeconomicus verhindern, kann nicht nur die Ethnologie zeigen, sondern beweist auch die Erfahrung israelischer Kibbuzim, die freilich durch ihre wachsende Isolierung inzwischen in ihrer Gestalt stark gefährdet sind.53 Daß die bloße Veränderung von Eigentumsverhältnissen eine solche Verhaltensänderung nicht bewirken kann, haben die Staatshandelsländer Osteuropas deutlich genug gezeigt. Eine Anzahl ungarischer kritischer Marxisten hat daher unlängst aus-

 

53 Meinem Konstanzer Kollegen Detlef Kantowsky verdanke ich den Hinweis auf eine Bewegung in Sri Lanka (Ceylon), die auf der Basis eines modernisierten Buddhismus Gemeinschaftsformen zu entwickeln sucht, die die Entstehung von Besitzindividualismus und Konkurrenzverhalten ausschließen. Der Gründer dieser Bewegung charakterisiert seine synkretistische Ideologie wie folgt: »All forms of creative altruism and evolutionary humanism flowing it may be from Marxian aim of material Integration, from Rousseau's Option of social integration or from Asoka's endeavour of moral integration, to quote a few examples are inherent in the Sarvodaya philosophy practised by us; for ours is an attempt to bring about total human integration. The philosophy that influences us most in evolving our Sarvodaya concept in Sri Lanka is Lord Buddha's teachings« (A. T. Ariyaratne, zitiert in einem Gutachten von D. Kantowsky, Konstanz 1975). Vier aus den acht Grundhaltungen des Mittleren Weges des Buddhismus abgeleitete Grundmaximen sollen das Handeln der Mitglieder dieser neuen Arbeits- und Lebensgemeinschaften bestimmen: Metta - worunter eine lebensbejahende Grundeinstellung, Abbau von Haß und Spannungen und »emotionale Verbindung des eigenen Selbst mit dem Schicksal aller Mitmenschen« verstanden wird; Karuna - »compassionate action«, die in gemeinsamer Arbeit und gemeinsamem Leben sich ausdrückt; Muditha -»selbstlose Freude ... angesichts des Erfolges eines Sarvodaya-Programmes«, eine »Art emotionaler Befriedigung«, die sich qualitativ von den egoistischen Vergnügungen der europäischen Zivilisation unterscheide; Upekka - »Gleichmut« im Ertragen von Schwierigkeiten und Rückschlägen (Kantowsky: Gutachten für GTZ shramadana - Projekt der FNS, Konstanz 1975, S. 12f.). An die Stelle von »Egoismus, Besitzdenken, Wettbewerb, Haß, unfreundlicher Rede, destruktiven Handlungsweisen und Ungleichheit als verursachende Prinzipien des gegenwärtigen Systems müssen... Selbstlosigkeit, Teilen, Zusammenarbeit, Liebe, freundliche Rede, konstruktive Handlung und Gleichheit« treten (ebenda, S. 13f.). Diese Bewegung hat trotz einiger Anfeindungen - von Marxisten wie von Interessengruppen - offenbar erheblichen Erfolg in Sri Lanka gehabt und organisiert - nach eigenen Angaben - zur Zeit 800 Dorfgemeinschaften und zahlreiche Arbeitseinsätze im Bereich der sozialen Dienstleistungen (Vorschul-, Kinder-, Müttergruppen usw.).

Ein Schaubild in der Eingangshalle von Meth Medura, einem Schulungszen-trum der Sarvodaya-Bewegung, stellt idealtypisch die westlichen industriezivilisatorischen Verhaltensweisen Haltungen einer künftigen Sarvodaya-Gesellschaft gegenüber:

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drücklich die Entwicklung neuer, nicht auf Konkurrenz, Karrieredenken und materiellen Leistungsanreizen für einzelne beruhender Formen der Arbeit und des Alltagslebens und die Abkehr der Planziele vom bloßen »Einholen« westlicher industrieller Staaten verlangt.54

In solchen Kritiken drückt sich etwas Ähnliches aus wie das, was Arnold Gehlen die »säkulare Enttäuschung« genannt hat, die »in kultureller Hinsicht der Sozialismus mit sich gebracht habe«.55 Es habe sich nämlich herausgestellt, »daß es andere als feudale und bürgerliche Kultur nicht gibt«. Abgesehen davon, daß diese These die klassische antike und andere Kulturen schlicht negiert, die weder feudal noch bürgerlich waren, halte ich sie für eine vorschnelle Verallgemeinerung. Es scheint mir zumindest denkbar, daß in der Auseinandersetzung mit der in-

 

PRESENT SOCIAL ORDERNATURE AND RESULT

1. Lack of self-knowledge, absence of self-reliance.

2. Blind imitations of alien materiali-stic norms.

3. Worship wealth, power position, un-truth, violence and selfishness domi-nate.

4. Organisations based on possessive and competitive instincts become po-werful, capitalist economy, bureau-cracy and partypolitics become major social forces.

8. Dependence on large Scale organisations, capital intensive, wastage of human labour, corruption increase, environmental pollution.

9. Village subserves the city, rural exodus, moral degeneration, social unrest and Stagnation.

10. Laws of punishment, Instruments of law enforcement and State power increase, laws of Dhamma, strength of Dhamma and power of people dimi-nish, rulers become all supreme and people powerless.

D. Kantowsky: Gutachten für GTZ Shramadana-Projekt der FNS, Konstanz 1975, Anhang 2, S. 102 f.

 

54 Siehe die oben unter Fußnote 27 genannten Arbeiten.

55 Arnold Gehlen: Über kulturelle Evolutionen, S. 219.

 

SARVODAYA SOCIAL ORDER NONVIOLENT REVOLUTION

1. Serves for self-knowledge and self-reliance.

2. Motivated by spiritual values based on our national culture.

3. Respect virtue, wisdom, capability, truth, nonviolence and selfdenial do-minate.

4. Organisations based on sharing and Cooperation become powerful, social trusteeship economy, peoples partici-pation in administration and partyless peoples politics become social reali-ties.

8. Depends on small Scale Organization, labour intensive, less corruption, protects environment, both natural and psychological.

9. Balanced rural and urban awake-ning, moral regeneration, dynamic progress.

10. Laws of righteousness, strength of Dhamma and power of the people prevail, no ruling class. People are powerful. Sarvodaya realized.

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dustriellen Zivilisation und in bewußter Abkehr von ihren immanenten Zwängen sehr wohl eine neue Kultur und eine andere Art menschlichen Zusammenlebens entsteht, die freilich auch nicht den Namen »proletarisch« tragen würde. Nur wenn es gelingt, gesellschaftliche Beziehungen zu entwickeln, unter denen die Individuen aufhören, »homines oeconomici« zu sein, um sich in solidarisch verbundene, hilfsbereite, freundlich und freundschaftlich aufeinander bezogene Glieder überschaubarer Gruppen zu verwandeln, kann der Übergang zu einer nicht mehr dynamischen und ständig wachsende Gütermassen erzeugenden Welt ohne empfindliche Repression und Reglementierung vollzogen werden. Mir scheint nun, daß von manchen zeitgenössischen Gruppen, die vorerst vor allem durch ihre Kampfbereitschaft nach außen auffallen, zugleich das Bedürfnis nach derartigen solidarischen Beziehungen und Bindungen befriedigt wird. Das Sichmitteilenkönnen, das Bestätigtwerden, das Geben- und Empfangenkönnen ohne ängstliche Bilanz-Kalkulation (habe ich »zuviel gegeben«? - habe ich auch »genug bekommen«? - wieviel habe ich »davon gehabt«?) stellt für viele eine wichtige und befreiende neue Erfahrung dar. Günstigstenfalls führt sie zur Überwindung der übermächtigen Dominanz der Homo-oeconomicus-Rolle. Karl Marx hat eine ähnliche Entwicklung in der Frühphase der Arbeiterbewegung beobachtet und davon gesprochen, daß sich die Assoziationen zur Verteidigung materieller Interessen bald auch in Gemeinschaften entwickelt hätten, die selbst ein Bedürfnis (eben das nach Gemeinschaft) befriedigten und damit aufhörten, nur Mittel zu sein. Es sieht so aus, als sei diese Nebenwirkung bei der Bildung von Gruppen gerade bei den Feministinnen besonders stark - vielleicht deshalb, weil Frauen den Zwang zum Leistungswettbewerb, bei dem sie obendrein ständig benachteiligt und behindert werden, besonders unangenehm empfinden und ihre Anpassung an das Wirtschaftssystem noch nicht so vollständig gelungen ist wie bei den meisten Männern.56 Im gleichen Augenblick, da das romantisch-stilisierte Bild der »weibli-

 

56 Siehe auch Roger Garaudy: Le Projet Espfcrance, S. 119f.: »Les communaut6s de base actuelle se constituent pour lutter contre la massification d'une societe ä tel point centralisee, hi£rarchis6e et bureaucratique qu'elle etouffe le sens de la personne et de son autonomie, le sens des responsabilites, et induit ä la passivus et au desinteressement de la chose publique devenue impersonelle et alienante comme une machine ou un >appareil<.« Die neue Form von Vereinigung nennt Garaudy »communaute participative« (S. 121). Die »mouvements feministes« werden (S. 119) ausdrücklich erwähnt.

Rosemary Radford Ruether hat in ihrem Buch »New Woman, New Earth, Sexist Ideologies and Human Liberation«, New York 1975, nicht nur die latente Aggressivität und den versteckten »Sexismus« der Haltung der naturbeherrschenden und die Natur »vergewaltigenden« Industriezivilisation denunziert, sondern auch einen Zusammenhang zwischen der Befreiung der Frau und der Überwindung der kapitalistischen (und bürokratisch-sozialistischen) Industriezivilisation hergestellt: »Women must see that there can be no liberation for them and no Solution to the ecological crisis within a society whose fundamental model of relationships continues to be one of domination« (S. 204). »They must unite the demands of the women's movement with those of the ecological movement to envision a radical reshaping of the basic socioeconomic relations and the underlying values of this society« (S. 204). »This means transforming the world-view which underlies domination and replacing it with an alternative value-system« (S. 203). Rosemary Radford Ruether entgeht - im Unterschied zu manchen romantischen Gegnern der Industriezivilisation - der Gefahr einer Verteufelung der Technik, die es lediglich aus ihrer »Gefangenschaft durch die herrschende Klasse« zu befreien gelte; die Demokratisierung der EntScheidungsprozesse (über die Produktion) und die Egalisierung der Vorteile sowie endlich eine den ökologischen Erfordernissen angepaßte Technologie sind dabei ihre entscheidenden Forderungen (S. 205f.). Ähnlich wie Garaudy fordert auch sie eine Sozialisierung »von unten auf« und die Entwicklung von Gemeinschaftsformen, die an die Stelle der Kleinstfamilien und der Isolierung der Individuen treten könnten (Vorbild: Kibbuzbewegung). Siehe zur umweltfreundlichen Technologie das Buch von David Dickson: Alternative Technology, and the Politics of Technical Change, Glasgow 1974.

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chen Frau« und der »gütigen Mutter« als eine von den Männern produzierte Ideologie durchschaut und verworfen wird, entsteht spontan das Bedürfnis nach einer von den Zwängen der warenproduzierenden und -konsumierenden Gesellschaft freien Vereinigung. So paradox es erscheinen mag, werden dann gerade jene Kampforganisationen, die der Durchsetzung vornehmlich materieller Forderungen von Frauen dienen sollen, zugleich zu Keimformen einer Art von Gesellschaft, die den materiellen und egoistisch-kalkulierenden Individualismus schon zu trans-zendieren beginnt.

Gewiß, ähnliche solidarische Gemeinschaften haben schon Utopisten wie Charles Fourier antizipiert, aber ihr Scheitern oder ihre faktische Unrealisierbarkeit war damals vorwiegend der Faszination der ständig wachsenden Produktivität und des reichen Konsumgüterangebots geschuldet, die von der sich entfaltenden industriekapitalistischen Konkurrenzgesellschaft ausgingen.

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Die alte Arbeiterbewegung sah ihr erstes und unmittelbares Ziel in der Durchsetzung einer gerechten Teilnahme des Proletariats an den Segnungen der industriellen Zivilisation. Es ging um die Überwindung der materiellen Not. Oppositionelle Gruppen unserer Tage - von der Hippiebewegung bis zu den Feministinnen - sind zumindest auch und meist sogar vorwiegend Reaktionen auf die emotionelle Verarmung und auf die Verstümmelung der Kreativität, die eine kompetitive Konsumgesellschaft den Individuen antut. Dieses Oppositionsmotiv jedenfalls kann durch wachsenden Wohlstand nicht beseitigt, durch ein verlockendes Warenangebot nicht desavouiert werden." Solidarität, Verbundenheit, Gemeinsamkeit der Interessen und Gesellschaftlichkeit als Medium persönlicher Entfal-

 

57 In seinem Buch »Projekt Ermutigung« (Berlin 1987) hat Robert Jungk eine Übersicht über »alternative Cultures« in Europa und Nordamerika gegeben, die eine Reihe von neuen Haltungen und Experimenten aufführt, von denen eine Überwindung der zeitgenössischen kompetitiven, egoistischen, an Konsumsteigerung orientierten Gesellschaft und Kultur ausgehen könnte. Als typische Haltungen bezeichnet Jungk: »Immediacy«, Ehrlichkeit, Sensibilität, Selbstbegrenzung und Liebe. Zu den »positiven Nebenfolgen der Selbstbegrenzung gehört der Abbau von Abhängigkeiten, den die Herabsetzung der Konsumbedürfnisse mit sich bringt, und die verbesserte Überschaubarkeit des Gemeinschaftslebens, sobald Arbeits- und Wohnstätten in Dimensionen gehalten werden, die noch enge menschliche Beziehungen erlauben« (Ms. Jungk, S. 7).

Die »Leistungsverweigerung« der Anhänger von Alternativ-Kulturen sei nicht generell gegen jede, sondern primär gegen »menschenunwürdige Leistungen gerichtet, wodurch Kraft für andere, höhere, spezifisch menschliche, d. h. schöpferische Leistungen freigesetzt werden« soll (S. 13). Muße und kreative Arbeit werden in engen Zusammenhang gebracht, den übrigens Karl Marx in den Grundrissen der Kritik der Politischen Ökonomie (1857-58) theoretisch begründet hat: Er hält es dort für möglich, daß Arbeit, »die sich ... die Bedingungen (dafür), subjektive und objektive, geschaffen hat ... travail attractif, Selbstverwirklichung des Individuums« werden könne (MEW, Bd. 42, S. 512). Allerdings meine das »keineswegs, daß sie bloßer Spaß sei, bloßes amusement, wie Fourier sehr grisettenmäßig naiv« gemeint habe. Vielmehr sei »wirklich freies Arbeiten, z. B. Komponieren, gerade zugleich verdammtester Ernst, intensivste Anstrengung« (ebenda).

Die Experimente der Alternativkulturen sind Alteraativ-Zeitungen und -Zeitschriften, die in enger Interaktion mit ihren Lesern stehen - gleichsam Leser-Zeitungen sind und zugleich dem Bedürfnis nach Kommunikation untereinander und gegenseitiger Hilfe (z. B. gegen Drogenabhängigkeit) dienen; eine große Rolle spielen Musik-Feste und kultureller Austausch mit nichteuropäischen Kulturen, Kontakte zwischen entfernten Gruppen durch Tonband und Videorecorder, Treffpunkte usw. Als Hauptnenner könne man die Indienststellung der Technik für eine intensive und personalisierte Kommunikation bezeichnen. Landkommunen - von denen es in Westeuropa bereits 700 bis 800 gebe - und alternative Technologien (sanfte Technik) und die Zusammenarbeit von Künstlern, Technikern, Architekten mit solchen Gruppen dürften noch wichtiger sein. Nach anfänglichen Schwierigkeiten seien die Landkommunen auch zu einem freundnachbarschaftli-chen Verhältnis zu den ansässigen älteren Bauernfamilien gelangt. Von den Wohngemeinschaften wird erwartet, daß »sie im Gegensatz zur Zwangsfamilie stehen und statt der alten, dem kapitalistischen Systemadäquaten Werte alternative Werte setzen. Hierzu gehören: die Auflösung irrationaler Autorität ... Förderung der Fähigkeit zu sachlicher Kritik und Interessenartikulation, Bereitschaft zu aktiver Veränderung der eigenen Person in der Gemeinschaft mit anderen, Liebesfähigkeit, Erlernen solidarischen Verhaltens, Aufhebung unsinniger Geschlechter-Rollen-Verteilung und Bereitschaft zum Widerstand gegen jede Form von Unterdrückung.« Auch hier gebe es in Europa bereits ein ausgedehntes transnationales Netz (Jungk: Projekt Ermutigung, S. 26). Organisationen der Alternativ-Kul-tur haben sich einstweilen in den Lücken der bestehenden Gesellschaft eingenistet und erfüllten dort vielfach anerkannt nützliche Funktionen (z. B. Arbeit für Arbeitslose, Gruppentherapie für deviante Kinder, Hilfe für Strafentlassene und Behinderte usw.). Aber darüber hinaus schreibt ihnen Jungk vor allem eine wichtige Experimentier- und Pionierfunktion für eine künftige ökologische Zivilisation zu.

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tung statt als unvermeidliche Schranke individueller Willkür kann vermutlich nur in kleinen, überschaubaren Gruppen (Gemeinden, Kommunen) erfahren werden. Wenn solche Gruppen sich nicht nostalgisch von der Gegenwart und gruppenegozentrisch von ihrer sozialen Umwelt abwenden, sondern an deren Gestaltung aktiv partizipieren, dann wird auch jene Ausweitung des Engagements und des Verantwortungsbewußtseins nicht nur auf die mitlebenden, sondern auch auf die künftigen Generationen leichter vollzogen werden, die einmal das auszeichnende Charakteristikum eines sittlichen Konservativismus war.58 Jenes Konservativismus übrigens, den Erhard Eppler mit dem oft mißverstandenen Beiwort »Wert-Konservativismus« gemeint hat, weil er am Wert humanen Lebens im Unterschied zum bloßen Wachstum des Bruttosozialprodukts und der Aufrechterhaltung privilegierter Strukturen sich orientiert.59

 

58 Edmund Burke definiert den Staat in seinen »Betrachtungen« wie folgt: »Der Staat ist keine Verbindung für die Zwecke der grobtierischen Existenz einer vergänglichen, zerstörbaren Natur. Er ist eine Gemeinschaft in allen Wissenschaften, eine Gemeinschaft in allen Künsten, eine Gemeinschaft in allen Tugenden und allen Vollendungen. Da die Ziele einer solchen Gemeinschaft nicht in vielen Generationen erreicht werden können, ist er nicht nur eine Gemeinschaft zwischen jenen, die sind, sondern auch zwischen den Toten und jenen, die erst geboren werden« (zit. nach Hans Barth, Fluten und Dämme, Zürich 1943, S. 48).

59 Erhard Eppler: Ende oder Wende, von der Machbarkeit des Notwendigen, Stuttgart 1975.

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Soll eine auf weitere Konsumsteigerung verzichtende, ja sogar zugunsten der hungernden Welt von schon erreichten Konsumniveaus herabsteigende Haltung ohne Zwang erreicht werden, dann wird das nur möglich sein, wenn die Pionierfunktion der eben charakterisierten Gruppen anerkannt und die extremen Eigentums- und Einkommensunterschiede in den industriellen entwickelten Staaten abgebaut werden. Diese Unterschiede hatten in einer dynamischen kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft durchaus ihren Sinn, weil sie ständig dafür sorgten, daß die Mehrheit der Bevölkerung mit ihrer aktuellen Lage unzufrieden und, um diese zu verbessern, maximale Leistungen zu erbringen bereit war. Ungleichheit ist - wie schon die Ökonomen des 18. Jahrhunderts wußten - ein Motor des quantitativen Fortschritts. Damit wird umgekehrt, wenn diese Art von Fortschritt gebremst und abgebaut werden soll, größere Gleichheit dringend notwendig.60 

 

60 Die Annahme, daß eine künftige, langsamere Wachstumsrate oder gar Nullwachstum akzeptierende Gesellschaft ein weit größeres Maß von Gleichheit als die zeitgenössischen Industriegesellschaften aufweisen müsse, ist die übereinstimmende Auffassung zahlreicher Autoren: Robert Heilbroner fürchtet, daß zur Durchsetzung dieser Egalisierung eventuell demokratische und rechtsstaatliche Institutionen durch diktatorische ersetzt werden müssen (An Inquirg, S. 65 f.). Das Ausmaß der erforderlichen Nivellierungen schätzt er sehr hoch ein. Es gehe »nicht nur um den Abbau einiger weniger großer Reichtümer oder um die Beschränkung einer handvoll übermäßiger Einkommen ...«, sondern »die Einkommen der oberen Mittelschichten, die etwa das obere Fünftel bis Viertel der Gesellschaft ausmachen«. Diese Oberschicht, die ja keineswegs nur aus Millionären besteht, beziehe zur Zeit mehr als 40% des gesamten Volkseinkommens (S. 62). Die Umverteilung werde wohl hier ansetzen müssen. 

Roger Garaudy stellt fest, daß die - durch Steuerbetrug verschleierten - Einkommensunterschiede in Frankreich noch immer dem Maßstab von 1:400 zwischen den ungelernten Arbeitern und den Spitzenverdienern entsprechen (S. 62). Olof Palme erklärt: »Die wichtigste Entwicklung rückt auch die Frage der gerechten Verteilung in ein schärferes Licht. Bisher konnten alle dank der Produktionssteigerung ihre wirtschaftliche Lage verbessern, und diejenigen, die eine gleichmäßigere Verteilung der gemeinsamen Mittel verlangten, hat man auf den Zuwachs hingewiesen. Wenn es aber Grenzen für den Zuwachs gibt und wir darauf verzichten, die Mittel der Natur im Übermaß zu verbrauchen, sticht dieses Argument nicht mehr. Die Forderungen nach einer gleichmäßigen Verteilung werden dann stärker. Dies wird große Anforderungen an die Moral der Menschen und ihre Solidarität stellen. Wir werden mehr denn je Gesellschaftsformen brauchen, die dem Gemeinschaftsbedürfnis der Menschen besser Rechnung tragen: eine Gesellschaft, nicht nur auf materiellen Standard gegründet, sondern in noch größerem Maße auf eine höhere Qualität des Lebens« (Vortrag »Ist Zukunft machbar?« In: Aufgabe Zukunft, Qualität des Lebens. Beiträge zur 4. Internat. Arbeitstagung der IG Metall, 11.-14.4. 1972, Frankfurt a. M. 1973, S. 114f). 

Aber nicht nur Sozialisten, selbst Herman Kahn geht von einer erheblichen Egalisierung der Einkommen aus, allerdings scheint er anzunehmen, daß sich diese gleichsam »selbsttätig« ereignen werde (siehe Fußnote 25).

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Es kommt dann nicht mehr auf künstliche Bedürfnisweckung durch den Konkurrenzkampf um Konsum und Prestige an, sondern auf die Herstellung von Lebens- und Arbeitsbedingungen, die als solche Befriedung und Befriedigung mit sich führen. Bürgerinitiativen, die sich gegen den Bau von Atom-Reaktoren wenden, mögen sich nicht immer der Implikationen ihrer Haltung bewußt sein, oft mag es ihnen auch nur - gruppenegoistisch - darum gehen, daß der Reaktor woanders gebaut wird; aber die norwegischen Fischer, die sich gegen die Umwandlung ihrer Produktionstechnik wandten, auch wenn diese in einer volkswirtschaftlichen Bilanz ein höheres Bruttosozialprodukt erbracht hätte, verteidigten bewußt eine Form des Arbeitens und des Lebens, die ihnen ein Maß von Befriedigung verschaffte, auf das sie als hochbezahlte Arbeiter einer Fischkonservenfabrik oder Matrosen auf einem vollautomatisierten Fischdampfer hätten verzichten müssen

Damals bildete sich in Norwegen eine merkwürdige gemeinsame Front von Konservativen und linken Gruppierungen gegen den EG-Beitritt, von dem man derartige Entwicklungen erwartete, während Arbeitgeber wie Gewerkschaften gemeinsam zum »Ja« für den »industriellen Fortschritt« aufriefen. Das ökonomische Maximum wurde von den Neinsagern nicht mehr mit dem humanen Optimum identifiziert. Die Gegner des EG-Beitritts von Norwegen waren keine Chauvinisten, aber sie sahen der vermehrten industriekapitalistischen Dynamik, die ein Beitritt auslösen würde, mit verständlicher Skepsis entgegen. Gegen eine Staatengemeinschaft, die militärische und politische Konflikte wenigstens unter ihren Mitgliedern ausschließt, hatten sie gewiß nichts einzuwenden, wohl aber gegen eine Ausweitung des Marktes, die nur zu beschleunigter technischer Entwicklung, ökonomischer Konzentration, Industrialisierung, Verstädterung und Verdichtung des Verkehrs führen kann. Im Zeitalter ökologischen Bewußtseins kann solche Skepsis nicht mehr a limine als romantisch oder reaktionär denunziert werden.

Bedeutet das nun, daß es künftig keine technischen Errungenschaften mehr geben dürfe? Ich glaube nicht; wohl aber müssen die Ziele aller technischen Bemühungen auf die Steigerung der Qualität und Dauerhaftigkeit der Gebrauchsgüter, auf Erleichterung und Humanisierung der Arbeit und auf Verträg-

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lichkeit der Produkte mit der natürlichen Umwelt und deren zyklische Erneuerung gelenkt werden. An die Stelle der Steigerung der Warenmasse im Dienste der erweiterten Reproduktion des Kapitals müßte die Steigerung der Lebenqualität in Einklang mit der Notwendigkeit humanen Lebens und zyklischer Erneuerung und Erhaltung der Natur treten.

Eine solche allmähliche Veränderung der Verhaltensstrukturen und der Vergesellschaftungsformen kann heute nur von den hochindustrialisierten, »reichen« Ländern ihren Ausgang nehmen. Es scheint mir utopisch, sie ausgerechnet von denjenigen zu erwarten und zu erhoffen, die eben erst mit der industriellen Zivilisation in Kontakt gekommen sind und nicht an Überentwicklung, sondern an einseitiger, zerstörerischer und unzulänglicher Entwicklung leiden. Wir können sie kaum glaubhaft vor der gefährlichen Imitation unseres »Vorbilds« warnen, wenn wir uns selbst nicht bereits von diesem fragwürdig gewordenen »Ideal« abgewandt haben. Je weniger es aber gelingt, den »possessiven Individualismus« abzubauen, der zugleich Motor und Produkt der industriellen Gesellschaften war, um so härter und blutiger werden die Verteilungskämpfe sein, die um einen nicht mehr wachsenden »Kuchen« des Sozialprodukts innerhalb der Gesellschaften und zwischen den Staaten einsetzen, und um so länger wird die Neubelebung und Steigerung des Nationalismus als einzige Alternative zur sozialen Desintegration von Regierungen betrieben werden.

Die meisten Parteien haben im übrigen wenigstens theoretisch anerkannt, daß die extreme Eigentumsdifferenzierung und der große Abstand der Einkommen nicht mehr offen legitimiert werden können. Während die Jusos unlängst die unrealistische Pauschalforderung einer Beschränkung der Nettoeinkommen auf 5000 DM monatlich erhoben haben, treten die Sozialausschüsse der CDU für eine weitgehende Umverteilung des Produktionsvermögens ein. Das Besitzprivileg wird meist nur noch »indirekt« durch den Hinweis auf die Unternehmerfunktion verteidigt, obgleich diese inzwischen bei den meisten Großunternehmungen längst vom Besitztitel losgekoppelt ist. Die Legitimierung des Produktivvermögens als Resultat individueller Arbeit und Grundlage der Familie - vgl. die älteren päpstlichen Sozialenzykliken - hat ihre Glaubwürdigkeit im Zeitalter der großen Kapitalgesellschaften vollends verloren.

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Die innerbetrieblichen Hierarchien in den Großunternehmungen könnten - wie unter anderen das (inzwischen wieder aufgegebene) Beispiel der Volvo-Automobilfabrik zeigt - ohne Gefahr für die technische Leistungsfähigkeit abgebaut und durch Teams ersetzt werden. Durch innerbetriebliche Mitbestimmung und Verbesserung der konkreten Arbeitsbedingungen kann die Industriearbeit akzeptabler und befriedigender gemacht werden. Werden darüber hinaus die Abstände der Einkommen verringert, so würde zugleich der ständig unzufrieden machende Konsum-Wettlauf gedämpft und die Verbundenheit der Produzenten untereinander erhöht werden.

Derartige Fortschritte, die nicht an die Steigerung der Produktion und der Warenmenge gebunden sind, würden eine qualitative Verbesserung der Lebensbedingungen für eine große Anzahl Menschen ermöglichen. Unter solchen Voraussetzungen würde eine Begrenzung der Konsumchancen auch keine vermehrte staatliche Reglementierung (Rationierung) verlangen. Nur bei größerer relativer Gleichheit könnte Freiheit auf die Dauer aufrechterhalten bleiben. Menschen, deren Arbeits- und Lebensverhältnisse genuine Befriedigung erlauben, wären nicht länger genötigt, auf die nie wirklich sättigenden Ersatzbefriedigungen im Konsumsektor auszuweichen. Die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen, der Abbau possessiver Persönlichkeitsstrukturen ist nicht die Utopie weltfremder Träumer, sondern die Voraussetzung eines friedlichen Übergangs zur ökologischen Gesellschaft von morgen. Gerade weil wir von einem alten, liberalen und sozialistischen Fortschrittsglauben Abschied nehmen müssen, der die Kurve der materiellen Produktionssteigerung ins Unendliche glaubte verlängern zu können, wird der qualitative Fortschritt in Richtung auf die Schaffung und Bewahrung humaner Lebensbedingungen so entscheidend wichtig.

Seien wir uns darüber im klaren: Sobald die notwendigen Konsequenzen aus der Begrenztheit der Energie- und Rohstoffvorräte und der Unentbehrlichkeit der Bewahrung der Ökosphäre gezogen werden, wird entweder - angesichts des sistierten linearen Wirtschafts­wachstums - der soziale Konflikt sich verschärfen, oder aber es müssen Reformen von der Art eingeleitet werden, wie ich sie skizziert habe.

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Man kann nicht beides zugleich haben: eine auf qualitatives Wachstum umgeschaltete technische Entwicklung mit dem dadurch erzwungenen Verzicht auf wachsende Warenmengen und sozialen Frieden bei festgehaltenen Eigentums- und Einkommensdisparitäten.

Die revolutionäre Perspektive von Marx hat sich im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts bis zur Unkenntlichkeit verändert. Während er davon ausging, daß die evolutionäre Dynamik des Industriekapitalismus erlahmen würde, noch bevor die Produktivkräfte so weit entwickelt sind, wie es für die Befriedigung der Konsumbedürfnisse aller erheischt ist,61 geht es heute darum,

 

61  Siehe Karl Marx: »Die Schranke der kapitalistischen Produktionsweise tritt hervor: ... 2. Darin, daß ... eine gewisse Höhe der Profitrate über Ausdehnung oder Beschränkung der Produktion entscheidet, statt des Verhältnisses der Produktion zu den gesellschaftlichen Bedürfnissen, zu den Bedürfnissen gesellschaftlich entwickelter Menschen. Es treten daher Schranken für sie schon ein auf einem Ausdehnungsgrad der Produktion, der umgekehrt, unter der anderen Voraussetzung, weitaus ungenügend erschiene« (MEW, Bd. 25, S. 269). Entgegen der verbreiteten Deutung dieses Zitates ließe sich freilich zeigen, daß die von Marx angesprochenen Bedürfnisse »gesellschaftlich entwickelter Menschen« keineswegs mit den noch immer wachsenden Bedürfnissen der Konsumenten zeitgenössischer Industriegesellschaften identisch sind. Es handelt sich vielmehr um Bedürfnisse nach einer höheren Qualität des Lebens, nach unentfremdeter Arbeit und unent-fremdetem Konsum, die auch heute noch nirgends und für fast niemanden befriedigt sind.

Marx hat übrigens an einigen Stellen durchaus schon auf die Gefahren der zerstörerischen Wirkung des Industriesystems hingewiesen, allerdings konnte er noch nicht ahnen, daß einmal der Sozialismus in Gestalt einer bürokratisch geplanten Kopie des Kapitalismus auftreten würde. »Mit dem stets wachsenden Übergewicht der städtischen Bevölkerung, die sie in großen Zentren zusammenhäuft, häuft die kapitalistische Produktion einerseits die geschichtliche Bewegungskraft der Gesellschaft, stört sie andererseits den Stoffwechsel zwischen Mensch und Erde, d. h. die Rückkehr der vom Menschen in der Form von Nahrungs- und Kleidungsmitteln vernutzten Bodenbestandteile zum Boden, also die ewige Naturbedingung dauernder Bodenfruchtbarkeit. Sie zerstört damit zugleich die physische Gesundheit der Stadtarbeiter und das geistige Leben der Landarbeiter ...« (Das Kapital, Bd. 1. In: MEW, Bd. 23, S. 528). »Jeder Fortschritt der kapitalistischen Agrikultur ist nicht nur ein Fortschritt in der Kunst, den Arbeiter, sondern zugleich in der Kunst, den Boden zu berauben, jeder Fortschritt in der Steigerung seiner Fruchtbarkeit für eine gegebene Zeitfrist zugleich ein Fortschritt im Ruin der dauernden Quellen dieser Fruchtbarkeit... Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter« (ebenda, S. 529f.).

In einem Brief an Engels vom 25. 3. 1868 erwähnt Marx eine Arbeit des bayerischen Botanikers und Agronomen Karl Nikolaus Fraas, »Klima und Pflanzenwelt in der Zeit - eine Geschichte beider« (1847), und entnimmt ihr den Nachweis, daß der Fortschritt der Zivilisation durchausnicht nur gradlinigverläuft: »Die erste Wirkungder Kulturnützlich, schließlich verödend durch Entholzung etc. ... Das Fazit ist, daß die Kultur - wenn naturwüchsig vorschreitend und nicht bewußt beherrscht (dazu kommt er natürlich als Bürger nicht) - Wüsten hinter sich zurückläßt« (MEW, Bd. 32, S. 53). »Naturwüchsig«, nämlich nicht bewußt das Ziel einerbestimmten Qualität des Lebens und Zusammenlebens anstrebend, sondern allein an der linearen Steigerung der Produktion (in Imitation der fortgeschritteneren Industriegesellschaften) orientiert, ist gegenwärtig auch noch die Kultur der Sowjetunion. Ganz so naiv scheint übrigens der Bayer Fraas doch nichtgewesen zu sein, wenn ersieh -wie Marx anmerkt -fürden»frommen undhuma-nistischen Sozialisten« Fourier in teressierthat(ebenda).

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daß Tempo und Richtung dieser noch immer blinden Dynamik im Interesse der Erhaltung der Ökosphäre und damit langfristig der Menschheit selbst entschieden verändert werden müssen. Die von den klassischen liberalen Ökonomen wie Marx begeistert begrüßte Herausbildung eines Weltmarktes hat inzwischen mindestens soviel Zerstörungen wie Segnungen über die Völker der Erde gebracht. Der Frieden, den die Freihandelslehrer von ihm erwarteten, ist ausgeblieben, aber die ökonomische Überlegenheit der Industrienationen hat die selbständigen ökonomischen und kulturellen Systeme der Peripherie zerstört und sie zum schwächsten Anhängsel der Ökonomie der Metropolen gemacht. Monokulturen machten ganze Länder vom Weltmarktpreis eines einzigen Produktes abhängig und lieferten sie rettungslos einer Mißernte oder einer einzigen Schädlingsplage aus (das von England kolonisierte Irland war das erste Land, das schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts mit mehr als einer Million Toter seine Kartoffel­monokultur bezahlen mußte)

Die Länder müssen von ihren lokalen und regionalen Bedürfnissen aus ihre Wirtschaften rekonstruieren, um der ökonomischen und politischen Abhängigkeit, aber auch um ökologischen Krisen zu entgehen. Vielleicht werden einige von ihnen lernen, die Gefahren zu meiden, die Europa, Nordamerika und Japan über sich heraufbeschworen haben. Die beste Hilfe, die von den Metropolen kommen könnte, wäre eine Kombination an Ort und Stelle zu entwickelnder, den Verhältnissen angepaßter, umweltfreundlicher und arbeitsintensiver Techniken mit jener neuen Haltung, die Mitmenschen und Erde nicht als Objekt skrupelloser Herrschaft und Ausbeutung, sondern als unentbehrliche Partner begreift. Man braucht nur eine solche Forderung aufzustellen, um zu erkennen, wie weit wir von ihrer Erfüllung entfernt sind.62

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Vielleicht haben Sie den Eindruck, ich suchte gewaltsam alle möglichen aktuellen Fragen zu einem einheitlichen Komplex zu vereinigen: das Ökologie­problem, das der ungleichen Verteilung der Güter dieser Erde zwischen den Völkern und innerhalb der einzelnen Gesellschaften, die Fragwürdigkeit des possessiven [besitzanzeigend, in Besitz nehmend] Individualismus und Egoismus und die der allein auf wachsende Naturbeherrschung gerichteten neuzeitlichen Wissenschaft und Technik. 

Aber der Zusammenhang zwischen diesen Fragen ist von mir nicht künstlich hergestellt worden, er liegt in der Sache selbst. Ohne den Mut und die entschlossene Energie, sie alle zu beantworten - oder doch nach Antworten auf sie zu suchen -, werden wir keine einzige jener Gefahren überwinden, die das Überleben der Menschheit unter humanen Bedingungen bedrohen.

 

62) Während Lynn Whiteden heiligen Franziskus als Schutzpatron der Ökologen empfahl, haben Rene Dubos(A God within, New York 1972) und Bruce Allsopp (Ecological Morality, London 1972) auf das Vorbild des heiligen Benedikthingewiesen. »Benedict of Nursia... can be regarded as a patron saint of those who believe that true conservation means not only protecting nature against human misbehavior but also developing human activities which favor a creative, harmonious relationship between man and nature« (Dubos: A God within, S. 16). 

Zwar werde im ersten Genesiskapitel der Mensch als Herr über die Natur eingesetzt, aber Benedikt scheine stärker vom zweiten Kapitel beeinflußt zu sein, in dem Gott den Menschen nicht zum Herrn, sondern zum Verwalter (Steward) des Gartens Eden einsetzt. Die im säkularen Maßstab planende Tätigkeit der Benediktinerklöster könne als eine Art Vorbild für den sinnvollen Umgang der Menschheit mit der Natur angesehen werden. Dubos meint kritisch gegen zeitgenössische Defaitisten, die schon der abendländischen Tradition generell den Rücken zu kehren wünschen: »The Solution to the environmental crisis will not be found in a re-treat from the Judaeo-Christian tradition or from technological civilization. Rather it will require a new definition of progress, based on better knowledge of nature and on a willingness to change our way of life accordingly. We must learn to recognise the limit-ations and potentialities of eachparticular area of the earth, so that we can manipulate it creatively, thereby enhancing present and future human life« (ebenda, S. 172 f.). Bruce Allsopp betont vor allem, daß das »neue natürliche Gleichgewicht« sich nicht von al-leineinstellenwird, sondern von Menschenhergestelltwerden muß. DerGarten ist ein geeignetes Paradigma für diese Aufgabe. - Auch wenn Dubos und Allsopp die sozio-ökonomische Dimension des Problems vernachlässigen, haben sie sicher gegenüber Lynn White recht. Das »retournons ä la nature«, das übrigens Rousseau niegesprochen hat, ist heute vollendsunmöglich.

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Iring Fetscher  Überlebensbedingungen der Menschheit  Ist der Fortschritt noch zu retten? (1976-91)