Fuchs

Tödliche Strahlung

Die Staatssicherheit der DDR steht im Verdacht,
Regimegegner radioaktiv verseucht zu haben

Paul Leonhard

 

Was die wohl mit dem Zeug wollen? Vielleicht hat sich der Mann diese Frage einmal gestellt, sie aber dann als einen lästigen Gedanken beiseite gewischt. Schließlich war er als Gesellschaftlicher Mitarbeiter (GMS) auf das Ministerium für Staatssicherheit eingeschworen. Regelmäßig empfing Karl J., Leiter der Hauptabteilung Radioaktive Präparate des Zentralinstituts für Kernforschung Rossendorf, die Mielke-Männer und händigte ihnen die gewünschten radioaktiven Stoffe aus. Das war schließlich rechtens, in einem Vertrag geregelt, den die Stasi 1971 mit dem bei Dresden ansässigen Forschungszentrum geschlossen hatte. Es sei für ihn noch heute undenkbar, daß radioaktive Stoffe entgegen den gesetzlichen Bestimmungen an Menschen eingesetzt werden, sagt der inzwischen als Fachbereichsleiter in Rossendorf tätige J.

Bereits im Mai 1999 war das Kernforschungsinstitut in die Schlagzeilen geraten. Damals berichtete eine Boulevard-Zeitung über geheime Lieferungen. Wir haben Flüssigkeitspräparate-Kobalt 58, Scandium 46 in Zehn-Milliliter-Ampullen an die Stasi geliefert, bestätigte J. am 21. Mai gegenüber der Bild-Zeitung. Da stand der ungeheuerliche Verdacht bereits im Raum: Waren DDR-Dissidenten durch die Staatssicherheit heimlich verstrahlt worden? Der Spiegel hatte über entsprechende Hinweise berichtet und der Jenaer Maler Frank Rub Strafanzeige bei der Berliner Staatsanwaltschaft gestellt. Auslöser war der Tod seines Freundes, des Regimegegners und Schriftstellers JÜRGEN FUCHS. Dieser war Anfang Mai 1999 im Alter von 48 Jahren einem Plasmozytom erlegen, einer seltenen Blutkrebsart, die durch Strahlung verursacht werden kann.

 

Bürgerrechtler fordern seit Jahren Aufklärung

JÜRGEN FUCHS hegte die Vermutung, daß seine tödliche Krankheit nicht gottgewollt war, sondern menschengemacht, erinnerte sein Freund Wolf Biermann. Ein Mord auf Raten? Den Verdacht, FUCHS und andere Dissidenten seien im berüchtigten Stasi-Knast Berlin-Hohenschönhausen mit Röntgenstrahlen traktiert worden, äußerten mehrere ehemalige Bürgerrechtler. Seit einem Jahr fordern sie rückhaltlose Aufklärung.

Zu den bald ermittelten Spuren gehörte ein unorthodox konstruiertes Röntgengerät, das Mitglieder eines Bürgerkomitees Ende Dezember 1989 im Stasi-Untersuchungsgefängnis Gera entdeckt hatten. Die Strahlenkanone stand hinter einem Vorhang versteckt im Fotoraum der Anstalt. Der Strahler habe sich etwa in Kopfhöhe des davor sitzenden Gefangenen befinden, erinnern sich Zeugen. Ähnliche Geräte gab es auch im Magdeburger, Chemnitzer und Bautzner Stasi-Knast. In Hohenschönhausen wurde 1990 im Fotoraum ein verstecktes Lehrbuch für Strahlenkunde entdeckt.

In seinem Schlüsselroman "Magdalena" hatte JÜRGEN FUCHS aus einer Veröffentlichung der Stasi-nahen Sektion Kriminalistik der Humboldt-Universität Berlin zitiert. Da ging es um radioaktive Gifte und darum, wie man diese spurlos gegen Menschen einsetzen kann. Nach FUCHS' Tod gewann das Thema auch deswegen Brisanz, weil bereits im Mai 1998 Gerulf Pannach (48), früherer Liedermacher und Texter der DDR-Rockband Renft, an Nierenkrebs, und ein Jahr zuvor der Regimegegner Rudolf Bahro (61), Verfasser des Buches "Die Alternative", an einem Non-Hodgkin-Lymphom gestorben waren. Alle drei hatten 1976/77 in Hohenschönhausen gesessen.

Wurden mißliebige Häftlinge im Rahmen von MfS-Zersetzungsmaßnahmen mittels Strahlenkanone unbemerkt verseucht, um ihnen langfristig Schaden zuzufügen? Es gibt zwar keine Beweise, dafür aber genug Indizien.

Mielkes Männer experimentierten nachweislich seit den siebziger Jahren mit strahlenden Substanzen. Akten beweisen, daß sie im Umgang mit Radionukliden und nichtmedizinischer Röntgentechnik ausgebildet wurden. Eine ganze Liste besonders gefährlicher Substanzen ist beispielsweise im Jahresplan 1979 des Dienstbereiches 2 unter der Rubrik "Schädigung durch Beibringen radioaktiver Stoffe" aufgelistet. Auch an der Anwendung radioaktiver Isotope arbeiteten die Stasi-Experten.

Eine über 900 Seiten starke Studie der Humboldt-Universität unter dem Titel "Toxdat" führt jede erdenkliche Art auf, wie Menschen mit Gift umgebracht werden können. Die für die Stasi entstandene Ausarbeitung aus dem Jahr 1988 nennt mehr als 200 toxische und strahlende Substanzen und beschreibt detailliert, wie diese eingesetzt werden könnten. Im Kapitel "Schädigung durch Beibringung radioaktiver Stoffe" werden besonders gefährliche Radionuklide genannt: von Strontium-90 bis Plutonium-238, aber auch Mikromengen abgebrannter Brennstäbe aus Kernkraftwerken.

Aus den Papieren erfuhren die Geheimdienstler, welche Wirkung ein Einsatz dieser Stoffe beim Menschen hätte. Von einer kombinierten Schädigung war die Rede. Der biologische Effekt resultiere aus einem chemischen Gift und einer physikalischen Wirkung. Beigebracht in Speisen und Getränken könnten sie zu Siechtum führende Blut-/Knochenmarkschäden und Krebs bewirken. Das sei natürlich abhängig gewesen von der psycho-physischen Reaktion der Einzelperson, sagte FUCHS in einem Interview, in dem er die Möglichkeit einschloß, daß durch Strahlung gesundheitliche Schäden verursacht werden können, nicht bei allen Gefangenen, aber bei denen, von denen man glaubt, es machen zu müssen, zu sollen, zu dürfen, auf Befehl. Die Wissenschaftler der Humboldt-Uni nannten das eine Liquidationsmethode mit hohem Verschleierungspotential durch spät einsetzende unspezifische Initialsymptomatik.

 

Mielke-Ministerium wollte Strahlenunfälle herbeiführen

FUCHS selbst waren Dokumente in die Hände gefallen, in denen ein handliches Gamma-Gert polnischer Herkunft eine Rolle spielte, das punktförmig Neutronenstrahlen aussendet. Sein Einsatz, bei dem das biologische Gewebe beschädigt wurde, hinterließ keine Spuren, später würde es diffuse, aber bedrohliche Erkrankungen erzeugen. Experten bestätigen inzwischen, daß die Strahlendosis der Röntgengeräte in den Stasi-Gefängnissen bei einstündiger Bestrahlung 1,1 Gray betragen haben könnte. Damit wären die Geräte zwar viel zu schwach, um einen Menschen zu töten, aber die möglichen Strahlendosen hätten ausgereicht, um nach einigen Jahren bei den Opfern Blutkrebs auszulösen.

Die Stasi beschäftigte sich ebenfalls mit Möglichkeiten, kleine Atomminen in Westdeutschland einzusetzen und Kernkraftwerke zu beschädigen, um Strahlenunfälle herbeizuführen. Erst im vergangenen Jahr stieß die Gauck-Behörde auf Unterlagen der Stasi-Abteilung Operativ-Technischer Sektor. Damit war der Beweis erbracht, daß das Mielke-Ministerium mit dem Einsatz radioaktiven Materials experimentierte, um alles mögliche zu überwachen.

Grundlage dafür bot die Kooperation mit den Kernforschern in Rossendorf. Hier fanden die Bestrahlungen im Reaktor statt. Hier wurden Stoffe aktiviert wie Stecknadeln, die später Regimegegnern an die Kleidung geheftet wurden. Einem der Stasi verdächtigen Physiker im Kombinat Carl Zeiss Jena wurden 1978 radioaktiv präparierte Dokumente untergeschoben. Manuskripte von Bürgerrechtlern wurden mit flüssigem nuklearen Material beschichtet. Auch wurden Autos markiert, indem per Luftgewehr radioaktive Munition auf die Reifen geschossen wurde. Man überlegte, wie man Personen bespritzen könnte, um sie später wiederzufinden, beschrieb Joachim Gauck, Leiter der Stasi-Akten-Behörde, in einem Interview die Methoden. Fest steht, daß das Manuskript von Bahros "Alternative" radioaktiv markiert wurde. Die Stasi wollte so den Versandwegen nachspüren und Adressaten ausfindig machen.

Aber nicht nur gegen Dissidenten wurden radioaktive Stoffe eingesetzt. So verschickte die Stasi in einem Fall radioaktiv-markiertes Westgeld, um herauszufinden, wer in einem Postamt aus Briefen Geldscheine stiehlt. Wenn jemand drei dieser Scheine einsteckte, konnte das durchaus gesundheitliche Folgen haben, schätzt Gauck ein.

Insgesamt hat es in den siebziger Jahren hundert Markierungsfälle jährlich gegeben. In den achtziger Jahren sind es 50. Die Stasi benutzte 21 verschiedene Substanzen von Caesium-137 bis zu Kobalt-59 oder Silber-110. Erschreckend sei, daß beteiligte Wissenschaftler bis heute schweigen würden und einen guten Ruf hätten, sagte Gauck im März. Diese Spezialisten hätten aber der Stasi in Kenntnis möglicher Gesundheitsgefahren geholfen. Zwar gibt es bisher nach Aussage Gaucks keinen Beweis, der den schlimmen Verdacht bewußter radioaktiver Bestrahlung in Haftanstalten bestätigt, aber unter dem Decknamen "Wolke" setzten die Mielke-Leute radioaktive Substanzen zur Markierung von Personen und Gegenständen ein. Gesundheitliche Schäden wurden dabei billigend in Kauf genommen. Ein Markierungseinsatz konnte den heute geltenden Grenzwert um das 267fache überschreiten, ermittelte ein im Auftrag der Gauck-Behörde tätiger Gutachter.

 

Vorwürfe von FUCHS an die bundesdeutsche Justiz

Die Aktionen überschritten selbst die Sicherheitsnormen der DDR. Auch im Fall des Geraer Röntgengerätes, das zumindest zwischen 1976 und 1983 im Stasi-Knast eingesetzt wurde und nach der Wende spurlos verschwand. Es verstieß schon dadurch gegen die DDR-Gesetze, daß es nicht beim Amt für Strahlenschutz gemeldet war.

Man habe die Bedeutung von Zersetzung nicht begriffen, warf FUCHS kurz vor seinem Tod der BRD-Justiz vor. Es werde nicht wahrgenommen, daß ein System wie das der DDR mit einer historischen Mission in Andersdenkenden ideologische Feinde sah, bei deren Ausschaltung jedes Mittel vom Zweck geheiligt ist. Ein Betroffener ist vielleicht in der Lage, die letzten, die allerletzten Beweise zu bringen, wenn er gestorben ist und eine Knochenanalyse vorgenommen wird, sagte er bezüglich der Nachforschungen für den Einsatz radioaktiver Stoffe in den Haftanstalten.

 

 

QUELLE:  jungefreiheit.de  16/2000  14. April 2000 

 


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