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1.  Opposition und Widerstand: Begriff der Kausalität

 

 

»Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat«, besagt ihre Verfassung. »Alle Macht dient dem Wohle des Volkes.«1) Von daher ist die herrschende Ideologie – die Ideologie der Herrschenden – nicht ohne Logik, wenn sie Opposition und Widerstand in der DDR jegliche Existenzgrundlage aberkennen will. 

»In sozialistischen Staaten existiert für eine Opposition gegen die herrschenden gesellschaftlichen und staatlichen Verhältnisse keine objektive politische oder soziale Grundlage. Da die sozialistische Staatsmacht die Interessen des Volkes verkörpert und seinen Willen verwirklicht, die Staatsmacht tatsächlich vom Volk ausgeht, der Erhaltung des Friedens, dem Aufbau des Sozialismus und damit der kontinuierlichen Entfaltung umfassender Demokratie sowie der ständig besseren Befriedigung der materiellen und ideellen Lebensbedürfnisse aller Werktätigen dient, richtete sich jegliche Opposition gegen die sozialistische Gesellschaftsordnung gegen die Werktätigen selbst.«2) Selten hat sich die herrschende Ideologie des Marxismus-Leninismus so eindeutig als »falsches Bewußtsein« gezeigt wie in diesem Zitat aus einem Ostberliner Polit-Lexikon, mißt man es an der Realität der in der DDR gegebenen Verhältnisse.

Schon 1949 hat der damalige Ministerpräsident Otto Grotewohl unmittelbar nach Gründung der DDR kategorisch erklärt, es dürfe »keine verantwortungslose Opposition im Parlament der neuen deutschen Demokratie geben, die ihre ganze Funktion nur darin sieht, Obstruktion zu treiben. Es darf sich keine Partei oder Organisation, wenn sie ihre Listen zur Parlamentswahl einreicht, vor der Mitarbeit oder Mitverantwortung in der Regierung drücken. Wer in das Parlament einzieht, der muß mitarbeiten.«3)

In dieser frühen Absage an jedes Recht auf parlamentarische Opposition sind sich die Herrschenden in Ost-Berlin immer treu geblieben. »Keine Rechte und keine Linke, keine Regierungspartei gegen die Opposition und keine diktatorische Koalition, die schwächere Interessenvertretung aus den Staatsgeschäften ausschaltet, sind in unserer Volkskammer denkbar«, las man 1960 in einem Grundsatzartikel. »Alle Parteien und Massenorganisationen arbeiten kameradschaftlich zusammen und niemals gegeneinander. Opposition gegen Frieden, Demokratie und Aufbau des Sozialismus wäre ein Schlag ins eigene Gesicht.«4)

Das Nein zu jedweder parlamentarischen Opposition folgt logisch aus dem Verbot oppositioneller Parteien. »Wer soll bei uns gegen wen opponieren?« fragen die Autoren eines DDR-Standardwerkes über Wahlen und Wahlrecht. »Den Weg des Sozialismus wählte (wählte!) das ganze Volk.«

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Danach folgt als Argument die Diffamierung: »Forderungen nach Oppositionslisten und Oppositionsparteien in der Deutschen Demokratischen Republik, die der Gegner im Rahmen der psychologischen Kriegführung gegen den Arbeiter-und-Bauern-Staat Leichtgläubigen einzuimpfen versucht, stehen im Gegensatz zur Einheit von Volk und Staat in der Deutschen Demokratischen Republik und zu ihren gemeinsamen Interessen. Solche Parolen sind in ihrer Substanz nichts anderes als der Versuch, Kräfte gegen das Gemeinschaftswerk des sozialistischen Aufbaus zu organisieren. Das sind – deutlich gesagt – konterrevolutionäre Forderungen.«5)

Schließlich wird das Fehlen einer parlamentarischen Opposition als Ausdruck höherer Demokratie verklärt: »Das Fehlen einer Opposition kennzeichnet auf der Grundlage der Verfassung der DDR die Negation der bürgerlichen Demokratie«, heißt es in einer Studie zur Bündnispolitik der SED. »Der neue historische Typ der Demokratie, der seinem Klasseninhalt nach die Herrschaft der Arbeiterklasse und der Werktätigen ist, benötigt keine Opposition. Sein geschichtlicher Auftrag ist die Errichtung und Ausübung der Herrschaft der assoziierten Produzenten über ihre eigenen gesellschaftlichen Beziehungen und die Natur.«6 Es ist schon erstaunlich, was manche DDR-Autoren zu Papier zu bringen wagen.

Die Weigerung der SED, sich die demokratische Legitimation ihrer Herrschaft in freien, gleichen, unmittelbaren und geheimen Wahlen mit alternativer Entscheidungsmöglichkeit bestätigen zu lassen, ist darauf die wie eh und je gültige Probe. Versuche, den Volksentscheid über die zweite Verfassung der DDR vom 6. April 1968 als Votum der Bevölkerung für den ihr aufgenötigten Sozialismus auszulegen, sind politisch untauglich. Der Volksentscheid lieferte im Gegenteil sogar Indizien dafür, daß in der Bevölkerung oppositionelle Kräfte lebendig geblieben waren. Nach dem amtlichen Ergebnis wurden 409.733 Nein-Stimmen sowie 24.353 ungültige Stimmen abgegeben. 5,51 Prozent der an der Abstimmung beteiligten Bürger brachten mithin trotz erzwungener, weitgehend offener Stimmabgabe den Mut auf, der sozialistischen Verfassung der DDR ihre Zustimmung zu verweigern, wobei Ost-Berlin sowie die Industriebezirke Cottbus, Karl-Marx-Stadt und Leipzig mit bis zu neun Prozent Nein-Stimmen merklich über dem Durchschnitt der Republik lagen.

Gerade das Verfassungsplebiszit dürfte die Herrschenden in ihrer Auffassung bestärkt haben, auch fortan freie Wahlen in der DDR nicht zuzulassen. Verfassungsrechtlich haben sie zudem eine besondere Konsequenz gezogen:

Die Bestimmungen über das Verhältniswahlrecht in Artikel 51 der ersten Verfassung, die mit Gründung der DDR am 7. Oktober 1949 in Kraft trat, wurden in die Verfassung vom 6. April 1968 nicht mehr übernommen – sie begnügt sich in Artikel 54 mit der Vorschrift, daß die Abgeordneten der Volkskammer vom Volk »in freier, allgemeiner, gleicher und geheimer Wahl« gewählt werden. Trotzdem reicht in der DDR die Diskussion, ob über die Frage »Sozialismus oder Kapitalismus in Deutschland« nicht doch einmal »durch den Volkswillen, also durch Wahl, entschieden werden« sollte und ob es nicht »auch im Sozialismus eine parlamentarische Opposition geben«7) könne, bis in die jüngste Zeit hinein.

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Unter den gegebenen Voraussetzungen muß die Feststellung geradezu überraschen, daß es in der mittlerweile 35jährigen Geschichte der DDR-Volkskammer tatsächlich ein einziges Mal in ihr Opposition gegeben hat. Es geschah am 9. März 1972 bei der Verabschiedung des Gesetzes über die Unterbrechung der Schwangerschaft, als 14 Abgeordnete mit Nein stimmten und acht sich der Stimme enthielten. Augenscheinlich war diese Opposition von der SED toleriert worden, weil das beschlossene Gesetz ihren monopolistischen Herrschaftsanspruch als Staatspartei unberührt ließ. Sonst sind bislang alle Abstimmungen in der obersten DDR-Volksvertretung »einmütig« gewesen. Irgendein legales Recht auf Opposition in der DDR wäre, obschon immer wieder gefordert, für die SED »prinzipiell« systemwidrig.

 

 

Zur Dialektik von Opposition und Widerstand

Näher definiert werden Opposition und Widerstand in dem zitierten Polit-Lexikon nicht. Beide Begriffe werden vielmehr synonym für politische Gegnerschaft gebraucht. Ein Unterschied ist unter den Herrschaftsbedingungen im Staat der SED auch kaum präzise zu bestimmen, insoweit sich Opposition und Widerstand überlappen und wechselseitig durchdringen. Immerhin kann Opposition in der DDR als politische Gegnerschaft umschrieben werden. die sich relativ offen, relativ legal zu entfalten versucht. Dagegen läßt sich Widerstand als politische Gegnerschaft definieren, der jede Möglichkeit zu offener und legaler Entfaltung genommen ist. Während Opposition infolge ihrer jederzeit möglichen Kriminalisierung in Widerstand umschlagen kann, ist Widerstand in der DDR von vornherein im Sinne des Regimes »illegal«.

Bezeichnenderweise gebraucht das DDR-Strafgesetzbuch den Begriff des Widerstands nicht nur im Sinne von Widerstand gegen die Staatsgewalt, der im DDR-Strafrecht als »Widerstand gegen staatliche Maßnahmen« umschrieben wird, sondern auch und sogar mehrmals im Sinne von politischem Widerstand. Eine Strafe wegen »staatsfeindlicher Hetze« gewärtigt in der DDR laut § 106 des Strafgesetzbuches unter anderem, »wer dazu auffordert, Widerstand gegen die sozialistische Staats- und Gesellschafts­ordnung zu leisten«. Mit Sanktionen bis zu zwölf Jahren Freiheitsentzug wird somit im Strafrecht der DDR bedroht, was eigentlich gar nicht existieren dürfte, weil eine »objektive politische oder soziale Grundlage« dafür angeblich fehlt.

Historisch ist seit dem Zusammenbruch des Dritten Reiches und seit der Gründung der DDR erwiesen, daß die Machthaber jedwede Opposition desto hemmungsloser unter ihr Strafgesetz stellen, je unnachgiebiger sie auf ihrem Herrschaftsmonopol bestehen, womit sie zwangsläufig den dialektischen Umschlag von Opposition in Widerstand auslösen; umgekehrt entwickelten sich neue Formen von Opposition, wo die SED partiell oder zeitweilig politische Freiräume gewährt oder erweitert hatte. Stets aber erfaßte und ergreift politische Gegnerschaft in der DDR immer wieder Menschen in allen gesellschaftlichen Schichten und Gruppen, wenn auch zu verschiedenen Zeiten, wenn auch in unterschiedlicher Weise. Es konnte und kann nicht anders sein, weil letztlich alle Schichten und Gruppen der DDR-Bevölkerung von den radikalen Veränderungen der SED in Herrschaft und Gesellschaft betroffen wurden beziehungsweise bis heute mit ihrem monopolistischen

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Machtanspruch konfrontiert werden. Wer wie die Kommunisten eine bestehende Gesellschaft total ablehnt und ihr mit einer neuen sozialökonomischen Formation zugleich ein neues System politischer und moralischer Wertungen aufzwingen will, muß mindestens so lange auf Opposition und Widerstand stoßen, wie in dieser Gesellschaft herkömmliche Werte und traditionelle Bindungen fortwirken. »Erst der Widerstand, der einem totalitären System aus der bestehenden Gesellschaft erwächst oder den es von ihr erwartet, macht das System wirklich total.«8) Die Wirkungen sind dialektisch zu begreifen. Wo Widerstand auftritt, wird die Repression stärker – verstärkte Repression ruft neuen Widerstand hervor.

Ein Zufall war es nicht, daß die erste Regierungsumbildung der DDR am 8. Februar 1950 die Bildung eines Ministeriums für Staatssicherheit betraf. Es schien den Machthabern notwendig, weil sich Opposition und Widerstand nach Gründung des Arbeiter-und-Bauern-Staates spürbar verstärkt hatten. Umgekehrt empörte der Terror der Staatssicherheit die Bevölkerung so stark, daß während des Aufstands am 17. Juni 1953 mehrere ihrer Dienststellen von aufgebrachten Demonstranten gestürmt wurden und mehrfach Fälle versuchter oder vollendeter Lynchjustiz zu verzeichnen waren.

Wie unbestreitbar auch das Vorhandensein oppositioneller und regimefeindlicher Erscheinungen in der DDR ist, schwierig ist es gleichwohl, sie allgemein gültig zu definieren. Das liegt in der Natur der Sache. In einem totalitär verfaßten Herrschafts- und Gesellschafts­system, in dem das Regime alle privaten und gesellschaftlichen Bereiche der Menschen seiner Verfügungsgewalt und Kontrolle zu unterwerfen versucht, kann bereits eine rein menschliche und gleichsam unpolitische, aus der Spontaneität des Augenblicks geborene Verhaltensweise Opposition oder Widerstand bedeuten. Mehr noch: »Im totalitären Staat mit seiner totalen Beanspruchung aller Staatsbürger für die Zwecke dieses Staates ist Passivität den Anordnungen und Aufforderungen des Regimes gegenüber keine Indifferenz mehr, sie ist gleichbedeutend mit <Widerstand>. Wer sich passiv verhält, bezieht bereits Front.«9)

In ihrer historischen Vielfalt reichen die Formen von Opposition und Widerstand in der DDR daher von unbewußt-spontanem Aufbegehren gegen die Willkür einzelner Maßnahmen der Obrigkeit bis zu planmäßigem Widerstand, der sich konspirativ zu sammeln und aktiv zu handeln versucht. Und in der Tat sind dies die beiden extrem verschiedenen Möglichkeiten aller politischen Gegnerschaft, in die sich ihre jeweiligen Formen einordnen lassen. Sie bilden gleichsam die zwei entgegen­gesetzten Pole eines Spektrums, in dem alle Tendenzen von Opposition und Widerstand gebündelt und ineinander­fließend erscheinen, umgeben vom Odium des »Ungesetzlichen«!

Mit anderen Worten: Opposition und Widerstand in der DDR sind politische Erscheinungen, die sich ständig entwickeln und verändern, weil sich ihre Voraussetzungen, Bedingungen und Ziele wandeln. Opposition und Widerstand im Machtbereich der SED sind darum nur in ihrer jeweils konkreten Erscheinungsform zu erkennen und in ihren historischen Kontext einzuordnen.

 

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Die Kriminalisierung der Opposition

 

Der Ostberliner Fernsehkommentator Karl Eduard von Schnitzler hat auf die Frage, »was zum Beispiel Opposition in der Deutschen Demokratischen Republik bedeuten würde«, ebenso töricht wie demagogisch erwidert: »Gegen unsere sozialistische Friedenspolitik opponieren zu wollen, würde bedeuten, Verbrechen zu begehen. Und mit solcher Opposition setzen wir uns nicht an der Wahlurne und nicht im Parlament auseinander, sondern vor den Gerichten unserer sozialistischen Justiz.«10) Solche Äußerungen sind unmißverständlich. Sie sind durchaus ernst zu nehmen. Ein Blick in das Strafgesetzbuch der DDR macht das anschaulich.

Als die DDR durch Beschluß der Volkskammer vom 12. Januar 1968 ein vollkommen neues Strafgesetzbuch erhielt, standen die Normen der politischen Straftatbestände11) in der Kontinuität einer Entwicklung, die durch den fatalen »Boykotthetze«-Artikel der ersten DDR-Verfassung12) sowie durch zwei 1957 und 1962 verabschiedete Strafrechtsergänzungsgesetze13) bestimmt worden war. Ganz im Sinne dieser Kontinuität vergrößerte der Gesetzgeber in Ost-Berlin die Zahl der strafbaren politischen Delikte, die angedrohten Mindeststrafen wurden im Vergleich zu den bis dahin geltenden Normen nicht unerheblich angehoben und teilweise sogar verdoppelt, wobei die Erweiterung des politischen Strafrechts um eine Anzahl neu definierter Tatbestände mit der Notwendigkeit begründet wurde, »daß die Tätigkeit der Feinde des Sozialismus aggressiver wird und sich verschärft«.14) Wieso eigentlich – das erklärte niemand.

Bedenkt man, daß 1974, 1977 und 1979 – also nur wenige Jahre nach der umfassenden Neukodifizierung des DDR-Strafrechts – die Normen des politischen Regime- und Systemschutzes im Staat der SED durch drei Strafrechtsänderungsgesetze15 abermals erweitert und verschärft wurden, so kann man nicht umhin, dies als objektiven Ausdruck innerer Widersprüche zu werten, denn politische Strafbestimmungen waren und sind in der DDR immer auch Spiegel von Konflikten in der Gesellschaft. Sie zu bewältigen glaubten sich die Herrschenden offenbar nicht anders mehr imstande als mit den Mitteln des Strafrechts und der Strafjustiz.

Diese Folgerung wird durch ein 1981 erschienenes DDR-Strafrechtslehrbuch gestützt, das die Notwendigkeit des Regime- und Systemschutzes mit dem Hinweis auf sogenannte Staatsverbrechen begründet. »Staatsverbrechen sind auf die Schädigung bzw. Beseitigung der Arbeiter-und-Bauern-Macht gerichtet und deshalb klassenfeindlich-antisozialistische Angriffe. Ihrem Wesen nach sind sie daher konterrevolutionär«, wobei die Ursache dafür natürlich außerhalb des realen Sozialismus gesucht wird: »Der Gegner versucht, in der DDR noch existierende feindliche Kräfte zu mobilisieren und zu staatsfeindlichen Handlungen zu veranlassen. Er ist aber auch bestrebt, politisch nicht gefestigte Bürger für antisozialistische Zwecke zu mißbrauchen und bestimmte Personen in einen Gegensatz zur Politik der Partei- und Staatsführung zu bringen. Das reicht bis zu der Absicht, oppositionelle Bewegungen zu organisieren und sie von außen her anzuleiten und zu steuern.«16)

Feststellungen dieser Art kontrastieren sonderbar mit der aufschlußreichen

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