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 Teil 5    Neuzeit —   

Kriege um die Freiheit der Person  

 

 

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Wie stets am Beginn neuer grosser Epochen kündigten sich die Umwälzungen durch geistige Ausein­ander­setzungen, Kämpfe, Kriege, Aufstände und andere Ereignisse an, deren Bedeutung die Zeitgenossen zumeist nicht erahnen konnten. 

Die mittel­alterliche Ordnung mit Kaiser und Papst an der Spitze und die gegliederten weltlichen und geistlichen Ränge, die manchen als die irdische Widerspiegelung der himmlischen Hierarchien erschienen waren, begannen zu wanken und brachen schließlich zusammen.

Der einzelne Mensch, dessen Trachten und Streben im vergangenen Zeitalter in erster Linie auf das Jenseits gerichtet war, wozu ihn die geistlichen Autoritäten angehalten hatten, wandte sich nun, im beginnenden Zeitalter der Bewußtseinsseele, in immer stärkerem Maß dem Diesseits zu und begann immer mehr, sich seiner Ichheit bewußt zu werden. Auf religiösem Gebiet suchte er nun den unmittelbaren Weg zu Gott, ohne die Vermittlung der alten Kirche, auf profanem machte er sich an die Eroberung der materiellen Welt. Der monolithische Block der Christenheit, der sich bis dahin gegen die Welt der Heiden abgegrenzt hatte, brach auseinander, und die meisten der europäischen Staaten fingen als Völker-Individualitäten an, ihren eigenen Weg, den des Nationalstaates, zu verfolgen.

Während England, Frankreich, Spanien und Portugal im Westen und kurz darauf auch Rußland im Osten ihre nationalen Ziele auf die Entdeckung und Eroberung neuer Landgebiete in Übersee oder im Inneren Asiens richteten, trachtete man in Mitteleuropa, vor allem im Bereich des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, vornehmlich nach einem neuen Verständnis des Christentums, nicht aber nach Ausweitung der nationalen Machtstellung, obwohl es auch hier an Kriegen und Aufständen nicht fehlte. Die Entdeckungen auf allen Gebieten führten zu einer ungeheuren Ausweitung des menschlichen Horizonts, die geographischen insbesondere zu den den Europäern bis dahin unbekannt gebliebenen oder wieder in Vergessenheit geratenen Teilen der Erde.

Machtpolitisch ergab sich daraus für die europäischen Staaten in den kommenden Jahrhunderten sowohl ein Kampf um die Hegemonie als auch ein Kampf um die Wahrung des Gleichgewichts, besonders als man erkannte, daß eine einseitige Hegemonie nicht durchzusetzen war.

Während dieses Kampfes zwischen den europäischen Staaten blieb unbemerkt, daß sich das macht­politische Schwer­gewicht immer mehr in die Randgebiete Europas, in die Hände der anglo-amerikanischen Seemächte und in jüngster Zeit auch in die einer so gewaltigen Landmacht wie Rußland, verlagerte, die sich mit ihrem Gebiet über zwei Kontinente erstreckt. Äußerlich gesehen entwickelten sich die nun entstehenden Auseinandersetzungen zu solchen zwischen Land- und Seemächten, im Rahmen der geistigen Entwicklung der Menschheit aber zu Kämpfen zunächst zwischen dem anglo-amerikanischen und lateinisch-romanischen Element.

Hegemonie und Gleichgewicht hatten kurzfristig in der Antike schon bestanden, ausgeprägte Gestalt aber nahmen diese Formen zwischenstaatlicher Machtausübung erst in der Neuzeit an.

In der Antike und im Mittelalter hatte das Mittelmeer im Brennpunkt des weltpolitischen Interesses gestanden. An seinen Ufern besiegten, auf die Küstenländer gestützt, die Griechen die Perser und die Römer die Karthager, die Truppentransport- und Versorgungsschiffe der Kreuzfahrer durchquerten seine See. In seinen Küstenbereichen verliefen auch die wichtigsten Handelswege für die Güter aus dem Orient. Wer das Mittelmeer beherrschen wollte, mußte eine ständige Kriegsflotte unterhalten, um jedem Gegner zur See entgegentreten, die zahlreichen Seeräuber in Schach halten und die eigenen Handelsschiffe schützen zu können.

Das führt uns zum Begriff der Seemacht, der vor allem vom Beginn der Neuzeit an eine entscheidende Rolle im Kräftespiel der Mächte spielen sollte. Dabei lehrt die Geschichte, daß eine Seemacht, die sich nur auf Kriegsflotten stützt, sich nur für kurze Zeit behaupten kann. Das zeigten schon die Flotten der Völkerwanderungszeit und der Wikinger, wohingegen es Venedig gelang, von seiner Lage begünstigt, seine Seemacht auf einen ausgedehnten Handel und eine geschickte Politik zu gründen. So errang der venezianische Staat Seegeltung und eine Machtposition, die weit über den Wirkungsbereich seiner Flotten hinausreichte. Seemacht beruht auf drei Faktoren: Kriegsmacht, Wirtschaftsmacht und politisches Geschick. Wird einer dieser Faktoren vernachlässigt, so geht die Seemacht verloren. Das typische Beispiel dafür ist die mittelalterliche deutsche Hanse, deren bedeutender Faktor 400 Jahre lang allein der Handel war. Zu ihrem schließlichen Niedergang führte, daß sie jeweils nach Friedensschluß abrüstete und damit die Seeherrschaft und die Seegeltung an ihre Gegner abgab. 

Doch mit diesen drei Faktoren allein ist es noch nicht getan. Es gehören dazu auch noch drei Voraussetzungen: Die erste liegt in nautischen Kenntnissen, wie sie etwa die deutschen Kaufleute auf Gotland besaßen, als sie den König von Dänemark mit seinem Heer am Anfang des 13. Jahrhunderts durch Verweigerung von Lotsen zur Heimfahrt zwangen.

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Aus diesem Grund auch behandelten die Portugiesen und Spanier die Kenntnis der neu entdeckten Seewege als Staatsgeheimnis. Eine weitere Voraussetzung bilden seemännische und Schiffsbaukenntnisse. Neue Errungenschaften auf diesem Gebiet wie etwa der Bau der Hanse-Koggen sollten nach Möglichkeit nicht an andere Mächte weitergegeben werden. Ähnliches gilt für die Entwicklung neuer Schiffswaffen, die die Überlegenheit zur See im Kriegsfall sichern sollten. Die dritte und letzte Voraussetzung für Seemacht sind die militärischen und wirtschaftlichen Basen zum Schiffsbau, zur Reparatur und zur Versorgung mit Menschen und Material. Der Untergang der Viktualienbrüder im Ost- und Nordseebereich mag als Beispiel für das Schicksal einer Kriegsflotte ohne genügende Basen dienen. Eine wirtschaftliche Basis war um so wertvoller, je erschlossener sich ihr Hinterland gestaltete. Diese drei Faktoren und drei Voraussetzungen für Seemacht gelten noch heute.200

Technische Entwicklungen auf dem Gebiet des Marinewesens, der Seefahrtskunde und der Fortschritt der Naturwissenschaften machten die großen Entdeckungsfahrten erst möglich. Aus den einmastigen Segelschiffen der Wikinger und der Mittelmeervölker entstanden im ausgehenden Mittelalter die getakelten Breitseitschiffe der Neuzeit. Die Zunahme des Handels zwang zum Bau größerer und völligerer Schiffe. So entstanden die Koggen der Hanse und Karaken, Karavellen und Naos des Mittelmeeres, bei denen man die Kastelle auf dem Vor- und Achterschiff, wie sie die Normannenschiffe besessen hatten, mit dem Schiffskörper verschmolz.

Die Schiffsgröße wuchs von durchschnittlich 100 Tonnen auf 300 Tonnen. Die großen Segelschiffe führten bis zu vier Masten. Das Steuerruder an Steuerbord wurde durch das feste Ruder am Heck ersetzt. Die wichtigste Neuerung aber war die Einführung des Schiffskompasses im 14. Jahrhundert, der regelmäßige Hochseefahrten und die Herstellung der ersten Seekarten erst möglich machte. Mit den im 15. Jahrhundert allmählich aufkommenden Schiffsgeschützen, mit denen zunächst die Kastelle bestückt wurden, erzielte man weit größere Wirkungen als mit den alten Katapulten und Schleudern. Später stellte man die schweren Geschütze mitschiffs an Deck auf.

Etwa um 1500 erhielten die Schiffe Stückpforten, wodurch die schweren Geschütze tiefer aufgestellt und die Stabilität der Schiffe wesentlich verbessert werden konnte. Mit solchen Schiffen, deren größtes bereits 1500 Tonnen besaß, vermochte man im 16. Jahrhundert tatsächlich, die großen Entdeckungsfahrten durchzuführen, überseeische Basen zu errichten und den Handel auf den Seewegen zu schützen.

Nachdem die Türken durch die Eroberung Konstantinopels im Jahr 1453 auf dem europäischen Kontinent Fuß gefaßt hatten, wurde der Handel über den Vorderen Orient von und nach Asien mit hohen Zöllen belegt.

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Vornehmlich um der Gewürze, aber auch um anderer orientalischer Waren willen, begann die Suche nach einem Seeweg nach Indien. Zu diesem Zweck richtete der portugiesische Infant Heinrich der Seefahrer, der nie selbst zur See gefahren ist, die erste Seefahrtschule ein.

Noch im 14. Jahrhundert begannen die Erkundungsfahrten entlang der afrikanischen Westküste nach Süden. Von diesen unzähligen Entdeckungsfahrten sollen hier nur die wichtigsten aufgeführt werden. Im Jahr 1487 gelang es bartolmeo diaz, die Südspitze Afrikas zu umsegeln. Durch die wiedererrungene Erkenntnis von der Kugelgestalt der Erde, aber mit hoher Wahrscheinlichkeit auch aufgrund von Berichten grönländischer und isländischer Seefahrer über ein weit im Westen liegendes fruchtbares Land, die in weltlichen und kirchlichen Akten festgehalten worden waren, wurde der Genueser Seemann in spanischen Diensten Christoph Columbus veranlaßt, 1492 seine berühmte Fahrt mit den Karavellen »Santa Maria«, »Nina« und »Pinta« zu unternehmen, die zur Wiederentdeckung der Neuen Welt führte. 

Die früheren Fahrten der Wikinger, Iren und vielleicht auch anderer Völker sollen hier unberücksichtigt bleiben, da sie keine großen weltpolitischen Auswirkungen hatten.

Zwei Jahre nach der Entdeckung des neuen Kontinents, den Columbus selbst noch für Indien hielt, wurde dieser im Vertrag von Tordesillas durch einen Schiedsspruch des Papstes zwischen Spanien und Portugal geteilt. Ganz kurz darauf fand Vasco da Gama den tatsächlichen Seeweg nach Indien um die Südspitze Afrikas herum, und nach einem Seesieg bei Diu über Inder und Araber errichteten die Portugiesen am Anfang des 16. Jahrhunderts ein Kolonialreich in Indien mit Flottenstützpunkten an der Küste Afrikas. 

Magalhäes gelang es in einer zweijährigen Fahrt von 1519 bis 1521 zum ersten Mal, die Erde zu umsegeln. Die zweite Erdumsegelung vollbrachte Francis Drake in den Jahren 1577 bis 1580. Infolge dieser Entwicklungen verschob sich der Handelsschwerpunkt vom Mittelmeer, der Nord- und Ostsee nach Westen in den Atlantik. Damit begann der Aufstieg von Lissabon, Sevilla, Amsterdam und später London als Hafen- und Handelsstädte, während der Handel in Lübeck, Venedig und Genua stagnierte. Obwohl es einer verbündeten Flotte Philipps II. von Spanien, des Papstes Pius V. und Venedigs gelang, 1571 in der Schlacht bei Lepanto, einer der größten Seeschlachten der Geschichte, der letzten großen Galeerenschlacht und für lange Zeit der letzten entscheidenden Seeschlacht im Mittelmeer, die türkische Flotte vernichtend zu schlagen, hatte dies keine strategische Dauerwirkung, weil die christliche Koalition wieder auseinanderfiel. Die politische und wirtschaftliche Bedeutung des Mittelmeerraumes sank weiter ab.

Mit den Entdeckungsreisen und der Bildung großer überseeischer Kolonialreiche in Amerika und Indien durch Spanier und Portugiesen vermehrte sich der Seeverkehr in einem nie geahnten Ausmaß.

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Die riesigen Goldschätze Amerikas flossen in Strömen nach Europa und hatten den Übergang von der Naturalwirtschaft zur Geldwirtschaft und damit den Frühkapitalismus zur Folge. Mit diesen riesigen Summen war es wieder möglich, große Söldnerheere anzuwerben und, so recht im Sinne der Gewaltmenschen der Renaissance, Machtpolitik im großen Maßstab zu betreiben. Doch zunächst flössen die Reichtümer aus Übersee nach der Iberischen Halbinsel und in die spanischen Niederlande. Die übrigen Nationen Europas blieben vom gewinnbringenden Überseehandel vorläufig ausgeschlossen. Dazu kamen aus Indien Gewürze und Rohstoffe und aus Afrika Sklaven, die zusätzlichen Reichtum in die iberischen Länder brachten. Fast sah es so aus, als wäre die Welt auf dem besten Weg, in den Besitz der eine Tochtersprache des Latein sprechenden Völker zu geraten, zumal auch die Franzosen im 16. Jahrhundert erste Versuche machten, sich in Brasilien und in Kanada niederzulassen. Diese Versuche blieben zunächst allerdings Episode.

Zu den Entdeckungen kamen technische Erfindungen, deren Bedeutung gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Im 14. Jahrhundert wurden die ersten Feuerwaffen entwickelt. Zwar waren es keineswegs diese Waffen, die die glänzenden Ritterheere vom Schlachtfeld fegten und die stolzen Burgen mit einem Schlage brachen. Aber sie beherrschten nach etwa zwei Jahrhunderten die Schlachtfelder Europas vollkommen. Der Aufstieg der Feuerwaffen wäre nicht ohne eine weitere Erfindung möglich gewesen, die erst ihre technische Weiterentwicklung zu echter Feldbrauchbarkeit in die Wege leitete. Zur alten Technik des Eisenschmiedens trat die moderne Gußtechnik, die durch die Ausnutzung der Wasserkraft in Mühlen möglich geworden war.

Sicher aber war die wichtigste technische Neuerung die Erfindung der Buchdruckerkunst. Von Italien ausgehend erlebte nun die griechisch-römische Antike ihre Wiedergeburt. Zur Renaissance wurde diese Geistesbewegung jedoch erst durch die Verbreitung der antiken Schriften mit Hilfe des Buchdrucks. In ganz Europa entstand eine breite weltliche Gelehrtenschicht, die sich der Erforschung und der Verbreitung antiker Bildung widmete. Das Schulwesen nahm zu, und bald gab es kaum noch einen Angehörigen der gebildeten Ober- und Mittelschicht, der des Lesens und Schreibens nicht kundig gewesen wäre. Selbst die Frauen nahmen an dieser Entwicklung teil. Als im Kloster zu Hersfeld die »Germania« des Tacitus gefunden wurde, verbreitete sich ihre Kenntnis mit Windeseile in allen deutschen Landen und stärkte das erwachende Nationalbewußtsein auch des deutschen Volkes in hohem Maß, wenigstens bei der gebildeten Bevölkerungs­schicht.

Doch entwickelte sich bei den verschiedenen europäischen Völkern das Nationalbewußtsein auf unterschied­lichen Ebenen, als Empfindungsseele auf der italienischen und spanischen Halbinsel, als Verstandesseele in Frankreich, als Bewußtseinsseele auf den Britischen Inseln, als Ich in Mitteleuropa, und zwar hier als im Werden begriffen, und im Osten im Keim als Geistselbst.201

Und Rudolf Steiner ergänzt diese Hinweise in bezug auf die beginnende Neuzeit:  

»Indem diese neue Zeit anbricht, wirkt in ihr die heraufkommende Bewußtseinsseele. Sie wirkt sich in geschichtlichen Symptomen aus. Und wir sehen, wie auf der einen Seite die nationalen Impulse wirken, wie auf der anderen Seite selbst bis in die Tiefen des religiösen Bekenntnisses hinein das Aufbäumen der Persönlichkeit wirkt, die auf sich selbst gestellt sein will, weil eben die Bewußtseinsseele herausbrechen will aus ihren Hüllen. Und diese Kräfte, diese zwei Kräfte, die ich eben charakterisiert habe, die muß man in ihren Wirkungen studieren, wenn man jetzt die weitere Fortentwicklung der repräsentativen Nationalstaaten, Frankreich und England, ins Auge faßt. Die erstarken, aber so, daß sie in deutlicher Differenzierung zeigen, wie die zwei Impulse, der nationale und der Persönlichkeitsimpuls, auf verschiedene Weise in Frankreich und in England miteinander in Wechselwirkung treten, und nichts menschlich produziertes Neues, aber Althergebrachtes in Umgestaltung als Grundlage für die geschichtliche Struktur Europas offenbaren. Man kann sagen: Dieses Erstarken des nationalen Elementes, es zeigt sich auf besondere Weise in England, wo das Persönliche, das z.B. in Hus nur als religiöses Pathos wirkte, sich verbindet mit dem Nationalen und sich verbindet mit dem Persönlichkeitsimpuls der Bewußtseinsseele und zum Parlamentarismus immer mehr und mehr wird, den Parlamentarismus immer mehr und mehr ausbildet, so daß dort alles nach der politischen Seite hinschlägt. - Wir sehen, wie in Frankreich überwiegt - trotz des nationalen Elementes, das eben stark durch Temperament und durch sonstige Dinge wirkt — das Auf-sich-gestellt-Sein der Persönlichkeit, und die andere Nuance gibt. Während in England mehr die nationale Nuance die stärkere Färbung gibt, gibt in Frankreich mehr das Persönlichkeitselement die nach außen sichtbare und wirksame Nuance.«202

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