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  1   Ein Jahrhundert Fin de siècle 

Gregory Fuller 1994

 

 wikipedia  Fin_de_Siècle  => französisch für „Ende des Jahrhunderts“, auch „Décadence“ (= Dekadentismus) genannt, bezeichnet die künstlerischen Strömungen und das Lebensgefühl der letzten zwei Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts und im weiteren Sinne parallel zur Belle Époque bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs. Die Bezeichnung trägt eine Konnotation mit dem Begriff der Dekadenz und verweist darauf, dass das Fin de Siècle eine kulturelle Bewegung war, die den kulturellen Verfall zu ihrem Objekt machte.

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Zu Recht wird die Tagseite dieses Jahrhunderts, verkörpert im großen künstlerischen Aufbruch ab 1905, gefeiert. In immer neuen Ausstell­ungen und Veröffent­lichungen werden die Kunstutopien eines Kandinsky oder des Konstruktivismus, wird der heilsame Schock des Neuen gelobt, gepriesen, verherrlicht, ja verklärt. Hoffnungsfroh hatte Kandinsky seine zentralen Thesen von der befreienden Autonomie des Kunstwerks formuliert, gingen die sozialrevolutionären Proletkultkünstler und Konstruktivisten zu Werk.    wikipedia  Wassily_Kandinsky 1866-1944

Unverschämt-heitere Frechheit charakterisierte die Dada-Bewegung. Den Futurismus kennzeichnete ein Glaube an die Dynamik. »Entgrenzung der Kunst« war das zentrale Anliegen von Duchamp, der Pop-art, Arte povera und Kitsch-art, um nur einige zu nennen. Beuys' Idee der »sozialen Plastik« verkündete die Frohbotschaft der heilbringenden Kunst.

Die dominante Tagseite der Kunst unseres Jahrhunderts darf in ihrer Bedeutung nicht geschmälert werden. Hier soll es jedoch um die thematische Nachtseite dieser goyaesken Epoche gehen. Parallel zum vorherrschenden Optimismus entstand ein abgrundtiefer Pessimismus. Man vergesse nicht: Die Anfänge der gefeierten Moderne gingen zeitlich einher mit dem Völkermord an den Armeniern, dem Massenmord von Verdun und den gelben Giftwolken von Ypern. 

Kriege und Katastrophen mußten und müssen die Entwicklung der Moderne beeinflussen; daher wurde dieses Jahrhundert auch zur Hoch-Zeit der schwarzen Utopien wie Kafkas Prozeß oder Huxleys Brave New World oder Orwells 1984; ein Jahrhundert uneingelöster Sozial- und Kunstutopien, jedoch wahrgemachter Horrorvisionen.  

Paul Valery sagte vor dem Zweiten Weltkrieg, die Unmenschlichkeit habe eine große Zukunft.

Auschwitz wird zu einer zentralen Metapher des Jahrhunderts, dicht gefolgt von der Hiroschima-Metapher. In den achtziger Jahren finden die Namen neuer realer Orte des Schreckens Aufnahme in das geläufige Vokabular: Sellafield, Seveso, Bhopal und Tschernobyl.

Stimmungen sind nicht berechnet. Man kann sie nicht mit einer Mode gleichsetzen. Stimmungen schwanken radikal. Wenn sie aber entstehen, sind sie berechtigt; so auch die Endzeitstimmung, die sich zusehends ausbreitet. Sie hat reale Ursachen allgemein-gesellschaftlicher, jedoch auch besonderer Art: die Bedrohung im ökologischen Bereich und die Enttäuschung nach den Revolutionen von 1989. 

Daß es nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation nun endlich besser und friedlicher zugehen werde auf der Welt — diese Hoffnung trog. Die soziale und wirtschaftliche Krise auch der reichen Länder ist inzwischen unübersehbar. Neue Armut, wachsende Kriminalität, lokale Kriege, ungezählte Flüchtlings­ströme, archaischer Nationalismus, Massen­arbeits­losigkeit, Aids, politische Skandale sind nur einige der düsteren Elemente unseres neuen Alltags. 

Nach den osteuropäischen Revolutionen von 1989 kam das ernüchternde Gefühl: Die Revolutionen sind nicht mit einemmal vorbei. Sie entladen sich vielmehr in kakophonisch sich steigernden Konvulsionen. Die barbarischen Bürgerkriege auf dem Balkan und im Kaukasus geben, so scheint es vielen Beobachtern, die Muster für die Zukunft vor. Die Überbevölkerung, die Desertifikation des Planeten, die allmähliche Wasser­verseuchung, der stets drohende atomare oder chemische oder genetische GAU, die rapide Ozonschicht­zerstörung und die Liquidierung zahlloser Tier- und Pflanzenarten vervollständigen das Bild.

Mit überdurchschnittlichem Empfindungsvermögen ausgestattet, nehmen immer mehr zeitgenössische Künstler seit den achtziger Jahren diese Momente wahr. Sensibel reagierten auch die Künstler der Zeitspanne von 1880 bis 1900. Vor hundert Jahren kam ein Begriff auf, der weit mehr implizierte als zwanzig Jahre im Kalender: Fin de siècle.

Der Schwund eines als objektiv angesehenen Weltbildes läßt sich von Cezanne bis Kandinsky leicht aufzeigen. Mit dem Ende einer allgemein akzeptierten Objektivität äußerten sich in den 1890er Jahren eine vertiefte Religiosität und ein weitverbreiteter Mystizismus. Morbidezza und Todesschwüle bestimmten die Gefühlslage vieler Künstler.

Dieses Dekadenzbewußtsein sehen wir aus heutiger Perspektive erst im letzten Jahrzehnt des 19. Jahr­hunderts vorherrschen. Zu Unrecht. Hans Hofstätter hat überzeugend nachgewiesen, daß Pessimismus und Melancholie als Leitmotive das gesamte 19. Jahrhundert durchziehen. Schon die Romantiker trieben Weltschmerz, Bitternis und das Gefühl, zu einer überfeinerten Kunst und Gesellschaft zu gehören, in die Weltflucht. Der französische Schriftsteller Chateaubriand (1768-1848) erhebt die »Wissenschaft von Trauer und Ängsten« zum Ziel der Künste. 

Einen Höhepunkt findet die seelische Misere vor und nach 1860 in den antibürgerlichen Dichtern Baudelaire, Mallarme, später in Rimbaud und seiner offenen Revolte. In der bildenden Kunst wird die melancholische Sehnsucht nach der fernen Vergangenheit zu einer Kernmetapher des Jahrhunderts, von Caspar David Friedrich bis zu den Präraffaeliten und Fernand Khnopff.

Eng mit dem Pessimismus verknüpft ist ein Grundproblem des 19. Jahrhunderts, das der Sexualität. Man denke an Felicien Rops, Aubrey Beardsley, Franz von Stuck, Odilon Redon und Edvard Munch.

Richtig bleibt allerdings: Das Dekadenzbewußtsein findet am Ende des 19. Jahrhunderts im Symbolismus einen Höhepunkt; der Symbolismus konzentriert den Pessimismus durch seine plakative und oft pathetische Symbol­form.

Während der späte Cézanne seine Welt aus Bausteinen und Schichten zusammenfügte und auf diese Weise die Objektivität aufzuheben sich anschickte, negierte der Symbolist die Welt nicht auf künstlerische, sondern auf mystische Art. Der Symbolismus wollte das Unsichtbare sichtbar machen. Er wollte das Unaussprechliche mitteilen, wie Franco Russoli geschrieben hat.  

Diese zwischen 1880 und 1910 dominante Kunstrichtung (nicht der Impressionismus oder der Postimpressionismus oder der Fauvismus) suchte in der stillen, künstlerisch-religiösen Versenkung einen Weg zur wahren, zur inneren Welt. Während die Liebe zur Frau zur Selbstaufgabe und daher in letzter Instanz zum Tode führe, so meinte man damals zu wissen, gebe es eine reinere Welt als die des gefährlichen Fleisches.

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