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Klaus Behnke, Jürgen Fuchs (Herausgeber)Zersetzung der SeelePsychologie und Psychiatrie im Dienste der Stasi
1995 im Rotbuch Verlag, Hamburg 2010 EVA 2013 CEP Europäische Verlagsanstalt Hamburg |
1995 347 Seiten detopia |
Überall auf der Welt setzen Diktaturen und ihre Geheimdienste Sozialtechniken und psychologisches Wissen gegen politische Gegner ein. Mit Hilfe der psychologischen Kriegsführung im Innern, deren Repertoire auch Zwangseinweisung von Andersdenkenden in psychiatrische Kliniken umfasst, soll der Kampf um die Seele gewonnen werden. Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) der DDR bildet da keine Ausnahme. Die 'Operative Psychologie' der Stasi unterlag strikter Geheimhaltung und diente eindeutigen politischen Zwecken: Eignungs- und Leistungsdiagnostik für Leistungskader und IMs, Überwachung der politischen Zuverlässigkeit und Motivation von Mitarbeitern, Einschätzung von bespitzelten Personen und ihres sozialen Umfeldes, verbesserte Schulungs- und Vernehmungstechniken. Mit Hilfe der 'Operativen Psychologie' betrieb das MfS sowohl die gezielte Anwerbung und 'Stabilisierung' von Mitarbeitern als auch die systematische 'Zersetzung' der Opposition. (Ein Verlagstext)
Inhalt Vorwort (8)
Lektorat: Frauke Hamann
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Teil I: Die »Operative Psychologie« und ihre Anwendung
Teil II: Psychotherapie und Psychiatrie im totalitären Staat
Nachworte: Kratschmer: Die Neurose dauert an (318) Maaz: Affekt gegen die Wahrheit (328) Verzeichnis der Abkürzungen (340) Autorenverzeichnis (342) |
Klappentext:
Diese Buch bringt Licht in ein bisher weithin unbekanntes Kapitel der Stasi-Debatte. Es belegt den Mißbrauch von Psychologie, Psychotherapie und Psychiatrie in der DDR und zeigt, wie das Ministerium für Staatssicherheit Menschen verunsicherte und Persönlichkeiten zerstörte.
Überall auf der Welt setzen Diktaturen und ihre Geheimdienste Sozialtechniken und psychologisches Wissen gegen politische Gegner ein. Die Terrorregime Stalins und der Nazis haben den systematischen Mißbrauch von Medizin, Psychiatrie und Psychologie als erste vorexerziert. Mit Hilfe der psychologischen Kriegsführung im Innern, deren Repertoire auch die Zwangseinweisung von Andersdenkenden in psychiatrische Kliniken umfaßt, soll der Kampf um die Seele gewonnen werden.
Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) der DDR bildete da keine Ausnahme und nahm Ärzte, Psychologen, Psychotherapeuten und Krankenhauspersonal für seine Zwecke in Dienst. Ende der sechziger Jahre, als im Westen die behavioristische Psychologie ihre Blütezeit hatte, begann die Stasi damit, deren Nutzen zu prüfen. Man wollte von den Erkenntnissen des Klassenfeinds profitieren.
Die »Operative Psychologie« der Stasi unterlag strikter Geheimhaltung und diente eindeutigen politischen Zwecken: Eignungs- und Leistungsdiagnostik für Leitungskader und IMs, Überwachung der politischen Zuverlässigkeit und Motivation von Mitarbeitern, Einschätzung von bespitzelten Personen und ihres sozialen Umfeldes, verbesserte Schulungs- und Vernehmungstechniken. Mit Hilfe der »Operativen Psychologie« betrieb das MfS sowohl die gezielte Anwerbung und »Stabilisierung« von Mitarbeitern als auch die systematische »Zersetzung« von Opposition.
KLAUS BEHNKE, geboren 1950 in Teltow (DDR), studierte an der Berliner Humboldt-Universität Psychologie, bis seine Immatrikulation wegen Angriffen gegen die SED widerrufen wurde. Nach dem Theologiestudium 1977 Ausreise nach West-Berlin und Einreiseverbot bis 1989. Lebt heute als Psychotherapeut in freier Praxis in Berlin.
JÜRGEN FUCHS, geboren 1950 in Reichenbach (DDR), studierte von 1971 bis 1975 in Jena Psychologie. Seit 1971 literarische Veröffentlichungen, befreundet mit Wolf Biermann, Robert Havemann und Reiner Kunze. Deswegen zunehmende Probleme mit Partei und Staatssicherheit. 1975 Lese- und Publikationsverbot in der gesamten DDR, 1976 politische Haft. Im August 1977 Abschiebung nach West-Berlin und Ausbürgerung, bis 1989 Einreiseverbot in sämtliche Ostblockländer. Seit 1977 Veröffentlichung von Prosa, Gedichten und Essays (bei Rowohlt); Mitglied des bundesdeutschen PEN.
Vorwort von Behnke und Fuchs
8-10
Das Ministerium für Staatssicherheit der DDR verwendete für den Mißbrauch eines ganzen Fachgebietes den feststehenden Begriff »Operative Psychologie«. An DDR-Universitäten ausgebildete Psychologen schulten Stasi-Mitarbeiter in dieser Disziplin. Die »Operative Psychologie« diente dazu, Mitarbeiter anzuwerben, sie »im Dienst« zu stabilisieren und vor allem die Aktivitäten von Oppositionellen zu untergraben. Sie zielte auf eine Verunsicherung von Menschen und die Zerstörung von Persönlichkeiten, in den MfS-Richtlinien als »Zersetzung« definiert.
»Zerschlagung und umgehende Liquidierung von feindlich-negativen Personenzusammenschlüssen«, das war die Sprache des MfS, es gab eine entsprechende Praxis dazu. Betroffene berichteten darüber umfangreich – vor allem nach der Akteneinsicht, ohne jedoch die Vorsätzlichkeit und geheimdienstliche Methodik der Verantwortlichen lückenlos nachweisen zu können. Außerdem wurden viele Unterlagen bis Ende 1989 vernichtet.
Die »Operative Psychologie« sollte einem totalitären Staat die »Zersetzung der Seelen« ermöglichen. Dies konnte nur gelingen, wenn Methoden der Sozialpsychologie und der Klinischen Psychologie gegen Andersdenkende eingesetzt wurden. Der Einsatz von Sozialtechniken und psychologischem Wissen gegen politische Gegner, das hat Amnesty International immer wieder deutlich gemacht, ist ein weltweites Diktatur- und Geheimdienstphänomen. Auch aus diesem Grunde widmen wir uns dem Thema.
Im NS-Regime sind Medizin, Psychiatrie und Psychologie grauenvoll gegen Menschen eingesetzt worden. Doch gibt es auch für die Zeit nach 1945 Hinweise, die einen Mißbrauch dieser Disziplinen zeigen. Zwar lassen sich vierzig Jahre DDR mit dem Zivilisationsbruch der NS-Zeit keineswegs gleichsetzen, doch ist zu fragen, ob es ähnliche Mechanismen gab, die es aufzudecken gilt, will man zum einen den Opfern beistehen und ihr Leid mildern und zum anderen für die Zukunft daraus lernen. Der Mißbrauch der Psychiatrie in der ehemaligen Sowjetunion und das millionenfache Leid, das Sterben in den Lagern, auch das In-Angst-Halten der Bevölkerung, sind ebenfalls ein äußerst starkes Motiv, nach den Fakten im eigenen sozialen Bereich zu fragen.
Nach 1945 haben sich Ärzte, Psychologen und ein Teil der Pfarrer der christlichen Kirchen schwergetan, ihre Schuld anzunehmen. Eine »Aufarbeitung der Vergangenheit« (so mechanisch-unscharf bis ablenkend die Verwendung dieses Adorno-Begriffes heute auch ist) wurde häufig verdrängt oder abgelehnt. Die Reaktionen auf die Veröffentlichungen von Alexander und Margarete Mitscherlich zeigen dies deutlich. Es dauerte Jahrzehnte, ehe in der deutschen Fachöffentlichkeit eine ernsthafte Auseinandersetzung begann. Erst 1989 räumte z.B. die deutsche Ärzteschaft ihre Verstrickungen offiziell ein.
Nach dem Zusammenbruch der repressiven DDR-Strukturen, an dem auch – ähnlich wie in anderen mittel- und osteuropäischen Ländern – die demokratischen Oppositionsgruppen einen Anteil haben, soll nicht noch einmal so lange Zeit vergehen.
Dieses Buch möchte den Impuls der Bürgerbewegungen aufnehmen, sich der Vergangenheit jetzt zu stellen. Ein Kongreß zum gleichen Thema Ende 1993, durchgeführt in der ehemaligen Stasi-Zentrale in Berlin-Lichtenberg, zeigte die große Aktualität und das enorme Interesse – auch international – an dieser Problematik. Aus unserer Sicht ist eine breite und fortdauernde öffentliche Diskussion wie eine fachspezifische Untersuchung der psychologischen Mechanismen erforderlich.
In der DDR unterlag die »Operative Psychologie« strikter Geheimhaltung. Nur die Opfer und die mit »Zersetzungsmaßnahmen« Konfrontierten spürten die zerstörerische Kraft des mißbrauchten Wissens.
Um den aktuellen Verleugnungen und Beschwichtigungen, z.B. Äußerungen des MfS-Offiziers und Diplom-Psychologen Girke in Psychologie heute (Heft 9/94) von Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen entgegenzuwirken, sollen die Beiträge dieses Buches als inhaltliche Information, fachliche Bewertung und persönliche Stellungnahme bzw. Schilderung verstanden werden.
Zersetzung der Seele stellt sich auch dem »Affekt gegen die Wahrheit«, der häufig anzutreffen ist. Ernst Klee, der Nazi-Verbrechen und Psychiatrie-Mißbrauch in Ost und West aufdeckt, sagte kürzlich in einem Interview:
»Ich dachte, die Verantwortlichen wären erschüttert, welche Fakten und Schicksale von Menschen ich mitteile. Dabei war dann meist bei den Oberen die einzige Sorge: >Wie kam der Klee an die Akten ran<.«
Auch wir können von solchen Reaktionen berichten. Sie reichen von der relativierenden Nachfrage bis zur zynischen und drohenden Stellungnahme. Swetlana Alexijewitsch, die das Buch Zinkjungen über den Afghanistan-Krieg schrieb und von der auch der Begriff »Affekt gegen die Wahrheit« stammt, schreibt in einer Analyse über Selbstmörder im heutigen Rußland:
»Was, außer der Wahrheit, kann uns die Lust an der Sklaverei nehmen? Eine unserer Selbsttäuschungen, denn wir sind gewohnt, mit schönen Ideen umzugehen und nicht mit der Realität. Im Leben bin ich auf etwas anderes gestoßen: Für viele von uns ist selbst der Tod zuweilen nicht so unerbittlich wie die Wahrheit. Wir sind von der Luft der Selbstzerstörung vergiftet«.
Oder von den Folgen der deutschen Geschichte, auch von »Zersetzungsmaßnahmen« eines »staatlichen Organs«, könnte man hinzufügen. Ralf Giordano schrieb kürzlich:
»Mir kommt das alles urbekannt vor aus der Zeit nach 1945. Keiner war Nazi, niemand Denunziant, jeder Widerstandskämpfer. Nein, ich werfe die Scheußlichkeit des realexistierenden Sozialismus nicht in einen Geschichtstopf mit dem singulären Holocaust- und Auschwitz-Staat der Nazis. Aber ich stelle un-überrascht fest, daß die Internationale der Verdränger überall das gleiche entstellte Antlitz zeigt: statt zu gestehen, verteidigt sie sich.
Das Gesetz daraus heißt unweigerlich: Lüge! Also möchte man ihnen zurufen: Erlöst nicht nur Eure Opfer, sondern vor allem Euch selbst, mit der Wahrheit. Aber natürlich, es wäre zu schön, um wahr zu sein, wenn diese Regel befolgt werden würde. Dennoch gilt auch für die stalinistische Fraktion der deutschen Verdränger: die Wahrheit, ihre Wahrheit, kommt an den Tag, es ist nur eine Frage der Zeit. Ich spüre keine Sekunde Zweifel, auf wessen Seite ich bei dieser zum Glück öffentlichen Auseinandersetzung stehe. Sie ist exemplarisch und wird uns noch lange begleiten – die Verdränger sind hartnäckig.«
Die Zersetzung der Seele ist ein Beitrag zur Wahrheitsfindung:
Welche psychologischen Methoden haben die Mitarbeiter und IMs (Inoffiziellen Mitarbeiter) der Stasi angewandt und ausgenutzt?
Welche auch durch andere Geheimdienste mißbrauchten Sozialtechniken übernahm das MfS?
Welche persönlichen, seelischen, psychosozialen Folgen hatte die Anwendung der »Operativen Psychologie« für den einzelnen Menschen und die Gesellschaft?
Gibt es Möglichkeiten, traumatische Erlebnisse von Druckanwendung und psychischer Folter zu erkennen, zu überwinden, zu integrieren in einen biografischen und sozialpolitischen Sinnzusammenhang?
Wie wurden Mitarbeiter gewonnen und ausgebildet?
Welcher Strukturen in Persönlichkeit und Umfeld bedurfte und bedarf es, um zu widerstehen?
Welche Auswirkungen hatte die Diktatur auf die Berufsethik von Ärzten und Psychologen in der Zerreißprobe von Kollaboration und Widerstehen?
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Klaus Behnke, Jürgen Fuchs
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