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   17 - Extremer Gefahr ausgeliefert?  

 

Ein Nachlauf von 50 Jahren und die wahren Kosten von Heckflossen-Chevrolets. - Der Ozean lebt in den siebziger Jahren – und auch die Industrie. 

Das Treibhausrad lässt sich nicht zurückdrehen. - Die Schwelle zu extremer Gefahr: 400 oder 1200 Teile pro Million? Oder haben wir sie bereits überschritten? 

 

"Die globale Erwärmung ist so schwerwiegend und so dringlich, weil das große irdische System, Gaia, in einem Teufelskreis positiven Feedbacks gefangen ist. Zusätzliche Wärme aufgrund jedweder Ursache, seien es die Treibhausgase, das Schwinden des arktischen Eises oder des Amazonasregenwaldes, wird verstärkt, und das hat mehr als nur additive Auswirkungen. Es ist fast, als hätten wir ein Feuerchen angemacht, um uns zu wärmen, und beim Brennholznachlegen nicht bemerkt, dass das Feuer bereits außer Kontrolle geraten ist und die Möbel in Brand gesetzt hat. Wenn das passiert, bleibt nur wenig Zeit, das Feuer zu löschen. Die globale Erwärmung greift um sich wie ein Feuer, und es bleibt nahezu keine Zeit zu reagieren."  —James Lovelock, Independent, 24.05.2004—

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Wissenschaftler des Hadley Centre sprechen davon, dass wir »dem Klimawandel physisch ausgeliefert« seien.20 Damit meinen sie, dass die Auswirkungen der Treibhausgase, die bereits heute in der Atmosphäre sind, in vollem Umfang erst um 2050 zu spüren sein werden. Das bedeutet, dass die Erde bei einem sofortigen Stopp der Treibhausgas-Emissionen um 2050 einen neuen stabilen Zustand mit einem neuen Klima erreichen würde.

Weil wir keine Möglichkeit haben, die Treibhausgase aus der Atmosphäre zu entfernen, bedeutet dieser »Nachlauf« von 50 Jahren aufgrund der Langlebigkeit des CO2 in der Atmosphäre wahrhaftig physisches Ausgeliefertsein. Ein Großteil des CO2, das freigesetzt wurde, als unsere Urgroßmütter um den Ersten Weltkrieg herum ihre Öfen mit Kohle befeuerten, heizt unseren Planeten noch heute auf. 

Der meiste Schaden aber wurde ab den fünfziger Jahren angerichtet, als unsere Eltern und Großeltern in Chevrolets mit Heckflossen herumfuhren und ihre arbeitssparenden Haushaltsgeräte mit Strom aus ineffizienten Kohlekraftwerken betrieben. Die größte Schuld jedoch trifft die Generation der Baby-Boomer: Die Hälfte der seit der Industriellen Revolution erzeugten Energie wurde in den letzten 20 Jahren verbraucht.

Es ist leicht, die Extravaganzen zu verfluchen, die uns in die heutige Lage gebracht haben, doch wir müssen bedenken, dass bis vor kurzem niemand die leiseste Ahnung hatte, dass sich Autoabgase und die Verwendung von Staubsaugern auf die Kinder und Enkel auswirken würden. Auf uns Heutige trifft das nicht mehr zu, denn die wahren Kosten unserer Allradfahrzeuge, Klimaanlagen, elektrischen Heißwasserbereiter, Wäschetrockner und Kühlschränke werden zunehmend jedem klar. Darüber hinaus sind die Menschen in vielen entwickelten Ländern heute im Durchschnitt dreimal wohlhabender als ihre Eltern in derselben Lebensphase, und daher sind wir durchaus in der Lage, uns die Kosten für die Änderung unserer Lebensweise aufzubürden.

Wir müssen uns die Trägheit des irdischen Klimasystems näher anschauen, wenn wir besser verstehen wollen, was »Ausgeliefertsein« eigentlich bedeutet. Wie weiter oben festgestellt, reagieren die Atmosphäre, die Landoberfläche und die Ozeane in unterschiedlichem Tempo und Ausmaß auf die Zunahme der Treibhausgase. Im Jahr 2002 lag die Oberflächentemperatur des Planeten insgesamt um 0,8°C über den vorindustriellen Werten, die Landoberfläche war 1,2°C wärmer und die Troposphäre ein bis acht Kilometer über unseren Köpfen um (von Satelliten gemessene) 0,25°C wärmer als im Durchschnitt der voran­gegangenen 20 Jahre; verschiedene Teile des irdischen Systems reagieren unterschiedlich auf die Erwärmung, und die Verteilung der zusätzlichen Hitze ist mit ein Grund für die Verzögerung.

Unsere Abhängigkeit wird auch von dem CO2 beeinflusst, das wir bereits freigesetzt haben, von den positiven Rückkopplungsschleifen, die den Klima­wandel verstärken, von der globalen Helligkeitsabnahme und von dem Tempo, in dem die Wirtschaft sich vom Kohlenstoff befreien kann. Von diesen Faktoren ist der erste — die vorhandenen Treibhausgasmengen — bekannt; er sorgt für unser bestehendes Ausgeliefertsein. Der Zweite und der Dritte — positive Rückkopplungsschleifen und globales Dimmen — werden von Wissenschaftlern noch erforscht. 

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Und der Vierte — das Tempo, mit dem die Menschen ihre Emissionen ändern können — wird gegenwärtig überall auf der Welt in Parlamenten und Sitzungs­sälen diskutiert. Zugleich ist er der Einzige, den wir beeinflussen können.

Wissenschaftler sagen, bis Mitte des 21. Jahrhunderts sei eine Reduktion der CO2-Emissionen um 70 Prozent — von den Werten des Jahres 1990 ausgehend — erforderlich, um das Klima der Erde zu stabilisieren. Dies würde zu einer Atmosphäre mit 450 Teilen CO2 pro Million führen und unser globales Klima bis etwa 2100 bei einer Temperatur stabilisieren, die mindestens 1,1°C über der heutigen läge, wobei sich einige Regionen um bis zu 5°C erwärmen könnten.

Die europäischen Länder sprechen über Einschnitte bei den Emissionen in dieser Größenordnung, aber angesichts der Unnachgiebigkeit der Kohleindustrie und der Politik der gegenwärtigen US-Regierung könnte dieses Ziel global unerreichbar sein. Ein realistischeres Szenario könnte die Stabilisierung des atmosphärischen CO2 bei 550 Teilen pro Million sein — beim Doppelten des vorindustriellen Niveaus. Das würde zu einer klimatischen Stabilisierung in einigen Jahrhunderten führen und zu einem Anstieg der globalen Temperatur um rund 3°C im Lauf dieses Jahrhunderts, plus oder minus ein paar Grad (wobei »plus« wahrscheinlicher ist als »minus«).

Aber denken Sie daran, dass wir auch in diesem Fall viel Glück brauchen, denn trotz unseres besten Bemühens könnten die bereits in der Atmosphäre befindlichen Treibhausgase positive Rückkopplungsschleifen in Gang setzen, die das Potenzial haben, den Kohlenstoffzyklus zu destabilisieren.

Inwiefern sind wir der Möglichkeit ausgeliefert, dass die Erde irgendeinen Schwellenwert des Klimawandels überschreitet, hinter dem extreme Gefahr lauert?

Die <United Nations Framework Convention on Climate Change> nennt als ihr absolutes Ziel die Stabilisierung der Treibhausgase auf einem Niveau, das »gefährliche anthropogene Eingriffe in das Klimasystem verhindern« würde. Das bedeutet, der Klimawandel sollte nicht mit einer höheren Geschwindigkeit weitergehen als jener, an die sich Ökosysteme und die Nahrungsproduktion anpassen könnten, und zugleich mit einem Tempo, das nicht die wirtschaftliche Entwicklung bedroht.21 Aber wie hoch oder niedrig ist diese Geschwindigkeit? Wo liegt der Schwellenwert des »gefährlichen Klimawandels«? 

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Im Jahr 2002 bezifferte Thomas Schelling von der University of Maryland — der die Weigerung der Vereinigten Staaten, das Kyoto-Protokoll zu ratifizieren, verteidigt — diesen Wert mit »vermutlich zwischen 600 und 1200 Teilen pro Million«.22 Das bedeutet einen Anstieg der Oberflächentemperatur irgendwo im Bereich zwischen 2°C und 9°C. 

Breiter akzeptierte Meinungen nennen rund 2°C Erwärmung als Grenzwert. Da es bereits zu einem Anstieg um 0,63°C gekommen ist, bleibt uns ein Spielraum von rund 1,3°C Temperaturanstieg. Aber Michael Mastrandrea und der Klimatologe Steven Schneider schreiben:

Es ist möglich, dass einige Schwellenwerte für gefährliche anthropogene Eingriffe in das Klimasystem bereits überschritten sind, und es ist möglich, dass weitere solche Schwellen­werte näher rücken ... trotz der großen Unsicherheit bei vielen Aspekten der umfassenden Einschätzungen kann besonnenes Handeln die Wahrscheinlichkeit und damit das Risiko gefährlicher anthropogener Eingriffe substanziell reduzieren.23

Anders ausgedrückt: 

Es ist zu spät, um eine Veränderung unserer Welt zu verhindern, aber es ist noch Zeit, der Katastrophe zu entgehen, wenn die richtige Politik umgesetzt wird. »Richtige Politik« bedeutet Mastrandreas und Schneiders Modell zufolge eine Kohlenstoff-Steuer von 200 US-Dollar pro Tonne, die, wenn bis 2050 eingeführt, ausreicht, um die Wahrscheinlichkeit eines gefährlichen Klimawandels gegen null gehen zu lassen.24

Sinnvoller ließe sich das Problem wahrscheinlich angehen, wenn man die Veränderungsrate quantifizieren würde, die gefährlich ist. Schließlich ist das Leben flexibel, und wenn man ihm genügend Zeit lässt, kann es sich an extremste Verhältnisse anpassen. Also kommt es auf das Tempo an, nicht auf den Trend oder das Ausmaß der Veränderungen insgesamt. 

Klimawissenschaftler mit dieser Haltung argumentieren: »Erwärmungsraten über 0,1°C pro Jahrzehnt werden das Risiko signifikanter Schäden am Ökosystem wahrscheinlich rapide steigern.«25 Ähnlich wäre ein Anstieg des Meeresspiegels um mehr als zwei Zentimeter pro Jahrzehnt genauso gefährlich wie ein Anstieg um fünf insgesamt.26

Aber die Frage, was einen gefährlichen Klimawandel ausmacht, wirft eine weitere auf: Gefährlich für wen? Für die Inuit, deren primäre Nahrungsquellen — Karibus und Robben — mittlerweile infolge des Klimawandels nur noch schwer zu finden sind, ist ein ökonomisch und kulturell schädlicher Schwellenwert bereits überschritten worden.

Ziehen wir das Schicksal des Planeten insgesamt in Betracht, dürfen wir uns keinen Illusionen hingeben, was auf dem Spiel steht. Die Durchschnitts­temperatur der Erde liegt bei rund 15°C, und ob wir zulassen, dass sie um nur 1°C oder um 3°C steigt, wird das Schicksal Hunderttausender von Spezies entscheiden und höchstwahrscheinlich das von Milliarden Menschen. 

Niemals zuvor in der Geschichte der Menschheit hat es eine Kosten-Nutzen-Analyse gegeben, die größerer Genauigkeit bedurft hätte.

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