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So ging es eine Zeit, vier oder fünf Wochen, oder etwas länger. Ich redete nicht mit ihm. Er war mir fremd, vor allem seine Sprache, das <st>, der nördliche Ton, ich kam aus dem Süden. Vielleicht konnte man ihm auch nicht ganz trauen ... irgendwo hing er drin, wurde befragt oder gezwungen. Dann bekam Brodel ein Zimmer im Stabsgebäude, neben der Kartenstelle, wurde zum Unteroffizier befördert und durfte sein grünes Band abnehmen. Berufsunteroffizier war er jetzt wie Jahoda und der dünne Schmidt, wir atmeten auf. 

Bergmann hatte ein Vierbettzimmer für sich allein. Er gehörte nun fast zu uns, kannte alle Vornamen, wusch sich jeden Abend lange und nackt im Waschraum, führte laute Gespräche über die Fußballoberliga, Gruhle und Hacker diskutierten mit ihm, die Starfußballer des Regiments, Einsatz in der Bezirksliga, bekamen frei für Training und Punktspiele, Bergmann wußte die Tabelle auswendig, sogar die Tordifferenz...

Manchmal passierte es, daß er abbrach mitten im Gespräch, vor sich hin starrte, in sein Zimmer ging. Etwas schleppte er mit sich herum.

An einem Samstag bekam er Ausgang. Nachts gegen eins wachten wir auf: Grölen, Rufe, Flüche und lautes Heulen im Flur, Bergmann kam betrunken zurück. Der OvD, einer vom Pionierzug, stand ratlos neben ihm, einen Kopf kleiner, pockennarbig, eine große Stabtaschenlampe in der Hand. Hösel ging im Nachthemd zu Bergmann, wollte beruhigen, «komm, Ulli, leg dich hin», aber Bergmann ließ sich nicht beruhigen. Er stieß Hösel zurück. 

«Halt die Schnauze, halt die Schnauze» ... fluchte, spuckte, warf sich lang hin, kratzte mit den Nägeln auf Fliesen und Ölsockel, weinte, wimmerte: «Nicht doch ... nicht doch ...» 
«Ist fertig, der Junge», sagte Hösel. Schließlich ließ er sich in sein Zimmer tragen.

Am nächsten Tag wurde er versetzt. Ein Barkas fuhr vor, nicht einmal Trenske wußte Bescheid, von keinem verabschiedete er sich. «Blöde Sache», sagte Hösel, «bleibt immer was hängen ...»

Über seine Sache hatte Bergmann nichts erzählt, nur abgewunken und geschwiegen, von der Oberliga angefangen ... Nach dem Ausgang hatte er getobt, geweint, gewinselt, wie ein Tier gebrüllt, böse, klagend, wie ein wundes Tier, das nicht sagen kann, was passiert ist. Hätte er es uns sagen können? Mit einem Barkas haben sie ihn weggefahren.

Hösel bekam es heraus. Bergmann hatte einen erschossen, der mit ihm auf Postengang gewesen war, er hatte eine <Fahnenflucht vereitelt>, war belobigt worden, dann durchgedreht.

Vorhin sah ich den Lagerkommandanten mit einem anderen uniformierten Mann auf und ab gehen vor den Baracken, in ein Gespräch vertieft, beide die Hände auf Rücken bzw. Gesäß. Der andere Mann trug eine dunkelblaue Armeeuniform, hoher Dienstgrad, Kapitänleutnant oder etwas Ähnliches, Marine, keine Ahnung. Wahrscheinlich aber höher als der Lagerkommandant, auch in der Körpergröße, mehr wert ... 

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Das Gerücht kursiert, ein Soldat, ein Student also, einer von den Ungedienten, hat sich über die Zustände beschwert und seinem Vater geschrieben, einem hohen Marineoffizier ... Das könnte er gewesen sein ... War hergekommen und stellte den Höchsten hier zur Rede, ging mit ihm eine Runde spazieren ...War höher als der Höchste hier ...

Neugier. Schadenfreude.

So angeregt im Gespräch, so nickend, hatte ich den Kommandanten noch nicht gesehen. Distanziert und pikiert, von weitem zusehend, vorwurfsvoll, schweigend, eine Meldung entgegennehmend, die Grußerweisung begutachtend, vielleicht hinter einem Fenster stehend, wenn die Truppe vom Außendienst zurückkehrte ... eher so ... «Ich bin aktiver Offizier, und was seid ihr?» Die Antwort war von seinem Gesicht abzulesen: Nichtsnutze, Klugscheißer!

Aber jetzt ging er auf und ab vor den Baracken, mußte sich vielleicht erklären, rechtfertigen, Fehler eingestehen ...
Immer warten wir auf Besuch von oben, akzeptieren die Hierarchie. 
<Wenn das die Führung wüßte, der 1. Sekretär, der Vater von dem und dem ...>

Nach solchen Vergleichen: die Seiten rausreißen, Papier verschlucken.

Wenn Schonwald vom Funken erzählt, leuchten seine Augen: mit der ganzen Welt in Verbindung stehen ... Ich fragte ihn, worüber gesprochen wird. Antwort: Technisches, Grüße, nichts Politisches. «Ist verboten, dann bin ich meine Lizenz los.» Ich erinnere mich an den August achtundsechzig, auf Kurzwelle der Ruf eines tschechischen Amateurs: «Allen, allen, allen...

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wir sind ein kleiner Sender und wissen nicht, wie weit unsere Stimme hörbar ist. In unserer Heimat gibt es keine Konterrevolution ... es besteht somit kein Grund für eine Intervention...» 
Er versprach sich bei diesem Wort... 
«Helfen Sie uns, den Weg zu wirklich demokratischem Sozialismus fortzusetzen...» 
Nach ein paar Tagen war Stille, die deutsche Sendung von Radio Prag so langweilig wie zuvor ... keine Rufe mehr, keine Versprecher ... Karl-Eduard von Schnitzler auf dem Bildschirm, Sondersendungen des <Schwarzen Kanals>, er rechtfertigte alles, begründete die <Hilfe>, den <neuen Kurs> ... man habe Waffenlager gefunden ... 
Ob Schonwald an seinem Empfänger gesessen hatte in diesen Tagen? Vielleicht hatte er noch keine Funkstation. Wir reden nicht darüber. Politik wird in Andeutungen abgehandelt, in Vieldeutigkeiten, in Witzchen und Bemerkungen, die man später anders erklären kann. Wir verstehen uns gut nach anfänglichem Mißtrauen (<die Psychos bespitzeln uns>). Es verschwand, als auch Specht und ich bestraft wurden, vor versammelter Front: unberechtigtes Verlangen von Alkohol in der Offizierskantine trotz Belehrung ...> 
Schonwald weiß, daß ich bei der Armee Funker war. Von Amateurfunk habe ich wenig Ahnung. Er weiß nicht, ob ich wirklich ganz ehrlich bin ... wir halten einen gewissen Sicherheitsabstand). So ist jeder doch isoliert.

 

«Kollektivbeschwerden sind verboten», war eine der ersten Mitteilungen in Johanngeorgenstadt. 
«Beschweren kann sich jeder auf dem Dienstweg, das ist sein Recht», war die andere Rede. 
Nur nicht als Gruppe, <Gruppenbildung> und so weiter ... 

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Wir sind zwar viele, müssen uns aber wie einzelne verhalten. <Sie> sind dann immer mehr, organisiert, eine Gruppe, legal ... eine Partei ... Die Mehrheit ist allein. Mißtrauen trennt. Und Spitzel gibt es genug.

Ohne Vergebung. Der kleine Pionierfeldwebel saß an der Fensterseite des Speisesaals, den Kopf eingezogen, zur Seite geneigt, ein Arm unter dem Tisch, den Mund nahe am Teller, einen kurzen Weg hatte der Löffel, bei den Unteroffizieren, an ihren Vierertischen mit den bunten Tischdecken, dort saß er. Ein Gang, dann die langen Bänke und Tische der Mannschaft, kunststoffbeschichtet, gut abwischbar, etwa zwanzig Personen fanden Platz an jeder Tafel. Vorn die Bunten, hinten die EKs, geschrien und gepöbelt wurde, wenn einer nicht Bescheid wußte oder <plätzemäßig> länger hiersein wollte als er war. 

Ziemlich groß der Saal, vielleicht vierhundert Quadratmeter, nebenan der Offiziersspeiseraum, weiße Tischdecken, Bedienung durch Tischdienste, meist Soldaten der Wache, die Bereitschaft hatten, sich gut die Hände waschen und weiße Kittel überziehen mußten. Eine Tür weiter der <Kleine Offiziersspeiseraum> für die <engere Führung), für Kommandeur Pabst und die anderen aus dem Stabsgebäude. Auch die Aufklärer aus der ersten Etage des Neubaus saßen dort, gleich, welchen Dienstgrad sie hatten (oder zeigten), auch Feldwebel fanden sich ein mit selbstbewußter Miene. Wenn ein Oberleutnant vom normalen Truppendienst ankam, grüßten sie nur knapp und aßen weiter, die anderen sprangen auf und nahmen Haltung an. Soldaten können es miterleben, wenn sie das Wahlessen zu servieren haben ...

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Der kleine Pionierfeldwebel saß nicht im Offiziersspeiseraum, er saß bei den Unteroffizieren, nur durch den Gang getrennt von <seinen Leuten>, Soldaten und Gefreiten vom Pionierzug. Große Ausnahme: Bunte, Vize und EKs gemeinsam und freiwillig an einem Tisch. Maurer, Tischler und Schlosser hatte er ausgesucht für <Wartungsarbeiten im Grenzbereich>... Er duzte sie, sie duzten ihn, «der Werner», sagten sie und ließen nichts auf ihn kommen. Der kleine Feldwebel war Maurer von Beruf, hatte auf dem Bau gearbeitet, war fünf Jahre <dabei>, unentschieden, ob er sich länger verpflichten sollte, man drängte ihn, zweimal hatte er ein Jahr dazugegeben, <Nachschlag>, wie das hieß

Es war ein Witz besonders unter Gefreiten, die hektisch ihre Tage zählten: «Wülste nich Nachschlag holn...?» Ein <Zehnender>, ein Berufsoffizier mit besserem Uniformstoff und dem Recht, im Offiziersspeiseraum an den weißen Tischdecken Platz zu nehmen, wollte er nicht werden, wie es aussah. Er hing an <seinen Leuten>, <seiner Truppe>, alle kamen aus der Landwirtschaft. «Die können wenigstens arbeiten», soll er gesagt haben.

Sie legten die Minen vorn am Todesstreifen.

Laute Befehle hörte ich nie von ihm, Bücher las er nicht, Briefe schrieb er wahrscheinlich selten, Junggeselle, grüßen mußte ihn keiner, war er OvD, fiel der Stubendurchgang aus oder er lugte an der Tür und sagte: «Licht aus.» Neben Bergmann hatte er ratlos mit der Stabtaschenlampe gestanden, als der betrunken und brüllend angekommen war nach dem Ausgang.

Der kleine Feldwebel stand im Ruf eines <absoluten Experten>, «der spürt, wo was liegt und wo nicht... die Dinger wandern ja bei Regen und Matsch...».

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Gemeint waren die Minen. Es gab zwar Zeichnungen, Generalstabskarten in der Kartenstelle, Theorie wäre das aber alles, «die Erde lebt oder was sagt der Bauer zum Rindvieh ...». 

Einen von seiner Truppe kannte ich vom Fußballspielen, der erzählte ab und zu, lachte viel, konnte gut dribbeln. «Wir leben gefährlich», sagte er, «sind selber schuld, wenn sie nicht lesen können ... steht doch überall dran, daß es verboten ist ... wenn jemand über 'nen Zaun klettert, kann er sich auch die Gräten brechen ... Minen gab's schon immer, in jeder Armee ...» sagte er. So redete er ab und zu, die anderen aus seinem Zug schliefen oder sahen fern, wenn Freizeit war. «Die sind 'ne Truppe für sich», sagten wir, und das hieß: nicht verkehrt, aber was die vorn machen, damit wollen wir nichts zu tun haben... Himmelfahrtskommando ...

Der Werner, der Kumpel, der Prolet, der Maurer, der nicht viel im Sinn hatte mit Armee, war gelandet in diesem Job, mittags saß er an seinem Tisch mit eingezogenem Kopf, ein großes, pockennarbiges Gesicht, die Haare glatt nach hinten gekämmt, lustige, braune Augen. Suppe aß er gern, vor allem Grieß und Haferflocken, ein Milchbubi, beliebt bei den Soldaten, unscheinbar, zwei-, dreimal holte er Nachschlag, in der Schlange vor dem Essenschalter stellte er sich hinten an, auch noch hinter den letzten Bunten, der sich erstaunt umdrehte, er war anderes gewöhnt ...

So verrückt ist es, solche machen die Dreckarbeit, den Tod vorn am Strich, der <Feuer und Wasser scheidet> nach Meinung einiger, Gras wächst und Vögel fliegen in einer einzigen Landschaft, solche Werners sind es, solche Kumpels, wo andere Schiß haben oder weg-

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wollen oder Glück brauchen oder liegenbleiben, gehen die hin, graben mit den Händen, <ihre Truppe> muß warten in sicherem Abstand. «Paß bloß auf, Werner», nach einem Regen, nach Schnee oder Frost, «ganze Kuhherden gingen darüber...» «Und?» «Nichts und, keine ging hoch... Aber wenn so ein Dussel kommt, latscht er drauf, selber schuld...» Solche Werners sind es, sie werfen Steine drauf, finden den Zünder oder finden ihn nicht. Dann sitzen die Jungs da mit hängenden Köpfen an ihren langen, kunststoffbeschichteten Tischen, einen Tag oder zwei. Solche Werners sind es. Klassenfeind, Schießbefehl, Antifaschistischer Schutzwall, Mauer, Helsinki, Menschenrechte, Entspannung, Abrüstung, ihr riesengroßen Arschlöcher, solche Werners sind es, Kumpels, keine Bestien, das ist das Problem, keine Teufel, Alltag, Arbeit, Job, «wer wird denn Schiß haben»... «die sind selber schuld», Pionierarbeit, Handwerk, «das andere sollen die Politiker machen», «Signalzäune sind besser, Hunde sind auch arme Viecher ...» Solche Werners sind es, die machen es, vorher Landwirtschaft oder Baustelle, nicht böse, aber dann doch, mit Decken wird das weggeschafft. 
Und ohne Vergebung, Werner, ohne Vergebung.

A: Urlaub? 
NICKEN. 
A: Wie lange?
Sonntag abend. 
A: Kurz. 
NICKEN. 
A: Und sonst? 
Es geht.

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Nun kommst du mit der Uniform an, gehst die Bahnhofstraße hinunter, Kastanienbäume, da drüben das Wehrkreiskommando, die Ackermannstraße, die Schule, siehst hin, vielleicht triffst du jemanden. Wenn man jemanden trifft aus der Schule, aus dem Viertel, Dialog siehe oben. Ein Uniformierter bist du, eine <Qualispange> hast du an der Brust, golden. Abzeichen müssen getragen werden ... jaja, schon gut, ich erwähne es nur. Die Schützenschnur hast du nicht, die Panzerplatte liegt im Spind, versteckt unter der Unterwäsche. Fast alle haben die Panzerplatte, wurde verteilt, nichts Besonderes ... schon gut, es ist alles klar, du bist Soldat im Grundwehrdienst, kein Freiwilliger, kein Bulle, kein Grüner. Aber doch uniformiert. So sehen dich die Leute an. Der Staat kommt, ein Uniformierter. Wenn du an der Straße stehst, zum Beispiel vor der Kaserne, in die Innenstadt willst, fast jeder hält an. Soldaten nehmen sie mit. Die sind zuverlässig, keine <Lumiche>, keine <Gammler>, die ältere Generation reagiert positiv, die Väter ... die Mädchen lachen oder sehen weg, kurze Haare, längere sind Mode, andere Klamotten ... 

Was willst du machen in den paar Tagen, Stunden? Erst mal umziehen. Dann gleich noch mal weggehen, in die Stadt. Bißchen rumgehen. Hast du Zivilerlaubnis? Nein, aber merkt keiner. An den Haaren werden die Armisten zwar erkannt, aber selten kontrolliert. Nur wenn sie betrunken sind oder was passiert, Unfall oder so. Sonst nicht. Und Eva? Ich weiß nicht, ob sie da ist. Wieso nicht? Nicht geschrieben? Doch. Aber vielleicht ist sie verreist. Oder einer sitzt rum, der heißt Wolfgang, Parallelklasse. Auch Armee? Nein, freigestellt, gesundheitlich.

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Groß, lange Haare, Jeans. Eifersüchtig? Ja. Gehst du trotzdem hin? Kann sein, nur mal klingeln. Neun Wochen nicht in der Stadt, das ist lange. Und die Eltern? Warten, wollen Essen machen. Und dein Lehrer? Zu dem gehe ich. Reden, nicht lügen, unterhalten können, Kaffee trinken, Freundlichkeit ... 

Und zu Hause? Oft Streit. Warum, weiß ich manchmal gar nicht. Es ist eben so. Man müßte raus, sein eigenes Leben haben. Als Soldat bist du Kind. Da Befehle ausführen, dann noch im Urlaub der Sohn sein ... 

Lesen geht schwer, schreiben, weiß nicht, keine Ruhe. Wenn ich das aufgeschrieben hätte, als ich in Plauen war, was ich heute aufschreibe, wäre ich verrückt geworden vor Angst. Manchmal einige Zeilen. Dann habe ich drübergeschrieben <Bundeswehr 69> oder den Namen eines Nato-Manövers eingesetzt. Ich meinte aber hier, uns. 

Radio hören, Jugendfunk, Bayrischer, Nachmittag. Und Rias II. Und Spazierengehen. Platten. Und bei dem Lehrer reden können. Sonst lag ein dunkles Tuch drüber, eine Schwere. 

Am schönsten ist die Vorfreude in der Kaserne, wenn es wahrscheinlich klappt mit dem Urlaub. Und dann wieder freiwillig zurück: Du machst mit, folgst, gehst selber. Wie bei der Einberufung. Du bist Freigänger, haust nicht ab. An Abhauen denkst du, aber nur manchmal, es ist unrealistisch. Du willst <durch>... 

Schon immer die Befürchtung, daß ich das Kritzeln nicht lassen werde. Notizen, Hinweise. Einiges habe ich... 

Das meiste aus dieser Zeit ist als schlimme, bohrende Wachheit im Kopf. Gedächtnisprotokolle, die das Vergessen verweigern.

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Ich muß von mir sprechen, das eigene Beispiel beleuchten. Und zeigen, was für eine Leuchte ich war. Auch das Unterordnen, Kuschen, Anpassen zeigen. Immerhin gehen Hunderttausende in die Mühle Halbjahr für Halbjahr. Und nicht früher, bei Hitler oder davor: jetzt, heute, hier, du, ich. Und die anderen? Einige waren mutiger, wußten mehr, konnten sich durchsetzen, wurden zur Spatentruppe eingeteilt. Bei den Theologen gibt es einige. Aber die meisten gehen hin. Ziemlich viele werden noch angeworben als Reserveoffizier, besonders unter den Studenten. Wer weiß das? Alle hier wissen das. Es trennt auch Frauen und Männer. 

Glowe bringt einander näher... Gemeinsames Einsitzen in Anstalt, Kaserne und Lager... die Gleichberechtigung der Erfahrungen...

Wenn einmal ein Text entstehen sollte, der <literarisch> akzeptiert wird (bei Weiterexistieren des beschriebenen Gegenstandes): der Rekrut wird an mir kleben. Wie Knast klebt oder Leid oder Untaten. Andere reden nicht darüber, ziehen Bilanzen im dreißigsten Jahr, gehen sensible Wege. Wer beschreibt die eigene Kollaboration ...

Weiter, nicht aufgeben. Heldengeschichten sind langweilig. Der Schriftsteller ist nicht der bessere, unschuldige Mensch, der über den anderen steht ... sich gegen die eigene Zeit auflehnen, gegen den Gang der Dinge, den eigenen Marschtritt nicht akzeptieren ... Aber ihn auch nicht verschweigen. Literatur?

«Wolln Se wissen, was Se sinn?» «Staatsfeind. Spion. Neurotiker.» Die psychologische Deutung als Diagnose, als Jagdschein, als milde Variante?

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Urlaub. Vorher den Vorgesetzten fragen, beim Schreiber die Lage sondieren, die allgemeine und besondere Stimmung ... Ist Alarm zu befürchten, eine Übung, ein Manöver, wie viele wollen noch fahren, sind EKs darunter, gab es Vorkommnisse, Anschisse, wie lange bist du nicht gefahren. Vier Wochen: kaum Aussicht. Sechs: möglich. Acht bis zwölf: wahrscheinlich, wenn nichts vorliegt. Stand: 1971, Plauen. 

Wenn du fahren willst: nichts zuschulden kommen lassen. Beachten: Aussicht auf Urlaub macht weich, vorher werden gern Gespräche geführt vom V-Offizier. Oder Scherze gemacht: Samstags elf Uhr ging Siegfried Biellau los, hatte sein Bett gebaut, den Spind aufgeräumt, die Schuhe geputzt, die neue Kragenbinde eingelegt, das Revier gereinigt, den Kamm gesäubert, den zarten Bart rasiert, die Haare gekämmt, beim Friseur war er gewesen und beim Zugführer, nun hatte er den Urlaubsschein in der Hand, verabschiedete sich und stürmte los. Da draußen geht er, über den Sportplatz, Richtung Tor. Den Reiselord schwer in der einen, in der anderen Hand, jetzt muß er absetzen, dabei will er rennen, den Mittagsbus nach Rodewisch noch erreichen ... 

Er öffnet die Tasche, sieht nach, drei Ziegelsteine wirft er ins Gras, ruft, droht, lacht... 

Der kleine Hacker liegt auf dem soeben von ihm blankgebohnerten Gummibelag des Zimmers, strampelt mit den Beinen, «Nein», brüllt er, «nein, das gibt's doch gar nicht!» Das gab es, Scheiß-Samstag, Scheiß-Stuben- und Revierreinigen! Der fährt in Urlaub, hat es gut, wir müssen seinen Dienst mitmachen!

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Wie der geschleppt hat, drei Ziegelsteine, drei Ziegelsteine! Urlaub wollte jeder haben, Urlaub! Heimgang! Noch 156 Tage waren es.

Specht schlägt mit den Fersen auf die Matratze, er liegt über mir, liest laut:
S: «Gegenwärtig wirkt, wie Walter Ulbricht auf der 2. Bitterfelder Konferenz von 1964 bemerkte, der subjektive Faktor der gesellschaftlichen Entwicklung in neuer, höherer Weise.»
So.
S: Sozialpsychologische Grundlagen der Persönlichkeitsformung, Hans Hiebsch, VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften. Ich zitierte aus der Einleitung. ..
Sonst?
S: Ganz gut. Auf der letzten Seite ist es vollbracht. Ich zitiere: «Vorhanden sind zwei notwendige Voraussetzungen für eine geschlossene Theorie der Persönlichkeitsformung: Die Existenz und die stürmische Entwicklung der sozialistischen Gesellschaftsordnung, in der die <Entfremdung> des Menschen objektiv aufgehoben ist, in der die Bedingungen für die endgültige Befreiung der Menschheit aus allen sie einengenden und ihre Entwicklung beschränkenden Fesseln gelegt wurde, und die Existenz und Weiterentwicklung des dialektischen und historischen Materialismus, der uns die feste theoretische Basis für die Verwirklichung dieser Theorie bietet.»
Und?
S: Das war's ... Die Theorie gibt's noch nicht.

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Ob das Ulbricht-Zitat rauskommt?
S: Vielleicht, vielleicht nicht. Vielleicht soll Kontinuität demonstriert werden. Oder der Autor kann Ulbricht leiden. Ist möglich. Für manche war er ein Wohltäter.
Pilz: Zum Wohl! Ich kenn die Formel für Dynamit.
Schonwald: Na und.
Pilz: Na und, na und, wirst schon sehen.
Schonwald: Was denn.

Klammer. Die erste Begegnung im Lager Johanngeorgenstadt am Tag der Einberufung, halbnackt, in langen Schlangen, mit gestutzten Haaren warteten wir auf die Untersuchung, durchquerten einen Saal, er stand vorn an der Bühne, vor Rednerpult und Fahne, mit Gitarre und schulterlangen, blonden Haaren. Dort hatte man ihn hingestellt zur allgemeinen Besichtigung, neben beschlagnahmte Schnaps- und Bierflaschen. Tage später rannte er mit Schrubber, Besen und gestutzten Haaren an mir vorbei, zwei Unteroffiziere trieben ihn an. «Klammer aus Karl-Marx-Stadt, christlich, glaube ich», hatte einer in der Schlange gesagt am ersten Tag und hinzugefügt: «Den werden sie scheuchen.» Sie scheuchten ihn. Uns auch, uns scheuchten sie auch, <laufen> sollten wir lernen, aber Klammer hatte es schwerer.

Im Februar siebzig, als ich gegen Mittag den Mannschaftsspeiseraum betrat, ich kam etwas später, hatte noch Bohnerwachs holen müssen und Seife, stand Klammer vor mir. Er trug einen weißen Kittel, darunter glänzende schwarze Stiefel, stand im Gang und wartete auf das Eintreffen von Offizieren.

«Du hier...» sagte ich.

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Er gab mir die Hand, freute sich.

Ich war nach Plauen versetzt worden, Funkerausbildung, er war im Lager geblieben, hier gehörte er zur Wachmannschaft, die man jede Woche aus Johanngeorgenstadt ankarrte. Vor der Versetzung hatten wir ein paarmal zusammen gesprochen, es hatte sich so ergeben, Bücher, Platten, kurze Gespräche in der Kantine oder auf dem Marsch zum Essen, wenn man zufällig nebeneinander landete. Nicht immer nur denselben Stuß reden, dieselben Witze, die Befehle, das Gekreische der Unteroffiziere... irgendwie fand man sich ... daß er mit langen Haaren gekommen war, hatte mir gefallen ... 

Klammer war bekannt, man achtete auf ihn ... es war <der mit den langen Haaren, jetzt mit den kurzen>, da lächelte man. Es war ein eigentümliches Lächeln, eine Mischung aus Mitleid und Schadenfreude. «So hätte er auch nicht zu kommen brauchen», hieß das, «so nicht, dann muß man sich auch nicht wundern, wenn man rangenommen wird», so wurde über ihn geredet. 

Und doch blieb eine Aufmerksamkeit, «mal sehen, was er jetzt macht»... In Plauen, als ich ihn wiedersah, dachte ich zuerst an die Gitarre ... wie er stand vor Rednerpult und Fahne. Wie er ausgesehen und uns angesehen hatte.

«Du bist hier», sagte er. Er hatte noch seinen durchdringenden, strahlenden Blick, an etwas glaubte er ... etwas wußte er.
«Was liest du gerade?»
«Lenin», sagte ich.
«Aha», er lächelte, «die Kampftheoretiker...»
«Wen?»
«Die Kampftheoretiker, sie begründen ihr System mit

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Kampf und Macht, auch mit Gewalt. Genau das lehnen wir ab, weißt du ...»
Was ich darauf gesagt habe, weiß ich nicht mehr; nicht viel, nehme ich an.

Licht aus, morgen weiter. Namen ändern, Klammer heißt Wäsche, Leine, Klapper, Klepper. Alles erfunden, Symptome entwickeln, lügen, durchdrehen ... Halbzeit. Pilz hat Schnaps organisiert. Wahrscheinlich Stromausfall ... <Bayrisch-Kräuter>. Noch vierzehn Tage.

Klammer... Er mußte den Offizieren das Essen servieren, für lange Gespräche blieb uns keine Zeit. <Kampftheoretiker>, diesen Begriff hatte er ganz bestimmt verwendet. Nicht vorwurfsvoll, aber eindeutig ablehnend. Lenin las ich, weil ich annahm, daß der etwas besser gewußt oder gewollt hatte, nach Argumenten fahndete ich gegen <das hier>. Ich fand sie. Lenin als Kronzeuge, den man zitieren konnte, schlau und belesen etwas einstreuen mit Unschuldsmiene. Es war Zirkus, er geht bis heute. Die Parteidiskussion, reingehen oder nicht, wir kleben am System, auch Specht... Klammer hatte einen anderen Weg, er redete solche Sachen.

In der Schlange vor dem Essenschalter ging er hin und her... mußte nach hinten durch in die Küche, dort das jeweils gewünschte Wahlessen holen, drei Varianten gab es, wir bekamen an diesem Tag marinierter Hering, manche aßen ihn gern, die Kartoffeln schmeckten gut... da blieb er stehen, beugte sich vor, zwei leere Teller in der Hand:
«Ein ganz prima Gespräch vorhin... mit einem Offi-

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zier, Hauptmann... der kann diskutieren, fragt nach, ganz enorm... sagt, er achtet auch andere Standpunkte... war ich gar nicht mehr gewöhnt. Hier herrscht doch ein anderes Niveau.»

Er schien mich um meine Versetzung zu beneiden. Als ich gegessen hatte, wollte ich gehen und noch einmal in der Kantine vorbeisehen, vielleicht gab es Kuchen, Aprikosenkuchen schmeckte besonders gut, und eine Schachtel Zigarillos, ich paffte abends auf der Stube, alle rauchten... Klammer winkte, kam auf mich zu mit großen Schritten, so war sein Gang, große schnelle Schritte, immer etwas in Eile, die Augen suchend, auch verweilend, der Hals sehr gerade, stur, unter einem großen Kopf, jung sah Klammer aus, wie ein Oberschüler in der elften Klasse, der frisch beim Friseur gewesen ist vor dem Mittelball der Tanzstunde, die Eltern freuten sich über die <Kinder>... Er drückte mir fest die Hand, es war ein <Händedruck>, er faßte mit seinen beiden zu, sah mich freundlich an, sagte:
«Schön, daß wir uns getroffen haben... alles Gute für dich, alles, alles Gute! Das können wir doch gebrauchen, oder?!»

Ja, das konnten wir gebrauchen. Wahrscheinlich wollte er Pfarrer werden, so etwas paßte zu ihm, Seelsorge, aus christlichem Hause kam er bestimmt. Ich fragte ihn noch nach dem Offizier, mit dem man so gut diskutieren konnte. Er zeigte ihn mir. Es war einer von den Heimlichen aus der ersten Etage, ich kannte ihn vom Sehen. Als ich es Klammer sagte, wurde er ein wenig blaß, müde sah er plötzlich aus, allein, ziemlich verloren mit seinen hellblonden, gescheitelten, kurzen Haaren und dem weißen, etwas zu großen Kittel der Tischdienste...
«Ach so», sagte er, «na ja... trotzdem danke ich dir... danke.» Er sagte meinen Vornamen.

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Das war das letzte Mal, daß ich ihn sah. Am nächsten Tag wurde die Wachmannschaft vorzeitig ausgetauscht, warum weiß ich nicht. Monate später, im Sommer, erzählte mir einer, Klammer hätten sie verhaftet wegen <Aufwiegelung zum Widerstand>.

Bei einem Eilmarsch habe er die Parole <langsamer> ausgegeben, es sei nur ein Anlaß gewesen. «Den hatten sie auf dem Kieker», sagte der, der es mir erzählte, er war in Klammers Kompanie gewesen, wurde später zu den Kraftfahrern nach Plauen versetzt. Verhaftet konnte nur Schwedt heißen, Monate? Jahre? Erfuhr ich nicht. Anschließend vielleicht in eine <Spinnerkompanie>, nachdienen ... oder irgendwo in eine scharfe Truppe... polnische Grenze... ich muß Harry Folkert fragen, der war an der polnischen Grenze, ist hier Ausbilder... Ob ich Harry überhaupt noch etwas fragen kann? Abitur, Che-Guevara-Mütze, Armee, Schwierigkeiten, Spinnerkompanie, dann Studium, hier Ausbilder, eine Karriere, die vielleicht Gründe hat... Ob Klammer auch studiert? Abi hatte er. Theologie? Oder sie haben ihn fertiggemacht. Manche nehmen sich das Leben.

Mir gefiel, wie Klammer war. Daß er ankam mit langen Haaren und Gitarre. Er soll nur geklimpert haben, auch nicht besonders gesungen ... trotzdem, wie er stand vor Rednerpult und Fahne ... Wir mit rasierten Köpfen in der Schlange. Er war weiter, war dagegen.

Einer von den Stasis hatte den Verständnisvollen gespielt am Mittagstisch. Er kannte vielleicht seine Akte. Klammer freute sich, diskutierte, sagte seine Meinung, wollte ihn vielleicht überzeugen. Wovon, weiß ich nicht.

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Vom Wesen der <Kampftheoretiker>? Keine Ahnung, wie er mit Offizieren sprach in solchen Situationen, ob er da gewisse Dinge zurückhielt. «Ich diskutiere mit jedem», hatte er einmal zu mir gesagt, «wir sind alle Menschen.» Gewiß, wir waren alle Menschen. Und wir waren bei der Armee, er diskutierte in einem Offiziersspeiseraum. Er hätte auf der Hut sein sollen.

«Kampftheoretiker lehnen wir ab, weißt du», hatte er gesagt, munter und klar hatte er das gesagt, nicht ironisch, nicht schnippisch oder mißtrauisch, klar ablehnend ...

Auch als der Name Lenin fiel, das war ja ein Klassiker, ein Heiliger. Nicht für Klammer. Er wollte vielleicht selber ein Heiliger sein, einer, der immer seine Meinung sagt. Ob er mit Bestrafung gerechnet hat, wenn das stimmen sollte, was ich gehört hatte? Als sie ihn in den ersten Tagen herumhetzten, hatte er durchgehalten. Wollte er leiden? So sah er eigentlich nicht aus. Man konnte sich das ja alles nicht aussuchen, das Kasernenleben lief ab, wenn sie sich einen ausgeguckt hatten, lief der eben auf ... Klammer in einer Grenzkompanie, als Posten am Zaun? Kann ich mir nicht vorstellen. Sie hätten ihn auch nicht vorgelassen nach Durchsicht der Akten, der politisch-ideologischen Berichte), der <Vorkommnisse>. Einen mit <Niveau> hatte er getroffen. Vielleicht gefiel ihm Klammer, nicht devot, wußte was, belesen, die vielen braven Angsthasen sind auch langweilig auf Dauer ...

Solche wie Klammer sind die Besten. Man erkennt sie am Gesicht. Sie werden gehaßt und gescheucht. Ich weiß nicht, ob er durchgehalten hat, so wie er war. Er konnte nicht den Mund halten, konnte sich nicht verstellen.

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Vielleicht haben sie ihn fertiggemacht. Mut hatte er, er brauchte auch Glück. Gefangene und Rekruten brauchen Geduld und Glück. Das habe ich aus einer Erzählung, die im Radio kam, der Autor schien es zu wissen, er war siebzehn Jahre in Kolyma ... in Lagern ... am <Pol der Grausamkeit> ... Mut, Glück, Geduld und <eine gewisse Anpassungsfähigkeit> Eine gewisse Anpassungsfähigkeit hatte Klammer nicht.

Fühle mich krank, Grippe, etwas Fieber. Dienstbefreiung wird es nicht geben. Zum Arzt? Es gibt ein Sani-Gebäude, Medizinstudenten und einen Oberarzt, Oberleutnant, unbeliebt. Begutachten lassen? Lieber nicht. Wahrscheinlich möchte ich alles los sein. Nicht nur Freistellung für zwei Tage ... Bleibt man allein auf der Stube vormittags, schleichen laufend Offiziere durch, fragen warum, weshalb, haben Aufträge für die <Innendienstkranken>. Dann lieber mit den anderen marschieren.

Die Baracken sind vor ein paar Jahren aufgestellt worden, das sieht man. Die anderen Gebäude, der hellbraune Putz, die Treppen, wie die Fenster angeordnet sind ... das dürfte noch der Führer gewesen sein ... die Fahnenmaste, unten Stahlschienen ...

Erinnerung an den <Kulturpalast> in Unterwellenborn, das Klobige, Angeberische der Säulen und Gänge. Viel ungenutzter Innenraum. Ein Geschenk Stalins, <Schuppen>, sagen die Leute. Im Kulturprogramm ein Literaturzirkel und Ausstellungen ganz außergewöhnlicher Art und Qualität. E. und M.! Es gibt Wege.

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Werde ich jemals öffentlich lesen können? Sind diese Notizen eine Gefährdung für mich und andere? Und wenn ja, was folgt daraus? Wie die Angst wegkriegen, die begründet ist? Singe englische Schlager, Fidschi-Englisch, kein Text, die ungefähre Melodie, es kommt auf etwas anderes an, leise flüchten, froh sein, weg sein. Etwas Sinnloses, Leichtes tun.

Andere Menschen beschreiben, von ihnen erzählen. Habe eine lange Namensliste. Spuren verwischen, ändern, Wichtiges bewahren. Eine Geste, eine Redensart, einen Vorfall. Gab es Güte, Mut? Ja. Vermischt mit schrecklichem Versagen, Gleichgültigkeit, Leere.

Pistolenschießen, drei Treffer.

Ein komischer Kerl. Wenn es kalt war und kein Scharfer den Frühsport beaufsichtigte, oder so eisig, daß Vorgesetzte im Warmen blieben, rannten wir nach einer halben Runde in die Durchfahrt zwischen Stabsgebäude und Mehrzweckraum, sprangen eine steile Treppe hinab <in die Heizung>, zwischen Rohre, Eisenplatten, Schubkarren und Kokshaufen, in grauen Trainingsanzügen stellten wir uns hinter die Tür, rieben die Hände, Egon kam zwischen den Kesseln hervor. «Na», sagte er, «was ist los ...» Es war keine Frage, dreißig Grad plus werden es gewesen sein, nie schickte er uns weg, unruhig lugte einer nach draußen, einmal hatte uns Firle nachspioniert, dicht an seinen Stiefeln vorbei stiegen wir von unten nach oben, als ertappte Sünder, Egon sah uns nach, eine schwarze, speckige Dachmütze trug er, so eine wie Ernst Thälmann.

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Egon war Zivilangestellter, Heizer, Spanienkämpfer, in der Partei, ein älterer Mann in Gummistiefeln, der uns nicht <anzählte>, wenn wir in sein dampfendes Verlies gestürzt kamen, ein paar Minuten Wärme, Versteck, mit Blick auf die Tür. «Ihr krebst in der Kälte rum und die schaukeln sich die Nüsse», solche Sätze sagte Egon, über seinem Keller thronten das Stabsgebäude, die Offiziere, die Diensthabenden, Egon war freundlich und böse <auf die>, darum durften wir bei ihm eintreten am frühen Morgen und kurz bleiben, dann noch eine halbe Runde um den Sportplatz und in die hell erleuchtete Tür des Neubaus einlaufen, sehr tief atmend, es war Winter, dunkel, bibbernd vor Kälte, fix und fertig, schauspielern konnten wir gut.

Ich weiß nicht viel vom Heizer Egon, er hatte einen Trotz, einen Stolz, eine bestimmte Art, uns nachzusehen, einen Haß auf <die>, auf unsere und seine Vorgesetzten. Wie sich das vertrug mit Partei und Armee, weiß ich nicht. Jedenfalls war es so, an kalten Tagen konnte das ausprobiert werden, seine Anklagen und Flüche konnte jeder hören zwischen fiependen Ventilen und Wasserrauschen, jeweils einen Soldaten hatte er als Gehilfen, drei kannte ich, zwei degradierte Gefreite, also Soldaten, die kaum einen Vorgesetzten grüßten, in verdreckten Arbeitsuniformen liefen sie herum, aus ihren Blicken sprach: ihr Arschlöcher! Egon, der Zivilist, der jeden Nachmittag nach Hause ging, wird sie vielleicht beeinflußt haben, degradiert hatte man sie aber schon vorher aus einem Anlaß, sie kamen von außerhalb, aus Grenzkompanien, bei Egon fühlten sie sich wohl, stöhnten aber über die Kohlenberge. In ihren Augen waren wir alle Nichtstuer, das wären sie auch gern gewesen, aber «Feuer unterm Arsch muß schon sein», Egon über seine Heizerarbeit.

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Als zwei von seinen Gehilfen, verteilt über zwei Halbjahre, entlassen worden waren, kam der <Krummbeinige, wie er genannt wurde, <Krummbeiniger> oder <Idi>... «LPG, bißchen doof, wie der läuft, Säbelbeine, und die Schnauze, schief, was der dauernd quatscht durch die Nase, und dann noch in der Partei, da sieht man, wenn sie solche nehmen...» 

Auch die Paranoia blühte, «der soll Egon bespitzeln ... uns melden, wenn Frühsport ist ...» und so weiter, selbst wenn es stimmte, Egon war selbst in der Partei, von seinen Reden wußte wahrscheinlich jeder, auch im Stabsgebäude. Vielleicht hatte er Gönner, Pluspunkte aus der Vergangenheit, Spanien oder VdN, ich weiß nicht, der neue, kleine Soldat mit den krummen Beinen, der mit kohleschwarzem Gesicht, einem Stapel Bücher, er las!?, durch die Landschaft ging, er hatte sein Bett bei den Pionieren, wurde jedenfalls verhöhnt, zum Regimentskasper, zum blöden Kerl gemacht von fast allen seinesgleichen, von uns Soldaten. Biellau und ich feixten mit, beschlossen aber dann, Zurückhaltung zu üben, «ganz so primitiv sind wir nicht», man hatte immerhin das Abi und wollte studieren, war Tastfunker und las Bücher, richtige allerdings, keine Abenteuerromane wie der.

Kurz vor Ende der Dienstzeit, der kleine krummbeinige Soldat war zum Gefreiten befördert worden, lief er nur noch mit hängendem Kopf herum, es war so schlimm, daß wir es bemerkten. Im Ausgang, erzählten welche, soll er geweint haben, «saß in einer Ecke rum und heulte in der Mitropa, hat was ...».

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Erstaunt sahen wir ihn an, etwas verunsichert, der <Glöckner von Notre-Dame> zeigte Gefühle. Bisher hatte er die Bemerkungen überhört oder mit dem Finger an die Stirn getippt, war weitergelaufen mit eingezogenem Kopf. Dann hörten wir Folgendes: Es hatte Parteiwahlen gegeben, in der Parteivollversammlung der Kaserne saßen Offiziere neben Unteroffizieren, Soldaten neben Zivilangestellten, alle waren Genossen und gleich, jedenfalls sollte es so sein. <Wo ein Genösse ist, das ist die Partei>, das war die Losung. Von Dienstgraden war nicht die Rede, es fanden Wahlen statt, der kleine krummbeinige Soldat soll als einziger gegen Kommandeur Pabst gestimmt und von <Machenschaften> geredet haben. Daraufhin wäre er als <Spaltpilz>, <Kritikaster>, als <Querulant> und <Fall für den Psychiater> bezeichnet worden ... 
Heizer Egon lief noch grimmiger auf dem Gelände herum, es hatte nur eine Gegenstimme gegeben, er war auch in der Partei ...

Der kleine Soldat wurde ab sofort nicht mehr verlacht. Hösels neuer Ausdruck, «ein komischer Kerl», hörte sich fast nach Bewunderung an. Wenn er dreckverschmiert aus dem Heizungskeller kam, schüttelte der kleine Soldat, der inzwischen Gefreitenbalken trug, alle paar Meter den Kopf, stöhnte, blieb kurz stehen, wischte über seine Augen, ging weiter, den Blick auf die Straße gerichtet, auf einen Punkt, der vielleicht fünfzig Zentimeter vor den Stiefelspitzen seiner zerlatschten, ungeputzten <K II> lag ... Er war traurig, litt, beendete mit uns seine Dienstzeit, Egon blieb.

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Erinnerung an eine Exkursion nach Nordhausen, elfte Klasse, Übernachtung in einer Jugendherberge, der <Herbergsvater> erläuterte mit scharfer Stimme die <Herbergsordnung>. Im <Programm> vorgesehen, lieber wollten wir in der Stadt promenieren mit aufgedrehten Kofferradios, der Besuch des nahe gelegenen KZs <Dora>. Ein weißhaariger, freundlicher Mann holte uns vom Bus ab, es war Juni, wir wanderten durch Felder in eine zunehmend merkwürdige Landschaft: Die Wege wurden breiter, härter, Betonpisten, hellgrauer Kies, auf dem kein Gras wuchs, Plätze, Hügel, zwischen Sträuchern Bunkerruinen, hartnäckige, grausame Haltbarkeit, verrostete Türen, die nicht wackelten, nicht wankten, keine Baracken, keine Zäune, in einiger Entfernung ein Haus am Rand eines Hügels.

Der alte Mann erklärte, sprach langsam, ruhig, fast heiter, seine weißen Haare, der blaue Himmel, die Hitze, wir Schüler hatten Schutz gesucht unter einem Baum, einer Eiche, tatsächlich einer Eiche, er stand frei, außerhalb des Schattens, wollte es so. «Da unten drunter», sagte er, «war eine große Fabrik... unterirdisch ... viele Jänge, Hallen... da wurden die V 2 herjestellt... die Wunderwaffen... wo wir stehen, war das KZ, das Lager Dora... wer in den Berg mußte, kam nicht mehr lebend raus, Zehntausende tot... gestorben, ermordet, Arbeitssklaven... Ich hatte Glück, kam nicht rein, war Kommunist, wir taten, was wir konnten, veränderten die Listen, versuchten Leute zu retten... fünfundvierzig kamen die Amerikaner... nahmen viele deutsche Wissenschaftler mit, Techniker, es jab in der Nähe ein Forschungsinstitut... die wollten die Wunderwaffe, Atombomben... alles in Schutt und Asche lejen... ich bin rausjekommen, hatte Glück, mache jetzt solche Führungen, ihr sollt wissen, wie es war...»

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Er sprach Dialekt, Nordhausen, Sangerhausen, Eisleben, manches <g> wird ein <j>, er kannte diese Gegend, war hier geboren, führte uns hinauf zum Haus, ein kleines Museum, Gedenkstätte, in Vitrinen Häftlingskleidung, Schuhe, Fotos, Zeichnungen. Unser Klassenlehrer fragte ihn, was er nach dem Krieg gemacht habe, beruflich... «Wie immer», sagte er, «jearbeitet, bin Tischler, Stellmacher... Funktionen hatte ich keine, wenn Sie das meinen, die in Berlin haben ja jenug, wissen alles besser... was sollen wir da... so ist das.» Er lachte, wir standen versteinert, wahrscheinlich mit offenen Mündern, Herr Grund, unser sympathischer Klassenlehrer, Physik und Chemie (<exakte Wissenschaft könnte wichtiger sein als Ideologie>), begann seine randlose Brille zu putzen... ein ehemaliger, vor uns stehender Häftling eines KZs, Kommunist, der Schulklassen über die Verbrechen der Nazi-Zeit aufklärte vor Ort, kritisierte Partei und Regierung, <die in Berlin ...>, wie sollte man das anders verstehen... und er blieb auch dabei, korrigierte sich nicht, beseitigte keine Mißverständnisse, sah uns lange und lächelnd an, wußte wahrscheinlich um die Wirkung seiner Worte... 

Toni Ring, Musterschüler und zukünftiger Offizier der Nationalen Volksarmee, bearbeitete unruhig seinen Druckkugelschreiber, der immer zur Hand war... <die in Berlin...>. Ich sehe uns zurückwandern, die Felder begannen wieder, die weichen, zerfahrenen, erdigen Wege, nach denen Gras griff, Margariten, Disteln... An der Bushaltestelle verabschiedete sich der alte Genosse, wir gaben ihm die Hand, hatten unterwegs nicht viel geredet, waren <betroffen>, wie dieses Wort heißt.

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In Nordhausen stürzten wir sofort an einen Kiosk, kauften Limonade, es war heiß, Durst und Hunger. Im Lager Dora hatte es keine Gaststätte gegeben. «Buchenwald ist da anders», sagte Karin Neubert mit ihrer hellen Stimme, letzte Bank rechts, blond, aus Limbach, «war mit der Jugendweihe dort, Kioske, auch Andenken, sogar ein Hotel im alten SS-Bau.» «Unmöglich», sagte Reinhard Nest aus Neumark, letzte Bank links, guter Tänzer, Raucher und Tonhallengänger, feste Freundin. «Was denn», beschwerte sich Karin Neubert, «ich habe es doch nicht so gemeint.»

 

Robert Havemann. Möchte mehr von ihm wissen. <Regimekritiker> nennen ihn die Westsender. Dialektik ohne Dogma heißt sein Buch. Kenne nur den Titel. Es gibt eine antifaschistische deutsche Opposition, die <Berlin> in Frage stellt ...

 

Wenn ältere Leute, die für Hitler waren oder Mitläufer, Kritik am neuen Staat üben, können sie recht haben, aber es klingt immer irgendwie gebrochen, vergiftet. Wahrscheinlich Schuldgefühle. Und Angst. Auch ein unterdrückter Haß. Der alte Genosse sprach gelassen, selbstbewußt, hatte nicht dieses kuschige Flattern im Blick wie zum Beispiel Theaterdirektor Schmidt vom Neuberinhaus, der Nazi war und jetzt alles macht, was die Kreisleitung sagt. Störer im <Schülerring> (lachen, tuscheln, mit Papier rascheln) zerrt er an den Haaren aus der Vorstellung. Er hinkt. Trägt eine randlose Brille.

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Gestern Major L. auf dem Weg zum Küchengebäude getroffen, Specht und ich hatten Tischdienst.
L.: Na, Sport gehabt?
Ja, nachmittags, 3000 Meter...
L.: Geschafft?
Na ja...
L.: Wie hieß es doch? <Hart wie Kruppstahl, schnell wie die Windhunde ...> Na ja, früher hat man so geredet... Vorbei, erledigt, Naziverbrecher... Tischdienst?
Jawoll.

Gab es einen Hitlerjungen Ludwig? Anzunehmen. Wie alt wird er sein, fünfzig. Sprüche... <Schnell wie die Windhunde>... Es rutschte ihm so raus... er lächelte. Etwas davon hat Gültigkeit und Macht. Die Aufforderung zur Tat, zum Mut, zum Opfer? Der letzte Einsatz für die gute Sache, die letzte Kraft... Ludwig sprach wie ein Kumpel... auch das steht dahinter: ein Wir. <Kampfgemeinschaft> ist ein gültiger Begriff, Menschengemeinschaft>. Auch wenn wir darüber lachen, etwas zieht an, schafft Zugehörigkeit. Und wahrscheinlich Folgsamkeit. Sich davon lösen ist schwer, riskant, bedrohlich.

 

Sport.
Tischdienst. 
Jawoll, Genosse Major.
Und was jetzt, mitten im real existierenden Sozialismus?

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Registrieren, Mettwurstbrot essen. Vielleicht übernimmt Schonwald auf dem Rückmarsch das Kommando. Er brüllt unwahrscheinlich laut. Man muß es kilometerweit hören. Er soll brüllen, so laut er kann. Das gefällt uns. Wer kann etwas dagegen haben, daß militärische Kommandos laut und deutlich gegeben werden? Niemand, Schonwald, niemand! Also los, übernimm das Kommando! So laut du kannst, Schonwald, so laut du kannst!
Er übernahm das Kommando und brüllte. Ein Offizier kam uns entgegen, schüttelte den Kopf.

Ich schreibe <uns>, <wir>.

Nachtrag Nordhausen. Der alte Genosse erwähnte die Namen von deutschen Wissenschaftlern, die am Raketenbau beteiligt waren, auch von <Dora> gewußt haben mußten... Wernher von Braun... Gut erinnere ich mich an diesen Namen... Abendbrotzeit in Gotha, <Das Echo des Tages>, amerikanische Erfolge in der Raumfahrt... Kap Canaveral... «unter Leitung des gebürtigen deutschen Wissenschaftlers Wernher von Braun»... wie stolz das klang, der Vorname, nicht einfach Werner, nein, Wern-her, das klang wie <Herr>, dann noch <von>... und ein Deutscher... 

<Was wären die Amis ohne uns>, der Großvater könnte es gesagt haben, nicht nur er, auch Herr Eberhard und Herr Walter von der Georgenthaler Straße, die freundlichen, älteren Nachbarn... nur die Großmutter verzog keine Miene, schlug später ihr schwarzes Buch auf, schwieg. Wernher von Braun... und der kleine, alte Mann mit den weißen Haaren, der helle, heiße Tag, der Name des

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Lagers: Dora... <die aus Berlin wissen alles bessen... Dora hieß eine Freundin meiner Mutter, die in den Westen gegangen war... die Körper der Häftlinge, ihre Augen... <wer in den Berg kam>... diese klugen, sympathischen Männergesichter, ihre deutschen Namen, die Stimme des Nachrichtensprechers, sein dunkler, gewichtiger Ton... das stolze, nickende Aufblicken des Großvaters, mit dem ich so gern <Mensch-ärgere-dich-nicht> spielte... «nur Forschung, von Hitler gezwungen ... mit KZs hatte das nichts zu tun...». Dieses <nur>, nur achtzehn Monate, nur ein paar Wochen, nur noch bis Mitte Dezember, Tage zählen, absitzen... alles ist Beschwichtigung.

Sehnsucht nach der offenen Gegenposition.

Der lyrische Ton meiner Plauener Aufzeichnungen widert mich an: «Durchwatet den Lärm/ der sich festkrallt im Ohr / ihre Pfiffe / die Wasser abzuschlagen fordern / im Takt... Rufe des Mundes / Ufer der Angst... Steht. Spricht. Die Stimme nicht/ die unsere nicht. Die andere/ die uns niederhält/ Das Lachen stürzt ab, gerade vor uns... Zuckende Nägel am Abzug... Planen aus Angst... Zuerst Liedchen, alles reimt sich. Schlaf und Schaf/ Später wird klar: Dieses Leben ist ungereimt. Und Liedchen lassen sich brüllen auf Befehl... Als ich wiederkam/ begrüßte ich einige Bekannte in verständlicher Freude/ Sie fragten lange/ sagten/ Ja, den kannten wir.»

Welche Angst, welcher Mund, welche Stimme? Bobrowskis dunkles Schwelgen, Brechts Überlegenheit sind mir plötzlich zuwider, fremd, Haß auf Kunst. Nur

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noch Radnoti und Biermann. Thomas Mann, Goethe, das Klassische, Bedeutsame, Reiche: nein. Diese Umstände kappen viele Antennen, auch Zerstörung.

Die Verkäuferin. Sie zwinkerte uns zu, wenn wir den Laden betraten, sie zwinkerte jedem zu, der den Laden betrat. Es war ein fixer Blick, <ach du bist es>, sagte er, sie duzte Soldaten und Unteroffiziere, etwa ab Feldwebel ging sie zum <Sie> über. Kamen die Heimlichen aus der ersten und zweiten Neubauetage, schmolz sie fast, lachte, holte hervor, alles wollte sie von den Augen ablesen, Zahnpasta, ein Pfund Äpfel, etwas Wurst, Zigaretten, aber ja, natürlich, besonders die Frauen dieser Truppe schienen ihr zu gefallen, waren es <Dienst-grade>, waren es Sekretärinnen, in Uniform sah man sie nie, man konnte es nicht wissen... darüber wurde nicht gesprochen, nicht danach gefragt, sie waren Mitarbeiter, gehörten dazu, das genügte, mächtig waren sie, eine besondere Instanz, die <Firma>, die Heimlichen aus der ersten und zweiten Etage des Neubaus in Flauen. Die Verkäuferin des Ladens, Kantine konnte man nicht sagen, zwei Stühle standen herum und ein flacher Tisch, ab und zu saß jemand und trank rasch einen Kaffee, eine Kantine war es nicht, die Schlange vor dem Ladentisch, immer konnten Offiziere hereinkommen und nach dem Dienstauftrag fragen, nach der Dauer der Pause, der Freizeit, ob man nichts anderes zu tun hat zu dieser Zeit, nein, eine Kantine war es nicht, ein Laden auf dem Kasernengelände, ein Läd-chen im Regiment. Durch die Eingangstür des Flachbaus, links der Mannschaftsspeiseraum, die Küche, eine Tür führte ab in den Offiziersspeiseraum, rechts

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davon der Kleine Offiziersspeiseraum für die ganz hohen Tiere, nicht sehr groß, sechs, sieben Tische, und geradeaus das Lädchen, ab elf geöffnet, Samstag und Sonntag geschlossen, nachmittags bis fünf oder halb sechs, ich weiß nicht mehr genau. Die Verkäuferin war über fünfzig, vielleicht auch sechzig, sie rauchte, trank ab und zu ein Gläschen, ganz bestimmt, war keine Kostverächterin, Falten hatte sie im Gesicht und etwas Lidschatten, vor Jahren war sie eine <Schnelle> gewesen, hatte Chancen gehabt, zwei, drei Ehemänner, der eine gestorben, der andere zu lahm, so eine war sie, nickte freundlich den Uniformen zu, sympathisch war sie, <ihr Kinder>, das sagten die Augen, <kommt rein, stellt euch schön der Reihe nach an>, wenn ein Herr Offizier eintreten sollte, bestimmt sagte sie <Herr> und nicht <Genosse>, sie gehörte zur anderen Zeit, zu früher, zu Mutter Courage nicht, zu der nicht, etwas später, tausend Jahre später, tausend Jahre sollte es dauern, ja mein Führer, da war sie Kind gewesen, junges Mädchen, Arbeitsdienst, Fahnenappell, hochsehen, strammstehen, einordnen, warum nicht, <das muß nicht alles schlecht sein>, aus diesen Jahren kam sie, war freundlich zu den neuen Uniformen, die den alten ziemlich glichen, betont freundlich, da war guter Wille, Einverständnis, nicht fanatische Ergebenheit, nicht Gläubigkeit, man hatte schon allerhand zusammenkrachen sehen, sie bediente, verkaufte, betrieb einen Laden, Marketenderin war sie...

Nehmen wir an, Biellau, der kleine Gefreite, der Funker mit dem Nachrichtenblitz am rechten Ärmel, kam durch die Tür, mit den nach vorn gekämmten Haaren und dem schaukelnden, unsicheren Gang, Kuchen kaufte er im-

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mer, viel Kuchen und Schokolade, Süßes wollte er immer, «na, mein Süßer», das sagte sie zu ihm, lächelte, lachte, redete dann weiter mit der Frau aus der ersten Etage des Neubaus, die natürlich vorging, die noch Aprikosen wollte, die von hinten zu holen waren, daß es sie gab, war unklar, keine solche Frucht lag in den Auslagen, es mußte gefragt oder gewußt werden, Dienstag kam Lieferung, «aber ja, Frauähh...», den Namen wußte sie nicht, den erfuhr sie auch nicht, der wurde ihr nicht gesagt, den wollte sie auch nicht wissen, also Biellau kam herein, stellte sich an, Uffz Glaser stand vielleicht in der Reihe, der Milchbubi, der scharfe Stubendurchgänge machte und Funktruppführer war, motorisiert, russischer <Gas>, zu Biellau drehte er sich um, tat nett, grinste über das schmale, spitze Gesicht, «na Uffz», sagte er, denn Biellau hatte den Spitznamen <Uffz>, irgendwer hatte ihm den verpaßt, «Uffz» sagten fast alle, lächelten dazu, der kleine Biellau, hieß das, der Tolpatsch, der Abiturient, so haben wir uns die Schlauen vorgestellt, klein, bescheuert, Mamakinder und Bücher lesen, harmlos und formbar, der macht, was man sagt, schält auch Kartoffeln mit den Bunten, wenn er auf dem Gang erwischt wird... Glaser hat also etwas zu Biellau gesagt, vielleicht kommt noch Major Schenker hereingestürmt, rosig, massig, Politnik, wird sofort bedient, muß sich nicht anstellen, das macht sie gut, zwinkert Glaser und Biellau zu, <lassen wir den mal von, heißt das, <dann ist er bald wieder draußen>, weiß schon, was Schenker will, ein Stück Jagdwurst und Weißbrot, das Mittagessen hat nicht gereicht, für nachmittags wahrscheinlich, wenn er das Neue Deutschland auswertet oder die Fernschreiben von

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Berlin oder in der Bibliothek Kaffee trinkt bei den Damen ... der ist raus, die Kundinnen und Kunden wurden bedient, Siggi Biellau ist an der Reihe, es ist gegen vier, er hat nicht lange gewartet, drei, vier Minuten, ist jetzt der einzige im Laden, der einzige Kunde, druckst herum, «na, was willst du, mein Süßer», sagt die Verkäuferin, sucht noch etwas im hinteren Raum, räumt Kartons auf, er verlangt Kuchen, wie immer auch Schokolade und heute eine Packung Zigarren, «was denn, verträgst du die», «aber ja», sagt Siggi Biellau, wie ein Sohn steht er vor ihr, wie ein Junge, sieht durch die Glasscheibe des Ladentisches, will noch etwas, überlegt, «noch einen Wunsch?» wird er gefragt, er druckst herum, ein Blitzen in den Augen der Verkäuferin, «ach so», sagt sie, «sag es doch gleich, haben wir doch da, meinst du das», und hält eine Packung Pariser hoch, <Sanex Gummiware>, in Anzeigen wird diskreter Versand zugesichert, nein, er schüttelt den Kopf, den jetzt recht roten Kopf, die meint er nicht, etwas anderes meint er, irgendwoher hat er es, daß Möglichkeiten bestehen... «Was denn», wird er gefragt, Siggi Biellau dreht sich um, keiner da, nur er, der kleine Funker vom Nachrichtenzug, den alle unterschätzen, Medizin will er studieren und wird er studieren, darauf kann jeder wetten, ein Herr Doktor wird er, der Mutter zur Freude, alle werden es sehen und grüßen, wenn er vorbeikommt ... Glaser ist gegangen, dem ist nicht zu trauen, tut freundlich, ist aber ein Scharfer, wird Berichte schreiben für die im ersten Stock, bekommen sowieso alles, Berichte und Vorzugsbehandlung, auch hier, die Frau vorhin, oh, lä, lä!, brauner Ledermantel, gut angezogen, duftende Haare, auch die aus der Kar-

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tenstelle und Bibliothek, die Krankenschwestern aus dem Med.-Punkt, eine hat ganz schwarze Haare, schlank, ein Gang, die sieht aus, Stabsfeldwebel Günter soll ihr Mann sein, oder gewesen sein, der ist in Ordnung, hat uns mal beim Tischdienst erwischt hinten in der Küche, tranken aus einer Schnapsflasche, er kam rein, «gebt mal was ab», das war alles, so einer, die Schwarze ist seine Frau, der Doktor aus dem Med.-Punkt, der immer zivil grüßt, ein feiner Kerl, sagen alle, soll auch fachlich was auf dem Kasten haben, «Tag», sagt er und hebt als erster die Hand ungelenk an den Mützenrand, abwesend, kann das nicht, ist Mediziner beim Militär, mit dem soll sie gehen, hat einer gehört oder gesehen... ich muß es jetzt sagen, denkt Siggi Biellau... also keiner im Laden, dann sage ich es, denkt er, die anderen aus der Stube haben ihn beauftragt, Leichsenring und Köpke, der Faltbeutel hängt an einem Nagel hinter dem Besenspind, an der Wand, da ist ein Abstand, findet keiner, hat noch nie jemand gesucht, da kommt das rein, nach dem Dienst, wenn man vom Funkraum kommt, nur Piepsen im Ohr, wie soll man da schlafen ohne was... frag mal, haben sie gesagt, dich kann sie leiden, du siehst harmlos aus, Alk mit dem Wäschetransport wird immer schwieriger, seit die Arschlöcher von Rudolstadt da sind, Müller und seine Typen, dazu noch alle möglichen Uffz-Schüler, alles Spione, frag mal leise im Laden, die hat was, ganz bestimmt, Offiziere bekommen was, haben wir gesehen, hundertprozentig... Und als Siggi Biellau keine Gummiware haben will, dafür etwas anderes, beugt er sich über den Ladentisch, «<Bayrisch-Kräuter>», sagt er, «wenn möglich, oder was anderes...» und flattert ganz

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schön, will auch «unauffällig vorgehen», sagt er, die Verkäuferin sieht ihn prüfend an, «ach so», sagt sie, «das». Vogtländisch sagt sie es, ein breites <a>, das wie ein <o> klingt, nicht ablehnend sagt sie es, eher vorsichtig, sie hat eine Stelle, einen Posten, einen guten Job, täglich die paar Stunden, Kaserne ist Kaserne, da muß sie schon aufpassen, freundlich ist sie zu den Zivilen, das ist Stasi, ganz besonders freundlich, vielleicht schicken die mal einen als Test, aber den Kleinen nicht, den nicht.. .Genossin wird sie auch sein, na und, aber was sagt das, verschieden ist das Leben, Männer, meine Fresse, hätte ich haben können, wollte mein eigener Herr sein, habe mich nicht unterbuttern lassen all die Jahre, eine schöne Stelle, fast wie Kommissionshandel, die Armee zahlt gut, feste Kunden, die einzige Verkaufsstelle im Gelände, guter Wareneingang, und der Kleine will was zu trinken, warum nicht, aber wenn sie ihn erwischen, was sagt er dann... Die Anweisung ist klar, kein Alkohol an Soldaten und Unteroffiziere, klar und eindeutig, ich habe unterschrieben, denkt die Verkäuferin, manchmal mache ich Ausnahmen, wenn ich jemanden länger kenne, ein alter Kunde, dann ja, aber das müssen schon Monate sein oder Jahre, der hier schwirrt bald ab, studiert bestimmt, ein reines Kind noch, aber nett, immer höflich, druckst rum, na gut, aber nicht heute, soll morgen nach Ladenschluß kommen. Verpacke ich selber, mache den Preis ab, ist dann nicht von mir, streite alles ab, bringe ich lieber in der eigenen Tasche mit, dann kann keine Inventur was beweisen, mich kontrollieren sie am Tor nicht, wäre ja das Neueste, und wenn, ist es für den Laden, was ich mithabe. 

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«Morgen», sagt sie, «nach fünf, wenn hier schon zu ist, hinten an der Tür zur Straße, bring einen Eimer mit, geh zum Müll, Zeitungspapier wegbringen, kommst vorbei, nur eine Ausnahme, ich war es nicht, ist das klar?» «Klar», sagt Siggi Biellau und ist erleichtert, stolz, freudig, er hat es geschafft, es klappt, die werden staunen. «Soll ich schon bezahlen?» fragt er. «Meinetwegen», sagt die Verkäuferin, «gib zwanzig Mark Anzahlung, ich verrechne den Rest beim Einkaufen, Kuchen, was, mein Süßer?» «Ja, Kuchen», sagt Siggi Biellau im Grenzregiment 15, im Herbst 1970, keiner darf vorn über den ganz großen Zaun, aber Siggi kommt hinten vorbei und holt was ab, das beruhigt abends, das macht fröhlich, da kann man abschalten und noch bißchen quatschen mit den anderen, wenn man nichts gegessen hat und zuviel nimmt, auch kotzen, na, die paar Schluck, meistens kommt noch jemand rein von gegenüber, der will dann auch was, riecht den Braten, Fenster auf, rauchen, sonst fällt es auf... «Und kein Wort, mein Süßer, ist das klar?» «Völlig klar», sagt der Soldat, «klaro», nein, lieber Bayrisch-Kräuter, Klarer ist zu wäßrig, hört sich auch besser an, und ist billig, die billigste Sorte von den großen Flaschen, n Mark 50, die spendier ich, habe sie auch besorgt, immerhin, auf die elegante Art, dazu gehört schon was, in der Kaserne, morgen um fünf mit einem Eimer, vielleicht noch verstecken, wenn es dunkel ist, später reinholen, mal sehen. Die Tür geht, Firle kommt herein, das Schwein vom Nachrichtenlager, guckt komisch, der kleine Soldat geht, die Verkäuferin bedient den neuen Kunden, «aber ja, selbstverständlich, ganz frisch...». Hundert Gramm Leberwurst will er und zwei Brötchen dazu.

Der Grundlagenvertrag unterschrieben. Was sind die Grundlagen? Diplomatische, politische, bilaterale. Deutsche? Bahr, Kohl, Unterhändler, Verhandlungs­führer, nüchtern, bieder, kenntnisreich. Etwas unheimlich, etwas hoffnungsvoll, etwas vergeblich. Der «kleine Mann auf der Straße>... sieht fern. Und läßt sich überraschen. Ich war bisher noch nicht im Fernsehraum. Kenne die Atmosphäre aus Johanngeorgenstadt und Plauen. <Umschalten> geht nicht. Hasse dieses stumme Sitzen, jeder <denkt sich seinen Teil>. Seelingstädt.

In Vietnam das Ende des Krieges in Sicht; wie fern alles ist. Ich verfolge die Zeitungsberichte, sind ziemlich zurückhaltend, über die Pariser Verhandlungen keine Informationen. Die Amerikaner wollen keinen Frieden, heißt es. Waffenstillstand? Bombenflüge, keine Seite will nachgeben. Eine wird gewinnen, die nordvietnamesische. Gefühl: Wenn es doch zu Ende wäre, egal wie. Vietnam hieß vor allem: Solibeiträge. Es geht um die nationale Selbstbestimmung. Und die eigene? Nicht nachfragen. Außerdem gibt es fertige Antworten. Alles ist bestens geregelt, die Schuld Hitlers und so weiter. Stimmt ja auch zum Teil. Halbheit, Ohnmacht, Ferne.

Natürlich ist es sehr wichtig, unbedingt notwendig, diesen Krieg zu beenden. Wer dort leidet und kämpft (oder stirbt), um den geht es. Wir sind im Paktsystem, ich trage Uniform... Manchmal gibt es solche Reden: «Solibeiträge nein, unten kämpfen ja. Sofort.» Ich weiß nicht, ob es ernst gemeint ist, Südamerika, Vietnam, Che Guevara... ein Hauch von <harter Realität>, von Fronten und Möglichkeiten der Bewährung...

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