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Die Neurose dauert an

Nachwort-1 von Edwin Kratschmer

 

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Die Zersetzung der Seele wird versucht, seit es Offenbarungsideologen gibt, fanatische Hüter einer EWIGEN WAHRHEIT. Man lese nur nach in der Bibel: Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele? (Matthäus 16, 26).

Da sorgten sich doch einige Hirten um das Seelenheil ihrer Herde, hielten sich für kompetent und befugt, im Namen einer Idee an den Herdenseelen herumzumanipulieren – aber der eigentliche Erkenntnisschlag traf mich vor Stephan Lochners Kölner Weltgerichtsaltar. Da öffnete sich mir schockartig die Mär vom Jüngsten Tag auch als fortdauernde Bedrohung des Menschen bis in alle Ewigkeit, indem eine Maiestas Domini, ein Über-Ich also, die Einhaltung der von ihm erlassenen Richtlinien kontrolliert und alle unangepaßten Seelen richtet. Glücksversprechen mit ewigen Paradiesesfreuden für die Gehorsamen, der Höllenrachen für DIE ANDEREN.

Wir kennen solche Visionen in der Skulptur und später im Bild seit dem fünften Jahrhundert: die Trennung der Schafe von den Böcken, das Wägen der Seelen - und Engel und Apostel assistieren der Maiestas beim Selektieren an der Rampe; die Auserwählten nach rechts in den Himmel, wo sie sich zu seligen Reigen formieren, die Verdammten nach links in die Öfen, wo die Höllenknechte schon geschäftig ihrer harren. Und dieses ideologische und ikonographische Programm empfing die Gläubigen an den Portalen der Kathedralen und auf Altären, und die bildenden Künstler vieler Jahrhunderte wurden nicht müde, diese Apokalyptik – je nach sadistischer oder masochistischer Veranlagung, ob Sunnyboy wie Rubens oder Neurotiker wie Bosch – detailliert auszuschmücken. 

Oder erinnern wir uns des Michelangelo in der Sixtinischen Kapelle: wie die Maiestas ihren wütenden Zorn unter die Sünder schleudert, worauf sich die Verdammten ganz von alleine formieren und ins Feuer marschieren. Ein »Auschwitz der Seelen« war also längst im Angst-Bewußtsein, bevor skrupellose Weltverbesserer ihre Gulags und Todesfabriken installierten, um alle Unerwünschten zu liquidieren. Doch am Ende sah ich Lochners Weltgericht Gott sei Dank auch so: Die Maiestas Ich sitzt zu Gericht über meine eigene Schuld.

Die Zersetzung der Seele: Ihretwegen wurden Kreuzzügler fanatisiert, auf Scheiterhaufen Ketzer »abgefackelt«, die Inquisition folterte in diesem Sinn, und die Exorzisten aller Zeiten begründeten damit ihre Wahnsinnstaten.

Wie geradezu harmlos buchhalterisch-bürokratisch nimmt sich dagegen zunächst eine Aktennotiz wie diese aus: »Die Zwischenbilanz [...] bestätigt den gegenwärtigen Stand des Kampfes um seine Seele [...] Allerdings sind weitere Gespräche nötig.« Da rang ein Oberstleutnant des Ministeriums für Staatssicherheit um meine Seele.

Nun sind Materialisten - und schon gar Marxisten - fürwahr keine Seelenfetischisten. Sie haben den Begriff Seele ganz und gar aus ihrer Lexik liquidiert, wie sie die gesamte bürgerliche Psychologie lange Zeit als Erbe ausgeschlagen haben. Die Seele ist einem Marxisten-Leninisten, was dem Teufel das Weihwasser. Einem Idealisten wie Platon mochte der Seelenkram ins Konzept passen, Materialisten sprachen indes vom Bewußtsein und lebten lieber mit einem Erkenntnisloch, wo »bürgerliche Seelenklempner« im Menschen ein vegetativ-sensitives Rumoren vermuteten. Allenfalls überließ man es den Psychiatern, von Seelenkrankheiten zu sprechen, aber eben von Krankheiten. Oder den Poeten mit ihren schwammigen Ideen: »Seele des Menschen, wie gleichst du dem Wasser« oder gar »Die Bekenntnisse einer schönen Seele«. Doch schon die Doppelseele des Faustmenschen war ihnen suspekt. Was braucht ein Mensch gar zwei Seelen, wo eine sich ewig mühende doch schon genügt? 

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Völlig indiskutabel war gar Storms Warnung: »Hüte deine Seele vor dem Karrieremachen!« Und seit Biermann den ZK-Inquisitoren des Glücks ins Stammbuch geschrieben hatte: »Ihr / zerrt die Seelen auf den Feuerpfahl. Ihr / flechtet die Sehnsucht auf das Rad. Ihr!«, war Seele vollends ein Verbum non gratum. Denn schon gar nicht konnte den Personenkultlern und Politbürokraten »Kampf um die Seele« bedeuten, was ein Jewtuschenko darunter verstand: »Kämpfen um die Seelen«, das heißt: »Scham injizieren, daß nie ein Duce werden kann, nie ein Führer!«

Und doch ist da ein Indiz für die heimliche Affinität der Stalinisten zum Seelenglauben: Stalins Forderung, daß sozialistisch-realistische Schriftsteller »Ingenieure der menschlichen Seele« zu sein hätten. Ausgerechnet Stalin ein Apologet der Seelenkunde? Hatte er nicht zuvor damit geprahlt, er habe sich »von Marx und Lenin das Gewissen herausschneiden lassen«? 

Also Stalin, die Maiestas mit dem amputierten Gewissen? Hatte nicht fast zeitgleich Hitler behauptet, das Gewissen sei »eine jüdische Erfindung« und seine Heilslehre bestehe vor allem darin, »die Menschen von den schmutzigen und erniedrigenden Selbstpeinigungen des Gewissens zu befreien« ? Und hatte nicht bereits ein Marx vorexerziert: »Was, was! Ich stech', stech' ohne Fehle / blutschwarz den Säbel in deine Seele.«

Gewiß, das geht semantisch etwas durcheinander: Seele – Bewußtsein – Gewissen. Das macht, weil diese Begriffe zumindest miteinander verschwägert sind. Die Seele: menschliches Lebens- und Wirkprinzip, Lebenshauch und -kraft, fiktiver Sitz des Denk- und Empfindungsvermögens, der Vernunft, Tummelplatz für Gut und Böse, Nistplatz für Liebe und Haß, für Kleinmut und Größe, Charakterbolzen, Schlachthaus der Phantasie. Das Bewußtsein: nach reiner marxistischer Lehre eine Kategorie der höchstorganisierten Materie, die Gesamtheit psychischer Regularien, die das Materielle mittels Widerspiegelung in Ideelles überführt. Ein Spiegel also, der freilich, sofern es sich um gesellschaftliches und Klassenbewußtsein handelt, erst »avant­gardistisch« zurechtgeschliffen werden muß. 

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Lenin: »Man setze nicht auf die Spontaneität der Arbeitermassen, sondern auf eine geheime Organisation streng auserlesener und sorgfältig geschulter >Berufsrevolutionäre<.« Womit wir bei der Tscheka wären. Und die Maßgabe von der Zersetzung der Seele kommt auch aus ihren Büros. Der Begriff Gewissen fehlt indes in allen marxistisch-leninistischen Nachschlagewerken. Allenfalls steht dort »Gewißheit«. Wie hätte man auch eine derart irrationale, alogische, intuitive Kategorie wie das Gewissen, die Kant mit »moralische Instanz in mir« und Heidegger gar mit »Ruf der Sorge« umschrieb, unter die Rubrik »Klassenbewußtsein« subsumieren sollen? Die Fähigkeiten zu Schuld und Scham fehlten in den Zehn Geboten der sozialistischen Moral. Da war Becher wenigstens ehrlich: »Ich kenne keine Menschen, ich kenne nur Klassenmenschen.« Steht solches Bekenntnis nicht ganz nah bei de Sades kategorischem Imperativ: »Verliere keine Zweifel an dir selbst«!? 

Wir kennen solche Seelenstählung auch aus anderen Zusammenhängen: »Hart wie Kruppstahl« und »Wie der Stahl gehärtet wurde«. Kampf um die Seele also als Abhärtungs- und Entseelungsprogramm. Der Kämpfer um die Seele ein besserwisserischer messianischer Offizier, der »ohne Fehle« zusticht, um seinen Rekruten von den »erniedrigenden Selbstpeinigungen des Gewissen« zu befreien. Eine Samaritertat also, auch wenn der Seelenrekrut dabei draufgeht, weil der inzwischen Seelenkämpfe ganz anderer Art in sich austrägt: Seelenkampf als Erschrecken vor sich selbst, vor seiner Verführbarkeit, seiner Feigheit, die martialische Erkenntnis von seiner infernalischen Seelenhölle. Wie komödiantisch leicht hatte es sich da Dante gemacht, als er die Hölle nur für seine Gegenspieler erdachte!

Wer nicht gerade mit Schuld-und-Schmerzblödheit gesegnet ist, weiß doch, in welche Körperkatastrophen man über Nacht hineingeraten kann: Ein Anruf, ein anonymer Brief – ein Sekretsystem stürzt in Panik, die Organprogramme kollabieren, und die Denkarbeit hebt ab in febrile Bereiche. Solche Erschütterungen können eine zerstörerischere Wirkung haben als ein Schlag ins Gesicht.  

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Derart ist Leben im Stahlnetz ein Leben unter existentieller Bedrohung, in dem Verfolgungs- und Vernichtungsgefühle extemporieren, mit denen sich der Bedrohte schließlich selber bedroht. Seelenterror ist daher ein kaum faßbarer Begriff. Er beginnt schleichend mit kaum wahrnehmbaren Sanktionen, Disziplinierungen, Demütigungen, Diffamierungen und führt über Angstnächte oft genug zur Zerstörung der Person. Das »vegetative Porträt« eines derart »Bearbeiteten« gleicht einer aufgerissenen Wunde:

G. U. verkraftet diese Drucksituation nicht. Getrieben von dem Wahn, die Stasi habe ihm Abhörgeräte implantiert, läßt er sich alle Zähne ziehen. Er verdächtigt jeden der Stasitäterschaft, auch seine Frau, zerschneidet Telefonleitungen, unternimmt zwei Selbstmordversuche, [...] irrt in der Dunkelheit umher. Er wird zum Wanderer auf der Suche nach König Salomo.1

Ein »Porträt« derer, die mit einer Mentalität geschlagen sind, die Schuld-, Mitleids- und Kritikfähigkeit einschließt.

Wie glücklich jene andere Mentalität, die sich all dem durch eine stoische Wahrnehmungssperre zu entziehen vermag, die den Seelenterror als »Normalität« oder gar als Banalität verkraften kann; die Mentalität derer also, denen Anpassung jederzeit möglich ist, der Anpassungsbegabten, denen laut Darwin ein Leben in relativer Sicherheit jederzeit sicher ist. Doch ob Hund oder Wolf: Man kann seine Hunde- oder Wolfsseele nicht aus sich herausheulen – zwei Mentalitäten, die sich nahezu ausschließen und die kaum in der Lage sind, füreinander Verständnis aufzubringen. 

Selbstherrliche und skrupellose Systeme domestizieren mittels Erziehung und Dressur die ihnen genehmen Mentalitäten auf primitive Weise, stylen sie zu Vorbildern, Funktionären und Repräsentanten, behängen sie mit Orden, während sie die ihnen nicht Genehmen selektieren und »therapieren«. Diese Selektion nach seelischer Brauchbarkeit bestimmt dann wiederum den Charakter des Gesamtsystems. So werden schließlich der angepaßte Mensch und das System zu einer Handlungseinheit. 

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Die Gemobbten werden indes mit Etiketten versehen: Defätist, Dissident, Provokateur, Staats-, Klassen-, Volksfeind, Schädling, Filou, Kanake, Kanalratte. Was für eine Genugtuung dann, sie mit pathologischem Befund in eine psychiatrische Anstalt einliefern zu können: zynische, realsozialistische Entsorgung von Outsidern.2)

Und wie viele seelische Lädierungen auf Lebenszeit: Die Scham darüber, mich so gedemütigt zu haben, wird nicht weichen. Nie mehr werde ich glaubhaft von Würde und Anständigkeit reden, nie mehr über andere urteilen können. Und immer werde ich [...] mir selbst gegenüber mißtrauisch sein.3)

Mancher, der zeitweilig kapitulierte und sich vorübergehend mit ihnen einließ, quält sich nun den »Rest« seines Lebens als »seelischer Krüppel«4) mit Selbstvorwürfen, und die Scham stranguliert ihm die Kehle: »Lieber Vater, trennte uns nicht seit sechs Jahren ein Ozean [...], legte ich Dir statt dieses Briefes meine Leiche vor die Tür.«5)  

Gottlob, Emotionen vergehen, Wut verraucht, Zorn verblaßt, doch durchlebte Ängste kriechen ins Unterbewußtsein. Kaum noch vorstellbar der Gefühlsstau, der mich vor 15 Jahren karg ins Tagebuch schreiben ließ:

»Telefonische Vorladung vor die >Behörden<. Nachts erwäge ich ein Skript: K., unbescholtener Bürger mit mehreren Diplomen und Auszeichnungen, wird eines Tages vor die >Behörde< zitiert. Beginn einer hochnotpeinlichen Selbstbefragung: Wes hast du dich schuldig gemacht? Doch das ist gar nicht die Frage, sondern: Wes kann man dich schuldig sprechen? Und du studierst nun das Strafgesetzbuch Paragraph für Paragraph. Ergebnis des Gerichtstags über dich selbst: In mindestens 14 Fällen kann man dich mit mehr oder weniger Mißgunst schuldig sprechen. Das macht zusammen 72 Jahre. [...] Es sei gestanden: um mein Leben schwimme ich. Und es kreisen die Haie. Immer wieder das Haifischmaul. Und kürzer wird mir schon der Atem. Und nur dank meiner Taktik, Tricks wie Psychologie, bin ich entkommen. Aber die Nacht fällt schon ins Meer, und dem Hai ist alles besser geraten. [...] - Als du nach 48 Stunden selbstquälerischen Selbstverhörs endlich die >Behörde< betrittst, ist dir klar, daß du in jedem

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Falle ein zu Recht zu Verurteilender bist. [...] Die >Behörde< - das Schlachthaus. Der Schalthebel ist schon besetzt. Computer lenken das Schlachtvieh zur Schlachtschüssel. War das Schwein ein Mensch, es rechnete noch jetzt mit dem Störfaktor, der die Maschine zum Stillstand bringt für eine Stunde oder zwei auf seinem Weg zur Schlachtbank. [...]«

 

Oder ein paar Tage später: »Die Netze sind gehängt nach den Theorien der Ornithologen. Die Ringe liegen bereit. Auf Horchposten die Lauerer. Die Registratur erwartet deinen Vogelflug.« Und dann: »Da die Vogelnester schon zerstört sind und die Eier faulen in der Sonne, vermeß ich den endlosen Weg ins Schneckenhaus der Autenriethschen Klinik, die ich über den Kopf mir stülp, in die ich mich reinzwang, und nur der schwarze Wecker tickt und nimmt mich in die Schere seiner goldnen Zeiger, und nebenan im FKK tummeln sich die Narzissen und fächeln sich mit frivolen Gebärden Heißlust zu, während ND indes vermeldet: Bartholomäusnacht keine.«

Ein paar Wochen darauf: »>Vorführungen< – anstrengende Stunden des sich gegenseitigen Erfassens, Belauerns, Durchgrübelns, Dechiffrierens, des Auf-den-Leib-Rückens, Entlarvens, Erratens der Absichten des Mannes dort im Gegenlicht, der Allwissenheit herstellen will, Einschüchterung, Paranoia auslösen; jedes Wort auf der Goldwaage. Schließlich jenes Be-Denken, das sich selbst untergräbt. [...] Dann, nach fünf Vorführungen, endlich Klärung der Verhörsituation: Man will dich gewinnen, Lockung mit Professur, mit Offiziersdienstgrad, mit Zusatzgehalt, mit uneingeschränkten West->Gängen< (besonders zur Kontaktaufnahme mit der Westberliner >Fuchs-Bande<6). Nach der Peitsche nun das Zuckerbrot. [...]«

Eben die Zersetzung der Seele. Dreißig Silberlinge für den Achtgroschenjungen. Im Tagebuch: »Nun sind die Hunde im Zwinger. Die Treiber trinken Bier. Aber Argus legt Zeichen aus im Revier, prüft seinen Plan, fettet den Lauf. Der Finger spielt am Abzugshahn.«

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Und am gleichen Tag protokolliert ein Oberstleutnant Müller als Zwischenbilanz der Zersetzung meiner Seele eben jenen noch recht zuversichtlichen Satz in die Akte, daß »allerdings noch weitere Gespräche nötig« seien. – Und in diesen Tagen der »Bearbeitung« (heute weiß ich, daß das »Bearbeitungen« waren), zerknirscht, verloren, solche Sätze im Tagebuch: »Ich, Hämling, verschnitten, verlacht. Sie haben mir gefiltert ins Hirn die Lauheit, tätowiert in den Blick die Fadheit, punktiert ins Gemächt das Unvermögen. Die Frucht wird schlecht vor der Zeit. [...] Eine Zeit verzweifelten Taktierens, Paktierens, während sich die Hände in den Hosentaschen zu Fäusten verkrampften, verkrallten und nachts die Zähne knirschten:

Und ich lieg und lausch und hör im Äther Hiob heulen, und um das kleine Bettgeviert wachsen höher die Mauern. [...] Wenn da dann in den verknoteten Nächten im Bett nebenan nicht der warme Atem dieses anderen gewesen wäre, der von Anfang an mitgetragen hat an den Sieben Lasten, die Möglichkeit einer permanenten Konspiration und >Dekonspiration<.«

So wurde ein Tag des Ausstiegs möglich, um nicht länger erpreßbar zu sein: Kappen der Fangleine – Austritt aus dem Schuldienst, Verweigerung der Staatsdienerschaft – und vogelfreier Fall aus allen Privilegien. Drei Tage später resignierte der Führungsoffizier in die Akte: »Keine Bereitschaft zur Zusammenarbeit«. Im Tagebuch ein kurzes Aufatmen: »Ich gerettet wie durch ein Wunder. Sorgfältig etikettiert mein Leben an diesem Ort. Meine Flüche flattern davon mit dem Wind. Die Lage ist wieder ruhig. Das Kopplungsmanöver mißglückt, Lenin tot.«

Ein Tagebuch voll von Sklavensprache. Bis in manche Intimzeile hinein Maskerade, Selbstzensur, abgesichertes Sprechen: Wie sage ich was? Wie tarne, verstecke ich mich? Die Schere im Kopf: Selbstüberwachung, Selbstbespitzelung, Selbst­verstümmelung. Das Hofmeister-Syndrom (nach Büchners Rollenvorgabe): Lieber Selbstkastration als in ein Out verdammt. Erich Loest verniedlicht arg, wenn er nur von einem »kleinen grünen Männchen im Ohr« spricht. 

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Sarah Kirsch ist überzeugender: Immer / Sind wir allein, wenn wir den Königen schreiben / Denen des Herzens und jenen / Des Staats. Und noch / Erschrickt unser Herz / Wenn auf der anderen Seite des Hauses / Ein Wagen zu hören ist.7)  

 

Nun trag ich erneut Sorge: Ist ein derartiger Bericht nicht schon wieder ein larmoyanter Krankenbericht? Oder gar die verkappte Schurkenbeichte eines sich Wendenden, sich Windenden? Vielleicht ist da nur ein Anti-Held voll in die Widersprüche seiner Zeit geraten, und er kann nun nicht anders, als derart auf das zu reagieren, was ihm passiert ist. Ist da überhaupt etwas von Dritten Wahrnehmbares gewesen? Am Ende war es gar nichts Außergewöhnliches. Jede Zeit erzeugt unter Prädestinierten ihre spezifischen Neurosen. Doch unter Umständen bedeutet rückhaltlose Seelenentrümpelung die einzige Rettung. Auch vor einer Rückkehr in eine ähnliche Zukunft. Ihretwegen müssen wir uns gestehen: Wir waren in überwältigender Mehrheit mehr oder weniger Komplizen des Systems. Allenfalls waren wir suspekte, subversive Kollaborateure, beargwöhnte und observierte Mitläufer oder -täter. Aber eben dennoch Komplizen. 

Wir müssen diesen Enthüllungsschock aushalten:

ACH WIR, alles schon vergessen: Hingabe an Partei und Staat Die Partei hat immer recht Wo ein Genosse ist, da ist die Partei Einheitsfront Erzieherfront Erziehungslager Großkampftag Ehrendienst Verdienstorden Karriere. ACH WAS Akten Dossiers Liquidationslisten Todesschüsse Maueropfer Menschenhandel Bautzen. WAS SOLLS: Was sollten wir denn tun Die anderen haben doch auch Es hat doch auch Gutes gegeben Geheimdienste gibt es doch überall Man muß doch auch vergessen können Die Sache selber war doch gar nicht so schlecht Und nachts auf den Straßen war man sicherer Und wir hatten unsere Arbeit. ACH WIR Dulder Duckmäuser Parteigänger Liniendenker Kostgänger Befehlsempfänger Schönfärber Schönschreib­künstler Speichellecker Hätschelkinder Erfüllungsgehilfen Wiederkäuer Radfahrer Trittbrettfahrer Drahtseilkünstler Hofdiener Postenjäger Machtverehrer Hirnverhehrer Geschichtsklitterer Wahrheitsverdreher Feindbildpfleger: ACH WIR Weißwäscher. ACH WIR Ungeheuer.

 

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Anmerkungen

1  Scheer, U.: Der Greizer Lyriker Günter Ullmann, in: Stasisachen 4, London 1993. S. 28.
2  Siehe unter anderem das Schicksal der Lyriker Siegmar Faust, Andreas Reimann, Jürgen Rennert, Günter Ullmann, Bernd Wagner.
3  de Bruyn, G.: in: Stasisachen 4, a.a.O., S. 65 f.
4  Eckart, G.: in Stasisachen 4, a.a.O., S. 25.
5  Ebenda, S.19.
6  Stasi-Jargon für aus der DDR geexte Autoren, die in West-Berlin von Jürgen Fuchs (1977 aus der Stasi-Haft nach West-Berlin abgeschoben) unterstützt wurden.
7  Kirsch, S.: Rückenwind. Gedichte. Berlin/Weimar 1976, S. 31.

 


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