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«Gewehr ab! Präsentiert das ... Gewehr! Augen folgen dem Vorbeimarschierenden ... dem General oder Major, der die Front abschreitet ... hersehen, zu mir, ich bin das jetzt ...»

Wir stehen auf einer Asphaltstraße unterhalb des Lagers, also in Richtung Stadt, und üben den Paradeschritt, das Hochwerfen der Beine nach dem Wort «Achtung», den «Stechschritt», den «die Deutschen immer schon ganz gut konnten», wie Weidauer weiß. Er stolziert an unserer Gruppe vorbei, und wir sollen ihm mit den Augen folgen, dabei das Gewehr «präsentieren» und stillstehen.

Jetzt steht Weidauer am Straßenrand und ist die Tribüne, die ganze Generalität. Wir üben den Vorbeimarsch. Die Reihe, die ihm am nächsten kommt, muß stur geradeaus sehen, also ihn keines Blickes würdigen. Die anderen müssen ihn anblicken. Wenn sie auf seiner Höhe sind, dürfen sie sich nicht umdrehen, nicht den Kopf verrenken, nicht lange Abschied nehmen, sondern sie müssen sofort wieder nach vorn starren. «Du hast ja ein Ziel vor den Augen, damit du in der Welt dich nicht irrst.» Die Marschrichtung halten, geradeaus, nicht kreuz und quer, nicht links und rechts, «nicht irgendwohin glotzen».

«In Saalfeld», ruft Weidauer, «da wollen wir kein Sauhaufen sein. Da kommen noch andere Bataillone. Auch Zivilisten. Das ist mitten in der Stadt, auf dem Marktplatz. Denkt daran! Da soll Zack dahinter sein ...»

Er ist ganz eifrig geworden, unser Gruppenführer; der morgige Ausflug in eine andere Stadt scheint ihn zu beleben. Nicht wie neulich hinter dem Stabsgebäude, auf dem kleinen Sportplatz, wo zwei Handballtore stehen. Da hatte er schlechte Laune. Nach dem Essen sollten wir noch Runden drehen, irgend etwas hatte nicht geklappt, ich weiß nicht mehr, was. Runden drehen und das Marschieren üben. Und geschrien haben wir, auf diesem Sportplatz, es war weithin zu hören. Das war nicht der Schrei nach einem Tor, nicht der Jubel nach einem gewonnenen Spiel. Wir haben geschrien und sind marschiert; hin und her, an einem Novemberabend, der kalt war und naß, kälter als dieser Tag heute. Erst wurde der Vorbeimarsch geübt, ein Handballtor war die Tribüne, im Kasten stand Weidauer. Frierend, schlecht gelaunt, mit der Auflage, uns «sinnvoll zu beschäftigen». «Keine Faxen machen», sagte er, «das geht alles von Ihrer Freizeit ab.» So stand er da, eine ziemlich müde Aufsicht. 

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Ohne Orden, mit Zettel und Bleistift: «Beine höher in der dritten Reihe, Augen zu mir und nicht in der Weltgeschichte rumglotzen. Das können Sie im Urlaub machen.» So stand er im Tor. Notizen machte er sich nicht. Lächerlich allein stand er da, mit gespreizten Beinen und großen Stiefeln. Wenn man hindurchsah, waren dort Wolken und Wind und sonst gar nichts. «Hurra» haben wir gerufen, dreimal «Hurra». Und dann immer wieder «Hurra, hurra, hurra ...» Und ich auch, ich habe auch geschrien. Es wäre nicht aufgefallen, wenn wenigstens ein paar still gewesen wären, ganz still. Aber das haben wir ja nicht getan.

Jetzt schreien wir wieder «Hurra», weil es morgen gebraucht wird, zugleich, aus voller Kehle. Und laut, «daß die Fensterscheiben klirren im feinen Städtchen». Immer fallen Weidauer solche Sätze ein. Wie beim Stubendurchgang: «Die Deutsche Wehrmacht hatte viele schlechte Seiten, die wir heute verurteilen. Aber ihr Schrankbau war vorbildlich.»

Da muß er gar nicht nachdenken, das ist einfach da. Flörchinger stand dabei, der Spieß, und hat genickt. Ein bißchen gelächelt hat er und dann genickt. Er hätte auch Sätze aus dem Buch von Bek verwenden können, das ist es nicht. Weidauer ist kein Schleifer, kein dienstgeiler Ordnungsheini. Er hat Kröhnke rangenommen und dann in Ruhe gelassen. Er hat gegrinst, als wir gestern abend Jugel halfen und Fickel herumtobte. Aber jetzt will er es wissen und eine «anständige Ex-Ausbildung machen». «Wir werden immerhin gesehen», sagt er.

Auch auf dieser Asphaltstraße werden wir gesehen. Ab und zu kommt ein Auto vorbei. Ein «P 1000», ein «Skoda», zuletzt ein «F 9». Die Fahrer bremsen sofort ab und warten geduldig, bis wir soweit sind mit unseren Drehungen und Schwenkungen, unserem preußischen Firlefanz mit der sowjetischen Maschinenpistole vor der Brust. Kein Hupen, kein Zurufe. Militär marschiert, da haben die Zivilisten zu warten. Und sie tun es.

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Die Straße liegt am Hang, an der einen Seite begrenzt von Siedlungshäusern und Gärten, auf der anderen stehen, in gleichem Abstand, Straßenbäume. Im Tal einzelne Gehöfte und eine neuerbaute, helleuchtende Fabrikhalle.

Aus der Tür des kleinen Häuschens, vor dem wir stehen, kommt eine alte Frau. Sie humpelt zum Briefkasten, nickt uns zu, sieht nach, ob etwas gekommen ist. Es ist nichts gekommen. Sie humpelt zurück, schließt die Tür. An den Außenwänden des Hauses, vom Überdach geschützt, ist Holz aufgestapelt. Jetzt bewegt sich die Gardine. Große Blumenstöcke stehen innen auf dem Fensterbrett und verdecken die Sicht. Kakteen, einige blühen rot. Die alte Frau wird vielleicht das Radio angeschaltet haben oder aufwaschen. Alltägliche Dinge wird sie tun. Ab und zu wird sie nach uns sehen. Vor ihrem Fenster stehen Soldaten. Das ist nichts Neues. Die kommen oben aus den Kasernen, aus dem Lager. Was früher der Wismut gehörte. Junge Kerle sind es, einige haben noch richtige Kindergesichter unter ihren großen Stahlhelmen. «Wie mein Sohn damals», könnte die Frau denken, «bevor er an die Front kam.» Hieß er Max oder Heinz? Hans? Oder Rudi?

Weidauer übt mit uns die Gewehrgriffe. Wenn er ruft «Präsentiert das Gewehr!», müssen wir gleichzeitig an den Handschutz der MPi fassen, «es muß krachen ...»

Dieses Gleichzeitige, dieses Prompte nach dem erteilten Befehl, das harte, geschlossene Zuschlagen aller versammelten linken Innenhände an die hölzerne Verkleidung des Laufes der Kalaschnikow, das üben wir jetzt. Das ist besonders wichtig nach Weidauers Meinung. Und es klappt. Wir schlagen zu, daß es kracht. Alle auf einmal. 

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Das ergibt ein lautes Geräusch. Das denkt man gar nicht, wenn man den Griff allein ausführt. Aber zusammen ... Aber zusammen, nicht wahr, sind wir stark. Das ist es doch. Ja, das ist es. Es ist auch ein Reiz dabei, ein angenehmes Gefühl. Nicht bloß Drill und Schliff. Es ist wie ein gemeinsam ausgeführter Schlag, der trifft. Beim Marschieren ist es das Auftreten, das Zertrampeln, das In-den-Boden-Stampfen ... Aber wer wird geschlagen und wer zertrampelt?

Am Nachmittag rennen wir in Trainingsanzügen zur Sturmbahn. «MKE» ist angesetzt, «Militärische Körperertüchtigung». Bei «Körperertüchtigung» muß ich an «Haarformer» denken, an «Ordnung», «Schneid» und «Sauberkeit». An dirigierende Angeberworte, die sich gut vorkommen. Und doch übernehme ich die Abkürzung. «Was ist jetzt? Ach, MKE ...» sage ich. Die Aversion bleibt, das dumme Gefühl. Aber ich benutze den Begriff, weil ihn alle benutzen. Weil er Realität ist. Ironie und Anführungsstrich nützen da wenig.

Über betonierte Gräben geht es, durch Röhren und niedrige Drahtverhaue. Schnell, schnell, jeder will es hinter sich haben, damit man nicht daran denken muß, wie das wäre ... verwundet in Minenfeld und Drahtverhau zu liegen, festgeklemmt, hilflos ... schnell durch. Es ist ja bloß Übung, «MKE». Gar nicht an ernste Sachen denken.

Jetzt eine Bretterwand hoch, die mit Balken verstärkt ist und die Wand eines Hauses darstellen soll. Wenn man durch das erste Fenster klettert, kann man in keine Stube eintreten. Es gibt weder Fußboden noch schützende Wände, nur ein Balken führt zu verschieden hohen Betonpflöcken. Von einem zum anderen, niedrigeren, springen wir und erreichen so die Erde, die schwarze Schlacke, die da liegt. 

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Drei, vier Meter hoch ist das erste Fenster. Es gibt auch ein zweites in sechs, sieben Meter Höhe. Biellau zögert, will nicht springen. Aber dann tut er es doch. Mit kurzen, zappligen Sprüngen landet er auf den Betonpflöcken.

Eine Mischung aus Kulisse, Sportplatz und montierter, ausgetüftelter Ruinenlandschaft, die uns auf der «Häuserkampf» vorbereiten soll.

Unteroffizier Riedel, der «EK», will elegant über ein langes Brett rennen, eine Schaukel. Da rutscht er aus, fällt, bleibt liegen, steht mühsam auf, versucht zu laufen, humpelt, krümmt sich, wird von Pohl zum Stabsgebäude geführt, in den «Med.-Punkt», zu den Ärzten und Feldschern, die ich am ersten Abend kennenlernte. Hat er sich wirklich weh getan? Das frage ich mich. Riedel könnte eine langwierige Verstauchung sicher gut gebrauchen als «Heimgänger». Möglichst mit Gehgips, daß er in die Kantine kann ab zehn. Oder als Patient in ein «ziviles» Krankenhaus mit vielen Schwestern, transportablem Fernsehapparat und einem Fläschchen im Nachttisch ...

Nach der «Eskaladierwand», an der Weidauer das Anspringen vorführt, das Einhängen mit einem Arm und das Schwingen der Beine, um das Hindernis zu überwinden, rennen wir noch bis zum Waldrand, kehren um und keuchen zurück ans Lagertor. Ein langer Zug, die letzten sind drei-, vierhundert Meter zurückgeblieben. Ich gehöre zur Spitzengruppe. Emmrich und Bauer werden immer schneller ... ich lasse mich nicht abhängen ...
Schwitzend, mit hochroten Gesichtern, lehnen wir am Lagerzaun. Warum sind wir so gerannt?

 

Weidauer kommt mit Handtuch und nacktem Oberkörper in den Waschraum.

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«Anruf vom OvD. Agitation und Kultur ins Stabsgebäude, Schulungsraum zwei, Oberleutnant Mischke, erster Schock. Emmrich und Fuchs ... alles klar?» Er beginnt sich einzuseifen.
Wir nicken.
«Wann?» frage ich.
«In zehn Minuten, also Beeilung.»

Auf der Stube ziehen wir die Dienstuniform an. Haare kämmen, Käppi auf ... Emmrich ist schon fertig und geht los. Ist mir auch recht, soll er losgehen. Komischer Vogel. Schlimmer als Karausche. Was will der von uns? Mischke...

Im Stabsgebäude werde ich an der Innentür von einem Unteroffizier angehalten: «Wohin?» Ich sage es ihm. Er nickt: «Gang entlang, Treppe hoch, rechts.» Ein breiter, hoher Flur mit polierten, quadratischen Steinfliesen. Offene Zimmertüren. Ich sehe Soldaten mit grünen Streifen, Pfeffies ... Sie sitzen an Tischen und lesen, schreiben etwas. Es ist still, kaum einer spricht. Manche sehen mit kurzen Blicken auf den, der draußen vorbeigeht ... Was ist los? Alle Türen offen? Dürfen die nicht zugemacht werden? ... Die Stuben wirken sehr sauber. Der Fußboden glänzt wie gerade gebohnert. Auf dem Gang patrouilliert ein Leutnant, der mich beäugt und nur leicht das Kinn bewegt, als ich ihn grüße. Eine Last liegt auf diesem Flur. Die hier sind total ausgeliefert. Da nützen ihnen ihre grünen Streifen auch nichts ...

Der Schulungsraum im ersten Stock ist schon voller Soldaten. Emmrich sitzt in der zweiten Reihe. Er hat keinen Stuhl freigehalten. Ich stelle mich ans Fenster, werde dann in die letzte Reihe gewinkt.

Die Tür geht, mit schnellen Schritten kommt der hagere Politoffizier herein, der dem kleinen Soldaten die Schulterstücke abgerissen hat. Ich erkenne ihn sofort.

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Wir springen auf, er winkt ab, wir sollen uns setzen. Er lächelt, mustert uns.

«Genossen Soldaten», beginnt er leise, «ich habe euch zusammenrufen lassen, um mit den neugewählten FDJ-Leitungen in persönlichen Kontakt zu kommen. Ich bin Politstellvertreter Oberleutnant Mischke. Die Sekretäre und ihre Stellvertreter habe ich schon einzeln gesprochen. Auf das Vertrauen kommt es an», sagt er und sieht wieder in die Reihen mit seinen tiefliegenden, nagenden Augen. Dreißig, dreiunddreißig wird er sein. Wie ein Hungerkünstler sieht er aus, wie ein Raubvogel. Die dünnen Schultern zieht er hoch zum Hals, die Arme hält er vor der Brust verschränkt, das Kinn wird von zwei Fingern der linken Hand gehalten. Jetzt nimmt er die Schirmmütze ab. Dunkles, welliges Haar hat er.

«Auf euch, Genossen und Jugendfreunde, kommt es besonders an. Ihr seid Auge und Ohr unserer Kampfgemeinschaft. Ihr seid ganz dicht an den Gedanken, Gefühlen und Sorgen der Truppe ... Ihr wißt, wenn ein Genosse niedergeschlagen ist, erfahrt auch die Gründe. Vielleicht kam kein Brief von der Freundin. Das kann ein Grund sein, das wißt ihr. Unsere Frauen und Mädchen verstehen noch nicht immer, wie wichtig ihr Beitrag ist, ihr ganz persönlicher Beitrag. Dann kann es zu Verstimmungen kommen, die sich auf die Kampfmoral, auf die Gefechtsbereitschaft, auf den Ausbildungsstand auswirken. Der Genosse Soldat hat Heimweh. Sprechen wir offen, Genossen: Wir alle sind Menschen! Was ich gesagt habe, kann vorkommen. Und ich möchte das an dieser Stelle ganz deutlich erwähnen: Es hat schon Selbstmorde gegeben. Die Trennung von zu Hause, die schwere Aufgabe, die körperlichen Leistungen, die abverlangt werden, all das wird von einzelnen nur schwer verkraftet ...»

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Ich denke an eine Äußerung von Weidauer am zweiten Tag, im Vorbeigehen, beim Reinigen oder Räumen: «Damit wir uns gleich richtig verstehen: Wer hier durchdreht und Faxen machen will, der muß sich schon was Besonderes einfallen lassen. Hier gab's schon alles: Aufhängen, Fenstersturz, Tabletten, Auf-Wache-Abknallen. Alles schon dagewesen.»
Er sagte es ohne besonderen Anlaß, einfach so, unvermittelt, im Vorbeigehen.

«Eine große Verantwortung liegt auf den Leitungen der Kampfkollektive!» ruft der Politoberleutnant laut und beschwörend. «Mit jedem einzelnen müssen wir arbeiten! Müssen sein Vertrauen erwerben! Müssen fühlen, ja, ich sage das ganz bewußt, müssen spüren, wie es ihm geht. Auch ein Rat, ein Hinweis, eine Kritik kann mitunter notwendig sein. Manch einer hat Schwierigkeiten mit der Ordnung. Da hat die Mutti zu Hause alles gemacht...» Einige lachen. «... na, ihr kennt das ja alle. Ich muß nicht weitererzählen. Worauf kommt es an?» Er ist wieder ganz ernst, glühend:

«Auf die Arbeit mit dem Menschen! Die Partei der Arbeiterklasse, auch der sozialistische Jugendverband, erfüllen in der militärischen Ausbildung, in diesem neuen, harten Alltag ihre ehrenvolle Aufgabe! Zu vermitteln sind die Beschlüsse der Partei, das, was unsere Genossen im Politbüro beschlossen haben. Alles wurde auf breiter Grundlage diskutiert und vorbereitet. Unsere Aufgabe ist es, diese Beschlüsse und gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten schöpferisch und konsequent, ohne Wenn und Aber, in der Praxis durchzusetzen!»

Wieder macht er eine Pause und läßt seine Augen wandern. Er spricht frei, glaubt an das, was er sagt.

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«Worauf kommt es an?» Er wartet. «Melden Sie sich, wenn Sie etwas nicht verstehen! Genossen Soldaten, Agitatoren und Kulturfunktionäre! Fragt mich! Wir wollen ein ehrliches, vertrauensvolles Gespräch führen! Gab es Übergriffe in Ihren Zügen und Kompanien? Unteroffiziere, die nicht nach Dienstvorschrift handelten? Die einzelne Soldaten schikanierten? Ich sage das so offen. Mir liegt an der Wahrheit. Ihr könnt es mir sagen...»

Eine leichte Unruhe ist im Raum, ein verwundertes Tuscheln und Kopf drehen. Meldet sich jemand? Ich denke an Bauer, an mein abendliches Gespräch im Zimmer von Patsch. Der gleiche Ton. Ein rotblonder Soldat meldet sich:

«Ich kann da etwas berichten, Genösse Oberleutnant. Einer von unserem Zug mußte fünfzig Liegestütze machen im Schnee, ohne Handschuhe, ja ... Als er nicht mehr konnte, durfte er nicht aufstehen. Mußte ganz flach liegenbleiben. Mit dem Gesicht im Schnee ... zuletzt, ja ... also zuletzt hat er gerufen, oder besser geschrien. Ihm war kalt...»

«Gut, Genosse Soldat, gut daß Sie mir das sagen. Ich werde der Sache sofort nachgehen. Wann, wer, wo, das frage ich immer bei solchen Sachen ...»

Der Soldat nennt Namen, auch seinen eigenen, und den Tag des Vorfalls. «Beim Frühsport war es», ergänzt er, «an der Sturmbahn. 2. Kompanie, 3. Gruppe.»

Der Oberleutnant macht sich Notizen auf einen Stenoblock. Dann steckt er den Kugelschreiber sorgsam zurück in eine kleine, lederne Hülle.

«So habe ich es mir gewünscht: eine vertrauensvolle, ehrliche Atmosphäre. Fakten, keine Phrasen. Ich werde einzelne noch zu persönlichen Gesprächen einladen. Dann können wir manches vertiefen. Es gibt ja auch andere Vorfälle. Meckereien und Äußerungen, vielleicht sogar Pläne, die uns gar nicht helfen. Die uns schweren Schaden zufügen, wenn wir sie nicht gemeinsam aufdecken. Auch darüber werden wir sprechen ... Gibt es noch andere Meldungen? Dahinten? Sie, Genosse?»

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Ein korpulenter Soldat mit Mittelscheitel steht auf, dreht sich um, ist verlegen, gibt sich dann einen Ruck und sagt mit überraschend heller Stimme:

«Bei uns gab es folgendes Vorkommnis: In der Stunde über Massenvernichtungswaffen wußte Leutnant Oswald, den wir da hatten, nicht mal den Unterschied zwischen Atombomben und Wasserstoffbomben. Er sagt, die Atombombe ist gefährlicher, weil Wasser harmloser klingt als Atom. Dabei ist es aber doch gerade umgekehrt ...»

«Aha ...» Mischke sieht den Soldaten scharf an. Der dreht sich wieder um, nickt dann, will noch etwas sagen, setzt sich aber schnell wieder hin.
«Nun gut.» Der Politoffizier will offenbar dieses Thema beenden.

Es ist wieder still im Raum. Wird sich der rothaarige Soldat schon Vorwürfe machen? Wird er schon Angst haben, zu weit gegangen zu sein? Ich muß immer an Bauer denken, an den freundlichen Leutnant, der mich aushorchte. Und an den Pfeffie, der durchs Tor geschleift wurde mit Maske und in den Neuschnee fiel. Der Oberleutnant redet jetzt von «Spenden», von der «brüderlichen Solidarität mit dem vietnamesischen Volk». Er hebt den Zeigefinger.

«Auch ihr, Genossen Soldaten, müßt euch überlegen, welche Summe ihr beitragen könnt. Am Ende des Monats werdet ihr Wehrsold erhalten. Das ist nicht viel, ich weiß. Aber immerhin. <Kaufe ich mir zwei oder drei Stangen Zigaretten>, das wäre dann eine Frage für die Raucher. Wenn ihr euch einschränkt und das Geld spendet, ist das eine beachtliche Summe. Ich sage das ganz offen, auch zu Hause, wenn meine Frau fragt, wo die Hälfte des Monatsgehalts geblieben ist: Ich erwarte Opfer! Opfer! Es ist Krieg, jawohl, Genossen geben ihr Leben für die Sache des Sozialismus! Da gibt es für mich kein Zögern, kein falsches Sparen! Da erwarte ich einen Beitrag, der weh tut, jawohl, so deutlich sage ich das!»

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Blaß und bebend steht er vor uns. «Heilig», könnte er noch sagen, «das ist unser heiliger Auftrag ...»

Ich denke an die Spendenaktion in der Schule, oft zweimal monatlich. «Schon wieder», stöhnten wir und gaben eine Mark, schrieben Namen und Betrag auf die Liste. Manche redeten von Medikamenten, andere von Fahrrädern. Direktor Übel verkündete mit hellem, zupackendem Blick, ganz so wie dieser Politstellvertreter auch: «Vor allem ist das Geld für Waffen, das sage ich ganz klar! Der Imperialismus muß besiegt werden! Das geht nicht mit Pfeil und Bogen!» Daran denke ich. Und an die grauenvollen Bilder im Fernsehen, die rennenden, napalmverbrannten Kinder ... die Flakgeschütze, die den Himmel absuchen ... die vielen Maschinen auf den amerikanischen Flugzeugträgern ... die Pressekonferenzen der Präsidenten und weisen Vorsitzenden ... das Klicken der Kameras ... das Verlesen der Verlautbarungen ...

Ein Blatt wird mir gereicht. Ich soll meinen Namen eintragen, dazu Gruppe, Zug und Kompanie. Die Anwesenheitsliste.

Als wir früh gegen fünf auf den Lkws sitzen und zum Bahnhof fahren, denke ich an Güterwagen, in die wir steigen werden, an Mannschaftstransporter mit Holzpritschen und leichtem Viehgeruch. Aber es stehen sehr bequeme, gutgepolsterte Personenwagen 2. Klasse bereit. 

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In Ausgangsuniform, mit Mantel, Lederkoppel und Stahlhelm, die Maschinenpistolen mit eingelegtem leeren Magazin in der Hand, steigen wir in den Sonderzug, der sofort losfährt. Jede Gruppe belegt ein Abteil. Wir können aufstehen, rauchen, die Fenster öffnen. Die Unteroffiziere haben sich in einen anderen Wagen verzogen. Oberleutnant Patsch fährt nicht mit, er soll sich krank gemeldet haben. Das Bad neulich ist ihm wohl doch nicht ganz bekommen. Mit nassen Klamotten durch den Wald stiefeln als vorbildlicher, von Baumstämmen stürzender Offizier ... Weidauer befehligt unseren Zug.

Es wird hell, der Zug nähert sich Gera. Nirgends haben wir bisher gehalten. Dieser Zug mit seinem militärischen Inhalt wird bevorzugt behandelt.

Was werden die Eisenbahner auf den Stellwerken sagen? «Ein Sonderzug», eine Nummer wird an die Tafel geschrieben, dann und dann fährt er durch. Der telefonische Rundruf, die Bestätigung, das Stellen der Weichen und Signale. «Da kommt er, hat ziemlichen Dunst drauf, aha, Armee ... Brennt das Schlußlicht? Ja, alles in Ordnung. Auch die Schranke ist geschlossen ...» Das werden sie denken auf den Stellwerken. 

Ich weiß es als Eisenbahnlehrling, vier Jahre Ausbildung, je eine Woche im Monat, dann drei Wochen Schule, Abitur. Meistens war ich auf Stellwerk in Herlasgrün, einem Bahnhof zwischen Reichenbach und Plauen. Ungern, lieber hätte ich Dostojewski gelesen ... Die Signallampen putzen und nachfüllen, Kohlen holen. Anruf von der Mitropa, der Kaffee ist fertig. Ich hole ihn. Mütze aufsetzen, Seidel ist heute Fahrdienstleiter, der regt sich sonst auf ... Ein Sonderzug ...
«Ist irgendwas los?» fragt der Kollege vielleicht am Telefon einen anderen. «Manöver?» «Nein, nicht daß ich wüßte.» Der Kollege überlegt noch, ob er etwas in den Nachrichten gehört hat ... «ach wo, Unsinn, was soll schon sein ... eine Truppen­verschiebung, das kommt öfters vor ...» 

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Das werden die Eisenbahner auf den Stellwerken denken, wenn sie allein im Dienst sind, auf die Ablösung warten oder den Anruf, daß der Kaffee fertig ist.

Nach Saalfeld fahren wir, zur «Vereidigung». Werdau, Seelingstädt, bald kommt Gera. Es geht nach Thüringen. Nicht zu den Großeltern, nicht zur Schwester. Auf einen Marktplatz geht es, ein Schwur soll geleistet werden.

In einem Buch, das gestern verteilt wurde, «Vom Sinn des Soldatseins», sollten wir den «Fahneneid» nachlesen und auswendig lernen. «Damit es morgen klappt. Er wird vorgesprochen, ihr müßt ihn nachsprechen, laut und deutlich...» sagt Pohl. Das Buch hat das Format des Bobrowski-Gedichtbandes, der im Spind steht. Auch eine durchsichtige Folie als Umschlag. Herausgegeben von der «Redaktion Wissen und Kämpfen des Deutschen Militärverlages».
Untereinandergedruckt mit Absätzen und Doppelpunkten: «Ich schwöre ... der DDR allzeit treu zu dienen ... an der Seite der Sowjetarmee gegen alle Feinde zu kämpfen ... mein Leben für den Sieg einzusetzen ... Geheimnisse streng zu wahren, Vorschriften zu erfüllen, Kenntnisse zu erwerben ... und wer den feierlichen Eid verletzt, den trifft die harte Strafe der Gesetze ... und die Verachtung des Volkes ...» Der Eid. Zuletzt die Drohung.
«Das kann die Todesstrafe sein», sagte Emmrich in der Stube, auf dem Bett sitzend, kurz vor der Nachtruhe. Seine Augen leuchteten angstvoll und willig: Er will tun, was da von ihm gefordert wird. Es steht schließlich in einem Buch, gedruckt, Vorgesetzte haben es verfaßt. Und morgen muß man es schwören, öffentlich, in Uniform ...

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Über eine Brücke geht es. Unten am Bahndamm die schwarzen Signaldrähte. Oben die Telefonleitungen, die «Telegrafendrähte», von denen Brecht in einem frühen Gedicht spricht, Hawel las es uns vor: «Sie sangen von den Toten, die auf dem Schlachtfeld geblieben / Siehe, da war es still bei Freunden und Feinden. / Nur die Mütter weinten / Hüben und drüben.» Ein Steinbruch, in den Hang gerissen, offen, wie eine Wunde. Von Bäumen umgeben, die abstürzen werden bei Regen. Ein Kipper kommt gefahren. Ein Mann steigt aus. Er sieht nicht herüber. Immer fahren Züge vorbei. Er hat anderes zu tun.

Bauer schläft, den Mantel über das Gesicht gezogen. Jugel blinzelt, reibt sich die Augen.

«Wo sind wir?» fragt er.

«Wünschendorf...» sage ich. Unter uns ein Fluß, eine Bootsanlegestelle mit aufgebockten Holzkähnen, ein Stellwerk, unter den Fenstern ein rotes Plakat, ich kann nur «Vorwärts ...» lesen, wir fahren schnell, biegen nach links ab. Ich gehe auf den Gang und kann die Lokomotive sehen. Ach so, über Weida, eine Abkürzung. Dann kommen wir gar nicht nach Gera.

«Über Weida, Pößneck fahren wir», sage ich zu Jugel. Der nickt. Es interessiert ihn nicht. Ich bin diese Strecke schon oft gefahren, «früher», «vorher». Nach Unterwellenborn, dann aussteigen, zur Bushaltestelle. Oder laufen, eine halbe Stunde nach Kleinkamsdorf, über die Brücken, am Stahlwerk vorbei, an der Maxhütte. Zur Familie meiner Schwester. Dort war ich gern. Ich habe ihnen nicht geschrieben. Ich hätte schreiben können, vielleicht wären sie nach Saalfeld gekommen. Aber wozu? Um mich marschieren zu sehen? Schwören? «Das geloben wir»? Ich habe nicht geschrieben. So soll mich keiner sehen. Auch Eva nicht. Sie hat Schule ... Am ersten Tag, noch in Zivil, war es auch so ein Zug. Die Streife kam durch. Jetzt tragen wir selbst Uniform, haben Waffen dabei. Ich gehöre schon dazu ...

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In Saalfeld angekommen, marschieren wir vom Güterbahnhof in die Innenstadt. Polizisten und Armeeposten regeln den Verkehr. Unsere lange Kolonne hat Vortritt. Fußgänger bleiben stehen, vor allem Kinder. Interessiert sehen sie auf die Maschinenpistolen. Einige winken.

Der Marktplatz ist voller Soldaten in Reih und Glied. Zwei Bataillone, das eine kommt aus Rudolstadt, das andere aus Sonneberg, von der «Schleiferhütte», wie Bauer weiß. An der Tribüne geht es im Exerzierschritt vorbei. Nur zwei Offiziere sind auf ihr zu sehen, die Generalität hat sich wohl verspätet ... Weidauer ruft dauernd etwas in die Reihen, er ist unzufrieden, befiehlt «Schrittwechsel» und «Beine höher, verdammtnochmal!»

Auf den Fußwegen rings um den Platz, knapp vor den guterhaltenen alten Häusern, stehen Zuschauer, Einwohner, Eltern, Geschwister und Frauen ... Ab und zu wird ein Name gerufen, einige Stahlhelme drehen sich suchend um, einer nickt verlegen, ein kurzes Winken. Dann richten sich die Köpfe wieder aus und halten still.

Aus einem dunkelgrünen Armeebus steigt eine uniformierte Blaskapelle. Sie nimmt neben der Tribüne, die sich mit blinkenden Schulterstücken gefüllt hat, Aufstellung.

Jetzt halte ich doch Ausschau, ob unter den «Zivilisten» ein bekanntes Gesicht ist. Vielleicht haben sie davon gehört oder sind zufällig gekommen ... Aber ich kann niemanden erkennen.

Ein Marsch wird gespielt, laute Meldungen werden durch ein Mikrofon gerufen. Ich stehe in der Mitte des Marktplatzes, bin einer von vielen. Es ist nicht so wichtig, wie ich meine Knie halte und ob die Hacken der Stiefel sich berühren. Ich bin geschützt, umgeben von anderen. 

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Die Hände könnte ich in die Hosentaschen stecken. Wir tragen Fingerhandschuhe, dunkelgrüne, einheitliche selbstverständlich. Jetzt wird eine Rede gehalten. Ich höre nicht zu. Bauer verteilt Bonbons. Immer wiederholen sie sich. Errungenschaften, Sozialismus, Sieg, Aufbau, Menschengemeinschaft, Verteidigung, Schutz, Imperialismus, Feind, Volk. Dingworte, Machtworte. Dienen, bereit sein, einsetzen, leisten, wahren, erwerben, erfüllen ... Hawel hätte im Aufsatz «Noch 4» gegeben und bei der Rückgabe in seiner ironischen Art gesagt: «Beim nächstenmal bitte zwei, drei Phrasen weniger. Das wäre dann schon ein Gewinn. Vielleicht fällt Ihnen ja auch was Eigenes ein zum gestellten Thema...»

Die Veranstaltung nähert sich ihrem Höhepunkt.
Satz für Satz wird der «Fahneneid» über Mikrofon verlesen und von den angetretenen Soldaten wiederholt. Das gibt ein raunendes Sprechen und Murmeln, ein Auf und Ab der Lautstärke, eine Massenstimme, die auch von den wenigen geflüsterten Brocken lebt, die ich beitrage, Bauers Bonbon im Mund.

Bei den letzten Sätzen, als es um die «Ehre unserer Republik» geht und um die «Verachtung», die den treffen wird, der den «feierlichen Fahneneid verletzt», beginnen Glocken zu läuten. Helle und dunkle Töne mischen sich, sie werden lauter.

Als die Kapelle nach unserem kriegerischen Schwur die Nationalhymne spielt, dröhnt es schon so empört über die Dächer, daß wir uns umsehen, daß wir Ausschau halten trotz Hymne und «Stillgestanden», woher diese Stimme kommt. Von zwei Kirchtürmen kommt sie, hundert Meter vom Platz entfernt. Ihre Spitzen sind zu sehen und die große Uhr: Es ist sechs Minuten vor elf. Keine volle Stunde also ... eine Hochzeit? Wir fühlen, daß dieses laute, anklagende Geläut mit uns zu tun hat.

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Mit unserer Anwesenheit auf diesem Platz, mit unserem Schwur, unseren Stiefeln, Koppeln, Stahlhelmen und Maschinenpistolen. Und mit dieser Kapelle, die jetzt kaum noch zu vernehmen ist, die aus dem Takt kommt und die Nationalhymne abbricht...

Nur noch die Glocken sind zu hören, dröhnend, hoch oben, von keinem Kommando zu erreichen.
Auf der Tribüne werden Befehle erteilt, Unteroffiziere rennen an den Häusern entlang in Richtung Kirche.
Aber das Läuten wird schon leiser. Nur noch klagend ist es jetzt, erinnernd. Es läßt uns allein. Wir sehen uns an ... Bauer, Jugel, Glöckner ...
«Da siehst du», sagt Jugel, «so ist es dann ...»
Ernst sagt er es, erschrocken.

Die Kapelle beginnt wieder zu spielen. Laute Kommandos werden gebrüllt. Noch einmal marschieren wir an der Tribüne vorbei und werfen die Stiefel hoch, dann geht es durch die Stadt zum Güterbahnhof zurück. Dort werden Verpflegungsbeutel verteilt. Einige Soldaten stehen bei ihren Familien, reden noch etwas. Die Offiziere dulden es. Eine Diesellok wird an die Wagen gehängt. Kurz nach 14 Uhr verlassen wir Saalfeld. Bis Pößneck stehe ich am Fenster. Bauer, Schwabe und Glöckner spielen Karten. Skat.

Samstag. Stuben- und Revierreinigen. Ich wische das Zimmer der Unteroffiziere, säubere vorher den Ofen, entleere auch das Rohr. Weidauer hat es befohlen.
Jugel und Bauer bearbeiten den Fußboden des Fernsehraums. Sie haben dazu das Radio angemacht und Zigaretten angezündet. «Hallo», rufen sie, als ich hereinsehe.
«Weißt du schon», sagt Bauer, «daß ich 'ne Panzerbüchse habe?»
Ich weiß es nicht.

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«Siehst du, bist nicht auf dem laufenden ... Ich die Panzerbüchse, Glöckner Munitionsträger. Jugel das LMG ... Montag Übung, Härtetest.»
«Übung?» frage ich.
«Abends Alarm, dann Nachtwanderung, den ganzen nächsten Tag im Gelände. Nachts zurück. Zwischendurch Eilmärsche. Hoffentlich schneit's nicht...»
«Woher weißt du das?» frage ich.

«Hat mir Weidauer erzählt, im Vertrauen.» Bauer schmunzelt, schnalzt mit der Zunge. «Tja, Beziehungen muß der Mensch haben. Die müssen gestern abend, als wir zurückkamen, noch voll gepichelt haben. Bei Pickel. Auf dem Klo war Weidauer ganz gesprächig. Da hat er es erzählt. <Vorsicht, Bauer, Vorsicht>, hat er gesagt... Ganz schön angeturnt, der Junge ... Wollte sich nichts anmerken lassen ... Sprechen ging noch ...»

Bauer und Jugel schmieren gelbes Bohnerwachs auf den dunkelbraunen Fußbodenbelag. Sie haben gute Laune. Es stört sie nicht, daß ihnen der größte Raum als «Revier» zugeteilt wurde. Sie stellen die Stühle hoch, rücken die Sessel in eine Ecke. Zwei bleiben in greifbarer Nähe zum Ausruhen. Dann wird das Radio angeworfen. Wenn jemand was dagegen hat, soll er es sagen, dann machen sie es eben aus. Ist der Meckerfritze weg, wird es wieder eingeschaltet, nur etwas leiser. Ansonsten nichts überstürzen, keine Eile. Eine Zigarette zwischendurch, dafür muß Zeit sein, ein kleines Schwätzchen ... So sind sie. Emmrich und Dominiak, vielleicht auch Biellau, würden mit roten Köpfen auf den Knien liegen und die Scheuerleisten polieren. Sie nicht. «Mit uns nicht», würde Bauer sagen, «wir müssen unsere Kräfte schonen, sonst können wir die erhöhte Gefechtsbereitschaft nicht garantieren im sozialistischen Wettbewerb ...»

Ich gehe in den Keller, Kohlen und Holz holen. Die Heizung ist verschlossen, Kannengießer ist nicht da. Oder er liegt auf seiner Koje hinter dem Vorhang ...

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Gegen elf werden die Reviere «abgenommen», die Stuben besichtigt. Ich räume noch meinen Schrank auf, wasche zwei Kragenbinden, putze die Stiefel, vor allem die Sohlen ... Emmrich steht an der Tür, horcht, ich muß in Strümpfen gehen, um den Glanz der Dielen nicht zu beeinträchtigen.
Kompanieschreiber Fröhlich mit seinem hübschen Jungengesicht und der gutsitzenden Uniform kommt den Gang entlang, hat Zeitungen und Post unterm Arm.

 

Ein dicker Brief von Eva! Zwei beidseitig beschriebene Blätter, ein Foto ... sie auf der Klassenfahrt zur Wartburg, lachend, im vorigen Jahr, vor einem Bretterzaun mit drei Eseln ... Und ein Zeitungsausschnitt, ein Foto: Helene Weigel als «Mutter Courage», eine alte Frau, ernst, faltig, ein grobes Tuch um den Kopf.
Evas Foto stelle ich ins «persönliche Fach», die Weigel hefte ich an die Innentür des Spindes, unter die «Wettbewerbsverpflichtung». Im Besenspind liegen Reißzwecken.

Flörchinger und Unteroffizier Krause betreten das Zimmer. Emmrich ruft:
«Achtung!»
Flörchinger steigt als erstes auf einen Hocker und fährt mit dem Zeigefinger über die Milchglasglocke der Deckenlampe, besieht sich das Ergebnis ... sauber. Er öffnet die Schränke. Bei mir zieht er die Klappe des Essenfachs auf, äugt hinunter zum «persönlichen Fach», auf Evas Foto und den schmalen Lyrikband ... dann bemerkt er die angeheftete «Mutter Courage».
«Was ist denn das?» fragt er pikiert.
«Helene Weigel.»

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«Wer? Kenne ich nicht... Was soll denn die Alte da?»
«Das ist ... Helene Weigel», sage ich.
«Ihre Großmutter?»
Flörchinger ist ungehalten, will aber überlegen wirken, witzig, amüsiert.
«Das ist eine bekannte Schauspielerin», sage ich.
«Schauspielerin?» Flörchinger lacht. «Da kenne ich aber andere.» Er sieht sich um. «Die haben wenigstens was zu bieten, die ich kenne ... Was soll denn das?»
Ich antworte nicht. Was soll ich sagen? Ich habe das gerade angeheftet ohne viel Überlegung.
«Machen Sie das ab! Auch noch unter der Verpflichtung, soll das eine Provokation sein?»
«Nein», sage ich schnell. «Aber das ist Helene Weigel vom Berliner Ensemble, die Frau von Bertolt Brecht...»

Flörchinger stutzt, sieht von der Seite auf das «Courage»-Bild. Brecht ... diesen Namen hat er wohl schon mal gehört. Er geht zur Tür, sagt nichts mehr. Der Stubendurchgang ist beendet.
Schwabe besieht sich das umstrittene Bild, schüttelt den Kopf, «so was». Glöckner klopft mir unsicher auf den Rücken. Schwabe fragt:
«Machst du es ab?»
Ich zucke mit den Schultern.
«Laß es hängen», sagt Glöckner.
Emmrich legt wütend sein Schloß vor den Schrank. Flörchinger und Krause haben ihn nicht kontrolliert.

Weidauer kommt und zeigt auf Schwabe:
«Sachen packen! Versetzung in den Stab ... Tja, Schwabe, unsere Wege trennen sich.»
Schwabe ist überrascht.
«Jetzt? Was soll ich da machen?»
«Weiß ich auch nicht genau», sagt Weidauer. «Was sind Sie? Koch?» Schwabe nickt.

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«Dann haben Sie Gaststättenerfahrung. Ordonnanz, bedienen, so was...»
«Aha, auch nicht schlecht ...» Schwabe öffnet den Schrank, lächelt, schießt im Zimmer herum, scheint sich zu freuen. «Wie mache ich das bloß ... einzeln tragen ... aber wohin ...»

Weidauer schüttelt den Kopf.
«Zeltbahn ausrollen, auf den Fußboden legen, alles rein. Einer hilft. Oben beim OvD melden.» Im Weggehen sagt er: «Da muß ich mir bald 'ne neue Gruppe suchen. Vom Regiment kamen auch Anforderungen, Nachrichten und Kraftfahrer. Dürfte ich eigentlich gar nicht drüber sprechen ...»

Schwabe räumt seinen Schrank aus, nimmt auch das Bettzeug mit. Er ist aufgekratzt: «Im Beruf arbeiten, warum nicht ... von mir aus ... jetzt brauchen sie mich wohl ... na ja, erst mal abwarten ... hoffentlich quatschen sie mir nicht bei den Soßen rein ... Und was wird mit der Waffe? Soll ich die mitnehmen? Muß doch Weidauer wissen ...»

Ein großer Sack ist es geworden, Glöckner hilft beim Tragen, ich öffne die Tür.
«Also dann», sagt Schwabe, «ich komm mal vorbei. Haltet die Ohren steif, Jungs! Macht's gut!»

Er hat es eilig. Auf seinem Bett liegen drei Matratzen, der Spind ist leer. Wieder ein Wechsel, wieder ist jemand weg. Karausche sehe ich nur noch beim Marschieren ... Ob ein Neuer ins Zimmer kommt? Hoffentlich nicht Kranz, der FDJ-Sekretär. Schwabe hat Briefe geschrieben und täglich Post erhalten. Etwas komisch war er, rasieren, eincremen, kämmen, das waren rituelle Handlungen. Wir anderen machten es hastig, ohne Spiegel, mit kaltem Wasser. Schwabe baute seine Utensilien auf, den kleinen Spiegel, das Lederetui mit Reißverschluß, hellbraun, die chinesischen Frottiertücher. 

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Er organisierte sich warmes Wasser, ging ohne Scheu zu den Unteroffizieren in den Fernsehraum. «Die kenne ich», sagte er, «die sollen ruhig sein.» Er kannte sie gar nicht persönlich, er meinte etwas anderes. Woher kam diese Sicherheit? Dabei war er nicht aufsässig, nicht wie Bauer. Im Wachlokal zuckte er mit den Schultern, als ich erzählte, was am Tor passiert war. «Kommt vor» war seine Meinung. Aber wehe, er schnitt sich beim Rasieren. Das gab einen Tanz! Schwabe ist besorgt um sich. Jetzt gehört er zum Stab. So schnell geht es. Minutensache. 

Weidauer sagte etwas von einem «Regiment». Vielleicht werde ich auch versetzt. Wo befindet sich dieses «Regiment»? In Zwickau, Plauen oder Saalfeld? Oder direkt an der Grenze? Vielleicht weiß es Bauer ... Hoffentlich nicht an die Grenze ... Jetzt lese ich Evas Brief, den habe ich vorhin nur überflogen. Ein schönes Foto von ihr. Und Helene Weigel ... Ob ich sie abmache? Flörchinger beruhigte sich dann wieder. Andere haben auch Bilder angeheftet, Schlagersängerinnen meistens, DDR und «sozialistisches Ausland». Westliche sind verboten. An Beatgruppen gar nicht zu denken, die Beatles, da rasten sie aus. Emmrich hat Vera Schneidenbach aus der «Armeerundschau» geschnitten, schmachtender Blick, ein Mikrofon in der Hand, Stöckelschuhe. Daneben das Foto einer Dampflokomotive seiner Modelleisenbahn, von vorn aufgenommen, sie kommt aus einem Tunnel und biegt um eine Kurve, fährt auf den Betrachter zu, schwarz, glänzend, gefährlich ...

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Sonntag vormittag werde ich ans Tor gerufen. Ich renne los, es hat wieder geschneit. Jetzt ist keine Wolke zu sehen, dafür die Sonne, ein blendendes, blauweißes Glitzern auch auf den Militärfahrzeugen, die neben dem Stabsgebäude stehen ... Ein Unteroffizier, den ich nicht kenne, sieht aus dem kleinen Fenster des Wachraums. Ich will ihn gerade fragen, warum ich gerufen wurde, da sehe ich meinen Vater am Tor stehen. Klein, korpulent, mit Hut und seinen runden Beinen. Er winkt. Der Unteroffizier sagt:
«Fünf Minuten, es ist keine Besuchszeit...»

Ich gehe am Posten vorbei, der mir zulächelt. Mein Vater ist gekommen ...
«Wollte nur mal nachsehen», sagt er und gibt mir die Hand.
«Hast du hier zu tun?»
«Nein», sagt er, «bin mit dem Bus gekommen, über Rodewisch, wollte nur mal sehen, wie es ist...»
«Es geht», sage ich.
«Der Anfang ist schwer. Und das Essen?»
«Gut.»
Er sieht mich an. Halb ernst, halb im Spaß sagt er:
«Die Uniform steht dir. Sauberer Haarschnitt, einwandfrei.»
Ich winke ab.
«Könnte mir was Besseres denken.»
«Na ja, die Zeit vergeht...»

Ich drehe mich kurz um. Der Posten hat sich einige Meter entfernt, er hört nicht, was wir sagen. Der diensthabende Unteroffizier steht auf der Treppe und beobachtet uns.
«Und sonst?» fragt mein Vater.
«Sonst ist alles Scheiße», sage ich.
«Schlimm?» Das fragt er ernst, besorgt, wie ein erfahrener Soldat, wie ein «Frontschwein», dem man nichts über Krieg und Kommiß erzählen muß. Ich bin der Oberschüler, der gerade für die vorderen Linien ausgebildet wird und doch schon den ersten Beschuß erlebt.

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Und der den Feldwebel vor sich hat, den Unterstufenlehrer mit der quäkenden Stimme und den elenden Phrasen, der ihm «das Laufen» beibringt im Hinterland, das es gar nicht mehr gibt. 

«Schlimm?» fragt mich mein Vater, und das heißt: «Ich weiß schon Bescheid, du mußt mir nichts erzählen ...» So fragt er mich, das höre ich heraus. Und es ist nicht Kumpanei und nicht Besserwissen. Es ist Mitleid. Und Sorge. Und auch Verbundenheit, Verzweiflung, daß es immer so weitergeht. Mit diesem wunderbaren Haarschnitt, den er liebt. Und mit der grauen Uniform, die er kennt, die seiner nicht unähnlich ist, immerhin gibt es Traditionen ... Immer so weiter, wie es aussieht... und dann zerschossen. Und dann gestorben ... Das kann ja auch sein ... Er weiß es, hat es erlebt, diese beiden Seiten, wunderbar und tödlich, marschieren und hinfallen, herumkriechen im Schlamm, «Jawoll, zu Befehl» und «Hilfe ... Mutti... lieber Gott, hilf mir, lieber Gott...» Das weiß er, das hat er mir erzählt. 

«Nie wieder Krieg», das hat er gesagt ... So fragt er, so steht er da, sonntags am Tor, im glitzernden Schnee, unter blauem Himmel. Und weil wir am Tor eines Lagers stehen, einer Kaserne, weil ich Uniform trage und ein Unteroffizier zusieht, kann ich jetzt nicht losflennen. Auch nicht schimpfen auf Zwodreivier oder Münchow, den es erwischt hat. Auch von Bauer und Jugel kann ich nicht erzählen, von Biellau und Dominiak. Das sind «militärische Geheimnisse», nicht wahr ... Wir stehen da, die fünf Minuten sind um.

«Ich muß wieder rein», sage ich, «er hat mir nur fünf Minuten gegeben.»
«Schon gehört», sagt mein Vater und greift in die Manteltasche. «Bleib mal so stehen», sagt er, «dreh dich nicht um, erst wegstecken.»
Er gibt mir eine Schachtel «Boonecamp», drei Fläschchen Kräuterbitter, «Medizin». 

Alkohol in der Kaserne ist verboten! Wo er sonst so genau ist, die Hosen bügelte und sich einen Sohn wünschte mit «Fassonschnitt»! Jetzt steckt er mir heimlich Schnaps zu, entpuppt sich als Schmuggler, als einer, der mich auffordert, es nicht so genau zu nehmen mit der Dienstvorschrift. Es ist ein Risiko dabei...

Ich stecke die Flaschen weg, umarme ihn, gehe zurück. Der Unteroffizier sieht mich an und verschwindet in der Wachstube. Ich habe ihn nicht gegrüßt. Mein Vater steht noch am Tor und winkt. Daß er gekommen ist... Jetzt geht er los, dreht sich um, winkt... Mit dem Bus fährt er zurück. Ich bleibe. Ich bin der Sohn, der Nachgeborene. Ich bleibe, ich erhalte in diesem Lager die «militärische Grundausbildung», absolviere den «Ehrendienst», hier, hinter diesem Zaun. Wir treten wieder an auf einen Pfiff hin, Wolfgang Borchert. Der finsteren Zeit, in deren Flut andere untergegangen sind, bin ich nicht entronnen, wie es aussieht.

Als ich die Kompanie betrete, höre ich einen Pfiff. Unterfeldwebel Fickel bläst in eine Trillerpfeife. Mittagessen? Kann sein, kurz nach halb zwölf ist es. Ich renne ins Zimmer und verstecke die verbotenen Flaschen in meinem glattgezogenen Bett. Im Flur wird es schon still, ich muß mich beeilen.

383-384

 

 Ende

 

 

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