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Nachwort im Dezember 1990

(Autor)

 

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Die bürokratisch-staatssozialistischen Länder sind im Wettbewerb mit den marktwirtschaft-demokratischen unterlegen. Der Versuch der Umstruktur­ierung in der Sowjetunion und in anderen Ländern des »real existierend (gewesenen) Sozialismus« stößt auf schier unüberwindliche Schwierigkeiten. Weder Demokratie noch Marktbeziehungen lassen sich offenbar im Handumdrehen einführen. In der DDR konnten sich Ansätze zu einer eigen­ständigen demokratischen Entwicklung nicht entfalten, weil sie zu lange unterdrückt waren und die Bevölkerung nicht bereit war, noch länger auf die Anhebung ihres Lebensstandards auf bundesdeutsches Niveau zu warten.

Aber nicht nur das Zurückbleiben hinter dem Konsumniveau entwickelter westlicher Industriegesellschaften wurde mit einem Male in seiner ganzen Größe sichtbar, auch der Umfang der ökologischen Schäden war zuvor nicht im gleichen Maße erkennbar gewesen. Wenn John Kenneth Galbraith gemeint hatte, die westlichen kapitalistischen Gesellschaften seien durch eine Kombination von »privatem Reichtum und öffentlicher Armut« charakterisiert, dann mußte jetzt erkannt werden, daß die staatssozialistischen Länder es fertig gebracht hatten, private Armut mit öffentlicher Armut zu kombinieren.

Vom Standpunkt der theoretischen Ansprüche des Sozialismus aus gesehen war die öffentliche Armut — die Unzulänglichkeit der Verkehrsverhältnisse, der Krankenversorgung, der Bewahrung der natürlichen und kulturellen Umwelt usw. — noch weit vernichtender. Sozialismus, das sollte ja unter anderem auch bedeuten, daß die Interessen der Gesamtgesellschaft an optimalen Lebensverhältnissen den Primat gegenüber individuellen Profitinteressen haben. Dem Anspruch entsprach die Realität in keinem der Länder, die sich »sozialistisch« nannten. Wenn Oskar Lange »nachgewiesen« hatte, daß eine sozialistische Planökonomie einfach aufgrund ihres Prinzips Naturzerstörungen, die ja immer »Kosten für die Allgemeinheit« zur Folge haben, nicht mehr kennen werde, so hat ihn die Wirklichkeit nur allzu drastisch widerlegt.1

Diktatorische Verhältnisse, die Unterdrückung jeder öffentlichen »Kritik von unten«, die den von »oben« vorgeschriebenen Rahmen übersteigt, konnten lediglich verhindern, daß Umweltschäden bewußt gemacht wurden, nicht aber, daß sie entstanden. So wurden in der DDR Gruppen ökologisch engagierter junger Leute ins Abseits gedrängt, so daß sie nur unter dem Schutzdach der evangelischen Kirche überleben konnten.

Was doch ureigenste Aufgabe einer gerechten Gesellschaftsordnung gewesen wäre, wurde zur verfolgten Tätigkeit von sogenannten Dissidenten. Mit einer solchen Unterdrückung von Informationen konnte man zwar - wie mir seinerzeit gesagt wurde - die Furcht vor radioaktiv verseuchten Lebensmitteln in Schach halten, nicht aber die Folgen des Kernkraft-Unfalls in Tschernobyl aus der Welt schaffen.

Auch in der Sowjetunion ist erst mit der Zulassung einer freieren Berichterstattung in Presse und elektronischen Medien das Bewußtsein des ganzen Ausmaßes der Umweltschäden zum Durchbruch gekommen. Erst jetzt wird offen über das Umkippen von Flüssen und Binnenseen (wie des Aral-Sees) gesprochen und werden die waghalsigen technischen Projekte wie die Umlenkung zahlreicher Flüsse auf ihre ökologischen Konsequenzen überprüft, und - angesichts der Risiken - fallengelassen. Die Tatsache, daß Naturwissenschaftler diese Schäden und Gefahren schon längst kannten, konnte von der Führung nur so lange vernachlässigt werden, weil die Bevölkerung von jenen Informationen ferngehalten wurde.

Zwei Voraussetzungen sind es meines Erachtens, die 1. zur Bewußtmachung der Notwendigkeit einer die unentbehrlichen Lebens­voraussetzungen der Menschheit sichernden Umgestaltung von Produktion und Konsum notwendig sind und die 2. die Gewähr dafür bieten, daß solche Prozesse der Umgestaltung durchgesetzt werden können.

1 Siehe Oskar Lange, Fred Taylor: On the Economic Theory of Socialism, Minneapolis 1938, 1948.

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Beide Voraussetzungen waren in den bürokratisch bevormundeten staatssozialistischen Ländern nicht gegeben. Wolfgang Harichs Hoffnung, daß sich einsichtige bürokratische Diktatoren an die Spitze der staats­sozialistischen Länder setzen, und jenen Wandel realisieren würden, war eine Illusion. 

Die erste Voraussetzung verlangt eine zuverlässige, von den Interessen der Unternehmer wie der Regierung weithin unabhängige, wissenschaftlich vermittelte Information. Beide Momente dieser Voraus­setzung sind unentbehrlich und keineswegs überall - auch nicht in allen demokratischen Gesellschaften - garantiert. Einmal die Existenz von Interessenten unabhängiger Medien (Printmedien wie elektronischer Medien) und zum anderen die Beteiligung kompetenter Wissenschaftler an der Information des Publikums. Häufig sind Wissenschaftler - insbesondere solche, die auf teure Apparate angewiesen sind - direkt oder indirekt von Interessenten abhängig.

Aus diesem Grunde bekommt die Gewährleistung der Unabhängigkeit der Wissenschaft ein neues, existentielles Gewicht fürs Überleben der Gesellschaft. Da z.B. in Frankreich die Information über den Grad der radioaktiven Belastung von Luft, Wasser, Lebensmitteln usw. allein von den Wissenschaftlern erfolgt, die an Kernkraftwerken angestellt sind, wurde seinerzeit - nach dem Tschernobyl-Unfall - die französische Bevölkerung höchst unzulänglich und verharmlosend von der Belastung der auf dem Markt in Straßburg angebotenen Gemüse und Obstvorräte in Kenntnis gesetzt. Was auf dieser Seite des Rheins wegen zu großer, gesundheits­gefährdender Belastung mit Cäsium usw. aus dem Verkehr gezogen wurde, konnte daher auf der anderen Seite weiter gekauft und verzehrt werden. Erst mit großer Verzögerung breitete sich ein entsprechendes kritisches Bewußtsein auch in Frankreich aus. Nun ist die Umweltbelastung durch einen Unfall in Kernkraftwerken nur ein - noch dazu zum Glück seltenes - Beispiel für Umweltschäden; aber die Tatsache, daß Sinnes­wahrnehmung und common sense zur Wahrnehmung ökologischer Schäden nicht ausreichen, kann an ihm besonders anschaulich belegt werden.

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Es kann aber nicht nur um die - nachträgliche - Information über bereits eingetretene Umweltschäden und Gesundheitsgefahren gehen, sondern vor allem um die Information möglicher künftiger Schäden und die Möglich­keiten ihrer Vermeidung.

Der Bau von Talsperren, der unter Umständen für die Bodenfruchtbarkeit verhängnisvolle Absenkungen des Grundwassers zur Folge hat, oder die in der Sowjetunion geplante Umleitung ganzer Flüsse, sind Vorhaben, über die politisch entschieden werden muß und die in Demokratien öffentlich diskutiert werden müssen. In diesen Fällen ist die Unabhängigkeit der Experten von Behörden notwendig und ausreichend. Die politische Ausein­andersetzung wird daher in der Regel von Parteien geführt, die jeweils ihre Experten heranziehen. Dennoch ist - bei ausreichend langer und freier Diskussion - eine relativ rationale Entscheidung zu erwarten, die langfristigen Umwelt­belangen ebenso gerecht wird wie den akuten Bedürfnissen nach Wasserversorgung, Schutz vor Überschwemmungen usw.

Ganz anders liegt der Fall bei geplanten Entwicklungen, von denen die Öffentlichkeit nichts erfährt, weil sie in den Abteilungen für Forschung und Entwicklung großer Unternehmungen erfolgen. Ulrich Beck hat in seinem Buch <Risikogesellschaft, auf dem Weg in eine andere Moderne> (1986), daraufhingewiesen, daß sich auf diese Weise viele, wenn nicht die meisten zukunftsrelevanten Entscheidungen öffentlicher Mitsprache und/oder Kontrolle entziehen. Die von der IG-Metall geforderten betrieblichen Umweltbeauftragten, denen eine ähnliche rechtliche Absicherung wie den Betriebsräten zuteil werden sollte, würden für diese Information und Kontrolle nicht ausreichen.

Einmal kann unterstellt werden, daß diese Beauftragten lediglich die potentiellen gesundheitlichen Schädigungen der Betriebs­angehörigen (und der unmittel­baren Anwohner) im Auge haben würden, zum anderen dürften sie keinen genügenden Einblick in die Forschungs- und Entwicklungs­abteilungen haben, die — schon aus Gründen der Sicherung gegen Werksspionage und Konkurrenz­unternehmungen — stark nach außen abgedichtet arbeiten. Da aber nach Abschluß solcher Entwicklungen meist ein erheblicher Druck auf ihre Anwendung - ihre Realisierung im größeren Maßstab - erfolgt, ist es wünschenswert, daß schon hier, in diesem Stadium, eine Art vorausschauender Risikoabwägung erfolgen kann, die das Unternehmen selbst kaum freiwillig fördern wird, zu deren Zulassung sie also gezwungen werden müßte. 

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Damit greift die zweite Voraussetzung: die Herstellung ausreichender, dezentraler, demokratischer Kontrollmechanismen in die erste (die Informations­gewährleistung) ein. In dem Maße, in dem die Öffentlichkeit umwelt­bewußt wird, dürften aber Unternehmensleitungen einsehen, daß es in ihrem eignen Interesse liegt, solche Kontrollen oder Überprüfungen (Umweltfolgenabschätzungen, vor Einführung eines neuen Produkts oder einer neuen Produktionsmethode) zuzulassen.

Ökologisch bedenklich kann sowohl das künftige Produkt als auch der Herstellungsprozeß sein. Es kommt sogar häufig vor, daß z.B. das Produkt umweltfreundlich, die Herstellungsmethode aber umweltschädlich ist. Die Abwägung der tolerierbaren Risiken ist sicher nicht immer einfach. Es kann auch sein, daß — wie beim Zusammenwirken mehrerer Faktoren, die das Waldsterben oder das Ozonloch zur Folge haben — eine exakte Aufklärung noch längere Zeit auf sich warten läßt. Oft wird man sich mit einer ungefähren Abschätzung zufriedengeben müssen. Dabei sollte das Prinzip gelten: »im Zweifel für die Umwelt und gegen unklare neue Risiken«.

Die zweite von mir genannte Voraussetzung — die die Gewähr dafür bietet, daß die notwendigen Umstellungen (oder Verzichtsleistungen) auch durchgesetzt werden, ist die Demokratie. Die Institutionen der repräsentativen Demokratie mit zentralen Parlamenten und einer dem Parlament (bzw. der Parlaments­mehrheit) verantwortlichen Regierung ist zwar ein notwendiger, aber für die ökologischen Ziele nicht ausreichender Aspekt der Demokratie. Da Regierungen und Parlamente die Entscheidungen für ein relativ großes Gebiet treffen (das gilt selbst für föderale Staaten wie Deutschland), klaffen die Kenntnisse lokaler Umweltprobleme bei den »Betroffenen« und bei der Zentrale oft weit auseinander. Im Falle des Baus von Kernkraftwerken, von großchemischen Anlagen, von Talsperren, von Flughäfen usw. sind fast stets die Interessen und Wünsche der unmittel­baren Anwohner und die Ziele der Zentralregierung und des Parlaments unterschiedlich.

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Nun hat man die Kritik lokaler Bürgerinitiativen und ähnlicher Gruppierungen oft als lokalpatriotischen Egoismus verurteilt und ihnen vorgeworfen, sie handelten nach dem <St. Florianis-Prinzip>, das bekanntlich lautet: »O, heiliger St. Florian, verschon mein Haus — zünd ein andres an!« Wenn allerdings allen Gemeinden, Kreisen, Regionen ein Vetorecht gegen umweltbelastende, industrielle Anlagen oder Straßen-, Talsperren, Flußregulierungs-Bauten usw. eingeräumt wird, dann müßte — bei zulänglicher Aufklärung über die voraussehbaren Umweltbelastungen und Folgen — entweder ein sinnvoller und akzeptabler Standort gefunden, oder aber die entsprechende Planung aufgegeben werden.

Natürlich wäre es naiv, leugnen zu wollen, daß es Bürgerinitiativen gibt, die nach dem St.-Florians-Prinzip handeln. Vermutlich haben es die Vertreter der wohlhabenden städtischen Bürger seit jeher befolgt, wenn sie — z. B. — dafür gesorgt haben, das Industrieviertel und Gaswerke im Osten der Stadt angelegt wurden, weil der Wind überwiegend aus westlicher Richtung weht, so daß die im »vornehmen Westen« gelegenen Villenbewohner durch Industrieemissionen kaum belästigt werden konnten. Daß dann die Arbeiterwohnungen in Industrienähe - also im »East-End« - lagen, war eine notwendige Folge dieser Standortpolitik.

Solange ein ungebrochener - heute nicht mehr zu rechtfertigender - Fortschrittsglaube herrschte, konnten alle Versuche, im Interesse gewachsener Städtebilder oder Landschaften umweltbelastende Industrie­ansiedlungen zu verhindern, als reaktionär zurückgewiesen werden. Das ist heute nicht mehr möglich. In zu vielen Fällen hat sich gezeigt, daß »Fortschritt« auf der einen Seite mit weit mehr Rückschritten auf der anderen »bezahlt« werden muß. Das gilt selbst für so erfreuliche »Fortschritte« wie die zunehmende Mobilisierung der Bevölkerung durch Privatautos und Motorräder.

Volkswirtschaftlich und ökologisch ist eine stärkere Förderung des öffentlichen Personennahverkehrs weit sinnvoller. Aber hier stehen massenhafte individuelle Interessen einem Kurswechsel so stark im Wege, daß es wohl noch einige Zeit dauern wird, bis sich die Einsicht durchsetzt, daß immer mehr Kraftfahrzeuge auf den Straßen, trotz hoher Motorleistung, zu immer langsamerer Fortbewegung infolge von Staus führt und daß zugleich die Schadstoffbelastung der Luft weiter steil ansteigt, die zum Waldsterben einen Beitrag leistet.

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Wenn aber dem Einwand, zunehmende Verkehrsdichte führe zu Staus und zu Verlangsamung durch vermehrten Bau von Straßen und Autobahnen begegnet werden soll, dann wird Landschaft zunehmend zubetoniert und werden die Bewohner der Vorstädte durch Fahrzeuglärm und Abgase belästigt und verlieren einen Teil ihrer Lebensqualität. Naherholungsgebiete gehen unter Umständen verloren, weitere Wege werden notwendig, wenn Menschen aus den Ballungsgebieten in Erholungslandschaften kommen wollen usw. Man hat übrigens sogar ausgerechnet, daß selbst bei einem raschen Vorwärtskommen auf Landstraßen oder Autobahnen, der private Autoverkehr im Grunde langsamer ist als Radfahren. Zu diesem Resultat gelangt man, wenn man den Geldaufwand für Kauf und Betrieb eines Autos in notwendige Arbeitszeit hierfür umrechnet und diese Zeit — entsprechend — zu den Fahrzeiten hinzuzählt.

Das mag manchem vielleicht grotesk oder »weit hergeholt« erscheinen, kann aber doch zur Bewußtmachung der Fragwürdigkeit dieser Art von »Fortschritt« ganz aufschlußreich sein. Natürlich verschafft Autofahren auf der anderen Seite einen durchaus erklärbaren »Lustgewinn«, der kaum in Geldwert taxiert werden kann. Das Fahren im eignen Auto entschädigt viele für die im beruflichen Alltag sonst nicht erfahrene »Autonomie«. Die Etymologie des Wortes Auto — vom griechischen »autos« — das heißt »Selbst«, mag — in seltsamer Verschiebung vom sich-selbst-fortbewegenden Fahrzeug auf das im Auto sitzende »Selbst« für diesen psychischen Aspekt ganz aufschlußreich sein. Typisch ist auch die Frage des Gastgebers an den Gast: »Wo stehen Sie?« Wobei er eigentlich meint: Wo steht Ihr Wagen? Niemand empfindet es als anstößig, wenn er mit seinem Fahrzeug identifiziert wird. Das mag denn auch ein Motiv dafür sein, sich einen möglichst großen, prestigevermittelnden Wagen anzuschaffen.

Das zwar oft strapazierte, aber durchaus charakteristische Beispiel des Individualverkehrs in Personenfahrzeugen kann aber auch deutlich machen, daß gegen eine Umstellung der Produktion und der Produkte auf Umwelt­verträglichkeit erhebliche, unaufgeklärte Widerstände vorhanden sind, die kaum von heute auf morgen überwunden werden können.

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Ich habe diese Problematik schon vor vielen Jahren als Alternative von Ökodiktatur oder Alternativzivilisation apostrophiert. Gemeint war damit, daß, wenn es nicht gelingt, bei einer Mehrheit der Bevölkerung das Bewußtsein für die Notwendigkeit einer den Überlebensbedingungen auch künftiger Generationen angepaßte Weise des Produzieren« und Konsumierens herbeizuführen, nur noch eine Diktatur diese Kurs­änderung durchsetzen könnte. Diktaturen aber, das hat gerade unser Jahrhundert mehrfach bewiesen, sind außerordentlich wenig lernfähig, weil ihnen der heilsame Zwang zur Berücksichtigung oder auch nur zur Kenntnis­nahme abweichender Meinungen und Erkenntnisse fehlt.

In Diktaturen pflegen allein die Geheimdienste bis zum gewissen Grade »informiert« zu sein, die aber unterliegen angesichts autoritärer Strukturen zuletzt auch dem Zwang, »Unerwünschtes« nicht nur in der Bevölkerung, sondern auch in den Berichten »nach oben« tunlichst zu unterdrücken. Selbst wenn daher »anfänglich« eine aufgeklärte, verantwortungsbewußte Diktatur eingerichtet würde, kann keineswegs damit gerechnet werden, daß diese auch in Zukunft rational im Sinne der realen Interessen der lebenden und künftiger Generationen entscheidet.

Eine der sozialen Gerechtigkeit wie den ökologischen Erfordernissen angemessene Politik muß also sowohl die Aufklärung der Bevölkerung durch selbständige Medien und unabhängige Wissenschaft sicherstellen als auch ausreichend lernfähige politische Eliten und artikulationsfähige Öffentlichkeiten auf allen Ebenen, von Stadtteil und Dorf bis zum Gesamtstaat und darüber hinaus zu internationalen Gremien anstreben. Daß der Markt alles »schon richtig regeln werde«, ist ein Mythos, den auch Adam Smith nicht vertreten hat, auch wenn er vor mehr als zweihundert Jahren dem Staat lediglich dringend die Aufgabe der elementaren Bildung ans Herz legte und sich im übrigen mit einem immer stärkeren Auseinanderdriften des Bildungsniveaus abzufinden bereit war.(2)

 

2 Siehe Adam Smith: »Der Reichtum der Nationen« (Leipzig 1910): »Die Verschiedenheit der natürlichen Talente bei den verschiedenen Menschen ist in Wahrheit viel geringer, als wir glauben, und die sehr verschiedenen Fähigkeiten, welche Leute von verschiedenen Berufen zu unterscheiden scheint, sobald sie zur Reife gelangt sind, ist in vielen Fällen nicht sowohl der Grund als die Folge der Arbeitsteilung. Die Verschiedenheit zwischen den unähnlichen Typen, etwa zwischen einem Philosophen und einem gemeinen Lastträger, scheint nicht so sehr von Natur vorhanden zu sein, als durch Lebensweise, Gewohnheit und Erziehung zu entstehen«. (Erstes Buch, Kapitel 2, dt. Ausgabe von 1910, S. 9.)

Daß staatliche Bemühungen notwendig sind, um die vereinseitigenden Folgen der Arbeitsteilung wenigstens teilweise zu kompensieren, hat schon Smith nachdrücklich betont: »Je weiter die Teilung der Arbeit fortschreitet, um so mehr kommt es endlich dahin, daß die Beschäftigung des größten Teils derer, die von ihrer Arbeit leben, d. h. der Masse, auf einige wenige sehr einfache Verrichtungen, oft nur auf ein oder zwei, beschränkt wird. Nun wird aber der Verstand der meisten Menschen allen durch ihre gewöhnlichen Beschäftigungen gebildet. Ein Mensch, der sein ganzes Leben damit hinbringt, ein paar einfache Operationen zu vollziehen, deren Erfolg vielleicht immer derselbe oder wenigstens ein ziemlich ähnlicher ist, hat keine Gelegenheit seinen Verstand zu üben oder seine Erfindungskraft anzustrengen, um Hilfsmittel gegen Schwierigkeiten aufzusuchen, die ihm niemals begegnen. Er verliert also natürlich die Fähigkeit zu solchen Übungen und wird am Ende so unwissend und dumm, als es nur immer ein menschliches Wesen werden kann. Die Verknöcherung seines Geistes ... läßt es ... in ihm zu keinem freien, edlen oder zarten Gefühl mehr kommen ... Über die großen und umfassenden Interessen seines Landes weiß er gar kein Urteil sich zu bilden, und wenn man sich nicht alle mögliche Mühe gibt, ihn anders zu machen, so ist er sogar unfähig, seinem Vaterlande im Kriege zu dienen.« (Fünftes Buch, 1. Kapitel, 3. Teil, ZU. nach der deutschen Ausgabe von 1910, Bd. II, S. 215).

»Seine Geschicklichkeit in dem ihm eigenen Gewerbe scheint also auf Kosten seiner geistigen, geselligen und kriegerischen Fähigkeiten erworben zu sein. Dies ist aber der Zustand, in welchen in jeder zivilisierten Gesellschaft der arbeitende Arme, d. h. die Masse des Volkes, notwendigerweise fallen muß, wenn es sich die Regierung nicht angelegen sein läßt, dagegen Vorsorge zu treffen« (ebenda). Zwar nimmt Smith realistischer Weise für seine Zeit an, daß »Leute aus dem gemeinen Volk in keiner zivilisierten Gesellschaft ebensoviel Unterricht geniessen können als vornehmere und reichere (!)«, aber es sei doch immerhin möglich, sie »Lesen, Schreiben und Rechnen« »in einem so frühen Alter erlernen zu lassen,« daß diese Ausbildung vor ihrem notwendigerweise frühen Eintritt ins Berufsleben möglich ist (ebenda, S. 217). Durch »kleine Prämien und Ehrenzeichen« könne man darüber hinaus zur Erlernung jener Kenntnisse »ermuntern« (ebenda). Auch wenn die Beschreibung der extremen Formen der Arbeitsteilung, die Smith gibt, für die heutigen entwickelten Industriegesellschaften nicht mehr zutrifft, bleibt noch immer die von mir betonte Unzulänglichkeit des allgemeinen Bildungsniveaus für die Entwicklung eines kritischen ökologischen Bewußtseins. Da in der modernen Demokratie alle — nicht nur die ökonomisch Selbständigen wie zur Zeit Adam Smith's — das volle Bürger- und Wahlrecht besitzen, kann man sich aber nicht mehr damit abfinden, daß große Teile der Bevölkerung — wie Smith andeutet — unfähig sind, »über die großen und umfassenden Interessen ihres Landes ... sich ein Urteil zu bilden«.

 

Angesichts der Risiken, die eine hochindustrialisierte Wirtschaft mit sich bringt, können sich die heutigen Gesellschaften mit einer bloß elementaren Bildung ebensowenig zufriedengeben wie mit der Deformation der Persönlichkeit durch eine Sozialisation in Familie und Arbeitsleben, die selbständige und verantwortliche Mitwirkung am Gemeinwesen fragwürdig macht.

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Moralische Selbständigkeit kann — in einer weithin aus Lohn- und Gehaltsabhängigen bestehenden Gesellschaft — nur durch die alltägliche Erfahrung von Mitbestimmungsrechten am Arbeitsplatz (und/oder im Wohnverhältnis) erlangt und bewahrt werden. Für eine über das Augenblicksinteresse hinausreichende Erkenntnisfähigkeit ist eine Bildungshöhe erforderlich, die mit der heutigen Grundschule nicht schon garantiert wird. Auch wenn das Konzept des »lebenslangen Lernens« vielleicht ein zu hohes Ziel setzt, bleibt doch wahr, daß Fremdbestimmung, technokratische Bevormundung und Entmündigung nur dann auf die Dauer verhindert oder überwunden werden können, wenn Naturwissenschaften und Gesellschaftswissenschaften wenigstens in ihren elementaren Grundlagen allgemein bekannt sind und der Begriff einer komplexen Vernetzung von Wirkungen verstanden wird.

Seymour Martin Lipset hat zwar in seinem Buch »Political Man, the social bases of Politics« (London 1960) daraufhingewiesen, daß hohe Beteiligungs­quoten an Wahlen keineswegs immer ein Zeichen für eine gut etablierte und funktionsfähige Demokratie sind, weil sie auf erhebliche soziale Spannungen und die Mobilisierung zahlreicher, sonst apolitisch sich verhaltender »irrationaler« Individuen hinweisen; aber er gibt doch zu, daß Demokratien, die nur dadurch vor populistischen Demagogen gefeit sind, daß erhebliche Bevölkerungsteile nicht zur Wahl gehen, labil sind.(3)

Die Durchsetzung einer ökologischen Veränderung unserer gesamten Lebensweise — die Abkehr vom Wachstumsfetischismus und vom Wettlauf nach Prestigekonsum usw. — ist aber nur dann realisierbar, wenn sie von einer großen Mehrheit engagierter Bürger dezidiert gewollt wird. Von einer Mehrheit, die nicht nur in Wahlen, sondern auch durch andere Willensbekundungen nachdrücklich für diese »Wende« eintritt. Wenn die ungebildeten, unzulänglich informierten Teile der Bevölkerung von den interessierten Gegnern einer solchen Wende jederzeit mobilisierbar sind, dann kann diese Wende nicht verwirklicht werden. Ohne eine sowohl breite als auch ausreichend tiefe Bildung sind daher heute Gesellschaften kaum entwicklungs- und über-lebens-fähig.

3 Siehe Seymour Martin Lipset: Soziologie der Demokratie, Neuwied 1962 (engl. »Political Mn. the Social Bases of Politics«, New York 1960).

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Endlich ist aber auch eine relativ gelungene primäre Sozialisation notwendig, wenn ichstarke, selbstbewußte, kritikfähige und tolerante Personen heranwachsen sollen, die ihre Aufgabe als citoyens angemessen erfüllen können. Im Zusammenhang mit der Notwendigkeit einer möglichst repressionsfreien und zugleich zu autonomen sittlichen Verhalten befähigende Sozialisation ist die Frauenemanzipation und die Überwindung einseitiger, geschlechts­spezifischer Verhaltensnormen notwendig.

Wenn Carol Gilligan mit einigem historischem Recht eine »weibliche« Ethik, die »care perceptive« sei von einer männlichen »justice perceptive« Ethik unterscheidet,4 so wird vermutlich eine Verbindung dieser beiden ethischen Verhaltensnormen für einen ökologisch verantwortlichen Umgang mit der Natur notwendig sein. Mit anderen Worten, die Einseitigkeiten einer »männlichen« Verhaltensweise, wie sie sich im Abendland herausgebildet hat und wie sie sowohl den Erfolgen der Naturbeherrschung als auch den Beschädigungen der unterdrückten und ausgebeuteten Natur zugrundeliegen, müssen überwunden werden.

Ich habe in dem Essai »Zur Dialektik des Fortschritts« darauf hingewiesen, daß insbesondere bei Francis Bacon die zum Dienst am Menschen (am Mann!) berufene »Natur« in einer aufschlußreichen metaphorischen Rede mit einer Frau und Mutter verglichen wird.5 Es gibt also sehr wohl eine Analogie zwischen einer unterdrückenden, überlistenden, ausbeuterischen Einstellung gegenüber der Natur und gegenüber der Frau. In einer Gesellschaft, in der die Frauen wirklich voll gleichberechtigt, nicht mehr unterdrückt und wirklich »gleich gestellt« wären, würde nicht nur die Baconsche Metaphorik, sondern auch die in ihr sich ausdrückende Einstellung unmöglich geworden sein.

4 Carol Gilligan: Die andere Stimme. Lebenskonflikte und Moral der Frau, München 1988.
5 Benjamin Farrington (Hrsg.): The Philosophy of Francis Bacon. An essay on its development from 1603 to 1609 with new Translations of Fundamental Texts, Liverpool 1964. Dort ist das Ms. »The Masculine Birth of Time«, S. 62 f., abgedruckt.

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Das vorliegende Buch ist aus einer Reihe von Vorträgen und Abhandlungen entstanden, die ich in den vergangenen zwölf Jahren gehalten habe. Seine Absicht kann es nicht sein, »Rezepte« für die Über­windung des verhängnisvollen Kurses der Industriezivilisation zu liefern, noch geht es mir um eine unmögliche und unsinnige »Rückkehr zur Natur« (die übrigens auch Rousseau keineswegs propagiert hat), sondern allein um die Bewußtmachung der Aufgaben und ihrer Komplexität; Aufgaben, die bewältigt werden müssen, wenn humane Lebensbedingungen auf der Erde auch von künftigen Generationen noch vorgefunden werden sollen.

Auf dem Weg zu diesem adäquaten Bewußtsein der Angewiesenheit menschlichen Lebens auf genau definierbare Existenzbedingungen, die die Erhaltung von Artenvielfalt im Tier- und Pflanzenreich einschließt, können Einsichten, die schon von Autoren des 19. Jahrhunderts wie J. S. Mill, Friedrich Albert Lange und sogar Karl Marx und Friedrich Engels formuliert wurden, ermutigende Anregungen sein. Sie haben das Problem durchaus schon gesehen, es aber — was angesichts des damaligen Standes der Industrialisierung nicht Wunder nimmt — kaum schon in seiner Brisanz erkannt.

Heute freilich ist die Tatsache ein Problem, daß die meisten Politiker und die Mehrheit der Menschen trotz nachgewiesener Gefahren eines unkorrigiert fortgesetzten industriellen Wachstums (sowie eines unkontrollierten Bevölkerungs­wachstums) nicht bereit sind, die notwendige Korrektur vorzunehmen. 

Hoimar von Ditfurth führt diese offenbar fehlende »Lernbereitschaft« darauf zurück, daß die heutigen Menschen zwar im naturwissenschaftlichen Wissen und technischen Können ihre Neanderthal-Ahnen weit hinter sich gelassen haben, in ihrer angeborenen Triebstruktur sich aber noch kaum von ihnen unterscheiden.6

6  Hoimar von Ditfurth: <So laßt uns denn ein Apfelbäumchen pflanzen>, 1985, S.317:

«... nicht nur unsere kongnitiven Fähigkeiten unterliegen den von der evolutionären Erkenntnistheorie herausgearbeiteten, aus den Bedingungen ihrer Entstehung verständlich abzuleitenden Einschränkungen. Auch unser soziales Verhalten, unser Umgang mit den >Mit-Menschen<, ist von genetischen Vorentscheidungen geprägt. Der Freiburger Biologe und Wissenschaftstheoretiker Hans Mohr legt den Finger auf die Wunde, wenn er daran erinnert, daß die uns angeborenen Verhaltenstendenzen und emotionalen Reaktionsweisen ihre bis heute im wesentlichen unverändert gebliebenen Ausprägungen im späten Pleistozän erhalten haben. Damals, längstens vor 100.000 Jahren und wenigstens vor 50.000 Jahren, war Homo sapiens, der moderne Mensch, in seiner heutigen Form aus archaischen Frühmenschentypen hervorgegangen. In dieser Epoche muß der erste Mensch gelebt haben, der sich genetisch nicht mehr von uns unterschied. Die erbliche Ausstattung, über die er zum Zeitpunkt <Null> menschlicher Zivilisation und Kultur verfügte, ist bis heute die gleiche geblieben. Auch wir haben mit ihr auszukommen ... Wir sind folglich genötigt, uns in der heutigen Welt mit einer Konstitution zu behaupten, deren angeborene (ererbte) Anteile in aller Nüchternheit als fossil angesehen werden müssen ...<In der Hand die Atombombe und im Herzen die Instinkte der steinzeitlichen Ahnen>, so hat Konrad Lorenz diese Besonderheit der Conditio humana ... prägnant formuliert«

Zu den schwersten Erblasten gehört »unsere wie es scheint unkurierbare Friedensunfähigkeit«, die C. F. von Weizsäcker auf den Satz, daß »wir die Erben von Siegern sind« zurückgeführt hat. Aggressivität zwischen Sippen, Stämmen, Völkern war lange Zeit überlebenswichtig, heute ist sie lebensgefährdend.

Auch wenn man diese genetische Fixierung nicht überbewerten darf, bleibt sie doch ein ernst zu nehmender Hinweis. Selbst Hoimar von Ditfurth setzte jedoch noch eine leise Hoffnung darauf, daß es gelingt, durch aufgeklärte Intelligenz jene triebhafte Fixierung auf aggressives und ausbeuterisches Verhalten gegenüber der »Mitwelt Natur« (so der von Meyer-Abich verwendete Terminus) zu überwinden.

Ein ebenso großes Hindernis für jene »Wende« des Bewußtseins und des Verhaltens stellt zweifellos der Erfolg eines auf die Freisetzung individueller und kollektiver Egoismen beruhendes Wirtschaftssystem dar, ein Erfolg, der zu gefährlicher Selbstüberschätzung verführen kann. Zahlreiche einsichtige Ökonomen wissen jedoch, daß der »Markt« allein keineswegs sozialen Lastenausgleich und Bewahrung der Ökosphäre gewährleistet. Der Streit geht lediglich darum, welche Mittel angewandt werden müssen, um diese beiden Zwecke zu erreichen.

Die Zukunft wird zeigen, ob es gelingt, genügend institutionelle Rahmenbedingungen zu setzen, die marktwirtschaftliches Verhalten zur »Anpassung« von Produktion und Produktangebot an die Bedingungen der Erhaltung der Naturgrundlagen menschlicher Existenz zwingen. Die Tatsache, daß gegen die Setzung solcher Rahmenbedingungen von »interessierter Seite« Widerstand geleistet wird, ist nicht zu übersehen. Daß solcher Widerstand kurzfristige und sektorale Interessen auf Kosten langfristiger Überlebensinteressen ganzer Gesellschaften, ja der ganzen Menschheit bevorzugt, ist ebenso evident.

Auch wenn es diese vom egoistischen Interesse eines Unternehmens im Privateigentum ausgehenden Hindernisse in einem Land ohne derartiges Privateigentum nicht gibt, setzt sich auch dort — wie die Erfahrung gezeigt hat — das sektorielle Interesse einzelner Industriezweige (repräsentiert durch die Industrie­ministerien z. B.) und einzelner Betriebe gegen ökologische Forderungen und Auflagen erfolgreich zur Wehr.

Betriebsegoismus und Blindheit für gesamtwirtschaftliche negative Folgen betriebswirtschaftlicher Vorteilsmaximierung ist offenbar nicht auf Wirtschaftsordnungen mit Privateigentum beschränkt. Eine zentrale Planwirtschaft, die außerstande ist, gesamtgesellschaftlich wichtige Gesichtspunkte angemessen zu berücksichtigen, verfehlt ihren einzig legitimen Zweck.

Dagegen kann allein eine effiziente Demokratie aufgeklärter Bürger, die über die angedeuteten Kontrollmöglichkeiten verfügen, die notwendige »Wende« und eine Entwicklung der Produktion wie des Konsums in der notwendigen Richtung durchsetzen und sicherstellen. 

Private Eigentums­verhältnisse sind nur dann einer solchen Umstellung im Wege, wenn sie dazu führen, daß kurzfristige Partikularinteressen auch gegen demokratisch legitimierte Versuche der Beeinflussung und Lenkung durchgesetzt werden.

Der Primat der Demokratie ist ausschlaggebend, einer Demokratie, die genügend informiert und durchsetzungsfähig ist.

245-246

Frankfurt a. M., Dezember 1990
Iring Fetscher

 

 

Ende

 

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Iring Fetscher - Überlebensbedingungen der Menschheit - Ist der Fortschritt noch zu retten?