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Einmal im Leben Prophet sein!

Wolf Biermann zur Verleihung des Nationalpreises in Berlin

Die Rede Wolf Biermanns vom 17. Mai 1998 wurde leicht gekürzt.
Berliner Zeitung vom 23. Mai 1998

 

Für so viel Ehre – Damen und Herrn, danke! Für solch einen Batzen Geld und zudem steuerfrei – danke! danke! Und das alles als Lohn für zwei Pfund Bürgertugend und ein Säckchen deutschdeutsche Vaterlandsliebe und für das bißchen Drachentöterei in der DDR. Dabei habe ich damals den Drachen nicht einmal getötet mit meinen Liedern, hab ihn allerdings bis aufs Blut gereizt, so daß er womöglich noch blindwütiger in sein unaufhaltsames Verderben trampelte.

Als vor neun Jahren die Mauer fiel, freute ich mich, und ich verachte die Ostalgiker, die der guten alten schlechten Zeit nachtrauern, ich halte sie für Heuchler und Plattköpfe. Political incorrect war ich im Streit um die Wiedervereinigung vielleicht, aber feige nicht. Immerhin verpaßte ich meinen haßgeliebten Schlechterossis in der Nachwendezeit ein paar lästige Wahrheiten, während allerhand Besserwessis ihnen das Blaue vom Himmel herunter versprachen. Armes reiches Deutschland! Was sind das für Zeiten, in denen für ein bißchen Zivilcourage schon Preise ausgesetzt werden müssen. Aber ich werde den Teufel tun und mich beklagen. Ein bißchen Wind unter die Flügel hilft dem preußischen Ikarus immer.

Die Ballade vom preußischen Ikarus schrieb ich kurz vor der Ausbürgerung, also noch in der Chausseestraße 131, Ostberlin. Das ist nun 22 Jahre her. Ja, damals hatte ich Angst, daß ich abstürzen muß wie einst der Ikarus, bloß ahnte ich nicht, konnte damals ja nicht wissen, ob ich nach außen über die Mauer fliege und dann abstürze in den Westen, oder ob die verdorbenen Greise im Politbüro mich nach tiefer innen in das Gefängnis fliegen lassen und abstürzen in einer Kellerzelle im VEB Knast Bautzen oder Cottbus oder Brandenburg.

Ja, das ist eine Genugtuung: Meine treuen Feinde in der Nomenklatura der DDR sind endlich auch gestürzt, aber sie sind ja dabei elegant gelandet, denn sie haben ihre stalinistischen Privilegien von gestern und ihren Raub aus Jahrzehnten in bürgerlichen Besitz verwandelt. Ja ja! und heute die Verleihung des Nationalpreises 1998 an mich ist in ihren rachsüchtigen Augen gewiß auch wieder eine Art Absturz, freilich die Version eines Sturzes, den sie mir neiden.

Gehe nie zu Deinem Fürscht
Wenn Du nicht gerufen würscht

– stammt diese reimgeknüttelte Faust-Regel etwa vom Geheimrat Goethe am Hofe Weimar beim Herzog Carl-August? Ich jedenfalls wurde bisher nur ein einziges Mal von einem meiner wechselnden Landesfürsten gerufen, und natürlich bin ich dann auch respektös zu Hofe gegangen. Nein, nicht zum Ulbricht, noch zum Honecker, geschweige denn zum Kohl. Im vorigen Jahr lud der Bundeskanzler a.D. Helmut Schmidt mich vor, zu einem Gespräch in sein Büro im Hamburger Redaktionsgebäude der Wochenzeitung DIE ZEIT, will sagen: er lud mich ein. Er wollte, soviel war mir schon angedroht worden, meinen Rat. Er wolle ausgerechnet mit mir über die Quadratur des politischen Kreises plaudern, also über Probleme der Widervereinigung nach der Wiedervereinigung. 

Siedendheiß fiel mir ein, daß ich meinen ehemaligen Bundeskanzler in zwei linksalternaiven Liedern während der Wahlkampfzeit 1980 angegriffen hatte. Hatte er es vergessen? übersehen? großherzig verwunden? Überhaupt war ich verblüfft darüber, daß diesen welterfahrenen und machtgewohnten Hanseaten ausgerechnet meine Meinung in dem endlosen Streit um die Einheit unseres Vaterlandes interessieren könnte.

Heute ahne ich, was Helmut Schmidt im Januar 1997 von mir wirklich wollte: gewiß keinen Rat. Er hatte mir offenbar nur mal auf den deutsch-deutschen Zahn fühlen wollen, wollte sich vergewissern, ob ich als Kandidat für einen Preis tauge, den er vor kurzem, zusammen mit einigen gleichgesinnten Citoyens, also quer durch alle demokratischen Parteien, inauguriert hatte: Den Nationalpreis der Deutschen Nationalstiftung.

Vielleicht kannte der a.-D.-Kanzler ja sogar das eine oder andere Lied von mir, und wußte daher ganz gut, wie weh mir seit immer die verfluchte Zweiteilung unseres Vaterlandes tat.

Wenn ein gelernter DDR-Bürger das Wort "Nationalpreis" hört, muß er böse grinsen, denn er denkt mit Schaudern an das alljährlich ausgeschüttete Füllhorn von über hundert Nationalpreisen Erster, Zweiter und Dritter Klasse, mit denen die Partei- und Staatsführung der DDR vorzüglich affirmative Künstler und staatstreue Wissenschaftler und vorzeigbare Aktivisten der sozialistischen Arbeit des "Ersten Arbeiter- und Bauernstaates auf deutschem Boden" belohnte, um sie zu motivieren und zu korrumpieren, das heißt: sie an der Kandare immer neuer Privilegien zu halten. Der Stempel NPT – also: "National-Preis-Träger" wurde dann – so wie sonst ein Doktortitel vorne – dem bürgerlichen Namen hinten angehängt. Selbst an meinen Freunden Jurek Becker, NPT und Manfred Krug, NPT und Jürgen Böttcher, NPT und Frank Beyer, NPT ging dieser Kelch nicht vorüber, woran man immerhin sieht, daß auch erlesenen Vertretern einer moderaten Insubordination dieser staatliche Stempel eingebrannt wurde.

Es sei daran erinnert, daß ausgerechnet die stalinistischen Antifaschisten der DDR-Führung sich das in Deutschland doppelt heikle Wort "National …" krallten, um es nicht dem amerikanisierten Klassenfeind in Westdeutschland zu überlassen. So hatten wir in unserem pseudopreußischen Sozialismus eine "Nationale Volksarmee", die ihrem Namen alle falsche Ehre machte. Nicht aus Versehen waren die Uniformen nach dem Muster der Nazi-Wehrmacht geschneidert, und nicht aus Jux und Tollerei schmissen die Soldaten und Offiziere des Wachbataillons "Felix Dzierzynski" im Parademarsch Unter den Linden die Beine vom Arsch, als würden sie "Heil Hitler!" brüllen. Das war zynisches Kalkül. Der Staat DDR sollte im offiziellen Sprachgebrauch zuletzt sogar eine eigene deutsche Nation geworden sein. NDPD – National-Demokratische Partei Deutschlands. In der "Nationalen Front" waren die Blockparteien als Blockflöten gebündelt. Im "Nationalen Aufbauwerk" der DDR wurde der leninsche Subbotnik verulbrichtet.

Ach und seit das Absingen der offiziellen Nationalhymne "Auferstanden aus Ruinen" in der DDR verboten worden war, weil die Herrschenden diese eine Johannes-R.-Becher-Zeile nicht mehr ertragen konnten: "Deutschland einig Vaterland …" war mir das ein giftiger Trost. Ich dachte mir in den langen Jahren des Verbots, wenn ich in meiner Bude in Berlin-Mitte immer nur ein paar Freunden meine Lieder sang:
Is doch nicht so schlimm, immerhin bin ich in einem Land verboten, das sogar den Text seiner eigenen Nationalhymne verboten hat und sie deshalb nur noch von Militärblaskapellen wortlos niederschmettern läßt. …

Ich gehöre nicht zu den Propheten, die wußten, daß die Mauer fällt. Im Gegenteil: ich rechnete immer damit, daß die DDR länger hält als ich, und bin so froh, daß ich mich da gründlich geirrt habe. Als Prophet tauge ich wirklich nichts und hätte in diesem Job nicht mal das Salz für die Suppe verdient. Dennoch bin ich ein einziges Mal, freilich in einer Nebensache, doch zum Propheten geworden, und das verdanke ich Helmut Schmidt und seiner Nationalpreis-Bande: Im Winter 1965, als das 11. Plenum des ZK der SED über die Kulturschaffenden unseres halben Landes hereinbrach wie ein kleingeistiger Weltuntergang, das klingt übertrieben und ist wahr. Die gesamte Jahresproduktion der DEFA – die neuen Filme wurden damals verboten, alle! – und das ist doch relativ viel. Und ich wurde zusammen mit meinen Freunden Robert Havemann und Stefan Heym an den Pranger gestellt. Freund Heym reagierte darauf, indem er sofort den Kontakt zu seinem alten und engsten Freund Robert abbrach. Das war ja im Dezember. Und so rief Stefan seinen Busenfreund an, wohl wissend, daß die Stasi alle unsere Telefone abhört und sagte: "Robert, ich möchte von jetzt ab nicht mehr von Dir besucht werden, auch nicht unter dem Vorwand eines Weihnachtsgeschenkes …" Das war das schäbige Ende einer tiefen Freundschaft. Natürlich hatte Freund Heym in dieser hysterischen Situation Furcht vor Repressalien, und die Ängste waren ja auch begründet.

Und lassen Sie mich anmerken: Stefan Heym war oft genug tapferer als die meisten Schriftsteller der DDR. Und natürlich hatte er das fundamentale Menschenrecht, auch feige zu sein. Wer nie Angst hat, ist zudem ein idiotisches Monster. Und – was Wunder! – hatte auch ich oft genug Angst. Die Frage ist nur immer wieder: wer hat wen! Habe ich die Angst oder hat sie mich. Aber sogar das sollte ein Menschenrecht sein, daß man manchmal auch besessen wird von der Angst und sogar überwältigt. Aber schändlich und zudem langweilig finde ich es, wenn man sich dann im nachhinein in einen chronisch wasserdichten Helden umlügt.

Ich jedenfalls war damals blutjung und rotzfrech und ganz schön blind. Ja, ich war wunderbar geschützt auch durch meine Unwissenheit. Wenn wir rebellischen Menschen immer genau wüßten, was uns droht und was uns blüht, würden wir vor lauter Vernunft und Vorsicht heute noch auf den Bäumen sitzen. O gute Dummheit der Helden im Geschichtsprozeß! Genauers dazu können Sie bei Hegel nachlesen.

In meinem Übermut reagierte ich auf das Totalverbot mit einem neuen Lied, "Populärballade". – Nun können Sie gleich hören, warum ich und was für ein toller Prophet ich wenigstens einmal im Leben war:

Verdammt, es kotzt mich trotzdem an
Es reizt mich nicht die Bohne
Wenn mir der deutsche Gartenzwerg
Verleiht die Dornenkrone

Wenn ihr mich wirklich schaffen wollt
Ihr Herren hoch da droben
Dann müßt Ihr mich ganz öffentlich
Nur loben! loben!! loben!!!

Ihr seid ja so im Volk beliebt:
Ein Kuß von Eurem Munde
Macht den Geküßten todeskrank
– So küßt mich doch, ihr Hunde!

Küßt mich! Bestecht mich! Liebt mich heiß!
Greift tief in Eure Tasche
Gebt mir den Nationalpreis und
– versteht sich: Erster Klasse!

Ich werd die hunderttausend Emm
Verfressen und versaufen
Ein Haus mit Kuh am Waldesrand
Werd ich vom Rest mir kaufen

Die Milch von Eurer Denkungsart
Melk ich in AUFBAU-Bände
Ich pflück Euch Blumen, sing dabei
Ein Lied auf Mutterns Hände

Dann zieht in mich die Weisheit ein
Die Stirn wird licht und lichter
Ich sing im Chor und werde ein
Kaisers-Geburtstags-Dichter
Dann blas ich Euch zu Riesen auf
Hoch oben auf dem Berge
Wenn Ihr mich wirklich schaffen wollt
Dann nennt mich groß, ihr Zwerge!

Über mich wurde genug geredet, und die Lieder sprechen für sich. Also lassen Sie mich ein paar Worte zu meinen beiden Freunden sagen, denen ich heute die zweimal 25 tausend Mark auflade, weil diese beiden Menschen sich im Sinne eines wirklich deutschen und wirklich demokratischen Nationalpreises verdient gemacht haben.

 

Jürgen Fuchs

Ein – von mir aus gesehen – junger Schriftsteller, er ist ein Freund meines Freundes Robert Havemann. Er veröffentlichte so couragierte und wahrhaftige Bücher wie "Gedächtnisprotokolle" und "Fassonschnitt" und "Das Ende einer Feigheit".

Er schreibt in seinen Romanen die lyrische Prosa eines prosaischen Lyrikers, der immer auch als professioneller Sozialpsychologe die Welt betrachtet. Er schrieb über seine Erlebnisse als Rekrut der NVA und über seine Erfahrungen als Gefangener im Stasiknast. Er erlebte Härten, die ich zum Glück nie durchstehen mußte. Er sah manches, was auch ich sah, aber anders: mit einem wissenden Blick, den er an den Werken seines verehrten Meisters Manés Sperber geschärft hat.

Jürgen Fuchsens womöglich bedeutendstes Buch kam jetzt in Berlin heraus.
Magdalena. Mfs – Memfisblues – Stasi – Die Firma – VEB Horch & Gauck – ein Roman.

Das klingt für Uneingeweihte vielleicht verwirrend. "Magdalena" war einer der raffinierteren Jargon-Namen für das MfS. Der Spottname "Magdalena" wurde erfunden, weil Erich Mielkes Bürobunker-Festung im Stadtteil Lichtenberg an der U-Bahn-Station "Magdalenenstraße" lag. Ein Häftling konnte also ironisch sagen: Ich lag ein Jahr bei … Magdalena.

Der Büchermarkt ist überschwemmt mit korrekt dokumentierten Akten und mit verlogenen DDR-Memoiren. Ich lasse mir allerdings die Funktionsweise der Folterinstrumente, wenn's geht, lieber von einem Gequälten erklären, der widerstand, als von einem Quäler, der sich herausredet.

Ich selbst wurde, das weiß jedes ältere deutsche Kind, ein gelernter Drachentöter. Jürgen Fuchs aber hat im Kampf gegen diesen Drachen die härteren Erfahrungen: er selbst saß als politischer Häftling lange genug im Bauch des Monsters.

Nun durchforschte er einige Aktenberge in der Gauckbehörde. Im eigenen Weinberge arbeiten oder in dem des Herrn ist gewiß befriedigender als die Arbeit auf der Müllkippe des MfS. Und man macht sich nicht nur Fans damit. Es gibt eine Allianz von schuldbeladenen Tätern im Osten und linksliberalen Schöngeistern im Westen, die aus freilich verschiedenen Gründen dasselbe sagen: Let it be! Ich aber sehe darin sein Verdienst: Jürgen Fuchs hat uns Deutschen eine Arbeit abgenommen, die getan werden muß, wenn wir die Erfahrungen aus der Zweiten Diktatur in diesem Land im Hegelschen Sinne wirklich "aufheben" wollen.

Fuchs hat sich mit seinem jüngsten Werk allerhand und zum Teil mächtige Feinde gemacht. Wir kennen die grausame Einsamkeit solcher Rufer in der Wüste wie Arthur Koestler und Manés Sperber und Hans Sahl. Aber wir wissen auch, daß wir ohne die Tapferkeit solcher guten Renegaten, die "zu früh gekommen sind", gar keine Zukunft hätten.

Aufreizend finde ich, daß Fuchs sich mit seinem Buch nicht nur echte, sondern auch ein paar falsche Feinde gemacht hat. Ich denke aber, er und wir, seine falschen und echten Freunde, werden dagegenhalten. Auch darum habe ich mich entschlossen, diesen Mann zu ehren.

Was die flott gewendeten Erben der DDR-Nomenklatura und ihre verkumpelten Psychotherapeuten im Westen besonders wütig macht: Jürgen Fuchs vergleicht immer auch wieder die beiden aufeinanderfolgenden Diktaturen Hitlers und Stalins miteinander, und das heißt: er arbeitet deren Unterschiede scharf heraus, damit auch die fatalen Ähnlichkeiten zur Erscheinung kommen. In der platten Wirklichkeit unserer Tage kommen sie ja schließlich auch und brutal zur Erscheinung. Wenn Vertreter demokratischer Parteien in Deutschland sich nach dem Wahlsieg der DVU gemeinsam mit dem Stasispitzel Gregor Gysi, der meinen Freund Robert Havemann im Auftrage des MfS fertigmachen wollte, wenn also demokratische Politiker sich ausgerechnet mit solch einem totalitären Gartenzwerg in der Talkshow darüber austauschen, wie man die totalitären Rechten bekämpfen kann, na dann würde ich in dieser perversen Logik vorschlagen, daß PDS und DVU eine Minderheitsregierung bilden, die mit Duldung der Höppner-SPD das Land Sachsen-Anhalt noch weiter ruiniert.

Ja, es ist manchmal Steinefressen und hartes Brot kauen, aber ich las Fuchsens Magdalena-Buch und blickte dabei mit Schaudern zurück in die "Landschaften der Lüge" und trinke zugleich mit Genuß die frische Luft der Demokratie, in der man freier streiten kann.

Ich hoffe allerdings auf ein Mindestmaß an demokratischer Streitkultur auch aus einem anderen und heiklen Grund: Jürgen Fuchs hat mit seinem Buch nebenbei einen Menschen gekränkt, mit dem wir beide freundschaftlich verbunden sind: Joachim Gauck.

Ich sehe in dem Konflikt dieser beiden Freunde einen Widerspruch, dem sie kaum entrinnen können. Es ist der objektive Interessenskonflikt zweier aufrichtiger Menschen, die nun aber verschiedene, zum Teil sogar entgegengesetzte Funktionen im Spiel der gesellschaftlichen Kräfte einnehmen.

Der ehemalige Pfarrer Joachim Gauck steht als verantwortlicher Staatsbeamter einer hohen Bundesbehörde vor, in der zwei- oder dreitausend Mitarbeiter beschäftigt sind. Unter ihnen – und das sei sowohl Gott als auch den Arbeitsgerichten geklagt! – jene ehemaligen Offiziere des MfS, um die seit Jahren der Streit geht und deren Entlassung Fuchs und andere immer wieder angemahnt hatten. Seit Joachim Gauck mir vor kurzem klagte, daß er diese inzwischen unkündbaren Machtapparatler leider nie wieder los wird, grübelte ich über eine Lösung des Problems: Man sollte sie befördern, so hoch, daß sie ans wirkliche Material nicht mehr rankommen – Beförderung ist doch ein gängiger Trick, unhaltbare Leute loszuwerden. So würden die MfS-Offiziere uns etwas mehr Steuergeld kosten, aber dafür weniger Nerven.

DDR-Bürgerrechtler waren es, solche wie Reinhard Schult, Bärbel Bohley, Katja Havemann, Angelika Barbe, und Hans Schwenke und Ingrid Koeppe, die 1990 mit einem Hungerstreik in einem von uns besetzt gehaltenen Bürobunker in der Magdalenenstraße den Plan einer totalen Vernichtung der Akten des MfS vereitelten. Auch diesen Oppositionellen verdankt es sich, daß es überhaupt eine Behörde geben kann, die Täter- und Opfer-Akten ordnet, auswertet, analysiert und den Betroffenen zur Einsicht bereitstellt. Aber inzwischen spielen solche Menschen kaum noch eine Rolle im Kader der Gauckbehörde.

Mir graut bei dem Gedanken, daß Mielkes Mannen immer noch an belastendes Material rankommen könnten, an Beweismaterial, das solche Karrierekünstler und davongekommenen Täter wie Stolpe und Gysi, wie Schalck-Golodkowski und Markus Wolf lieber manipuliert, gesäubert oder ganz vernichtet haben wollen.

Vor diesen Akten zittern nicht nur Kreaturen des alten DDR-Machtapparats, sondern auch hochrangige Politiker des Westens, die in der Zeit des Kalten Krieges mit der Nomenklatura der DDR in einen manchmal schlüpfrigen, korrumpierenden, gefährlichen und dubiosen Stoffwechsel gerieten. Da gibt es unvollendete politische Liebes- und Haßaffairen, Zuträgerdienste aus Gesinnung oder für Geld, Großgeschäfte mit lebendem Gefangenenfleisch und innerdeutschem Swing, mit Waffen, Rauschgift und EG-Butter. Für machtpolitische Goldsucher ist das ein Eldorado von wechselseitigen Verstrickungen mit mancher geheimdienstlichen Liaison dangereuse. Und unter all diesen Edelgaunern natürlich auch viele Beispiele einer schuldlosen Schuld, denn wer mit dem Teufel kämpfen will, muß auch mal mit ihm essen gehn, egal, ob er einen langen Löffel hat oder nur ein Löffelchen.

Der Streit ist also unvermeidlich. Aber auch Leute, die anders denken und anderes wollen als Jürgen Fuchs, spüren und wissen: der Mann da hat einen sanftmütigen Mut und spricht ohne Falsch. Und was mir besonders an Jürgen Fuchs gefällt: er hielt sich niemals für den Pächter der einzigen Wahrheit. Daran hindert ihn schon sein Brotberuf. Jürgen Fuchs ist nämlich nicht nur studierter, das sagte ich schon, sondern auch praktizierender Sozialpsychologe. Im westberliner Arbeiterviertel Moabit arbeitet er tagtäglich mit rauschgiftsüchtigen Jugendlichen aus irgendwelchen Straßengangs, mit verwahrlosten Kindern aus dem ehemaligen Jugoslawien. Unter seinen Schützlingen etliche Zigeuner, also: Roma aus Bosnien. Auch aus der Türkei arbeitslose junge Männer, aus den Ostblockländern Immigrantenkids ohne Papiere. Jürgen Fuchs unterstützt mißhandelte Halbwüchsige, er steht vergewaltigten Frauen bei und besorgt herumlungernden jungen Leuten eine Unterkunft, eine Arbeit oder sogar eine Lehrstelle.

Schon weil er so hautnah die Härten des Lebens kennt, nimmt er den Mund nie zu voll. Er bedenkt die Argumente seiner Widersacher, er zieht sich selbst immer auch in Zweifel, er mutmaßt, er behauptet, er legt redlich Beweise vor und korrigiert sich ohne Zaudern, sobald er etwas besser weiß.

Als vor Jahren ein neuer Präsident für das wiedervereinigte Deutschland gewählt werden sollte, machte ich in einem Essay öffentlich, daß – und erklärte auch: warum – ich diesen Schriftsteller gerne als Präsidenten sehen würde. Kurz: Jürgen Fuchs ist ein sehr ähnlicher Mensch wie der, um den wir die Tschechen beneiden können: Vaclav Havel.

 

Mein zweiter Kandidat:

Ekke Maaß

Er ist ein quicklebendiges Exemplar des "Unbekannten Soldaten" in jenem endlosen Kampf, den Heinrich Heine den Freiheitskrieg der Menschheit nennt. Ich kannte ihn als jungen evangelischen Schwarmgeist noch aus meiner Zeit vor der Ausbürgerung 1976.

Ekke Maaß wuchs auf in einer alten Pastorenfamilie. Also lag es in der Logik dieser Tradition, daß er Theologie in der DDR studierte. Dann aber wurde er Gott los und studierte an der Humboldt-Universität die weltliche Theologie: Marxistische Philosophie.

In dieser Zeit sang er zur Gitarre gelegentlich auch Lieder des populären sowjetischen "Barden" Bulat Okudshava, die er sich aus dem Russischen ins Deutsche übersetzt hatte. Und weil er gelegentlich auch Lieder von mir untergemischt hatte und überhaupt all zu freimütig seine Meinung sagte, wurde er exmatrikuliert, schikaniert und in das Zwielicht zwischen Duldung und Verfolgung gedrängt. Aber es gelang der "Firma" in all den Jahren nicht, ihn in bedrängter Lage zum Spitzel zu pressen.

Nach meiner Ausbürgerung entwickelte sich, wie man wohl weiß, die sogenannte alternative Szene am Prenzlauerberg in Ostberlin. Das war ein Milieu aus oppositionellen Poeten und unangepaßten Malern und Zeichnern, das waren politikmüde Kunstadepten und ausgestiegene Luftmenschen, die am Rande oder ganz außerhalb der offiziellen Kultur eine Art DDR-dadaistischer Gegenkultur in diesem sympathisch verkommenen Stadtviertel aufblühen ließen.

Wenn es überhaupt soetwas wie einen primären Focus dieser berühmt gewordenen "Prenzlberg-Szene" gab, dann war es die große Küche in der Wohnung von Ekke Maaß, dann war es die geräumige Töpferei im Keller des Hauses, die seine Frau betrieb. In der Ausstellung "Boheme und Diktatur" im Deutschen Historischen Museum konnte man die Zeugnisse dieser wild durchwachsenen Jahre bewundern.

In dem schmuddeligen Underground-Salon des Ekke Maaß trafen sich bis zum Ende der DDR regelmäßig junge, nichtoffiziöse Dichter mit solchen arrivierten Vertretern einer kommod kritischen DDR-Literatur wie Franz Fühmann, wie Christa Wolf, wie Heiner Müller und Volker Braun und Adolf Endler und Elke Erb. Im Schutze solcher anerkannten Größen konnten die unbekannten Anfänger manche Lippe riskieren.

Es ist das Verdienst meines Freundes Ekke Maaß, daß er nach den Turbulenzen im November 1976, als der sogenannte Exodus vieler Schriftsteller und Künstler nach Westen begann, dafür sorgte, daß oppositionelle Dableiber nicht elend vereinzelten und verkümmerten. Solche wie er sorgten dafür, daß trotz des Weggangs so vieler wichtiger Leute das zynische Spottwort über die DDR, sie sei "Der Dumme Rest", ein dummer Spruch blieb.

Kein Wunder, daß die Staatssicherheit diese schwer zu kontrollierenden, diese sachte aufsässigen jungen Leute im sogenannten Prenzlberg mit Argwohn beobachtete und ihre potentesten Spitzel in diese Szene implantierte.

Mein Kandidat Ekke Maß wurde in diesen irren und wirren Zeiten brutal durchgeschüttelt, wie andre auch, aber er hat nie seinen inneren Angelpunkt verloren: eine tief verwurzelte Menschenfreundlichkeit, Respekt vor Andersdenkenden und vor allem: praktische Hilfsbereitschaft gegenüber den Gefährdeten und Verfolgten.

Seit also über zwanzig Jahren saßen an seinem Tisch neben dem bunten Völkchen der Berliner Freunde und gelegentlich Dichtern wie Allan Ginsburg aus NY auch mehr oder weniger abgerissene und mittellose Maler aus Rußland und avantgardistische Filmemacher aus Georgien, Schriftsteller wie Tschingis Aitmatov und Andrej Bitow, Bürgerrechtler aus anderen Staaten des Kaukasus wie Tschetschenien, Artisten aus baltischen Ländern und Wahrheitssucher aus Ungarn und Träumer aus Polen. Das sind Studenten ohne Stipendium, Professoren ohne Gehalt, Poeten ohne Alimentation, Sänger ohne Gage, Dirigenten ohne Orchester.

Wenn alle willkommenen Fremdlinge, denen Ekke Maaß in jenen Jahren ein Bett gemacht und eine Suppe vorgesetzt hat, hier auf einmal zusammensäßen, wäre der Saal schon gerammelt voll, überfüllt mit lebendigen, wißbegierigen Jungen, lernbegierigen Alten – gewiß keine chronischen Gutmenschen, aber gute Menschen, die mit sich und der Welt noch was vorhaben.

Er kocht gelegentlich einen usbekischen Plow für seine Gäste, dann er kann mit dieser wohlschmeckenden Pampe allerhand Hungerleider satt machen, fast wie der Zimmermannssohn aus Nazareth mit seinen drei Fischen. Billige Nackenstücke und fette Bauchlappen vom Hammel in Öl gebrannt, dazu gesottene Zwiebeln und Karotten und etwas zu viel Reis geschichtet. Und über all das streut mein gastlicher Freund grobgeschnittenen Knoblauch und den türkischen Kreuzkümmel Kumin als Krönung des Arme-Leute-Gueuletons.

Als üppigen Nachtisch gibt es dann in der immer enger werdenden Küche Streitgespräche über desertierte Drachentöter und heldenmütige Lakaien zu DDR-Zeiten, Kopfschütteln und Gelächter über Wendehälse und treudoofe PDS-Punks. Es werden Diskurse ausgefochten über delikatere Fragen, zum Beispiel darüber, was denn nun in einem menschenfeindlichen Regime an den Tätern Opfer ist und natürlich auch über die Frage, was an den Opfern Täter genannt werden muß.

Zur verstimmten Gitarre werden da wüste Songs von Wyssodski geröhrt und zum gutgestimmten Wimmerholz werden Romanzen von Novella Matwejewa geknödelt und komische Spottlieder von Galitsch gesprechsängelt. Vorgelesen und übersetzt werden Gedichte von Bella Achmadulina und Jewtuschenko und Mandelstam, Novellen von Giwi Margwelaschwili.

Weder Ekke Maaß noch Jürgen Fuchs gehörten jemals zu den Kriegsgewinnlern im Kalten Krieg, schon gar nicht gehören sie seit dem Fall der Mauer zu den diversen Glücksrittern, Seilschaften, Absahnern, die sich nach dem Kalten Krieg am Kalten Frieden bereichern.

25 tausend Mark – ein Sümmchen, das kam im Leben meiner beiden Freunde wohl noch nie vor. Beide wohnen mit ihren Familien in schäbigen Mietwohnungen, sie arbeiten schwer und leben von der Hand in den Mund. Dennoch sind sie beide Menschen, die anderen Menschen ein Helfer sind, genau so wie Brecht es in seinem vielleicht berühmtesten Gedicht sich für eine ferne ferne Zukunft wünschte. Brecht schrieb im Jahre 1938, auf der Flucht vor den Nazis in Dänemark "An die Nachgeborenen":

Ihr, die ihr auftauchen werdet aus der Flut
In der wir untergegangen sind
Gedenkt
Wenn ihr von unseren Schwächen sprecht
Auch der finsteren Zeit
Der ihr entronnen seid
Gingen wir doch, öfter als die Schuhe die Länder wechselnd
Durch die Kriege der Klassen, verzweifelt
Wenn da nur Unrecht war und keine Empörung.
Dabei wissen wir doch:
Auch der Haß gegen die Niedrigkeit
Verzerrt die Züge.
Auch der Zorn über das Unrecht
Macht die Stimme heiser. Ach, wir
Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit
Konnten selber nicht freundlich sein.
Ihr aber, wenn es so weit sein wird
Daß der Mensch dem Menschen ein Helfer ist
Gedenkt unsrer
Mit Nachsicht.

 

Ich finde, wir leben immer noch in ganz schön finsteren Zeiten. Aber der fromme Wunsch Brechts, daß dermaleinst eine bessere Zeit kommen möge, eine humane, eine kommunistische Gesellschaft, in der dann endlich endlich! "… der Mensch dem Menschen ein Helfer …" sein wird, das ist in bezug auf solche Menschen wie Jürgen Fuchs und Ekke Maaß ein unnötiges Hoffen.

Wieso? Na, meine beiden Freunde waren und sind schon jetzt, also in den sogenannten finsteren Zeiten, den Menschen ein Helfer. Sie brauchen keine Hoffnung auf ein klassenloses Narrenparadies, in dem sich die Menschen endlich mal menschlich verhalten. Der Zorn gegen das Unrecht hat die Stimme meiner beiden Freunde eben nicht heiser gemacht, der Haß gegen die Niedrigkeit hat ihre Gesichtszüge halt nicht verzerrt. Warum? Weil sie – unter uns gesagt – auch keine Opfer sind, sie sind eher Täter, Täter im allerbesten Sinn: sie haben sich tapfer gewehrt gegen das Unrecht. Ihre Menschenfreundlichkeit kam ihnen nicht abhanden beim Kampf um mehr Freundlichkeit … sie brauchen also nicht wie Brecht diese Spekulation auf Absolution von irgendwelchen Nachgeborenen. Und diese humane Haltung von Ekke Maaß und Jürgen Fuchs soll, wie Brecht heute wohl lächelnd zugeben würde: gelobt werden. Lob soll sein. Aber auch etwas Geld soll sein, damit der Schornstein raucht und öffentliche Anerkennung als Citoyen mit Zivilcourage. Einen Kuß in die Seele können wir alle gut brauchen. Danke.

 

Die Rede Wolf Biermanns vom 17. Mai 1998 wurde leicht gekürzt.
Berliner Zeitung v. 23.5.1998

 

 


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