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Für eine Unabhängigkeitserklärung der Kultur

 

Vorwort von Heinz Friedrich 1979

 

 »Menschwerden ist eine Kunst« Novalis

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Der Zeitgeist, gestern noch dem Fortschritt verschworen, hat nunmehr das Problem der Umwelt entdeckt. Up to date ist, wer von drohenden Umwelt­katastrophen zu reden versteht wie von etwas, das ihm seit jeher geläufig sei. Fragt sich nur, warum es soweit kommen konnte, wie es gekommen ist, wenn doch angeblich alle oder doch viele wußten, was die Fortschrittsstunde schon vor Jahren oder gar vor Jahrzehnten geschlagen hatte ...

Abgesehen jedoch von dieser zeitgeistigen Ungereimtheit erweist die aufgeflammte Diskussion um die Zerstörung der menschlichen Umwelt auch dadurch ihren meinungs-modischen Zuschnitt, daß sie sich zwar an den Symptomen ereifert, die eigentlichen Gründe für den Zerfall dessen, was man einmal menschliche Wirklichkeit nannte, jedoch entweder nicht erkennt oder gar wissentlich ignoriert. Denn eine Tatsache ist, daß die rapide Verschlechterung der Umwelt­verhältnisse, ausgelöst durch die modernen Industriegesellschaften, nur die Folge eines weitaus tief ergreifenden Ereignisses ist — nämlich der Sinnentleerung und damit des Niedergangs der abendländischen Kultur. 

Der Fortschritt konnte nur deshalb seinen Totalitätsanspruch durchsetzen und wider alle Vernunft seinen die Menschlichkeit verheerenden Siegeszug antreten, weil ihm kaum noch kultureller Gestaltungswille entgegentritt. Stattdessen werden vornehmlich nur noch technische und wirtschaftliche Aktivitäten freigesetzt; unter dem Vorzeichen der Kultur begnügen sich die Zeitgenossen zunehmend mit dem Konsum geistiger Surrogate oder mit tendenziösen Worten zum gesellschaftlichen Werktag — oder sie betreiben, indem sie sich der kulturellen Überlieferung zuwenden, einerseits kulturelle Anatomie und andererseits Reliquienkult oder Antiquitätenhandel. 

Solches Verhalten mit schöpferischer Gestaltung der Welt zu verwechseln, ist reine Blasphemie. De facto geriet die abendländische Kultur (oder das, was von ihr an Restbeständen übriggeblieben ist) auf solche Weise längst in die Hände ihrer Verächter, die sie nach allen Regeln wirtschaftlichen Fortschritts kulturindustriell zu dem machen, was ihr am wenigsten frommt, nämlich zu Geld. Kultur kostet zwar Geld und wird immer Geld kosten; sie bedarf der materiellen Investition, damit sie sich als Kultur manifestieren kann. Sie hinterher jedoch wieder ihres geistigen Mehrwertes durch rücksichtslose materielle Ausbeutung zu berauben, ist reiner Widersinn. 

Der dies schreibt, weiß, wovon er redet; denn er ist selbst seit mehr als dreißig Jahren im »Kulturbetrieb« tätig und kennt daher die Praxis moderner Kultur-Verwertung aus eigener, meist leidvoller Erfahrung. Daß er dennoch nicht zu einem resignierenden Kulturpessimisten wurde, verdankt er seinem Glauben an die humanisierende Kraft der Kultur — einem Glauben, der allerdings nicht mit Kultur-Idealismus verwechselt werden sollte. Er entspringt vielmehr der Einsicht in anthropologische Realitäten, um die nicht herumkommt, wer mit dem Menschen etwas mehr im Sinn hat als dessen materielles Wohlergehen.

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Wenn »Menschwerden«, wie Novalis notierte, »eine Kunst« ist, dann verschafft der Menschheit zweifellos die Kultur die Möglichkeit, diese Kunst auch auszuüben. Die Kultur ist die Basis der Humanität; ohne sie wäre der Mensch das geblieben, was er seiner Natur nach leider noch immer ist: ein Barbar. Dementsprechend kann auch nur die Kultur verhindern, daß die Menschen in die Barbarei zurückfallen und auf das verzichten, was sie am meisten nötig haben: die anthropologisch sinnvolle Gestaltung ihres Daseins und damit ein erfülltes Maß individueller Selbstverwirklichung innerhalb der Gemeinschaft.

Die anthropologische Erkenntnis darf sich nicht mit Antworten auf die Frage bescheiden, was der Mensch sei, sondern sie muß auch die Frage stellen: Was kann er wollen? Daß diese Frage immer seltener aufgeworfen wird, weil sie höhere Ansprüche an die Gemeinschaft stellt als die Regelung sozialer Beziehungen, bietet nicht zuletzt ein weiteres Symptom dafür, daß die kulturschöpferische Aktivität der neuzeitlichen Industrie-Gesellschaft nahezu erlahmt ist. Das Abendland hat weitgehend aufgehört, als geistige Ordnungsmacht eine menschheitlich herausfordernde Rolle zu spielen. Und vorerst scheint sich auch noch keine andere geistig-kulturelle Initiative an irgendeinem Punkt der Welt abzuzeichnen, die auf eine Neubesetzung dieser Rolle hinweist. Inzwischen verelendet die Welt immer mehr als Folge dieser kulturellen Katastrophe globalen Ausmaßes.

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Apropos: Katastrophe. Vor etlichen Jahren löste das Schlag- und Reizwort von der Bildungskatastrophe einen wahren Reform-Sturm aus, dem sich kaum jemand zu widersetzen wagte, wollte er nicht als asozial denunziert werden. Allenthalben wurde die »Mobilisierung der Bildungsreserven« ausgerufen, um die vermeintliche Katastrophe sozusagen noch in letzter gesellschaftlicher Minute abzuwenden.

Inzwischen ist es recht still geworden um diese Mobilisierung, weil sie nämlich so ziemlich das Gegenteil der erhofften Wirkung erbrachte. Die im Laufe eines Jahrzehnts aus dem Boden gestampften Bildungsheere finden tatsächlich kaum noch ausreichende Betätigungsfelder für ihr Knowhow, weil sie gesellschaftlich sinnvoll nur partiell und selektiv einsetzbar sind. So stellen sie nun, halbwegs bereits dem Odium sozialer Überflüssigkeit ausgesetzt, einen brisanten Unsicherheitsfaktor im produktiven Wettbewerb der gesellschaft­lichen Kräfte dar.

Daraus folgt, daß die eilfertig formulierte Bildungsreform als Reaktion auf das vom Zeitgeist an die Wand gemalte Menetekel der Bildungskatastrophe zumindest nicht ganz zutreffend, wahrscheinlich aber schlechthin falsch war. Anstatt das Unbehagen zu beseitigen, das damals eine ganze Generation angesichts der bildungspolitischen Lethargie ihrer Väter ergriffen hatte, vermehrte sie dieses erheblich. 

Was diese Väter nämlich als bildungspolitische Alternative und damit als ihrer Weisheit letzten Schluß anzubieten hatten, war keineswegs die gebotene Freisetzung schöpferischer Phantasie als Faktor humanisierenden Kulturwillens, sondern ein gleichmacherischer Ausbildungsdrill mit dem erklärten Ziel, möglichst vielen Gliedern der Gesellschaft im materiellen Wettbewerb auf dem Weg nach oben möglichst rasch einen möglichst effektiven Job zu verschaffen — einen Job, der hinwiederum auch eine möglichst intensive Teilnahme an den zweifelhaften Errungenschaften der Wohlstands­gesellschaft zwecks Ankurbelung des Wirtschaftskreislaufs sicherzustellen imstande sein sollte. 

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Die Kulturkatastrophe als tatsächlicher, weil: geistiger und seelischer Auslöser der Bildungsmisere, blieb innerhalb derartiger Überlegungen selbst­verständlich ganz und gar unberücksichtigt. Infolgedessen mußte, von allen politischen Kräften als gesellschaftlicher Fortschritt zeitgeisteifrig unterstützt, ein Vormarsch in die falsche Richtung einsetzen, unter dessen Reform-Eroberungen heute die Schul- und Studenten-Generation in Form unerträglichen (und größtenteils auch sinnlosen) »Leistungsdrucks« zu leiden gezwungen ist.

Auf solche Weise potenzieren sich leichtfertige und oberflächliche Fehleinschätzungen der tatsächlichen Lage, ins Ideologische erhoben, zu gesellschaftlichen Verklemmungen epochalen Ausmaßes, die dann den nachfolgenden Generationen weit mehr als nur zu schaffen machen ...

Gewiß: auch kultureller Wille und höchste Ziele menschlicher Selbstverwirklichung können wahrscheinlich die problematische Natur des Menschen nicht aufheben. Wären sie dazu in der Lage, dann hätte die Menschheit längst einen weniger zwiespältigen Status erreicht als sie ihn de facto immer noch einnimmt. Der Mensch wird vielleicht durch Kultur nicht grundsätzlich besser, aber er vermag durch Kultur sich und anderen erträglicher zu werden. Das Ziel der Humanität vor Augen und bestrebt sich ihm anzunähern, tritt der Mensch immer wieder in den Prozeß der Menschwerdung ein, obwohl er insgeheim weiß, daß Vollkommenheit nie erreicht werden kann. Insofern besitzt die Kultur einen hohen, ja: den höchsten anthropologischen Stellenwert, und deshalb zerfällt, wenn sie ihren Sinn einbüßt, auch die Sozietät. Durch Kultur wird das Leben, menschlich gesehen, erst lebenswert.

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Aber Katastrophen bringen nicht nur Welten zum Einsturz, sie setzen auch Signale für neue Entwicklungen. Die menschliche Natur ist zäh; der homo sapiens gibt sich nicht geschlagen und läßt sich nicht entmutigen. Wäre dem nicht so, die Spezies hätte sich schon mehrmals in ihrer Geschichte aufgeben müssen. Deshalb wird auch die gegenwärtige Kulturkatastrophe, die wir durchleiden, nicht die letzte sein, sondern der geschundenen Menschheit allmählich die Augen für das öffnen, was sie verspielte und was neu zu schaffen ihr aufgegeben ist. Darum erweisen sich die Beiträge, die in diesem Buch zusammengefaßt sind, nicht nur als Nachrufe auf das, was einmal Abendland genannt wurde, sondern sie formulieren zugleich auch Aufrufe zu einem neuen Aufbruch in die Humanität — zu einem Aufbruch, zu dem uns das menschheitliche Kultur-Erbe nach wie vor einen Weg zu weisen vermag.

Der dadurch postulierte Anspruch ist philosophischer, nicht wissenschaftlicher Natur, obwohl er auf wissenschaftliche Erkenntnis und Beweissicherung nicht verzichten kann. Philosophieren heißt: sich des Verstandes zu dem Zweck zu bedienen, zu dem er neben faktischer Analyse und kausaler Beweisführung auch taugt, nämlich zum schöpferischen Denken, und zwar einschließlich des Vor- und Nachdenkens. 

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Der denkerische Versuch, Zusammenhänge zu erkennen und zu deuten, kann weder durch Wissenschaft noch durch politischen Pragmatismus ersetzt werden; auch dann nicht, wenn Wissenschaft sich durch scharfsinniges und detailliertes Aufspüren, Zergliedern und Begründen von Beweismaterial scheinbar überlegen erweist und politischer Pragmatismus auf kurze Distanz fast immer den Anschein erweckt, er bewirke etwas und sei daher realitätsnah.

Denkerische Passivität zählt zu den bezeichnenden Merkmalen der Dekadenz. Gibt es doch kaum etwas Verhängnisvolleres als das bis zur Hoffnungslosigkeit vorangetriebene Verfilzen des Verstandes in faktische Details, das denkerische Souveränität verunsichert, ja verunmöglicht, weil hier ein Detail oft das andere austrickst. Denn die Details können sich durchaus widersprechen; das Ganze stimmt, sofern es wahr ist, im wesentlichen immer zusammen. (Werner Heisenberg hat gerade zu diesem Problem ein gewichtiges physikalisches Wort aus philosophischem Geist gesprochen.) 

Allerdings: nicht bereits die Auseinandersetzung mit dem Detail und die beweiskräftige Begründung durch Details, sondern das entschlußlose Anklammern des Denkens an das »Prinzip Zweifel« zeitigt erst das Dilemma, von dem hier die Rede ist. Die Wissenschaft kann gar nicht anders, als sich pragmatisch an die physikalische Logik der Erscheinungen zu halten und die Kausalkette des Wirklichen zu ergründen. Nach Ursache und Wirkung zu fragen, ist ihre Bestimmung, selbst in Sachen der Religion und des Geistes. Die Philosophie hingegen fragt und argumentiert universalistisch und meta-physisch. Sie fragt nach Zusammenhang und Sinn der Phänomene. Sie sucht nach Symbolen des Wirklichen dort, wo die Faktizität der Wissenschaft ihre Grenzen findet und erreicht.

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Freilich setzt sich, wer das Wagnis einer Zusammenschau der menschheitlichen Verhältnisse unternimmt, angesichts einer durch die Vorherrschaft von Wissenschaft, Technik und Politik geprägten Denkwelt nur allzu leicht dem Vorwurf des Dilettantismus (wenn nicht gar Schlimmerem) aus. Das muß um der Sache willen hingenommen werden, zumal Dilettantismus, wie Egon Friedell geistreich exemplifizierte, oft einen unmittelbareren Zugang zu übergreifenden Sachverhalten und Problemen verschafft als ein von Skrupeln belastetes Fachwissen, das sich zudem noch auf einen nur schmalen Ausschnitt der Wirklichkeit beschränkt. 

Selbst großen philosophischen Aussagen über das, was die Welt und die Menschen im Innersten zusammenhält, eignet, vom wissenschaftlichen Standpunkt aus betrachtet, etwas rührend-hinterwäldlerisch Dilettantisches. Für den Wissenschaftler nimmt jeder Philosoph Züge des tumben Toren Parsifal an, dessen Weltschau man nachsichtig mit einem ergriffenen Lächeln begegnet. Allerdings sind dann oft diese tumben Toren diejenigen, die am entschiedensten befördern, wessen der Mensch am meisten bedarf, um als ein über die Kreatur erhobenes Wesen zu überleben: Humanität.

»Der Instinkt«, schrieb Goethes Zeitgenosse Friedrich Heinrich Jacobi, »harmonisiert das Innere der Tiere, die Religion das Innere des Menschen.« Daß die Religion der eigentliche Kern der Humanität ist, daran dürfte es kaum einen Zweifel geben — wobei Religion selbstverständlich nicht im engen konfessionellen Sinn verstanden werden darf. Und daß Religion zugleich einen wesentlichen Faktor der Kultur ausmacht, daran dürften ebensowenig Zweifel bestehen. 

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Dementsprechend kann sich Humanität nur verwirklichen, wenn Religion und Kultur als Medium für die »Kunst des Menschwerdens« eingesetzt werden, und zwar unabhängig von dem barbarischen Gang der Geschichte. Insofern liefern die Beiträge des vorliegenden Buches nicht nur Einsprüche gegen die Preisgabe der Menschwerdung, sondern auch Plädoyers für eine Unabhängigkeitserklärung der Kultur. Denn die verzweckte Kultur ist keine Kultur, sondern eine inhumane Farce.

Alle hier abgedruckten Texte verpflichten sich, ausgehend von einem grundsätzlichen Bekenntnis zur Philosophie, diesem Generalthema. Sie beziehen sich aufeinander und liefern insgesamt die Fundamente für den letzten: »Fortschritt als Kulturkatastrophe«. Mit einer Ausnahme wurden die Texte innerhalb der letzten zehn Jahre geschrieben, entspringen aber de facto einer lebenslangen Beschäftigung mit den Problemen des menschlichen Kultur-Verhaltens. 

Daß sich einige der vorgebrachten Sachverhalte, Argumente und Folgerungen gelegentlich von Beitrag zu Beitrag, freilich in jeweils anderer Facettierung, wiederholen oder überschneiden, liegt in der Natur der vertretenen Sache und war daher unvermeidlich. Nicht minder durch die Natur der anthropologischen Sache bedingt ist der entschiedene Bezug zur Verhaltensforschung, insbesondere zu den Arbeiten von Konrad Lorenz. Erst das Wissen um die Voraussetzungen und Antriebe menschlichen Handelns und Wollens ermöglicht eine illusionslose, sprich: realistische, von Ergriffenheitspathos und sentimentaler Unbestimmtheit wie von intellektueller Haarspalterei ebenso freie Einschätzung dessen, wozu der Mensch fähig sein kann und wozu nicht. 

Daß die Menschen der Fortschritts-Gesellschaft die Kunst, Mensch zu werden, weitgehend der Leidenschaft, Welt zu verbrauchen, geopfert haben, resultiert nicht zuletzt aus dem Verlust an meta-physischem Seins- und Selbstvertrauen. Die abendländischen Menschen sind sich im Zivilisationsprozeß der Neuzeit selbst abhanden gekommen; sie wissen, ja ahnen nicht einmal mehr, wozu sie fähig sein könnten, wenn sie sich auf das besännen, was sie erst zu Menschen macht: die Kultur.

Wie heißt es bei Heraklit? »Wenn das Glück in den Lüsten des Körpers bestände, dann müßte man das Rindvieh glücklich nennen, wenn es Erbsen zu fressen fände.«

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