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Fuchs-1984
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Es ist der vierte Tag. Heute scheint die Sonne, blauer Himmel, weiße Wolken. Wie auf Postkarten. Eine Gegend mit Wald, Bergen und Tälern, mit Waldwegen, Wanderzeichen und zerwühlter, aufgetürmter Erde, weil nach Uran und anderen Schätzen gesucht wird. Die Halden in der Nähe des Lagers liegen schon Jahre, Gräser und kleine Bäume haben auf ihnen zu wachsen begonnen. An anderen Stellen leuchtet frisches Gestein über den Tannenwald, künstliche, spitze Berge.
Ich sehe alles aus großer Ferne. Ich bin nicht verantwortlich für diese Landschaft. Nicht für die Bäume, nicht für den Tannennadelduft, nicht für die dürren, kahlen Äste an manchen Spitzen, nicht für das frische Gestein, das da aufgetürmt, hingekippt wurde von Förderbändern und Lkws.
Ich bin nicht verantwortlich. Ich bin auch in diese Landschaft gekippt worden. Mein Zuhause ist anderswo. Jetzt marschiere ich zu einem Übungsgelände. Es soll drei Kilometer entfernt liegen.
«Genau drei Kilometer», sagt Weidauer, «wie abgemessen.»
Ich muß nicht nachzählen.Ich muß mir auch nicht alles merken, was Weidauer sagt. Vieles ist vielleicht gar nicht wichtig. Und das Wichtige vergesse ich. Wie die Großmutter vor ihrem Elternhaus stand in Oberschlema bei Aue. Wie kein Haus mehr zu sehen war, nur Lkw-Spuren, nur Schlamm und Eisenbahnschwellen, die als Wege dienten. Weg war das «Radiumbad Oberschlema», weg war das Bauernhaus ihrer Eltern, zerklüftet war die Gegend, löchrig, ausgenommen, ausgeweidet und liegengelassen. Einige Bohrtürme waren noch zu sehen.
Waren es die «Freunde», waren es «unsere», war es die «Wismut», war es die neue Industrie? Irgendwer wird es gewesen sein. Meine Großmutter hat nicht gefragt. Sie hat den Kopf geschüttelt und ist weggegangen. Die Wälder hatten noch Nadeln. Nur die Vögel, behaupteten einige, verschwinden. Wenn keine Autos fahren, behaupteten sie, ist es ganz still. Das ist die Geschichte meiner Großmutter, als sie von Gotha nach Aue fuhr, um ihr Elternhaus wiederzusehen.In den Wochen danach ging sie mit mir weiterhin Pilze suchen und las in der Bibel. Am Abend spielten wir «Mensch-ärgere-dich-nicht», sie lachte viel und hatte nichts dagegen, daß ich ein Stück Kuchen nach dem anderen aß. Ihre Prophezeiungen waren düster. «Die Strafe», sagte sie, «die Strafe wird kommen.»
Ich muß an meine Großmutter denken, wenn ich Bergwerke und Geröllhalden sehe.
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«Die suchen Zeug für ihre Bomben», hat sie gesagt und eine Antwort gesucht in ihrem schwarz eingebundenen Buch.
Täglich hat sie gelesen und die Seiten geprüft. Ob sie etwas gefunden hat? Und was ist mit dem Enkel? Der marschiert gerade mit anderen durch ein Lagertor, dann an der «Polnischen Sturmbahn» vorbei und den breiten, geschwungenen Weg ins Tal hinab. Da unten wurde schon der Angriff geübt. An diesem Tag marschieren wir weiter, folgen der schmalen Straße, die zum Wald führt.
Es ist der vierte Tag. Aber ich habe nicht nachgezählt. Es geht alles schnell. Karausche rechnet oft auf einem kleinen Taschenkalender herum. Ich nicht. Was ist für ein Wochentag? Donnerstag? Freitag? Freitag. Es sind die ersten Tage, das genügt. Ich muß sie nicht zählen. Davon vergeht die Zeit auch nicht schneller. Noch genügend Tage liegen vor mir. Ob es später leichter wird? Zuerst hat es dem Langen Karl bei der Marine gefallen. Dann hat er getrunken und geklagt. Und die ersten Wochen? Sie werden nicht viel anders gewesen sein als diese Tage. «Am Anfang sind alle Pisser», hat er gesagt. Da haben wir gelacht.
Die Straße biegt in den Wald ein. Ein Bach, eine Brücke. Das ist keine Asphaltstraße. Schotter, Sand, Regenrinnen und rote, ausgewaschene Walderde. So eine kurvenreiche Straße ist es.
Die Wanderungen im Thüringer Wald — mit Körben für Pilze und einer Tüte voller Brötchen bin ich schon auf solchen Straßen entlanggezogen. Ich kenne sie. Man kann lange gehen, ohne die Entfernung zu spüren. Bei schnurgeraden, asphaltierten Straßen ist das anders. Da sieht man weit und klein ein paar Häuser und denkt: So weit noch ... Solche Straßen wie diese hier sind anders, abwechslungsreicher, geheimnisvoller, schöner.
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Mit leichten Bögen und abzweigenden Pfaden, die hinter Büschen verschwinden. Mit Quellen und aufgestapelten Stämmen, auf die man sich setzen kann, wenn man eine Zeitung unterlegt, denn meist klebt Harz an dem abgeschälten, duftenden Holz. In Tabarz, in Friedrichsroda gab es solche Straßen. Manchmal kamen Kühe entgegen mit dicken Bäuchen und prall gefüllten Eutern. Sie liefen langsam, schaukelnd, sahen sich um, hatten spitze Hörner. Es war besser, ihnen die Straße ganz zu überlassen. Und den grünen, flüssigen Kuhfladen auszuweichen, die deutlich den Weg markierten zwischen Weide und Stall.
Kühen begegnen wir nicht. Aber kämen Spaziergänger, würden sie uns auch die Straße überlassen. Sie würden zur Seite treten und auf unsere Stahlhelme und Maschinenpistolen schielen. Jeder hat zum erstenmal eine Waffe mit, seine ganz persönliche Waffe, deren Nummer er sich einzuprägen hat. Ich kann sie mir schlecht merken, kann sie nicht hersagen. Aber wenn ich die Waffe sehe, erkenne ich sie. Bilde ich mir ein. Ich weiß seit gestern abend ihren Platz im Ständer. Da steht auch mein Name. Ich muß mich in der Waffenkammer links halten und zur Wand treten. Dort ist der Ständer der dritten Gruppe. Heute hat man uns zum erstenmal die Waffe und ein leeres Magazin mitgegeben.
Und so marschieren wir in sanftem Bogen in den Wald ein. Jetzt sind wir bewaffnet. Zwar fehlt noch die scharfe Munition, aber ein Seitengewehr, ein Bajonett, baumelt ebenfalls am Koppel. Und um Hals und Schulter hängt die Kalaschnikow. Mit beiden Händen halte ich sie fest, die rechte berührt den Kolben, die linke den Holzschaft am Lauf. Dort gehen kleine Wege ab, es ist wie im Thüringer Wald, wie auf dem Boxberg hinter Sundhausen, nur jetzt im Erzgebirge.
Ich trage keine Lederhosen und keinen Korb für Pilze, ich trage eine Uniform, die
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Dienstuniform und darüber den Kampfanzug, dazu eine Waffe, eine Schußwaffe.
Und ein Messer, einen Dolch, ein Bajonett, ein Seitengewehr. Zwei Waffen also. Sie lassen sich leicht zu einer vereinen. Maschinenpistole und aufgestecktes Seitengewehr, das ist dann ein Speer, eine Lanze, mit der man Sandsäcke und Brustkörbe durchbohren kann ... eine «wirksame Stichwaffe» ...
Die Stiefel schlagen rhythmisch, im Gleichschritt, auf den Sandbelag der Straße. Aber es gibt kein lautes, schneidiges Vibrieren, dieser Untergrund steckt die Schläge weg, dämpft sie, es soll wohl nicht allzuviel Lärm entstehen in dieser Landschaft. Ob es auch Tiere gibt, Kaninchen, Rehe, Vögel? Bestimmt. Da oben ist die Sonne, ab und zu kann man sie sehen an diesem Tag, dieser Ausnahme im November mit blauem Himmel und weißen Wolken. Die 3. und 4. Kompanie des Grenzausbildungsbataillons Johanngeorgenstadt ist unterwegs, das ergibt eine lange Kolonne. Zwischen den Zügen liegen große Abstände. Neben uns laufen Weidauer, Pohl, Krause und Meinel, sie reden miteinander, ab und zu geben sie den Takt an, damit keine Unordnung entsteht, kein «Latschen» im Wald. Unserem Zug folgen noch zwei Unteroffiziere. Da ist zum einen Unterfeldwebel Fickel, mittelgroß, leichter Bierbauch, stets gerötetes Gesicht, Mitte Zwanzig. Er läuft sehr gerade, den Kopf erhoben und etwas nach hinten geneigt, als wolle er immerzu fragen: «Ist irgendwas?»
Laut spricht er, eine Mischung aus polterndem Ernst und quäkendem Spaß, das Ganze ins Militärische übersetzt, also stets zu Witzen über andere und zu drohenden Bemerkungen bereit, über die man nicht so recht lachen kann, wenn man gemeint ist: «Nehmen Sie Ihre Wichsgriffel aus der Hosentasche, Sie schwuler Kunde», das ist Fickel. Das und anderes kann er sagen.
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Mit und ohne Anlaß, es kommt einfach aus seinem Mund, als müßte es so sein. Zu Fickel gehört offenbar auch das Amüsierte, Spöttische, Gutwillig-Versoffene, das zu laut spricht und ab und zu durchschimmert bei dem, was er von sich gibt.
Am ersten oder zweiten Tag hat er sich in den Gang gestellt und gerufen: «Hier Unterfeldwebel Fickel! Ein Wort zur Klarstellung: Mein Name ist kein Name, sondern eine angenehme Beschäftigung. Ist das klar?» Wir haben gefeixt und «jawoll» gerufen. Das ist Fickel. Und seine Schirmmütze, auf keinen Fall läßt sich die übersehen, ist nicht kreisrund, wie es der Ring im Inneren formgebend vorsieht, sondern oval, an den Seiten leicht nach unten gebogen, wie es denen zusteht, die nicht mehr neu sind in dieser uniformierten Welt.
Neben ihm geht Münchow, ein Unteroffizier. Schmal, hellblond, blaß, wie fünfzehn, sechzehn sieht er aus. Und ein dünnes Stimmchen hat er. Ist in einem Zimmer mit Fickel und Kompanieschreiber Fröhlich. Gegenüber befindet sich Jugels Stube. Weidauer und die anderen wohnen vorn an der Treppe, und hinten, am Ende des Gangs, ist das Zimmer von Münchow und Fickel. Über Münchow weiß ich noch wenig. Er sieht mürrisch und sehr jung aus. Wir nehmen ihn nicht ernst, nennen ihn, von dem wir erfahren haben, daß er auch — wie Pohl — frisch von der Unteroffiziersschule gekommen ist, hinter seinem Rücken «das Kind».
«Artilleriebeschuß von vorn!»
Das ist Pickels Stimme. Jetzt beginnen also die «Einlagen». Wir rennen vorwärts, lassen uns links und rechts in die Straßengräben fallen und zielen mit der Waffe auf einen unsichtbaren Feind. Manche sind rückwärts gerannt, sie müssen «bis zur nächsten Kurve gleiten — vorwärts!».
Andere Kommandos folgen: Atomschlag von
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vorn, von hinten, von der Seite ... Wir sind in ein Gefecht verwickelt auf dieser wunderschönen, spätherbstlichen Waldstraße. Das ist ein Rennen und Stürzen den anderen nach. Die Unteroffiziere bleiben auf der Fahrbahn stehen und beobachten unsere gymnastischen Übungen. Immer fällt ihnen noch eine Bedrohung ein, es kommen Tiefflieger, Maschinengewehrschützen haben sich verschanzt...
Das ist nun alles schon beinahe alltäglich geworden, auch das Wort «Atomschlag» haben wir schon oft gehört in diesen Tagen, auf dem Weg zur Essenbaracke, bei den Märschen ins Gelände. Die Bewegungen sind fast schon automatisiert. Zu registrieren ist, aus welcher Richtung der Angriff kommt, jedenfalls nach Meinung des Vorgesetzten. Dann weiß man, wohin der Kopf und wohin die Stiefel zeigen müssen. Daß die Waffe unter den Körper gehört, von ihm, von mir geschützt werden muß, weil sie das Wichtigste ist, habe ich begriffen ... Ich nehme hin, daß ich jetzt hier bin, daß ich ein Soldat bin, daß ich eine Uniform trage, daß ich in Gefechte verwickelt werde, die Fickel auslöst oder Weidauer oder Münchow. Den anderen ergeht es ebenso.
Warum soll ich verschont bleiben? Weil ich einige Gedichte schrieb ? Weil ein Buch im Spind steht, das «Wetterzeichen» heißt? Weil ich das Abitur habe? Ich fand keinen Weg, mich dieser Realität zu entziehen. Also bin ich hier. Und mache mit. Die Augen registrieren einiges, auch die Ohren. Hören und Sehen ist mir nicht vergangen. Ich fühle auch das alte, harte Gras des Straßengrabens, das weiche, sehr grüne Moos unter einigen Bäumen. Der schwärzliche Sand der Straße klebt an meinen Händen, ich mache Bekanntschaft mit dem vom Regen ausgespülten Schotter, kann zweimal nicht vermeiden, mit den Knien durch eine Pfütze zu rutschen. Da sind Biellau, Jugel, Bauer, Karausche, Schwabe, Dominiak, Glöckner, Emmrich und die anderen.
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Was willst du, alle sind sie da. Es ist nicht schlimm, hab dich nicht so. Davon stirbt keiner, das schadet nicht. Wirst dir keinen Zacken aus der Krone brechen. Und wenn du dir ein kleines Wehwehchen holst an Händen oder Knien, ach Gottchen, nee, das heilt wieder bis zur Hochzeit. Darum geht es nicht? Worum geht es denn? Mach es nicht noch komplizierter! Sensibel wäre jeder gern, aber manchmal muß man einfach durchhalten und sich fügen. Das sind Ratschläge, die kann ich mir selber geben. Außerdem bin ich sportlich ... Und auf der Hohle und unter den Bachbrücken haben wir «Räuber und Gendarm» gespielt nach der Schule. Ich war keiner mit gebügelten Hosen und weißen Kniestrümpfen. Ich war nicht wie Biellau stets zu Hause und ein Musterschüler. Worüber rege ich mich auf, was ist los?
Ich sehe immerzu hin. Und will mir aus irgendwelchen Gründen merken, was Weidauer sagt und Fickel. Fickels Mund muß ich ansehen und die weißen Wolken oben. Ich kann nicht wegsehen. Das quält mich, ist wie eine Strafarbeit. Dabei habe ich genug zu tun. Ich muß aufpassen, daß ich hier durchkomme ... Ich will wohl Zeuge sein?
Die erste Gruppe muß die Schutzmasken aufsetzen. Münchow kommandiert, «das Kind», der blasse, hellblonde Münchow ohne Bartwuchs und mit so einem Stimmchen ... Wie ein Fünfzehnjähriger sieht er aus.
«Gas!» ruft er. «Gas!»
Sie müssen rennen, Kreise drehen, sich hinlegen, wieder aufspringen. Münchow ist ganz lebendig geworden, ganz aktiv:
«Los, los, dalli, dalli, keine Müdigkeit vortäuschen!»Sein dünnes Stimmchen gellt durch den Wald. Jetzt werden die ersten langsamer, schwanken ... dürfen aber die Masken nicht abnehmen.
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Wir erhalten den Befehl, seitlich «in Stellung» zu gehen, können also gut sehen, was die erste Gruppe vollführen muß aus irgendeinem Grund. Vielleicht hat jemand widersprochen...
Einer stolpert in den Straßengraben, fällt, will sich die Maske vom Kopf reißen, bekommt das Lederband des Stahlhelms nicht auf. Zwei andere knien auf der Straße. Münchow beugt sich über sie und schreit:
«Hoch, los, hoch!»Jetzt kommt Riedel angeschlendert, übernimmt das Kommando, zieht den Umgekippten die Masken vom Gesicht. Wir können das alles gut sehen. Bauer ruft:
«Verdammte Scheiße», und wirft einen kleinen Stein in eine Pfütze. «Das gibt's doch gar nicht, das darf doch nicht wahr sein», hören wir ihn sagen. Die Unteroffiziere reagieren nicht.Ich bin froh, nicht zur ersten Gruppe zu gehören. Nun haben wir Münchow kennengelernt.
Die Einlagen sind beendet. Der Feind hat sich zurückgezogen. Es sind die Minuten nach dem Atomschlag. Wir marschieren weiter. Zwei aus der ersten Gruppe müssen gestützt werden. Münchow läuft wieder still und mürrisch neben Fickel her. Riedel pfeift einen Schlager, es hört sich an wie «Da sprach der alte Häuptling der Indianer» ... Unterfeldwebel Weidauer ruft:
«Jetzt üben wir den Marschgesang! Alle herhören: <Grün ist meine Waffenfarbe, die so stolz ich trag. Grün ist auch ein Kleid von dir, das so gern ich mag.>»
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Weidauer räuspert sich und spuckt in den Straßengraben. «Und alle!» ruft er. «Laut und deutlich ...» Wir leiern laut die erste Strophe dieses Liedes herunter. Weidauer nickt und fährt fort:
«<Durch das kleine Dorf marschiert unsre Kompanie, ja Kompanie. Wo der Weg zu dir hinführt, das vergeß ich nie. Ja, das vergeß ich nie.>»Weidauer zelebriert auf seine Art einen Sprechgesang, der uns Text und Melodie des Liedes «Grün ist meine Waffenfarbe» vermitteln soll. Wir probten es schon einmal auf dem Weg zum Essen, hörten es auch von der Kompanie der Unteroffiziersschüler, die es lauthals und sicher herausschrien seit zwei Tagen. Offenbar gehört das Erlernen dieses Liedes zu den ersten militärischen Aufgaben. Jetzt sollten wir ihnen nacheifern.
«Alles klar?» fragt Weidauer.
Einige rufen: «Jawoll!»«Das Lied wird im rechten Glied nach hinten durchgegeben. Der letzte ruft <Lied durch !>, wenn er vom Vordermann gesagt bekommen hat, was gesungen wird. Laut, daß es alle hören. Emmrich und Jugel, verstanden?»
«Jawoll, Genösse Unterfeldwebel!» brüllt Jugel von hinten mit irgendeiner Freude in der Stimme.
«Die zweite Reihe stimmt an», erklärt Weidauer, «und alle singen sofort mit! Ist das klar? Singen ist Befehl!»
«Links, links, links zwo, drei, vier», assistiert jetzt Pohl, «ein Lied!»
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Emmrich, der vorletzte Mann im rechten Glied, wiederholt gepreßt und ängstlich, aber laut:
«Ein Lied, zwo, drei...»Weiter kommt er nicht, Weidauer unterbricht ihn:
«Das Lied nennen! <Grün ist meine Waffenfarbe> Dann ruft der letzte Mann, nicht Sie: <Lied durch!> Nicht schlafen! Noch mal!»Pohl wiederholt sein Kommando. Weidauer paßt auf wie ein Kapellmeister. Gleich wird er die Arme heben und zu dirigieren beginnen. Oder als Tambourmajor Pauken und Trompeten in Gang setzen. Nur die Marie fehlt, Woyzecks sind genügend vorhanden. Es gibt keine Zuschauer, man kann sich nur selber zuschauen bei dieser Inszenierung. Singen auf Befehl, das habe ich auch noch nicht erlebt. Oder halt, bei Stöckigt im Musikunterricht, da war auch etwas von Befehl da, Vorsingen auf Zensuren ... Stöckigt als Vorbote dieser Dirigierer ... Vielleicht hören Vögel zu. Aber sie werden weggeflogen sein.
Jetzt macht es Emmrich richtig:
«Grün ist meine Waffenfarbe>», ruft er, und Jugel brüllt aus voller Kehle, so laut, daß man sofort grinsen muß, auch wenn das Geschrei von hinten kommt und man Jugels Gesicht nicht sehen kann:
«Lied durch!»In der zweiten Reihe ruft Karausche, von Weidauer und Pohl unterstützt:
«... drei, vier!»Und Dominiak beginnt mit seiner hellen, klaren Stimme zu singen, laut wie im Küchengebäude beim Kartoffelschälen, als er «Down by the riverside» sang als Begleitmusik zum nächtlichen Einsatz. So singt er jetzt «Grün ist meine Waffenfarbe, die so stolz ich trag», im Wald, auf der wunderschönen Straße mit den sanften Kurven ... Und wir anderen stimmen ein, gurgelnd und verlegen, noch unsicher im Text...
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Dominiak ist der beste Sänger. Auch Bauer wird jetzt wach und grölt mit, vielleicht weil im Lied von einem Dorf die Rede ist. Wir singen laut mit. Wir schreien etwas heraus, machen Krach, sind lauter als die Unteroffiziere. Das konnte man schon vorhin bei Jugel vernehmen, als er «Lied durch» rief, daß er lauter rufen wollte als Fickel und Weidauer, lauter als «Artilleriebeschuß» und lauter als «Atomschlag von links». Das konnte man gut hören, als Jugel bekanntgab, daß er das Lied verstanden hatte als letzter Mann.
«Wo der Weg zu dir hinführt, das vergeß ich nie.» Hat das einer vom Literaturinstitut Leipzig gedichtet? Vielleicht ein junges Talent in Uniform? Oder ein ansonsten kritischer Kopf aus Dresden, der Gedichte von Kunze und Kunert auswendig kann und nur ab und zu ein wenig aus der lyrischen Reihe tanzt? Nein, ich habe es nicht geschrieben. Ich marschiere diese Waldstraße entlang und trage die grüne Waffenfarbe. Und singe. Wenn man unser Gegröle Gesang nennen kann. Zaghaft haben wir begonnen, jetzt ist ein Geschrei daraus geworden, ein Ruf: «Das vergeß ich nie, ja, das vergeß ich nie.»
«Und noch mal von vorn, links, zwo, drei ... vier!» ordnet Weidauer an, offenbar recht zufrieden mit unserer Leistung. Hört er nicht Bauers Brüllen?
Zu Hause in meinem Zimmer steht mit schwarzer Tusche an der Tapete: «Ein Dichter bin ich und drum unnütz / einer, der nie getötet hat und den man darum / umbringen wird. Denn dies wird nie verziehn.»
Radnoti, den die Nazis umgebracht haben. Werde ich einer sein, der andere tötet? An der Staatsgrenze, am «antifaschistischen Schutzwall»? Bei der «brüderlichen Hilfe»?
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Durfte ich solche Verse an die Wand schreiben und dann einem Einberufungsbefehl folgen ... Ist das peinlich und verräterisch? Ja, das ist es. Jetzt weiß ich es genau. Wie komme ich da raus? Gar nicht. Gar nicht mehr. «Mitgegangen, mitgehangen», solche Sprüche fallen mir ein.
Ich marschiere mit einer Kalaschnikow durch erzgebirgischen Tannenwald und singe von meiner grünen Waffenfarbe, «die so stolz ich trag». Ich bin einer in diesem brüllenden Chor. Der Lange Karl hat immer etwas von «Haubitzen» erzählt, wenn er auf Urlaub war. «Wir stehn an den Geschützen,/es schießen die Haubitzen,/ und wenn der erste Schuß gelingt,/das Herz im Leibe uns springt.» So etwas hat er gesungen, halb gesungen, halb aufgesagt. Das haben sie wohl lernen müssen bei der «Volksmarine».
Oder es ist von früher? Was ist «früher»? Die Nazizeit? Immer werden Lieder gesungen ...
Ein freies Feld wird sichtbar, eine Lichtung, ein großes Übungsgelände. Hier lassen sich die «Angriffsarten im Gelände» gut erproben. Auch das Anlegen von Schützenmulden und Schützengräben, es haben schon welche gebuddelt ... Und Atomschläge wird es geben. Und Gasalarm. An einer flachen Holzbaracke steht ein Geländewagen. Oberleutnant Patsch wartet schon. Er wurde mit dem Auto gefahren. Da steht sein Chauffeur, ein Gefreiter. Patsch trägt schwarze Lederhandschuhe, am Gürtel baumelt eine hellbraune Pistolentasche. Hinter der Baracke kommt Leutnant Meier vor. Er tritt zum Wagen und beobachtet durch ein Fernglas unseren Anmarsch. Es ist die Wirklichkeit, daran besteht kein Zweifel.
Leutnant Meier läßt uns antreten und befiehlt den Unteroffizieren: «Anschlag üben, liegend und freihändig! In Gruppen Richtung Waldrand zielen!»
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Leutnant Meier habe ich schon mit nacktem Oberkörper gesehen. Am zweiten Tag, im Waschraum, als er Jugel mit Unterhemd erwischte und der nicht gleich wußte, wen er vor sich hatte. Ein Hänfling, habe ich zuerst gedacht. Aber als ich ihn schreien hörte ... Und wie er jetzt vor uns steht... da macht er einen anderen Eindruck.
Das kommt wohl von der Pistole, die an seinem Gürtel hängt. Im Gelände tragen die Offiziere also Waffen. Die Unteroffiziere an diesem Tag nicht. Wir tragen auch welche, größere und schwerere als Meier und Patsch, aber Meier mit seiner Pistole, wie er jetzt vor uns steht, kommt mir imposanter, gefährlicher vor, vielleicht, weil man annehmen kann, daß er scharfe Munition im Magazin hat. Und wenn es so ist, vor wem will er sich schützen? Vor dem Feind, der nicht in Sicht ist und hinter zwei Grenzen steht? Vor wilden Tieren? Vor uns? Ist es eine Maßnahme gegen «Ausraster» und «Durchdreher»? Oder ist es einfach üblich ... «An der Hüfte baumelt ein Colt», das ist es wohl. Texas. Das andere Gefühl, mehr eine Assoziation, schiebe ich weg, das muß geheim bleiben: Die Uniformen, die Waffen, die Waldlichtung, die Schirmmützen, das Kommandieren, die flache Baracke, in der irgendwelche Utensilien verstaut sind ... das erinnert mich an KZ-Filme ...
Meier hat keine besonderen Kennzeichen. Da ist die Schirmmütze. Wir haben auch Schirmmützen im Spind. Die Offiziere tragen Uniformen aus besserem Stoff. Das konnte ich schon sehen, als Patsch und Flörchinger im Kompanie gebäude an mir vorbeigingen. Flörchinger ist Stabsfeldwebel, also Berufsunteroffizier. Er hat sich zehn Jahre verpflichtet, wie mir Karausche erklärt hat. Dafür bekommt er die bessere Mütze, ist den Offizieren gleichgestellt.
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Weidauer und den anderen «Uffzen», die drei Jahre bleiben, wird die gewöhnliche Stoffqualität zugemutet, die wir Soldaten tragen. Ob die ganz hohen Tiere noch stattlicher ausstaffiert sind? Die Generäle? Wahrscheinlich. Warum denke ich darüber nach? Will ich etwa auch wie Meier aussehen?
Patsch ist ein richtiger Offizier, er wird Lehrgänge besucht haben und lange dabeisein. Meier kommt bestimmt frisch von der Offiziersschule und hat hier seine erste «Praxisberührung». Seine Hosen sind an den Oberschenkeln ausgebuchtet, es sind Reithosen, «Ohrenhosen», wie Bauer sie nennt.
«Willst du dir nicht Nachschlag holen? Dann kannst du auch so rumlaufen ...» höhnt Bauer. Solche Reden hat er von seinem Bruder, dem Hundeführer. Nein, ich will keinen Nachschlag holen. Ich bin auch nicht scharf auf eine Offiziersmütze ... Der Stahlhelm drückt, er ist schwerer als eine Mütze aus Stoff...
Hinter Meier beginnt ein Grabensystem. Frische Erde liegt auf kleinen Haufen. Hier haben schon andere gewühlt, Löcher und Vertiefungen sind zu sehen. Das wird auch uns erwarten. Das Übungsgelände ist etwa einen Kilometer lang und fünfhundert Meter breit. Da werden sie uns hin und her scheuchen ... Baumstümpfe sind stehengeblieben und einzelne Büsche. Die Armee wird gerodet haben ... Bauer erzählte mir, daß Johanngeorgenstadt früher ganz anders aussah. Nach dem Krieg kam der Bergbau und hat alles unterhöhlt. Die alten Stadtteile mußten geräumt werden wegen Einsturzgefahr ... Da drüben steht eine kleine Gruppe junger Birken. Zart, zerbrechlich sehen sie aus, ein Axthieb würde genügen ... Die wunderschöne Waldstraße halbiert den Kahlschlag. Sind das da Panzerspuren?
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Die Panzerspuren in Sundhausen waren Täler, Schluchten. Sie führten nach Ohrdruf, einer Ortschaft am Fuße des Thüringer Waldes. In den alten Kasernen am westlichen Stadtrand von Gotha liegt die Rote Armee. Wenn ich als Kind auf der kleinen, dunkelbraunen Holzbrücke stand, die über die Leina führt, einen schmalen Bach, konnte ich den Inselsberg sehen und die bewaldeten Kämme um Tabarz und Brotterode. Sie schimmerten dunkel- und hellblau, manchmal schwarz. Geradeaus in der Ebene, mit einem rötlichen, bei Sonne hellen Braun, die Felder und Dörfer Richtung Ohrdruf, in dessen Nähe sich seit Jahrzehnten ein Truppenübungsplatz befindet, der heute von sowjetischen Panzertruppen benutzt wird, von «den Russen», wie wir sagten. «Kommst du mit zu den Panzerspuren?» Da rannten wir einen Feldweg hinab und standen aufgeregt und staunend vor der zerwühlten Erde. Fünf, sechs Meter ging es hinab ... da lag ein weggerissener, zerfetzter Gartenzaun, dort ein Baum, der mit den Wurzeln in den Himmel zeigte und dessen Blätter noch saftig und grün waren, sogar Äpfel hingen an den Zweigen. Wasser stand am Boden, von dem man von oben nicht sagen konnte, wie tief es war. Jemand hatte Ziegelsteine und Bauschutt auf den Grund geworfen, das lag lächerlich und verloren da. Viele Wagenladungen wären nötig gewesen, um diese Gräben zuzuschütten. Und noch etwas anderes wäre nötig gewesen, um diese Gräben zuzuschütten ... Aber daran habe ich nicht gedacht, als ich diese wilde Spur des Krieges mitten in den Ferien sah, die durch Felder führte, dicht an einzelnen Bauernhäusern und Viehställen vorbei. Sie gefiel mir. Fast täglich sahen wir nach, ob es etwas «Neues» gab.
Dabei wollten wir vor allem sehen, ob es neue Zerstörungen gab, ob die stählernen Ketten sich noch tiefer in die bloßgelegte Erde gefressen hatten, ob
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weitere Bäume entwurzelt herumlagen oder gar ein Haus umgefallen war ...
Leider fuhren die Panzer fast nur nachts oder ganz früh am Morgen. Von den Motoren wachte man auf, vom dumpfen Rasseln der Ketten, das ich aus Kriegsfilmen kannte, von der stundenlangen Hartnäckigkeit dieser Geräusche. Wären sie doch am Tag gefahren! Dann hätten wir uns auf den Erdwall stellen und zusehen können. Der Staub hätte uns nichts ausgemacht, auch nicht der Lärm. Der Boden vibrierte kilometerweit ... «Hörst du, sie fahren wieder ...» Meine Großmutter gab, entgegen ihrer sonstigen Art, dazu keine Kommentare ab. An ihrem Gesicht konnte ich aber sehen, daß sie meine Begeisterung für diese kolossale Technik nicht teilte. Wenn sie mit dem kleinen Holzhandwagen zu einer Bauersfrau nach Sundhausen fuhr, um Ziegenmilch für den Kuchen zu holen, mußte sie die Panzerspuren überqueren. Es gab einige Stellen, an denen das möglich war. An einem Abend, als die Geräusche wieder zu hören waren, sagte sie nur: «Nun könnten sie aufhören.» Mehr sagte sie nicht. Hin und wieder erzählte sie von der «Notzeit», vom Stoppeln-Gehen auf den Feldern, von den Luftangriffen am Ende des Krieges ... Wenn ich auf der Leina-Brücke stand, war das Wasser oft ölig, buntschillernde Kreise schwammen obenauf, der Geruch von Benzin und Öl mischte sich mit dem der hohen Kastanienbäume, die am Ufer standen. «Sie waschen wieder die Panzer», sagten wir und meinten: So ist es eben, das gehört dazu, das sind die Gegebenheiten: in Sundhausen die Panzerspuren, an der Waldbahn die russischen Kasernen und das «Magazin», in dem man Kaffeesahne kaufen kann. Die Verkäuferinnen sprechen nicht deutsch, sie rechnen mit Holzkugeln, die sich auf Stäben verschieben lassen. Mit so etwas hatten wir als Kinder gespielt.
Die Verkäuferinnen sahen
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uns hereinkommen und stellten, während sie andere Kunden bedienten, das von uns Gewünschte auf den Ladentisch.
Wir mußten nichts sagen. Sie auch nicht. Das Geld wurde hingereicht, und wenn ein Größerer mit war, sagte er: «Spasibo.» Die Verkäuferin nickte oder murmelte etwas Unverständliches, gab das Wechselgeld zurück, und wir zogen ab ... Die Offiziersfrauen erkannten wir auf der Straße am Parfüm. Viele schminkten sich auffällig. Und wenn sie nicht allein waren, redeten sie laut und gestikulierend miteinander. Hinter vorgehaltenen Händen nannten Erwachsene sie «Russenweiber» ...
Einfache Soldaten mußten hinter den weiß oder grün gestrichenen Bretterzäunen bleiben. Sie sahen aus wie große, kahlgeschorene Kinder. Auf bulligen Militärlastern saßen sie und warfen lange, sehnsüchtige Blicke in irgendeine Ferne. Wenn wir ihnen zuwinkten, winkten sie zurück, freundlich und abwesend. Ihre Familien waren anderswo, in der Fremde, im Land der Sieger, in ihrem Zuhause. Wir standen in unserem Zuhause auf der Reinhardsbrunner Straße, sahen sie vorbeifahren und fühlten, daß Traurigkeit ausging von ihren eingezogenen Köpfen und den hochgeschlagenen Kragen der dicken Soldatenmäntel.
Wenn ein Offizier auf dem Fußweg entgegenkam, sagten wir erwartungsvoll «Sdrassd». Meist antwortete er, grüßte zurück. Das hatte uns keiner aufgetragen, weder der Russischlehrer noch die Großmutter. Doch verbunden waren wir mit denen, die am wenigsten Eindruck auf uns machten, die mit ihren groben Mänteln auf den großrädrigen Lastern saßen und winkten, wenn wir nur ein wenig die Hand hoben, mit den Rekruten, den «Muschkoten», wie einige Ältere sagten. Die meisten sahen sehr jung aus und taten uns leid, weil ihre Haare so kurz waren und die Kopfhaut durchschimmerte.
«Sie werden geprügelt», hieß es, «es sind auch
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arme Schweine.» ...
Wenn stundenlang laute Marschmusik aus Lautsprechern von den Kasernen herüberklang, sagten wir: «Jetzt feiern sie.» Etwas Dumpfes, Drückendes, auch Geheimnisvolles, Mächtiges umgab diese «zeitweilig in der DDR stationierten sowjetischen Streitkräfte» ... Offiziere sah man oft in der Stadt, denen mit einigem Abstand zwei oder drei Soldaten folgten, die große Koffer oder eingekaufte Gegenstände trugen. «Das sind Diener», war unsere Einschätzung ... Auf dem Weg zum Bäcker lag die «Russenstraße».
An vielen Fenstern waren keine Gardinen. Die Kinder spielten bis neun, zehn Uhr abends vor den Häusern. Manchmal gingen wir in kleinen Gruppen nachsehen, «was die machen». Wir schlenderten langsam durch die von Dreirädern und Rollern befahrene Straße. Einige größere Mädchen lachten, als wir kamen, und sprachen mit uns. Sie waren freundlich und trugen große Schleifen im Haar. Eine mit einem langen Zopf und wachen Augen, die sehr gut Deutsch sprach, fragte nach unseren Namen und begann dann mit einer kleinen Vokabelkontrolle: «Ich sagen deutsch und ihr russisch, verstanden? Was heißt Frosch?» Keiner von uns wußte, was Frosch heißt. «Was heißt Liebe?» Die Mädchen lachten, wir traten grinsend von einem Bein auf das andere, unsere Lehrerin blieb ernst: «Na, keine Ahnung?» Mein Freund Hans aus dem Nachbarhaus, der zwei Jahre älter war und die Haare trug wie Elvis Presley, fragte: «Was denn, po russki?» «Da, da, Lie-b-e! Dawai!» Einer von uns murmelte etwas von «Lubelju oder so ähnlich», die Mädchen nickten, unsere Lehrerin sagte: «Fast, fast ...» Wir standen also in der Russenstraße und begannen uns ganz gut zu unterhalten, als wir von den gegenüberliegenden Häusern aus Blasrohren mit Erbsen und kleinen Steinen beschossen wurden.
Wir drohten mit den Fäusten und
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rannten weg, verließen das fremde Territorium ...
An der Leina trafen wir manchmal Soldatentrupps, die Leitungen verlegten. Sie winkten uns heran, zeigten goldene Ringe und kleine Kofferradios, «tauschen, tauschen!». Wir hatten kein Geld. «Hübsche Schwester? Du holen, wir Freunde!» So etwas sagten sie und lachten dazu. Kam dann ein Vorgesetzter, duckten sie sich, arbeiteten schnell weiter und zwinkerten uns zu ... Panzerspuren ... Einmal blieb ein «T 34» liegen, eine Kette war gerissen. Das war eine Sensation! Dreckverschmiert, riesig und hilflos lag das schwere Gefährt am Rand der Fahrrinnen, von den anderen zurückgelassen. Die Besatzung saß rauchend neben dem Turm. In Etappen näherten wir uns dem Ungetüm. Als keiner schimpfte und kein Schuß fiel, kamen wir ganz dicht heran. Nach einer Weile reichte uns einer der Soldaten wortlos die Hand herunter und zog einen nach dem anderen zu sich hinauf. Gesprochen wurde nicht. Wir durften ins Innere sehen und das Kanonenrohr anfassen. Wir waren glücklich und gaben nur staunende Laute von uns, Zurufe, die die anderen auf weitere imposante Details aufmerksam machten. Nach etwa einer Stunde kam Verstärkung. Der liegengebliebene Panzer wurde von einem anderen abgeschleppt. Noch wochenlang spielten wir «T 34». Etwas merkwürdig war, daß keiner der Russe sein wollte, nur Partisanen und Cowboys kämpften gegeneinander, zu Fuß oder auf zweirädrigen Drahteseln, die mit Holzkanonen ausgerüstet waren.
«Ich habe nichts von Rühren gesagt! Richten Sie sich aus, achten Sie auf den Sitz der Waffe!» ruft Meier aus der Nähe der hölzernen Bude, zu der er gegangen ist, um sich mit Patsch zu besprechen. «Sie sind nicht allein hier, Unteroffiziere, sorgen Sie für Ordnung!»
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«Jawoll, Genosse Leutnant», antwortet Pohl und beginnt, den Sitz einiger Waffen zu korrigieren.
Jetzt weiß ich, an wen mich Meier erinnert: an Schreiber aus der Parallelklasse. Er hatte keine besonderen Eigenschaften, gehörte keiner «Clique» an, hatte ganz gute Zensuren, rauchte nie eine Zigarette auf dem Klo, trug das Haar halblang, vergaß nie, montags das FDJ-Hemd anzuziehen, war freundlich, aber unzugänglich. Man konnte sich mit ihm weder anfreunden noch verfeinden. Er lächelte meist und fuhr mit seinem Moped davon, einer «Schwalbe». Beim jährlichen Sportfest auf dem Platz am Wasserturm belegte er mittlere Plätze. Zum Schultanzabend kam er ab und zu, tanzte auch und ging rechtzeitig nach Hause. Er hatte eine Freundin, sie war aus Netzschkau, einem Vorort, aus dem auch er kam. Bestimmt wohnte sie im Nachbarhaus und kam aus «gesicherten Verhältnissen». Seine Eltern werden genickt haben und mit den Eltern der Freundin befreundet gewesen sein. Sie werden gesagt haben: «Unserer hat eine kleine Freundin, bald macht er sein Abitur, und dann studiert er in Dresden.» Dann die Musterung. Schreiber war gesund und angehender Abiturient: «Warum wollen Sie denn nicht Offizier werden?» Ja, warum wollte Schreiber nicht Offizier werden. Er ist nach Hause gefahren auf seiner «Schwalbe» und hat den Eltern berichtet, was der Genösse Major gefragt hatte. Die Eltern hörten aufmerksam zu. Die Mutter stand erst einmal auf und sah nach dem Essen, der Vater zündete sich eine Zigarette an. Er rief dann seiner Frau in der Küche zu: «Was denkst du?» Da wird sie zuerst nicht geantwortet haben, und anschließend wird sie ins Wohnzimmer gekommen sein mit einer sauber gebügelten Schürze. «Ja», wird sie gesagt haben, «das muß man sich gut überlegen. Aber eigentlich ...»
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Und der Vater nickte und fügte hinzu: «Die haben ja auch technische Hochschulen mit anerkannten Abschlüssen. Gesund ist er ...» und mit einem Blick auf den Sohn, «sag du, was denkst du?» Schreiber zuckte zuerst mit den Schultern, und dann, mit einem Ruck, mit einer Sicherheit, die die Eltern überraschte, die ihnen fast etwas unheimlich war, weil sie ihren Sohn so nicht kannten, sagte er: «Warum nicht. Dann bin ich Offizier der Nationalen Volksarmee!»
So könnte es gewesen sein.
In der Schule hörten wir, und er war nicht der einzige, in meiner Klasse verpflichteten sich allein sechs Jungen, länger zu dienen, «auch Schreiber will Offizier werden».
So, denke ich, wird es auch bei Meier gewesen sein. Und irgendwann, bei irgendeiner Gelegenheit, vielleicht nach der Grundausbildung, als er zum Wachdienst eingeteilt wurde und überraschend die Aufgabe des «Wachhabenden» übertragen bekam, wird er gedacht haben:
«Schreien kann ich auch.» Ein paar Soldaten werden in der Offiziersschule gewesen sein, um verschiedene Arbeiten zu verrichten. Einer trug kein Käppi, da stellte er ihn zur Rede. Der Soldat erschrak und beeilte sich, die Kopfbedeckung zwischen Jacke und Koppel hervorzuziehen und seine Haare vorschriftsmäßig zu bedecken. Unser Offiziersschüler drängte dabei etwas zur Eile und ließ den Soldaten aus erzieherischen Gründen zweimal mit Grußerweisung an sich vorbeimarschieren. «Sehen Sie», sagte er, «mit Käppi können Sie doch viel besser grüßen!» Er spürte eine Kraft, ein scharfes Gefühl, das ihm gefiel. Er hatte Macht über andere, war nicht mehr der Schüler auf den mittleren Plätzen, der die Gewohnheit hatte, sich mit allen gut zu stellen. Das Leben hatte Kontur bekommen und er eine akzeptable Rolle, gegen die keiner etwas haben konnte. Oder konnte etwa einer etwas gegen die Nationale Volksarmee haben?
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Er erinnerte sich auch gern daran, wie ihn seine Eltern angesehen hatten, als es um die Berufswahl ging und er im Wohnzimmer sagte: «Warum nicht, dann bin ich Offizier!» Die Eltern seiner Freundin waren noch freundlicher geworden, seine Freundin aber weinte und wollte nicht sagen, warum. Da machte er «Schluß» und sagte vor der Haustür zu ihr: «Ich gehe meinen Weg, darauf kannst du dich verlassen!» Und er ging seinen Weg, übte das Befehlen, das Befehlen und das Gehorchen. «Dafür bin ich länger dabei», sagte er. Wenn er auf Urlaub kam und in der Stadt den Direktor traf, unterhielten sie sich wie vertraute Kampfgefährten. Er zog seine Zivilsachen kaum an, auch im Urlaub war er im Dienst. Den Trabant seiner Eltern durfte er benutzen, sooft er wollte. «Nimm nur», sagten sie, «du hast ja die Fahrerlaubnis.» «Das will ich meinen», antwortete er und betrachtete seine Eltern mit einem Blick, der, hätte er ihn gesehen, auch ihm lastend und rätselhaft vorgekommen wäre, aus solch stechender Ferne kam er.
So ähnlich wird es auch bei Leutnant Meier gewesen sein. An ihm ist nichts Besonderes, aber ein Druck geht von ihm aus, eine Bereitschaft, aus heiterem Novemberhimmel scharf zu werden aus geringem Anlaß. Dazu die Pistole und der Diensteifer des jungen Vorgesetzten, der gerade die Offiziersschule verlassen hat und anwenden will, was ihm beigebracht wurde.
Meier kommt und gibt Befehle. Der Zug zieht sich auseinander, die Unteroffiziere übernehmen die Gruppen.
Weidauer führt uns vor, was ein «Anschlag liegend» ist. Er benutzt wieder eingeimpfte Worte:
«Der Schütze liegt in sich gerade etwas schräg zum Ziel!»
Das kann nicht von Weidauer sein, das muß irgendwo gestanden haben, das ist ein gepaukter Satz. Jetzt nimmt er Emmrichs MPi, legt sich flach auf den Boden, spreizt die Beine, preßt Knie und Oberschenkel fest auf die Erde, die Stiefelspitzen zeigen nach außen, und legt an.
«Kolben fest in die Schulter ziehen! Beide Ellenbogen bilden eine Stütze!»
Er steht auf, grinst, ist wieder rot im Gesicht, gibt die Waffe zurück und läßt uns üben.
«Auf diese Birken da drüben zielen!» sagt er.
Ich ziele auf einen Stamm, andere vielleicht auf Blätter und Zweige. Wir haben keine Patronen im Magazin, aber laden durch und drücken ab. «Klick», macht es, ganz einfach «klick», wie eine Zigarettendose, wenn sie zuklappt oder aufspringt.
«Paar Platzer hätten sie uns wenigstens geben können», sagt Bauer. Glöckner nickt.
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