1 Philosophie ist, wenn man trotzdem denkt ...
Heinz Friedrich 1979
Die Notwendigkeit philosophischer Welterkenntnis
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Die Philosophen haben es derzeit schwer. Sie sind kaum noch gefragt; werden sie gelegentlich dennoch wahrgenommen, so sehen sie sich unversehens in die Rolle des metaphysischen dummen Augusts gedrängt, der in der Manege des Zeitgeistes sich selbst zum Narren halten muß, um das Publikum zu ergötzen. Mehr als Tragikomik darf von solchen Darbietungen natürlich kaum erwartet werden — und diese auch nur im günstigsten Fall. Meist nämlich spielt sich die denkerische Parterre-Komik unserer Tage auf einem Niveau ab, das bereits keines mehr ist.
Der geistigen Zuhälterei enger benachbart als der, laut Wörterbuch, »Liebe zur Wahrheit«, hat sich der philosophische Denk-Anspruch fast schon auf den Strich reduziert, auf dem die menschlichen Werte sich schamlos prostituieren. Nur als Ideologie scheint sich die Philosophie zeitweise noch selbst ernst zu nehmen, obwohl sie gerade in dieser Verkleidung den absurdesten Anblick bietet: Als Vogelscheuche des Denkens profaniert sie sich zum grotesken Bürgerschreck. Die in Frankreich konstituierte »Neue Philosophie« gibt davon einen ebenso anschaulichen wie aktuellen Begriff.
Der Niedergang der Philosophie im 20. Jahrhundert vollzog sich im gleichen Maß, in dem die Wissenschaft das geistige Klima zu beherrschen begann. Immer entschiedener setzte sich im Verlauf dieser Entwicklung die Vorstellung durch, daß Nachdenken über die Phänomene unseres Daseins keine zuverlässigen, weil nicht beweiskräftig abgesicherten Erkenntnisse zeitige. Deshalb werde die Menschheit durch ihre Denker eher illusionistisch verunsichert als in ihrem Daseinsverhalten wirklichkeitsgerecht moderiert. Ob Heraklit oder Plato, ob Kant oder Schopenhauer, ob Descartes, Leibniz, Sartre, Hegel oder Heidegger: soviele Philosophen, soviele Systeme — und soviele Systeme, soviele Widersprüche. Diese Widersprüche könne nur die wissenschaftlich exakte, auf Fakten gegründete und durch Fakten gesicherte Erkundung der Welt beseitigen — zugunsten realistischer, objektiv bewiesener Aussagen.
Schon 1950 hat Karl Jaspers in seiner Schrift »Einführung in die Philosophie« diesen erkenntniskritischen Streitpunkt treffend charakterisiert, indem er schrieb:
»Für einen wissenschaftsgläubigen Menschen ist das Schlimmste, daß die Philosophie gar keine allgemeingültigen Ergebnisse hat, etwas, das man wissen und damit besitzen kann. Während die Wissenschaften auf ihren Gebieten zwingend gewisse und allgemein anerkannte Erkenntnisse gewonnen haben, hat die Philosophie dies trotz der Bemühungen der Jahrtausende nicht erreicht. Es ist nicht zu leugnen: in der Philosophie gibt es keine Einmütigkeit des endgültig Erkannten. Was aus zwingenden Gründen von jedermann anerkannt wird, das ist damit eine wissenschaftliche Erkenntnis geworden, ist nicht mehr Philosophie, sondern bezieht sich auf ein besonderes Gebiet des Erkennbaren. Das philosophische Denken hat auch nicht, wie die Wissenschaften, den Charakter eines Fortschrittsprozesses. Wir sind gewiß weiter als Hippokrates, der griechische Arzt. Wir dürfen kaum sagen, daß wir weiter seien als Plato. Nur im Material wissenschaftlicher Erkenntnisse, die er benutzt, sind wir weiter. Im Philosophieren selbst sind wir vielleicht noch kaum wieder bei ihm angelangt.«
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Soweit Karl Jaspers.
Solche Sätze, um die Jahrhundertmitte verlautbart, muten aus dem Munde eines Mannes, der sowohl Wissenschaftler als auch Philosoph war, in puncto Philosophie fast resigniert an. Aber das scheint nur so.
Jaspers wollte lediglich, als er in jener Schrift über die Philosophie zu philosophieren begann, vorab klarstellen, was die Philosophie nicht kann und was sie auch gar nicht können will: nämlich eine Wissenschaft der Wahrheit zu sein. Ihr Ziel ist nicht praktischer Erkenntnis-Fortschritt, sondern Erkenntnistiefe und Erkenntnisvertiefung im Sinne einer Erfassung der gesamten Weltwirklichkeit.
Beim Erstreben dieses Zieles unterstützt die Wissenschaft sie zwar sehr hilfreich, indem sie gleichsam die trigonometrischen Punkte aufrichtet, an denen sich die Philosophie zu orientieren vermag — aber die Wahrheit selbst in ihren komplexen Zusammenhängen zu deuten, das bleibt der Wissenschaft, ihrer aufs Pragmatische und meist auch Spezielle gerichteten Eigenart entsprechend, versagt oder gelingt ihr nur sehr begrenzt und selten.
Selbst wenn es gelänge (Werner Heisenberg hat diesen kühnen Versuch ja bereits einmal unternommen), eine wissenschaftliche Weltformel zu entwerfen, die alles Geschehen im Kosmos auf einen Nenner zusammenzieht und zwingend in seinem Wirkungsgefüge erklärt — selbst wenn dies gelänge, hätte die Weltformel letztlich doch nur einen physikalischen Aussagewert, der metaphysischer Vertiefung bedarf, um für den Menschen sozusagen »daseinsträchtig« werden zu können. Denn genau hier, wo die Wissenschaft endet, beginnt die Aufgabe der Philosophie, nämlich: wissenschaftliche Faktizität zu »höherer Wahrheit« zu läutern.
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Für Ohren, die auf die Einrast-Geräusche materiell erfaßbarer Kausal-Ketten getrimmt sind, mag ein derartiger Hinweis freilich recht spekulativ und romantisch-jenseitig klingen; aber der Klang täuscht. Denn »höhere Wahrheit«, um diesen arg mißdeuteten Begriff noch einmal zu gebrauchen, signalisiert weder Verneinung der Kausalität, noch verabschiedet er wissenschaftliches Denken und wirklichkeitsbezogene Erkenntnis zugunsten ausschweifender Denkphantasien oder weitabgewandter Träumereien an idealistischen Kaminen.
Schon das Wort Philosophie, von den Griechen in der Frühzeit abendländischen Nachdenkens über die Welt gebildet, verweist in seiner ursprünglichen Bedeutung auf anthropologisch realistischere Bezüge als dessen Eindeutschung in »Liebe zur Wahrheit« auf Anhieb erkennen läßt. Den Griechen war nämlich eine Aufspaltung des Begriffs [ooqpia] (sophia) in Wissenschaft einerseits und Weisheit andererseits fremd. Für sie bedeuteten Wissen und Weisheit ein und dasselbe.
Jedes tätige Erfassen, Bewältigen und Erkennen der Welt gewann für sie nur dadurch einen Sinn, daß es sich zur Weisheit summierte — zur Weisheit, die das Erfahrene nicht nur zweckmäßig bewahrte, sondern es auch kritisch sichtete und zu einer Gesamtschau des Menschen in der Welt verknüpfte. Unter diesen Vorzeichen orientierte sich die »Liebe zur Weisheit«, die Philosophia, auch stets an den Phänomenen des Lebens selbst.
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Aber sie begnügte sich nicht damit, diese Phänomene wissenschaftlich zu analysieren und zu definieren, sondern sie versuchte auch deren höheren Sinn, den Logos, der sie prägte und der sie bewegt, zu erfassen. Unter solchen Vorzeichen nimmt es kaum Wunder, daß der Begriff sophia auch (und in der vorsokratischen Zeit sogar zentral) die Künste als Element der Weisheit einschloß. Denn Kunst war für die Griechen ja kein müßiger kulinarischer Zeitvertreib, sondern ein entscheidender Faktor der Menschenbildung. In der Vollkommenheit des Kunstwerks erlebte der antike Mensch die sophia sinnlich-anschaubar; sie offenbarte ihm den göttlichen Logos als Stimulans des menschlichen Daseins, und zwar als Zueignung von Leben, als Erlebnis. So betrachtet ist die griechische Tragödie zweifellos höchster Ausdruck einer lebendig im Kunstwerk veranschaulichten Philosophie.
Gewiß: seit den Tagen der Vorsokratiker und seit den Tagen der griechischen Tragödie hat sich vieles gewandelt, auch in der Philosophie. Dennoch hat Jaspers recht, wenn er meint, viel weiter als Plato hätten wir es in der Philosophie kaum gebracht, im Gegenteil: wir seien noch nicht einmal wieder bei ihm angelangt. Jegliches Philosophieren, sofern es sich nicht tendenziöser Abhängigkeit ausliefert, beginnt nämlich bei den Phänomenen und endet bei dem, was die Theologie die »letzten Dinge« nennt. Philosophie verneint die Zeit und damit auch den sogenannten Fortschritt, weil sie in der Zeitlichkeit nach Überwindung der Zeit durch die Erkenntnis ewiger Gesetze sucht. Selbst die Existenzphilosophie eines Jean Paul Sartre macht hierin keine Ausnahme, denn auch die Negation eines höheren Sinnes setzt, indem sie formuliert wird, die Existenz dessen voraus, das sie verneint.
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Die Ideen Platos, Nietzsches »Wille zur Macht« oder Kants »Kategorischer Imperativ«, die »Monadologie« von Leibniz oder Schopenhauers Lehre von der »Welt als Wille und Vorstellung«, Husserls »Phänomenologie« oder das »Cogito ergo sum« des Descartes — was sind alle diese Denkmodelle anderes als mächtige Bekenntnisse zu der zentralen philosophischen Aufgabe, den eigentümlichen Standort des Menschen in der Welt zu bestimmen und den »Logos« seines Daseins zu ergründen?
Und das um des einen Zieles willen: der Verzweiflung entgegenzuwirken, die diesen Menschen in seiner drohenden irdischen Vereinsamung immer wieder ergreift. Denn je mehr Sachwissen dieser homo sapiens in seiner unersättlichen Lebensneugier in sich hineinfrißt, desto verwirrter und unglücklicher wird er, weil er diesem Wissen keinen anderen Sinn als den materiellen Besitzes zu geben vermag. Spätestens jedoch an der Pforte des Todes wird sich ihm solche materielle Existenzerfüllung als irrwitzig enthüllen, weil sie ihn geistig und seelisch auf die große Transformation des Lebendigen nicht vorbereitet hat.
Von Sokrates, der so viel wußte, stammt der berühmte Satz: »Ich weiß, daß ich nichts weiß.« Er ist das Leitmotiv aller großen Philosophie, die sich nicht mit abstrakten Gedankenspielereien begnügt, sondern sich selbst immer wieder anzweifelt und in Frage stellt um der Wahrheit willen, die sie zu stiften sucht. Mögen die Ergebnisse solchen Bemühens im Laufe der Geschichte auch noch so verschiedenartig und sogar scheinbar widersprüchlich sich darbieten — Teilaspekte jener »höheren Wahrheit« aus der Summe menschlichen Wissens reißen sie in jedem Fall auf, und schon darum empfehlen sie sich nach wie vor der Aufmerksamkeit der Nachlebenden. Denn Philosophie, die ihren Blick ins Überzeitliche richtet, veraltet ebensowenig wie große Kunst. Ihre Aussage steht immer aktuell zur Debatte der Humanitas.
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Anders als Sokrates jedoch verschreibt sich unsere Epoche überheblich der anmaßenden Devise: »Ich weiß, daß ich alles wissen kann.« Und sie klammert die Weisheit aus dem Wissen entschlossen aus, weil Weisheit bei dem auf die Beherrschung der Materie gerichteten Geschäft stört. Wenn sich menschlicher Wissensdrang jedoch derart gebärdet, verzichtet er auf die Erkenntnis des Logos und endet mit seinem allein am Physischen orientierten Wissenschafts-Latein schließlich dort, wo alles Diesseitige unweigerlich landen muß: beim Nichts. Denn es gibt in der Tat, um mit Shakespeare zu reden, weit mehr Dinge zwischen Himmel und Erde als unsere Schulweisheit (= Wissenschaft) uns träumen läßt. Sich dessen zu erinnern ist durchaus kein Vorzeichen von Irrationalismus, sondern eher Ausdruck einer souveränen Vernunft, die nicht unbedingt der Detailbeweise bedarf, um das Ganze zu erkennen — und die aus dieser Erkenntnis die anthropologisch zuständigen Konsequenzen zieht.
In diesem Sinn stellt denn auch ein altes Wörterbuch philosophischer Begriffe fest, die Philosophie sei die Wissenschaft des Ganzen. Wörtlich steht dort geschrieben:
»Alle Einzelwissenschaften haben es mit besonderen Gebieten des Wissens von der Natur oder von der Geschichte zu tun; die Philosophie allein untersucht das Wissen überhaupt, seine Prinzipien und Methoden. Jene arbeiten isoliert für sich, sie brauchen aufeinander nicht überall Rücksicht zu nehmen; die Philosophie stellt dagegen den Zusammenhang zwischen ihnen her; sie ist ihr geistiges Band. Die Philosophie setzt andererseits die verschiedenen Wissenschaften voraus; diese müssen ihr die Resultate ihrer Einzelforschung darbieten, damit sie selbst bei der Aufstellung der Weltanschauung nicht in leere Phantasmen gerate.«
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Es liegt auf der Hand, daß gerade in einer so wissenschaftsorientierten und in wissenschaftliche Spezialforschungen aufgesplitterten Geistesepoche wie der unseren eine philosophische Zusammenschau und Zentrierung notwendiger wäre denn je zuvor, um der Bewahrung und Förderung dessen willen, was »Humanität« genannt zu werden verdient. Ist doch die Art der in der Philosophie zu gewinnenden »Gewißheit«, wie Karl Jaspers in der eingangs zitierten Schrift sagt,
»nicht die wissenschaftliche, nämlich die gleiche für jeden Verstand, sondern sie ist eine Vergewisserung, bei deren Gelingen das ganze Wesen des Menschen mitspricht. Während wissenschaftliche Erkenntnisse auf je einzelne Gegenstände gehen, von denen zu wissen keineswegs für jedermann notwendig ist, handelt es sich in der Philosophie um das Ganze des Seins, das den Menschen als Menschen angeht, um Wahrheit, die, wo sie aufleuchtet, tiefer ergreift als jede wissenschaftliche Erkenntnis.«
Denn, so möchten wir anfügen, Wissenschaft ist nicht dazu da, es bei ihr bewenden zu lassen, sondern sie ist eine Herausforderung an die Zeitgenossen, über sie nachzudenken und Merkzeichen der Humanitas aufzurichten, die über die irdischen Zwänge der Spezies Mensch hinausweisen.
Gewiß: Philosophie kann ebensowenig wie Dichtung die Welt verändern. Selbst zweitausend Jahre Christentum haben das Raubtier Mensch kaum zu veredeln vermocht. Aber Philosophie kann der Welt ins Gewissen reden und dadurch verhindern, daß diese vollends auf den kläglichen Hund kommt, auf den sie sich zu bringen wünscht.
In diesem Sinn ist Philosophie jene Geisteshaltung, in der man sich zwar um die Misere der Spezies homo sapiens keine Illusionen macht, aber trotzdem denkt, weil man die Sache dieser Spezies um dieser Sache willen nicht verloren geben möchte.
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