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20  Unendliche Tiefen / Tiefsee

 

Warum sterben sie, wenn wir sie erblicken? Eine Welt unerforschter Absonderlichkeiten. Von Zungenkiemern, Großmaulhaien und Laternenanglern. Saures Meer und schalenlose Kammmuscheln. Die letzte Auster?

 

Denken wir an die, die ruhen, in ungezählten Faden Tiefe 
Thomas Campbell, <The Battle of the Baltic>

 

 

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Wenn Meeresbiologen die Ozeantiefen abfischen und die dort unten lebenden bizarren Kreaturen einholen, sind die Tiere — was nicht zu vermeiden ist — bereits am Sterben. Schwarze, schöne Körper von Tiefseeanglerfischen liegen leblos da, ihre Lumineszenz ist nur noch ein Flackern, und Räuber wie der Schwarze Zungenkiemer (Malacosteus niger) erbleichen und erbrechen ihre letzte Mahlzeit, die oft ein größerer Fisch war als der Zungenkiemer selbst. Binnen Minuten erlahmen die Bewegungen, und die Augen der Kreaturen, die ihrem Element entrissen wurden, trüben sich.

Der Druckunterschied bringt sie um, sagen die Wissenschaftler, denn in der Welt dieser Wesen ist die Kraft der kilometerhohen Wassersäule darüber so gewaltig, dass ein U-Boot auf der Stelle verbeulen würde. Als Beweis für diese Theorie weisen die Experten auf jene wenigen Tiefseefische hin, die Schwimm­blasen haben. Sie kommen völlig entstellt an die Oberfläche. Ihre Luftsäcke sind, weil das Gas expandiert, so angeschwollen, dass ihre Körper bis zum Zerplatzen gespannt sind. Trotz solcher grauenhafter »Beweise« wissen wir es inzwischen besser.

Beißen Sie in Ihrer Phantasie die Zähne zusammen und schnappen Sie sich einen Tiefseeangler (Caulophryne polynema), der gerade aus einer Tiefe von drei Kilometern hochgeholt worden ist. Dann werfen Sie seinen schwarzen, sackähnlichen und mit Fäden bedeckten Körper (glauben Sie mir, er ist mit Sicherheit der Groteskeste aller Fische) in einen Kübel Eiswasser. Nun warten Sie ab. 

Binnen Minuten kehrt das Leben in seinen Körper zurück, seine großen, zähnebewehrten Kiefer schnappen, und die mit Fäden besetzte »Angelrute«, die zwischen seinen Augen hochragt, beginnt zu zucken. Die Kreatur hat sich vom Trauma ihres Auftauchens erholt und bewiesen, dass ihr Leben vor wenigen Augenblicken nicht von Unterdruck, sondern von Wärme bedroht war; die Tiere bewohnen Ozeantiefen, in der die Temperatur um null Grad schwankt. Selbst Wassertemperaturen, die uns binnen Minuten erfrieren ließen, sind für diese Fische verheerend warm.

Die Struktur der Weltmeere ist für unser Klima entscheidend. 

Es gibt drei separate Schichten mit unterschiedlichen Temperaturen. In den obersten rund 100 Metern variiert die Temperatur enorm; nahe der Pole kann sie unter null liegen, während sie am Äquator 30°C überschreiten kann. Unter dieser vertrauten, lichtdurchfluteten Welt liegt bis zur Tiefe von rund einem Kilometer eine Zone des stetigen Temperaturrückgangs — je tiefer man sinkt, desto mehr sinkt auch die Quecksilbersäule. Bei rund einem Kilometer haben wir das ozeanische Tiefenwasser erreicht, und das ist von dort bis nach ganz unten von bemerkenswert stabiler Temperatur — sie schwankt zwischen -0,5°C (wegen des Salzgehalts gefriert das Wasser unter dem Nullpunkt nicht) und +4°C. Den größten Teil des Wassers in diesem Reich der Dunkelheit exportiert die Antarktis, wo es von submarinen Strömungen bis nahe dem Gefrierpunkt abgekühlt wurde.

 

Bleiben wir einen Moment an den Polen, wo das eisige Wasser der Meerestiefen an die Oberfläche steigt. Richard Feely vom Pacific Marine Environmental Laboratory und seine Kollegen haben untersucht, was in diesen Regionen passieren könnte, wenn immer mehr CO2 absorbiert wird. Die Ozeane versauern, und weil ihre Puffer, die Carbonate, nicht unbegrenzt zur Verfügung stehen, sinkt deren Gehalt vermutlich unter das Niveau, bei dem sie noch von Schalen bildenden Tieren genutzt werden können. Jenseits dieses Schwellenwerts werden die Carbonate aus den Schalen der Kreaturen gelöst und in den Ozean gespült, sodass es ihnen unmöglich wird, ihre Schutzhüllen zu behalten.37

Tiere wie Kammmuscheln und Austern, die Aragonit verwenden (Calciumcarbonat von anderer Struktur als in den meisten Molluskenschalen), sind besonders gefährdet, weil der Grenzwert, bei dem das Aragonit sich im Salzwasser löst, um rund ein Drittel niedriger liegt als bei Calcit, aber letzten Endes werden auch Krebse, Garnelen und Würmer leiden.

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Dieses Problem stellt sich vielleicht noch ein paar hundert Jahre nicht, aber wenn wir dann die ersten Anzeichen sehen, wird es viel zu spät sein, um noch irgendetwas dagegen zu tun. Nach den ersten Austern ohne Schalen muss man im subarktischen Nordpazifik suchen, denn dort liegt der Sättigungspunkt für Carbonate niedriger (bloß zwei Drittel eines tropischen Ozeans) als irgendwo sonst.

Die ersten Anzeichen werden im Winter auszumachen sein, wenn tiefe Temperaturen und die vom Wind verursachte Durchmischung der Oberflächen- und der tieferen Schichten für die entsprechenden Bedingungen sorgen. Danach wird das Unheil Richtung Äquator kriechen, wo im Lauf der Zeit alle Schalen bildenden Spezies in Mitleidenschaft gezogen werden.38 Wegen der Trägheit des Ozeans wird es zu dem Zeitpunkt, da sich die ersten Folgen dieser Veränderung zeigen, schon viel zu spät sein, um den Trend noch umzukehren. Wenn Sie wollen, dass Ihre Ururenkel und deren Nachfolger noch den Geschmack von Austern kennen, müssen wir die CO2-Emissionen jetzt begrenzen.

Die meisten Menschen würden zwar den Verlust der Austern beklagen, zugleich werden sie aber auch das Gefühl haben, dass die Welt auch ohne solche Kreaturen wie den Tiefseeangler oder den Schwarzen Zungenkiemer gut zurechtkommt; die Ozeantiefen sind jedoch mit die wundersamsten und ausgedehntesten Gefilde unseres Planeten. Sie stellen auch ein letztes Grenzland dar, in dem es noch immer möglich ist, von einem fünf Meter langen Hai überrascht zu werden, bei dem es sich nicht nur um eine neue Spezies, sondern eine ganze, der Wissenschaft noch unbekannte Familie handelt.

So war es im Fall des Großmaulhais (Megachasma pelagios), dessen erstes bekannt gewordenes Exemplar sich in der Ankerkette eines US-Marineschiffs verfing, das sich in den siebziger Jahren in 4,5 Kilometer tiefem Wasser vor Hawaii aufhielt. Diese großen Haie sind Filtrierer, die — soweit wir wissen — ihr ganzes Leben lang auf der Schwanzspitze balancierend verbringen und vertikal durch den wegelosen Ozean wandern.

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Wenn solche Monster bislang unbekannt geblieben sind, dann überlegen Sie, wie viele kleinere Kreaturen noch ihrer Entdeckung harren. Und das Leben in den Tiefen ist so spezialisiert, dass es uns mit Sicherheit Aufklärung darüber bringen kann, wie Kreaturen an den äußersten Grenzen der Habitabilität überleben können.

Pelikanaale sind aalähnliche Kreaturen, die nur aus Maul, Magen und einem Schwanz zu bestehen scheinen, der prächtig illuminiert ist. Sie lauern in der Tiefe und haben dabei ihren Schwanz so eingekringelt, dass dessen Neonspitze knapp vor ihrem alles verschlingenden Schlund liegt; kommt dann ein Wesen neugierig näher, schlagen sie zu. Da sie ihre Beute als Erstes am Schwanz packen, müssen sie hinunterwürgen, was oft ein Fisch mit nach hinten gerichteten Stacheln ist, und das schaffen sie, indem sie ihren Körper langsam über die Mahlzeit schieben, wie man sich einen Socken über den Fuß rollt. Der Pelikanaal (Eurypharynx pelecanoides) hat im Verhältnis zum Körper das größte Maul aller Skeletttiere der Erde, leidet aber so sehr unter Calciummangel, dass das Tier nach der Paarung seine Kiefer und Zähne resorbiert, um den befruchteten Eiern so viel Calcium mitzugeben, dass sie embryonische Skelette ausbilden können.

Noch bizarrer sind die Anglerfische. Der Laternenangler (Linophryne arborifera) phosphoresziert von allen Fischen am stärksten, sein großer Bart und seine »Angelrute« erinnern an einen hell strahlenden Weihnachtsbaum. Das betrifft das Weibchen, das Männchen ist nichts weiter als ein nutzloser Parasit. Wenn es die Größe eines Koboldkärpflings hat, sucht es sich eine Lebenspartnerin und beißt sie in den Bauch. Von da an ist er bloß noch ein parasitäres Testikel, das sich von ihrem Blut ernährt und, wenn es an der Zeit ist, dazu stimuliert wird, sein Sperma abzugeben.

Die Ozeantiefen sind nicht bloß ein weiteres Reich der Natur, sie sind auch fast ein Paralleluniversum, das voller evolutionärer Möglichkeiten steckt. Was könnte, fragen Sie sich vielleicht, menschliche Aktivität solch einer Welt antun? Unmittelbar ist sie zwar nicht bedroht, Lehren der Vergangenheit aber deuten darauf hin, dass auch dieses Riesenreich ein Opfer des Klimawandels werden könnte.

Als vor 55 Millionen Jahren eine Methaneruption unseren Planeten aufheizte, wurden die Ozeantiefen fast so warm wie die Oberfläche, und das Leben im Abgrund wurde fast ausgelöscht. Es wurden keinerlei Relikte von überlebenden Tiefseefischen aus jener Zeit gefunden (ja, wir haben so gut wie keine Fossilien von ihnen), aber was an Beweisen in den Felsen überlebt hat, spricht Bände über die Massenauslöschung der kleineren Kreaturen, die ihr Habitat teilten.

Ein Großteil der Lebensvielfalt in den modernen Ozeantiefen hat sich wahrscheinlich entwickelt, seit die Erde sich vor rund 33 Millionen Jahren abkühlte und eine rapide gefrierende Antarktis eiskaltes Meerwasser um die Welt zu schicken begann. Zwar registrieren die Wissenschaftler eine Erwärmung des Tiefenwassers, aber es wird noch Hunderte von Jahren und ein Jahrhundert oder mehr des Weitermachens wie bisher brauchen, um es aufzuheizen. In jener möglichen, aus dem Ruder laufenden Treibhauswelt der Zukunft werden vielleicht Laternenangler und Pelikanaal im Todeskampf des Hitzestresses liegen, selbst in den letzten Winkeln ihres finsteren Reiches.

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