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Ich habe das Zimmer wechseln müssen und bin erleichtert. Den Spind einräumen ... Ob Karausche auch umziehen muß? Natürlich wäre es interessant zu wissen, warum gerade jetzt ein Umzug erfolgt. Zufall? Warum komme ich in dieses Zimmer? Weil ein Bett frei ist? Aber jedes Nachfragen ist sinnlos. Weidauer würde grinsen und mit den Achseln zucken.

Schwabe cremt sich ein, ist mit dem Rasieren fertig. Ich liege oben, über Emmrich. Schwabe, Emmrich und Glöckner kenne ich, wir sind in einer Gruppe. Ich habe sie auch schon oft auf dem Flur gesehen, beim Raustreten. Und im Gelände, bei den Märschen, beim Kartoffelschälen im Küchengebäude ...

Es ist ein Einschnitt, eine wichtige Veränderung. Nur über den Flur, aber mit anderen Leuten zusammen. Karausche hat immer alles besser gewußt. Ich kam mir schon ganz bescheuert vor. Er hat mir auch geholfen, ja. Eine Beflissenheit ging von ihm aus, er war tüchtig, «zog voll mit», wie er sagte. Ich nahm es hin, obwohl ich eigentlich anders sein wollte ...

Ich bin erleichtert, bin plötzlich einer von vier Soldaten einer Stube, kann mich auch ein wenig verstecken... Glöckner ist freundlich, Schwabe und Emmrich? Abwarten, aber bestimmt nicht ganz übel.

Als ich hereingekommen bin, hat Glöckner «Tag» gesagt und: «Eine Überraschung.»
Er faßte sich dabei an die Brille, die immer noch mit Pflaster zusammengehalten wird.
«Wie geht's?»
«Danke», sagte ich.
Schwabe steht auf, dicken Seifenschaum im Gesicht, macht eine kleine Verbeugung, die freundlich und ironisch gemeint sein kann: «Peter.»
Auch Emmrich, der still auf seinem Bett liegt und jetzt beginnt, sein Schuhputzzeug hervorzukramen, sieht mich kurz an und sagt:
«Gerd.»
Sie werden schon in Ordnung sein. In einer Gruppe, jetzt wohnt man zusammen, warum nicht...
«Schöner Blick.»
Glöckner, der am Fenster steht, zeigt auf die dunklen Scheiben:
«Da drüben is 'ne Nähwerkstatt, am Tag kann man reinsehen ... Ich heiße Harald ...» fügt er leise, nuschelnd hinzu.
«Frauen», ergänzt Schwabe und fügt den Satz hinzu:
«Bitte, warum nicht, von mir aus ...»

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Als er mit dem Eincremen fertig ist, trocknet er seine Hände, holt eine große, lederne Mappe aus dem Schrank und beginnt Briefe zu schreiben.

«Ich antworte auf Annoncen, viele wollen in Briefwechsel treten. Dann kommt keine Langeweile auf. Wenn du noch Adressen hast», er sieht mich an, «kannst du sie mir geben ...»

Das sagt er so hin mit seiner dunklen Stimme, ich nicke, sein Kugelschreiber füllt mühelos weiße Bögen mit einer energischen, schwungvollen Schrift.

«Und dann warte ich noch auf Pakete ... viele haben versprochen, welche zu schicken ... nun bin ich mal gespannt, ob sie sich an mich erinnern. Meistens redet man viel, und wenn einer weg ist, weit weg wie ich, bei der Armee, wird alles vergessen ... Ich werde ja sehen.»

Fremd fühle ich mich. Nein, ich bin nicht ungern hier. Ich mußte meine Sachen packen und fertig. Wieder eine neue Umgebung. Gerade habe ich mich etwas eingewöhnt. Ich verstehe auch nicht, was Schwabe meint. Er macht Andeutungen, redet so hin, ist freundlich, das ist es nicht, freundlich ist er ... aber komisch ... vielleicht schwul.

«Schwul» ist ein Schimpfwort... Blödsinn.

Ich probiere mein Bett aus. Knarren wird es ... zu Emmrich sehe ich hinunter:
«Na, geht es? Kommen wir klar?»
«Ich denke schon, ja, ja ...» sagt er. Wie picklig sein Gesicht ist.

Einem wie Schwabe bin ich bisher nicht begegnet. Er wird auch nicht begeistert sein über das alles hier. Aber im Gegensatz zu Jugel und Bauer scheint er zu denken:
«Ich kenne meine Pappenheimer, so ist die Welt, das Beste daraus machen.»

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Er schreibt mit großer Geschwindigkeit, klebt einen Umschlag zu, wählt eine Briefmarke aus, beleckt sie sehr sorgsam, fast zärtlich. Kuschig ist er nicht ... Was ist er nur für einer? Bestimmt schreibt er nichts, was Flörchinger stören wird. Ihm scheint egal zu sein, ob die Post kontrolliert wird. Er antwortet auf Annoncen, um sich die Zeit zu vertreiben, ist aktiv, nicht fertig wie andere. Ich bin wach, aufgedreht...

Vorhin im Fernsehraum kam die Müdigkeit, Raketen auf dem Roten Platz ... die Fußsohlen brannten. Aber jetzt bin ich hellwach. Zu den Unteroffizieren muß ich noch reinsehen. Revierreinigen ... Was mich hier fertigmacht, scheint Schwabe kaum zu jucken. Jetzt steht er am Schrank und kämmt sich das Haar. Denkt er an seine Reisen ins Ausland? Balaton ...

Emmrich nimmt seine Stiefel und verläßt wortlos das Zimmer. Er geht vors Haus, putzen, polieren. Regnet es? Windig wird es sein, naßkalt. Glöckner steht noch immer am Fenster und späht hinaus. Was er wohl sieht? Vielleicht sieht er Glöckner, der mit seiner ramponierten Brille am Fenster steht und hinausspäht.

«Kompaniiiiie!» Das ist Känguruhn, das kann nur er sein! «Stuben- und Reviiiierreinigen!»

Ich muß auch noch meine Stiefel säubern, Lehm klebt an den Sohlen ... mit Wasser abspülen ... dann in Weidauers Zimmer gehen, vorher klopfen, wer weiß, wer noch drin ist ... lieber möchte ich Toiletten schrubben ...

Am nächsten Morgen, auf dem Weg zur Essenbaracke, erfahre ich, daß Kröhnke versetzt wurde. Noch vor dem allgemeinen Wecken mußte er seine Sachen in eine Zeltbahn packen und vor das Kompaniegebäude schleppen. Ein Lkw wartete.

«Wahrscheinlich an die polnische Grenze, dort gibt es Strafkompanien, weiß ich von meinem Bruder», sagt Bauer und fügt hinzu: «Marschieren konnte der wirklich nicht.»

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Nein, marschieren konnte er nicht. Er konnte auch nicht gleich aufstehen, als Meier und Pohl kamen, hat weitergelesen in seinem zerschwarteten Abenteuerheft...

Kröhnke haben sie weggefahren, «versetzt».

Nach dem Frühstück müssen wir die «Auschwitzer» anziehen, die alten, halbhohen Lederschuhe. Es geht zum Politunterricht, in das Gebäude, in dem Oberleutnant Patsch etwas über Maschinenpistolen und Flugbahnen erzählte.

Der Lehrer ist ein ehemaliger Gärtner, Politleutnant Gernot, freundlich, viele Phrasen, er liest von Blättern ab, entwirft Tabellen und Tafelbilder.
«Arbeiten Sie mit», sagt er, «arbeiten Sie mit! Sie tun sich damit selbst einen Gefallen.»
Kaum einer meldet sich. Dominiak hebt ab und zu den Arm, es ist langweilig.
«Gestern war der Jahrestag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, wer möchte denn darüber etwas sagen?»

Gernot sieht in die Runde. Draußen hat leichter Schneefall eingesetzt. Als er gerade wieder ein Blatt nehmen will, um eine längere Passage vorzutragen, stößt mich Bauer an:
«Na los, sag mal was. Sonst liest der sich noch den Wolf, schlimmer als Schule ...»

Ich melde mich. Gernot ist hoch erfreut, als er merkt, daß ich keine provokatorische Frage stellen will, sondern die Leninsche Revolutionstheorie in Kurzform erläutern ... Wie es uns Staatsbürgerkundelehrer Rammler beigebracht hat, «den Übergang von der bürgerlich-demokratischen zur sozialistischen Etappe, zur Diktatur des Proletariats» ...

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Ich bin aufgestanden und halte ein Kurzreferat. Theorie und Schulbuchpraxis, ich rattere das herunter.
Gernot staunt.
Die Soldaten klatschen Beifall, Bauer freut sich am meisten.
«Bravo», ruft er, «bravo!»
Ich bin der King, kann am besten reden.
In der Pause klopft mir Bauer auf die Schulter:
«Große Klasse, weiter so! Du kannst gleich unterrichten. Füll dem die Taschen über die Oktoberrevolution. Wir erholen uns inzwischen. Nicht nur die, auch wir...»

Ich schüttle den Kopf, bin beleidigt, werde rot.

Lenin habe ich gelesen, seine vierzig gesammelten Werke stehen zu Hause im Regal. Ein SED-Genosse hatte sie auf Beschluß seiner Parteigruppe kaufen müssen und auf dem Boden, in einer Kiste, abgestellt. Das hörte ich von meiner Mutter, die es in ihrem Büro erfuhr und auch mithalf, das Geschäft perfekt zu machen: ein Viertel des Ladenpreises pro Buch für den lesenden Sohn, in Einkaufsnetzen wurde der verbilligte Schatz nach Hause geschleppt. «Staat und Revolution» arbeitete ich durch, «Was tun» und «Der linke Radikalismus, die Kinderkrankheit im Kommunismus». Ich kam mir schlau und zunehmend mächtig vor. Im Staatsbürgerunterricht, der ab 11. Klasse «Philosophie» genannt wurde, stellte ich kritische Fragen und verwendete Lenin-Zitate als Autoritätsbeweise. So probte ich den aufsässigen Schüler auf der bewährten Linie der Oktoberrevolution ...

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Bauer lacht und klopft dem Abiturienten noch einmal augenzwinkernd auf die Schulter: «Ich meine es eigentlich ernst», sage ich, «das ist meine Meinung, ehrlich ... Ich bin für den Sozialismus ...»

Bauer nickt mir freundlich zu:
«Ganz klar, nichts anderes meine ich, weiter so, genau richtig, ganz in unserem Sinn! Ich bin auch für die Russen, Verzeihung, für die Sowjetmenschen ... Nicht nur die Offiziere wissen was!»

Leutnant Gernot macht mich zu Beginn der nächsten Stunde zum «Assistenten». Ich soll künftig Bildmaterial holen, Vorträge ausarbeiten und «politisches Vorbild und Ansprechpartner sein», eine Art «Verbindungsmann», wie Gernot sagt.

Als wir in die Unterkünfte zurücktraben, fragt mich Bauer, etwas nachdenklich geworden:
«Bist du wirklich überzeugt?»
Ich nicke, muß lächeln, bin im Zwiespalt.
Er sieht mich an:
«Du bist in Ordnung, ich weiß, wie du es meinst. Ich habe auch Durchblick. Wir müssen sie clever verschaukeln, das ist die einzige Möglichkeit. Lenin hat sich das hier bestimmt nicht träumen lassen.»
Ich schüttle den Kopf.

Es ist gegen zehn. Kahn, Bauer und ich werden als «Küchendienste» abkommandiert. Die anderen haben «MKE», militärische Körperertüchtigung. Ein leichter Schneeregen fällt. Null Grad werden es sein.

Wir müssen uns beim «diensthabenden Koch» melden.

Der große, geflieste Raum mit den drei wuchtigen, blitzenden Kesseln und den anderen Küchenmaschinen gefällt mir nicht. Eine kalte Schlachthaus­atmosphäre geht von den Dingen aus, hier findet das massenhafte, lieblose Abfüttern statt, das spürt man.

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 Der Koch ist ein blöder Kerl, der mit Gummistiefeln und Fleischerjacke herumstolziert und uns kaum ansieht, als wir Meldung machen.

«Ja, ja», sagt er, «viel zu tun, ja, ja, neue Leute, immer neue Leute. Na los, nicht einschlafen, als erstes Kartoffeln holen.»

Mit Eimern ziehen wir los und betreten einen in den Hang gebauten Verschlag, in dem es säuerlich riecht, eine Mischung aus neuen Kartoffeln und Schweinetrog, halb Stall, halb nasser Keller.

Kahn setzt sich sofort auf einen Balken und will rauchen.

«Scheiße», sagt er enttäuscht, «ick hab och noch Zija-retten verjessen.»

Nicht ganz berlinerisch spricht er, mehr wie Frankfurt, aber aus der näheren Umgebung von Berlin kommt er, darauf legt er Wert.

«Seelower Höhen, wa, Zweeter Weltkrieg, wa, Kämpfe um de Hauptstadt. Janz inner Nähe bei mir, ville jehört von, wa, steht och in Büchern ...»

Kahn ist mittelgroß und rundlich, hat schwarze Haare und eine glatte, weiche Haut. Er pflegt sich offenbar, ich kann sogar einen leichten Parfümgeruch wahrnehmen, trotz Keller und Kartoffeln. Jetzt lerne ich ihn näher kennen, den «Käsestampfer», auf den Jugel gestern abend solche Wut hatte. Er gehört zu den Langsamen, hat aber eine bessere Kondition als zum Beispiel Biellau. In seinem Spind wird kein Buch stehen ... auf dem Bett liegen und mit aufgestütztem Kopf das Treiben verfolgen, das ist Kahn. Etwas Sonniges, Naives strahlt aus seinem Vollmondgesicht.

Jetzt möchte er rauchen und hat keine Zigaretten mit.

Bauer fuchtelt mit einer Gabel herum, die er in einer Ecke gefunden hat.

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«Wieviel Eimer sollen wir denn holen?»
«Keine Ahnung», sage ich.

Der mürrische Koch hat nichts angeordnet. Auch nicht die jüngere, blonde Frau im weißen Kittel, die wir im Gang trafen. Salzpackungen hatte sie unter dem Arm. Bauer hat «oho» gesagt, ich habe «Tag» gemurmelt, das hörte sie wohl nicht. «Küchendienst?» fragte sie. Wir nickten. Ob sie auch einen Dienstgrad hat? Bestimmt gehört sie zu den «Zivilkräften», wohnt im Ort wie die Verkäuferin in der Kantine, geht jeden Tag zur Arbeit ins Lager...

«Ick schätze, Badewanne voll wie neulich, dann könn wa stundenlang schleppen, wa ... wenn ick nur wat zu roochen mitjenommen hätte ...»

Bauer hat mit der Gabel einen Eimer gefüllt.

«Na los!» sagt er zu Kahn.

«Nich so hastig, jeht mir allet zu schnell hier...»

Ich helfe Bauer. Kahn bleibt sitzen, sieht unglücklich und doch recht zufrieden aus. Als wir die Eimer nach oben tragen, setzt Kahn öfters ab, stöhnt, geht betont langsam.

Der Koch führt uns mit wütenden Augen in einen Raum, in dem zwei Schälmaschinen und zwei Badewannen stehen.

«Kartoffeln auf einen Haufen», er macht eine Handbewegung, gibt die Höhe an. «Dann wieder melden.»

Als er weg ist, jammert Kahn:

«So ville, so ville ...»

Wir traben zwischen Küche und Kartoffelkeller hin und her. Bald klettern wir mit den Stiefeln auf den Kartoffelberg im Verschlag und suchen uns die größten heraus, •weil dann die Eimer schneller voll werden. Es ist uns gleichgültig, ob wir welche zerquetschen ...

Kahn setzt sich regelmäßig auf seinen Balken und gibt den Satz von sich: «Een alter Mann is keen D-Zug.»

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Bauer trampelt besonders rücksichtslos auf den Kartoffeln herum, er tritt nach ihnen ...

«Wofür», sagt er vor sich hin, «wofür! Für die Scheißer, nur für die.»

Er sagt nicht, wen er meint, aber wir können es uns denken. Bestimmt sind auch die Kartoffeln dabei, die wir auf die Teller bekommen ... na und ... trotzdem ist alles Scheiße. So ist die Stimmung. Schnell die Eimer füllen und dann auf Kahns Balken setzen ... Ich bemerke, daß ich eine Schachtel «Carmen» in der Jackentasche habe. Kahn freut sich, er hat Streichhölzer und raucht tief und genußvoll. Ich paffe, ziehe nicht auf Lunge, tue aber wie ein Kettenraucher.

«Pissies», sagt Bauer, « Kartoff elpissies sind wir ...»
«Na und», sagt Kahn mit weicher, verträumter Stimme.
«Küchendienst!»
«Besser als im Gelände rumrennen bei dem Wetter», werfe ich ein.
«Auf jeden Fall.»
«Immer mit der Ruhe.»
«Klar.»
«Aber langweilig ist es.»
«Na und.»
«Du kannst ja schneller arbeiten.»
«Wieso.»
«Na also.»

So reden wir. Kahn sagt mit halb geschlossenen Augen:
«Meene Freundin hat jeschrieben.»
«Was denn, du hast 'ne Freundin?» stichelt Bauer.
«Klar.»
«Und, wie sieht sie aus?»

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«Verheiratet, aus meinem Betrieb.»
«VEB Milch und Käse ...»
«Molkerei, sie is inner Ausjabe ... zwee Kinder ... treffen uns heimlich.»
«Schon lange?»
«Klar.»
«Eh», sagt Bauer und sieht Kahn verwundert an, «dann bist du ja ein ganz Schlimmer. Stube kehren geht nur schleppend, aber solche Sachen ...»
«Det is wat anderes.»
«Wie heißt sie denn?» will Bauer wissen.
«Martina.»
«Bild?»

«Im Spind.» Kahn tritt aus, was von der Zigarette übrig ist, und schiebt mit der Stiefelspitze einige Kartoffeln über die Kippe. Dann öffnet er einen Knopf der Uniformjacke und zieht aus der Innentasche einen geöffneten Brief.

«Det isser», sagt er und zieht das beschriebene Blatt aus dem Umschlag. «Und hier», er öffnet vorsichtig das gefaltete Papier, «hat se wat rinjelegt.»

Wir beugen uns über Kahns Geheimnis und erblicken am Boden des Umschlags ein hellbraunes, seltsam gekräuseltes Haar.
«Eh», stöhnt Bauer überrascht, «das ist doch ...»

Ich grinse in eine Ecke des Kartoffelkellers und sehe Kahn zu, wie er zärtlich und stolz seinen Brief in den Umschlag zurücksteckt und wieder in der Innentasche der Uniformjacke verstaut.
«Det is Liebe», sagt er.

Bauer fallen offenbar gar keine Fragen und Hänseleien mehr ein. Er sieht Kahn nur ab und zu von der Seite an, greift dann nach einer großen Kartoffel und wirft sie zu Matsch an die Wand.
«Eh, eh, eh, das gibt's doch gar nicht...» stöhnt er.

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Mittags beim Tellerspülen hinter dem Ausgabeschalter erzählt mir Kahn, was er seiner Freundin antworten will:

«Erst det ick se liebe, och treu bin und so weiter, det Übliche sozusagen. Und denn», er strahlt über das runde, rosige Gesicht, «und denn hab ick mir noch wat ausjedacht. Kennst du det Lied <Einmal weht der Südwind wieder>?» Er summt die Melodie, die von Tellerklappern und anderen Küchengeräuschen untermalt wird. «Also, ick hab mir wat ausjedacht und wollte jerne deine Meinung wissen, wa, weil du Abi hast, wa ... ick hab mir jedacht, ick dichte det um. Statt <Einmal weht der Südwind wieder, dann werd ich am Hafen stehn> schreibe ick meene Freundin: <Einmal weht der Südwind wieder, dann werd ick am Bahnhof stehn.> Urlaub, wa, so hab ick mir det ausjedacht... wie ick ankomme, den Moment... jeet det?»

«Ja», sage ich, «das geht.»

Kahn sieht mich dankbar an. Ich bin jetzt sein Vertrauter. Wir kratzen die Essenreste von den abgestellten Tellern und füllen sie in bereitstellende Kübel, die für die Schweinemästerei bestimmt sind.

Bauer muß im Offiziersspeiseraum bedienen. Der Koch sagte sogar etwas von einem «Kleinen Offiziersspeiseraum», in den Bauer gehen soll. Sitzen dort die ganz Hohen?

Gegen halb zwei, Kahn und ich schrubben gerade den Badewannenraum, in den wir die bereits mit der Maschine geschälten und für morgen bestimmten Kartoffeln gekippt haben, kommt Glöckner an, Soldat Glöckner aus meiner Gruppe, und ruft:

«In deinem Schrank hat es gerummst ... irgendwas ist zu Bruch gegangen ... das wollte ich dir sagen...»

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Ich lasse den Schrubber fallen und renne los.

Was ist geschehen? Im Schrank liegt Unterwäsche, wenn da was versaut ist, die Kragenbinden ... das Buch, das Schreibzeug ... vielleicht die Limonadenflasche explodiert ...

Ich renne Richtung Kompaniegebäude, will wissen, was passiert ist. An das Lager mit seinen Diensten, Regeln und Uniformen denke ich nicht. Ich muß ins Zimmer und nachsehen, was los ist.

Ich denke weder an den diensthabenden Koch noch an das Käppi, das in den Küchenräumen zurückgeblieben ist. Ich renne am Stabsgebäude vorbei und nehme die Abkürzung über die Treppen.

Wenige Meter vor der Außentür der 3. Kompanie kommt mir Stabsfeldwebel Flörchinger entgegen. Er trägt einen Schnellhefter in der Hand. Ich bremse nicht ab, mache Zeichen mit den Händen, «es ist etwas passiert», soll das heißen, «laß mich durch, jetzt nichts sagen, später, jetzt nicht...»

Flörchinger sieht mich verwundert und unentschlossen an. Ich bin in Fahrt und habe ein wichtiges Ziel. Ich drücke schon die Türklinke, da brüllt er:
«Zurück! Zu mir!»

Ich höre die Stimme des Herrn, will sie überhören, will weiter, es ist etwas passiert ... Aber da reißt es an den Zügeln, macht «Brrr» ... Ich bleibe stehen, drehe mich um, gehe langsam auf Flörchinger zu, bin außer Atem, ohne Käppi, in schlechter Haltung stehe ich vor ihm, sage:

«Es ist etwas passiert, in meinem Schrank ...» Er unterbricht mich, will das gar nicht wissen, seine Stirn liegt in Falten, die Augen sind klein und hell, das Gesicht spitz, wächsern, er sagt:
«Grundstellung!»

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Ich ziehe den Kopf ein, richte die Stiefel aus, krümme die Finger zur Faust, hebe jetzt den Kopf und halte still... Flörchinger, du verdammtes Schwein!
«Wo ist Ihr Käppi? Wie sehen Sie aus?»
«Ich ... in meinem Schrank ...»
«Ich will wissen, wo Ihr Käppi ist, warum Sie so herumlaufen! Haben Sie mich verstanden?»
«Jawoll, Genösse Stabsfeldwebel. Mein Käppi ist in der Küche. Ich...»
«Sofort holen! Wir sind hier kein Sauhaufen! Wir sind ein Ausbildungslager der Grenztruppen, verstanden? Ob Sie verstanden haben!»
«Zu Befehl, Genösse Stabsfeldwebel.»
«Ab!»

Ich renne los, hole mein Käppi. Ausgerechnet dem muß ich in die Arme laufen! Gründe interessieren ihn nicht. Er sieht einen Soldaten ohne Käppi und Grußerweisung vorbeirennen, das kann er nicht dulden als Spieß ... so ein Schwein!

Als ich wenig später mit Käppi und Koppel unser Zimmer betrete, hat Karausche schon die Schranktür geöffnet und mit dem Scheuerhader aufgewischt, was ausgelaufen war.

«Alter Trick», sagt Karausche, «Stahlhelm wie 'ne Schüssel auf den Boden legen, unten an der Tür ansetzen, Hebelwirkung ausnutzen, schon hüpfen die Gelenke aus den Pfannen, auch wenn zugeschlossen ist.»

Die Limonadenflasche liegt zertrümmert im Essenfach. Sie war voll und verschlossen. Wahrscheinlich hat sie das Hinlegen nicht vertragen. Oder ich habe vorher geschüttelt ... Ich bringe die Scherben weg, wische die Schrankfächer aus.

«Ich haue ab», sagt Karausche an der Tür, «habe zufällig vom Knall erfahren, dann war es auch noch dein

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Schrank ... neues Zimmer, ich auch ... Abwechslung... Ich muß zum Unterricht...»
«Danke», rufe ich ihm nach.

Weg ist er.

Als mich Flörchinger an der Eingangstür zurückrief, fühlte ich zum erstenmal in diesem Lager wirkliche Wut. Ein kurzer Impuls war da, ein Zuschnappen, noch vor dem Umdrehen, eine Bewegung auf den Feind zu, auf diesen dünnen Kerl, diesen geschniegelten Militärarsch, der sich sonstwas einbildet... Dann erschrak ich, drehte mich um und versuchte ihm zu erklären, warum ich dringend aufs Zimmer muß ... Dennoch zerriß ein Band, als Flörchinger rief ... Hätte er mich laufen lassen, hätte er «ein Auge zugedrückt», wäre das anders gewesen. Dann hätte er mich fester an die Leine gelegt, ich hätte sagen müssen: «Flörchinger ist nicht so ... Er hat mich durchgelassen, als das mit meinem Schrank war ... ohne Käppi...»

Als ich zur Küche zurückgehe, habe ich Flüche und Schimpf worte auf der Zunge. Ich spucke aus. Ein Traktor mit Anhänger kommt, er holt die Abfälle für die Schweinemästerei. Der Fahrer trägt keine Uniform, er lächelt, hat eine dünne Zigarre im Mund.

Kurz vor dem Abendessen ist unser Dienst beendet. Wir warten vor den Schaltern auf unsere Kompanie, setzen uns an einen Tisch in Türnähe.

Bauer kramt zwei Äpfel und ein in Butterbrotpapier gewickeltes Bratenstück aus den Taschen.

«Wunderbar», sagt er und zerschneidet das Fleisch. «Wollt ihr?»
Kahn nickt.
Hinter vorgehaltener Hand reicht er jedem von uns eine Kostprobe.

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«Die hatten erstklassiges Essen, Rinderbraten, Rotkraut, Klöße und Pfirsichkompott ... Ich hab mir was eingewickelt... feine Tischdecken, Blumenvasen ...» Er ist begeistert.

«Nur für Offiziere?»

«Also, es ist so: Ein größerer Raum für Unteroffiziere, einige Tische sind abgetrennt für Offiziere und Zehn-ender, solche wie Flörchinger, die haben weiße Tischdecken, Sonderbedienung ... Und dann gibt es noch einen kleinen Raum, in dem nur die Kompaniechefs und Politniks sitzen...»

«Und da hast du bedient?» fragt Kahn, der auf den Rest vom Braten schielt.
«Ja, ich.»
Bauer, der sonst nur flucht, sagt das fast stolz. Ich frage ihn:
«Haben sie dich in Ruhe gelassen?»

«Klar, vollkommen. Sie bedankten sich sogar. Nur der Küchenheini», jetzt hat Bauer wieder sein finsteres Gesicht, «stänkerte rum. Ich sollte mir die Haare kämmen und die Fingernägel saubermachen.»
«Hast du?»
«Na ja...»

Zwei Gefreite kommen durch die Tür, sehen uns, verziehen die Gesichter: «Was ist denn das?» ... «Buntes Laub auf unseren Plätzen» ... Solche Bemerkungen machen sie, gehen zum Schalter, holen sich Essen und sagen zu uns:

«Hier sitzen wir!»
Kahn steht auf, ich sehe auf Bauer, der wird dunkelrot:
«Ihr habt doch Platz, zwanzig Leute können sich hier ransetzen...»

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«Aber keine Rotärsche», sagt ein etwa dreißigjähriger Gefreiter, der wie ein Lehrer aussieht und es wahrscheinlich auch draußen ist. «Daran müßt ihr euch gewöhnen am Anfang ...» fügt er fordernd und leicht beschwichtigend hinzu.

Bauer und ich stehen auf, gehen in den hinteren Teil des Raumes, zum Tisch des 3. Zuges der 3. Kompanie. Bauer dreht sich noch einmal um, geht ein paar Schritte auf den «reservierten» Tisch zu, an dem weitere «EKs» und «Vize» Platz genommen haben, wahrscheinlich Kraftfahrer und Schreiber, und ruft ihnen halblaut zu:

«Es ist nur eine Frage der Zeit, merkt euch das!»

Einige lachen, rufen:

«Eben, genau so ist es ... wenn ich deine Tage hätte, würde ich den Kopf zumachen ...»

Bauer droht mit der Faust, schüttelt den Kopf, ist ratlos. Soll er sich prügeln? Ich ziehe ihn weg, er ist beleidigt.

«Warte nur, bald sind wir auch so weit, dann können die was erleben!» droht Bauer.

«Dann sind die schon zu Hause», sage ich.

«Na warte», Bauer kann sich gar nicht beruhigen. Es kränkt ihn, kein «EK» zu sein. Was wird er in einem Jahr zu den «Rotärschen» sagen, wenn sie aus Versehen an seinem Tisch sitzen?

Die 3. Kompanie rückt ein. Riedel ist mit, er sagt nur «Guten Appetit», wir können uns setzen, er entfernt sich.

Jugel gibt mir die Hand.
«Küchendienst überstanden? Wir waren in der Turnhalle, Kraftübungen. Nachher wird ein Film gezeigt.»
«Was für einer?»
«Keine Ahnung. Wahrscheinlich Propaganda.»
«Und wo?»

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«Im Stabsgebäude.»

Wenig später rücken wir in den Saal ein, den wir am ersten Tag durchqueren mußten auf dem Weg zur Untersuchung. An der Bühne stand neben den eingesammelten Schnaps- und Bierflaschen Klammer aus Karl-Marx-Stadt, der jetzt kurze Haare hat. Ich habe ihn vorhin beim Einrücken gesehen, er ist in der 2. Kompanie.

Nach der Meldung dürfen wir uns setzen, das Licht geht aus. Einige beginnen laut zu husten, einer ruft «bravo». Ein Offizier, der an der Tür steht, herrscht in das Halbdunkel hinein:

«Ruhe!»

Ein Filmgerät beginnt zu laufen, auf der provisorisch gespannten Leinwand sieht man eine Panzerkolonne durch Wüstengebiet fahren. Schwarzweiß, eine alte Aufnahme, offenbar Zweiter Weltkrieg. Jetzt kann man einige Soldaten und Offiziere sehen, sie trinken Wasser und klopfen sich auf die Schulter. Von «deutschen Erfolgen» ist die Rede, von «Rommel» und dem «Afrikafeldzug». Wieder fahren Panzer, Geschütze sind zu sehen, dazu hört man ein Lied:

«Ob's stürmt oder schneit, ob die Sonne uns lacht, / der Tag glühendheiß oder eiskalt die Nacht, / verstaubt sind die Gesichter, / doch froh ist unser Sinn - / es braust unser Panzer im Sturmwind dahin.» /

Es ist noch von «Sperren und Minen» die Rede, auf die man «nicht drauffährt» und über die man lacht, von «drohenden Geschützen», von gelbem Sand, vom «treulosen Glück» ...

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«und kehren wir nie mehr zur Heimat zurück, / trifft uns die Todeskugel, ruft uns das Schicksal ab,/ dann wird unser Panzer ein ehernes Grab.»

Bilder aus Stalingrad folgen, zerstörte Häuser, erfrorene deutsche Soldaten, lange Gefangenenzüge zu Fuß, große, starrende Augen ...

Ein Sprecher nimmt jetzt Teile des gesungenen Liedes auf und setzt sie in Beziehung zur Niederlage der Deutschen Wehrmacht.

«Der faschistische Angriff scheitert, der Griff nach der Weltherrschaft wird vereitelt, die imperialistischen Ziele der Kapitalgeber werden von der heldenhaft kämpfenden Roten Armee unter großen Opfern gebührend beantwortet ...»

Karten zeigen das Vorrücken der sowjetischen Truppen auf Berlin, ein Rotarmist hißt die Fahne seines Landes in der Hauptstadt des Gegners. Der Sprecher sagt:

«Denken wir daran: Als Hitlers Kriegsmaschinerie mit brutaler Gewalt friedfertige Völker überfiel, kämpften auch hervorragende Söhne des deutschen Volkes an der Seite der Sowjetarmee, in polnischen, tschechoslowakischen und sowjetischen Partisanen­einheiten sowie in der Widerstandsbewegung vieler anderer Länder gegen die Hitlertyrannei. In diesen und anderen Klassenschlachten erwuchs dank dem Sieg der Sowjetunion im Großen Vaterländischen Krieg über den Hitlerfaschismus der Arbeiterklasse die Kraft, im Bündnis mit den Werktätigen die Arbeiter- und Bauern-Macht zu errichten ...»

Neubauten werden gezeigt, lachende Kinder, Arbeiter, die mit langen Stangen an einem glühenden Hochofen stehen. Dann wieder Panzer, das Nato-Hauptquartier, Jagdflugzeuge.

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«Wer ist der Feind, der uns bedroht?» fragt der Sprecher. «Es sind die gleichen Kräfte, die schon zweimal von deutschem Boden aus das Feuer eines Weltkrieges gelegt haben. Sie haben ihre Niederlagen nicht verwinden können, und sie versuchen seit Jahren, die Flammen eines neuen Krieges anzublasen. Es sind die Machthaber in Bonn. Sie verkörpern auf deutschem Boden das überlebte System der Ausbeutung, der Unterdrückung und des Krieges. Sie wollen sich um keinen Preis mit der Existenz eines sozialistischen Staates auf deutschem Boden abfinden. Sie wollen ihr staatsmonopolistisches Herrschaftssystem wieder über ganz Deutschland errichten, um sich an den Reichtümern der Deutschen Demokratischen Republik gesundzustoßen, um aus unseres Volkes Arbeit klingenden Profit zu pressen, um von hier aus auf ihrem Ritt gen Osten weitermarschieren zu können. Deshalb rühren sie die Kriegstrommel gegen unseren sozialistischen Staat, für neue militärische Abenteuer in Europa. Deshalb sind sie überall in der Welt mit von der Partie, wo die amerikanischen Globalstrategen Kriegsbrände legen. Bei alledem beteuert die westdeutsche Regierung Tag für Tag ihren Wunsch nach Frieden!»

Gezeigt werden Aufnahmen von Regierungsempfängen, die Gesichter von Adenauer, Erhard und Kiesinger ... Der Sprecher fährt fort:

«Aber hat nicht auch Hitler jedesmal lauthals seine Friedensliebe beteuert, bevor er Vernichtung und Tod über andere Völker brachte? Sicher, die meisten Bundeswehrsoldaten sind Söhne von Arbeitern und Bauern. Wurden sie jedoch dazu erzogen, als Soldaten im Interesse der Werktätigen zu handeln? Wo sollten sie gelernt haben, dem werktätigen Volk, dem gesellschaftlichen Fortschritt, der deutschen Nation mit der Waffe zu dienen?» 

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Bilder von Filmplakaten, Kriegsromanen und Landkarten folgen. «In der Schule wurden ihnen das <Deutschland, Deutschland über alles>, das <Nach Ostland wollen wir reiten> eingeimpft. In Filmen werden ihnen perfekte Mörder als Idol hingestellt, in Büchern Kriegsverbrecher als Helden angepriesen. Auf Revanchistentreffen werden sie zum Krieg für eine Heimat aufgeputscht, die niemals ihre Heimat war. So wird der westdeutsche Junge von Kind an zum Söldner erzogen, zu einem Söldner, wie ihn Bundeswehrgenerale brauchen: antikommunistisch verhetzt, revanchistisch aufgeputscht, darauf brennend, loszuschlagen. Er würde unsere Städte bombardieren, in unser Land einfallen, um es für Flick und Abs zu besetzen und auszuplündern. Deshalb ist auch der von diesem verbrecherischen System als Söldner abgerichtete Bundeswehrsoldat unser Feind. Wer es wagt, den Sozialismus anzutasten, unser Land zu überfallen, der wird ohne Gnade auf seinem eigenen Territorium vernichtet!»

Eine «Vereidigung» wird gezeigt unter dem Glockenturm des KZs Buchenwald. Ein Offizier oder ein Soldat, ich kann es nicht genau erkennen, sagt über Mikrofon:
«Wir schwören, nie und nimmer den Henkern von gestern, den Atomkriegstreibern von heute eine Chance zu lassen und jeden Aggressor unter Einsatz unseres Lebens in seiner eigenen Brutstätte unbarmherzig zu vernichten!»

Das Licht geht an, der Offizier an der Tür ruft:
«Achtung! Vor dem Mehrzweckraum antreten!» Die Vorführung war kurz, sie dauerte vielleicht zwanzig Minuten. Mit zusammen­gekniffenen Augen rücken wir aus, es wird kaum gesprochen.

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Ich höre noch die Stimme des Sprechers, seinen harten, unduldsamen Ton: «In seiner eigenen Brutstätte unbarmherzig vernichten.» Was heißt denn das? Angriff? Ich erinnere mich an eine Bemerkung von Leutnant Gernot im Politunterricht. Er sprach davon, daß «unsere Kundschafter genau erfahren, wann ein Angriff geplant ist. Dem werden wir zuvorkommen ...» An dieser Bühne stand Klammer, mit langen blonden Haaren und Gitarre, daneben die eingesammelten Flaschen. Über ihm die schwarzrotgoldene Fahne mit Hammer, Zirkel und Ährenkranz. Und wir in einer langen Schlange, in Turnhosen, gaffend und ängstlich, am ersten Tag.

Draußen ist es dunkel.

Als wir abmarschieren, denke ich an das Panzerlied, das zu Anfang im Originalton gesungen wurde. Da sehe ich meinen Vater, verstaubt das Gesicht, im Sturmwind dahinbrausen. Und meinen Onkel Rudi sehe ich, den ich nie gesehen habe, nur als Foto, als Bild an der Wand, der in Tunesien liegt und mit achtzehn Jahren, in meinem Alter, unter einem Geschütz lag, als ein englischer Tiefflieger kam. Von Engländern und Amerikanern im Kampf gegen Hitler wurde im Film nicht gesprochen ... Da denke ich an Rudi, den im Stich ließ das treulose Glück, den die Todeskugel traf, den das Schicksal abrief, der aber kein ehernes Grab fand, nur eine Grube im Sand, eine Nummer, die meiner Großmutter übermittelt wurde, Nummer soundso auf einem Soldatenfriedhof bei Tunis. «Der Dank des Vaterlandes ist dir gewiß», sagte einer von der Partei zu meiner Großmutter, als die Todesnachricht kam.

An diese schrecklichen Phrasen denke ich auf dem kurzen Marsch vom Stabsgebäude in die Kompanie. An Major Übel, an seinen Blick. An Münchow, wie er schrie. An Evas lange Haare, an ihr schönes, kindliches Gesicht.

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An Solschenizyn denke ich, von dem ich im Radio hörte, daß er Offizier der Roten Armee war, bevor er ins Lager kam. An meinen Schwager, der vor einem halben Jahr nach Hause ging als Gefreiter, als «EK», und dessen Familie in Moskau und Alma-Ata wohnt. An den deutsch-sowjetischen Vertrag denke ich, an das geheime Zusatzprotokoll, das nachts in einer Sendung des «Deutschlandfunks» verlesen wurde: Hitlerdeutschland und die Sowjetunion einigten sich auf eine Teilung Polens, der eine ein Stück, der andere den Rest...

Zwei große Mächte reichen sich die Hände und fallen über kleinere her, streiten sich dann, werden kämpfende Rivalen. War es so? Was war unversöhnlich, so ganz und gar anders? Das System? Die Idee? Das Leiden, die Schreie im Minenfeld, der Augenblick, als der Postbote einer Mutter die Nachricht brachte? Hat der eine angefangen? Und der andere? Gibt es Unterschiede zwischen Buchenwald und dem Lager, das Solschenizyn beschreibt?

Panzer fuhren, «ob's stürmt oder schneit» ... «Grün ist meine Waffenfarbe, die so stolz ich trag.» Was ist mit dem Lied, das der Lange Karl immer sang? Das mit den Haubitzen? An diese schrecklichen Lieder denke ich.

Und an die Filme von John Wayne, an die Prügeleien, an die ersten und letzten Schüsse unserer Wildwesthelden, die abgegeben wurden in der flimmernden Kiste. Wir haben auch gezielt und geschossen in den Wohnzimmern, auf den Weltmeeren, «am Fuße der blauen Berge» oder im Partisaneneinsatz bei Odessa. Wir haben es auch getan, wir übten lange ... Was ist ein Gegner, was ein Feind? Ich denke an die Losung «Proletarier aller Länder, vereinigt euch!». Und jetzt ist der Arbeiterjunge als Bundeswehrsoldat der Feind?

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Drüben gibt es doch auch Gewerkschaften und Friedenskämpfer, Sozialdemokraten saßen in KZs, auch in Buchenwald ... Was ist denn mit ihren Söhnen?

«Gleichschritt halten! Was ist denn los!» Meier hat das Kommando übernommen. «Noch eine Runde ums Stabsgebäude, aber tipptopp!»

Was meint er mit «tipptopp»? Pohl hat eine Trillerpfeife hervorgeholt und gibt den Takt an.

Ich bin ein Sohn, ein Nachgeborener, der froh ist, daß sein Vater noch lebt, daß er nicht in Sperren und Minen liegenblieb. Wäre der Panzer sein ehernes Grab geworden, gäbe es mich nicht. Er trug die Wehrmachtsuniform, er verweigerte nicht, er hoffte auf einen Sieg. Aber ich bin froh, daß er lebt und daß er den Offizier Solschenizyn nicht erschossen hat.
Hat er geschossen? Diese Frage muß ich aushaken, dieses Töten, dieses Verbrechen. Wenn ich an die Grenze komme, werde ich schießen? Ist das etwas ganz anderes? Und wenn nicht? Ich bin froh, daß mein Vater lebt, daß er den Krieg überstanden hat. Ich will ihn nicht hassen, ich will nicht «Faschist» sagen. Ich will diesen Krieg ablehnen, diese Hitlerei, die Uniformen, die Lager, die erhobenen Arme, die Öfen, die Schützengräben, die Unterhaltungsfilme, die unschuldigen, kindlich sprechenden Schauspielerinnen mit den affektierten Mündern im Montagsfilm 20 Uhr ... Aber ich bin froh, daß mein Vater lebt, daß er nicht unbarmherzig vernichtet wurde. Ich weiß, er lachte nicht, als er an die Front versetzt wurde mit seinem tragbaren Funkgerät und den kurzen, runden Beinen. Sein Sinn war nicht froh, ob's stürmt oder schneit, ob die Sonne uns lacht, als er auf dem Rückzug einen Verwundeten im Straßengraben rufen hörte: «Nehmt mich mit, ich kann nicht mehr laufen, nehmt mich mit, ihr Verbrecher...»

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Er lachte nicht, als er auf Krücken das Lazarett verließ in Gotha und nach Hause wollte mit Binden, Bandagen und Stützapparaten. Was wollte er in Rußland? Was wollte mein Onkel Rudi in Afrika? Im Sturmwind dahinbrausen? Dieses schneidige Lied singen? Vielleicht hat er es gesungen. Aber dann konnte er nicht mehr singen. Dann war Sand in seinem Mund, glühendheiß der Tag und eiskalt die Nacht. Gelacht wird er nicht mehr haben. Aber vielleicht sah sein Gesicht aus, als ob es lacht. Vielleicht stand der Mund offen wie mein Mund, wie der von Dominiak und Bauer beim Marschgesang auf der wunderschönen Waldstraße ...

«Links schwenkt! Marsch ... gerade ... aus!»

Pohl hat fast vergessen, dieses Kommando zu geben. Wir sind schon kurz vor dem Zaun, auf der Wiese, jetzt biegen wir ab, Pohl schreit, wir sind weitergetrampelt, obwohl es um die Kurve geht.

Wenn keine Weisung kommt...

Und wenn eine kommt? Nach Prag zu marschieren und die Konterrevolution in ihren eigenen Brutstätten unbarmherzig zu vernichten? Was dann? Nach Prag wurde schon marschiert, gefahren, geflogen. Mit Panzern und Flugzeugen kamen die brüderlichen Armeen vor einem Jahr an. Da werden wir es nicht noch einmal tun müssen ein Jahr später. Sie sind ja auch geblieben, schützen die Errungenschaften, sind nicht weggefahren nach dem Sieg. Haben wohl noch nicht ganz gewonnen ...

Pohl pustet in seine Pfeife. Es beginnt wieder leicht zu schneien. Die Flocken bleiben nicht liegen. Vor den hohen, gebogenen Lampen führen sie wilde Tänze auf. So, als wollten sie nicht zu Boden fallen, als wollten sie wieder Höhe gewinnen, nicht liegen­bleiben, nicht zu Nichts werden auf diesem umzäunten, bewachten Stück Erde.

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