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Im Werk Arnold Böcklins (1827-1901) verdichtet sich die symbolistisch-klare Botschaft des Unklaren. Das neue Reich ist das der Naturgottheiten, des schaffenden und zerstörenden Meeres, der Vanitas und die düstere Welt der Toten. Das Schlüsselwerk Die Toteninsel von 1880 (Abb.1) stellt eine Gräberinsel dar, die schroff aus dem Wasser ragt.
Düsternis und Stille, kaum unterbrochen durch den Neuankömmling, lassen die Endgültigkeit des Todes fühlen. Die strenge Tektonik der Felsen und die abweisenden Zypressen vermitteln das Gefühl der Unabänderlichkeit. Böcklin selbst hat den oft diskutierten Stimmungscharakter seines Bildes in einem Brief an seine Auftraggeberin zusammengefaßt: »Sie werden sich hineinträumen können in die dunkle Welt der Schatten.«
1 Arnold Böcklin, Die Toteninsel, 1880
wikipedia Arnold_Böcklin *1827 in Basel - 1901 wikipedia -_Die_Toteninsel_III_(Alte_Nationalgalerie,_Berlin).jpg
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In seinen beiden Zyklen Vom Tode (1882 bis 89 und 1885-98) hat Max Klinger (1857 bis 1920) das titelgebende Motiv variiert. Von Böcklin und Goya stark beeinflußt, betonte er das Unausweichliche, aber auch Bizarre des Todes. Sein Werk wurde geprägt von der Vorstellung der Symbolisten, mit dem Tod die wirkliche Welt zu gewinnen. Den Zyklen gab er das Motto »Wir flieh'n die Form des Todes, nicht den Tod, denn unserer höchsten Wünsche Ziel ist der Tod« bei.
Durch das Medium der Graphik waren Klingers Arbeiten zu Lebzeiten weit verbreitet, und seine pointierten Darstellungen vom Sterben und vom Tod fanden ein großes Echo. Die Tote Mutter (Abb. 2) vermittelt eine ästhetisierte Sicht des Todes. Klinger war einer Zeit verhaftet, die Pathos für Gefühl hielt. Nicht von ungefähr wurde er ihr Repräsentant in Sachen Kunst: Er faßte seine Zeit in Bildern, die das Grauen ästhetisierten und es auf diese Weise verflachten. Gesicht und Körperhaltung des Kindes lassen seine Seelenpein kaum wahrnehmen, ganz im Gegensatz zu Munchs ausdrucksstarker Arbeit zum gleichen Thema (Abb. 5). Bei Klinger liegt keine echte Frau auf dem Totenbett, sondern eine Prinzessin-Mutter. Das zierliche Säulenportal verleiht dem Blatt eine feierliche Harmlosigkeit.
2 Max Klinger, Die tote Mutter, 1885-98
detopia-2012: Auch in Zwickau im Museum hängt eine Tote Mutter.
wikipedia Max_Klinger *1857 in Leipzig bis 1920
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Alfons Mucha (1860-1939) steigerte das Todespathos von der sanften Sentimentalität zur Angstvision. Muchas Lieblingsthemen waren schöne, nachdenkliche, edle Frauen (er bildet hier eine Ausnahme unter den Symbolisten) und später die slawische Geschichte.
Der Abgrund von 1897-99 (Abb. 3) kontrastiert auf eigentümliche Weise mit Muchas anderen, meist heiteren Jugendstilarbeiten. Zwei Tote im Vordergrund haben die Unabänderlichkeit des Abgrunds, worin weitere Tote schemenhaft zu erkennen sind, anzunehmen. Trotz Pathos erweckt das Bild beim Betrachter Gefühle der Angst und der Hilflosigkeit. Das Erschauern, das Klinger anstrebt, aber nicht erreicht, läßt Mucha mit diesem Bild fühlen. Während Böcklins Toteninsel als Panorama eine etwas ferne, nüchterne Endgültigkeit verheißt, rückt diese in Muchas Arbeit ganz nahe. Die beiden Toten im Vordergrund und die beiden unwirtlichen Felsen im Mittelgrund lassen keinen Ausweg offen.
Böcklin, Klinger, Mucha stehen — wie auch Rops seit den 1860er Jahren, wie Redon vor seiner Bekehrung im neuen Jahrhundert, wie Alberto Martini (1876-1954) und seine überpathetischen Memento-mori-Bilder, wie Fernand Khnopff und seine Haßliebe zur Einsamkeit — für das Fin de siècle.
3 Alfons Mucha, Le gouffre (Der Abgrund), 1897-99
wikipedia Alfons_Mucha *1860 in Mähren bis 19939
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Das bedeutet, daß sie für uns eindeutig zum schwülen, schwülstigen 19. Jahrhundert gehören. In der bildenden Kunst drückte sich diese Schwere oft als Pathos aus, das dem modernen Betrachter als nichtauthentisches Gefühl erscheint. Den Symbolisten war dieser Überschwang, war diese unheimlich wirkende Stimmungsfülle jedoch adäquater Ausdruck ihrer Gefühlswelt. Sie ist nicht mehr unsere Welt. Das Fin de siecle bildete das Ende einer überladenen Gefühligkeit, wobei es zugleich, mit Ensor und Munch, die Voraussetzungen für eine — von heute aus gesehen — modernere Kunst schuf.
Für viele Symbolisten stellte das Jenseits eine reinere, bessere Welt dar. Während aus Böcklins Toteninsel noch eine gewisse ruhige Hinnahme des Todes spricht, läßt Mucha das reine Grauen erfühlen. Zur Jahrhundertwende hin veränderte sich die Auffassung von Tod und Trauer immer mehr. Der Schrecken wuchs. Typisch dafür sind die angstgetriebenen Visionen von James Ensor (1860-1949).
4 James Ensor, Satan et les légions fantastiques tourmentant le Crucifie (Satan und die phantastischen Legionen foltern den Gekreuzigten), 1886
wikipedia James_Ensor *1850 in Ostende bis 1949
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Dessen Kohle- und Bleistiftzeichnung des sterbenden Christus (Abb. 4) atmet nur Unheil. Der Titel des Blattes, Satan und die phantastischen Legionen foltern den Gekreuzigten, verkündet eine nietzscheanische Umkehr der christlich-abendländischen Werte. Der ohnmächtige Erlöser wird, wie die Menschheit, wie der geringgeschätzte Ensor selbst, nur noch gepeinigt. Kein Triumph über den Tod und das Böse, keine Hoffnung, im Gegenteil: Der Akt der Erlösung verwandelt sich in eine vom Satan beherrschte Höllenszene. Eine Kreuzigung, wie man sie noch nie gesehen hatte; das Ende einer Epoche, einer ikono-graphischen Tradition. Ensor wird mit seinem Schwanengesang auf die Bürgerwelt der Gründerzeit zum ersten Apokalyptiker der Vormoderne.
Wie Ensor konzentrierte sich Edvard Munch (1863-1944) auf die Darstellung menschlicher Gefühlszustände; dabei befreite er sich mit seiner Linienführung und Farbgebung von der äußeren Natur. Seine Themen waren die Einsamkeit, die Melancholie, die Angst, der Tod und die Liebe als bedrohliche Macht. Im Schrei von 1893 läßt sich das Signum einer ganzen Epoche lesen. Oskar Kokoschka schrieb: »Edvard Munchs tiefer schürfendem Blick war es gegeben, im scheinbar opportunistischen Fortschritt die panische Weltangst zu diagnostizieren.« Munch habe, so heißt es bei Kokoschka weiter, das Lebensproblem der Neuzeit, die Lebensangst, erkannt.
Die unbedingte Modernität dieses Künstlers überzeugt, weil er fähig war, die eigene Gefühlswelt in eine neue, ausdrucksstarke Bildsprache umzusetzen. Munch spricht für sich und für den modernen, haltlosen, kafkaesken Menschen. »Die Lebensangst hat mich begleitet, seit ich denken konnte«, schrieb er. Ein Vergleich der Radierung Die tote Mutter und das Kindvon 1901 (Abb. 5) mit Klingers Toter Mutter macht augenfällig, weshalb Munch einer neuen Epoche angehört.
Klingers gekrönte Prinzessin-Mutter kontrastiert mit Munchs abgearbeiteter Mutter, Klingers fast unbewegt erscheinendes Kind mit Munchs verzweifeltem Kind, dessen seelischer Schmerz es in den Wahnsinn treibt. Munch verzichtet auf Schnörkel und symbolisches Beiwerk. Er erfindet einen adäquaten Bildausdruck für die neue psychische Realität der individuellen und kollektiven Pein.
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Nach einer weitverbreiteten Ansicht sind die Décadence und die künstlerische Behandlung melancholischer Themen Phänomene vor allem der letzten Jahre des 19. Jahrhunderts. Das trifft nur insofern zu, als wir es im Fin de siècle mit einer besonders pathetischen, symbolischen Form der Nachtgedanken zu tun haben. Gerade im frühen 20. Jahrhundert wuchs der Pessimismus, je mehr sich die Gesellschaft dem Ersten Weltkrieg näherte. Im allgemeinen — aber nicht im besonderen der Kunstwelt — war der Fortschrittsglaube im 19. Jahrhundert ungebrochen.
5 Edvard Munch, Den dode mor og barnet (Die tote Mutter und das Kind), 1901
wikipedia Haager_Friedenskonferenzen 1899 + 1907
Man begrüßte unreflektiert jede neue Erfindung wie die elektrische Straßenbeleuchtung, das Auto, das Leitungswasser und die neue Hygiene. Man glaubte, der Mensch sei zu zivilisiert, um Krieg zu führen. Für viele Zeitgenossen bedeutete die hinsichtlich der Abrüstung ergebnislose zweite Haager Friedenskonferenz von 1907 jedoch einen Einschnitt. Wer sich freilich von Resolutionen täuschen lassen wollte, ließ sich weiterhin täuschen.
In Wien begannen sich erst um 1908 die Geister zu scheiden, nachdem Nietzsches lebensbejahende Lehre des Dionysischen lange Jahre vorherrschend gewesen war. Der Architekt Adolf Loos griff Klimts dekorative Kunst an. Karl Kraus kämpfte gegen die versteinerten bürgerlichen Institutionen von Staat und Kirche.
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Kubin, Kokoschka und Schiele erlebten ihren ersten Durchbruch. Werner Hofmann zufolge waren in Wien um 1910 zwei Themen von Bedeutung: das Ende der affirmativen Kulturlüge, mit der Europa seine zivilisatorische Überlegenheit behauptet hatte, und das Ende der Kunst als heilende Kraft. Frank Wedekind, Hugo von Hofmannsthal und Richard Strauss gehören in diesen Kontext.
6 Max Beckmann, Die Schlacht, 1907
Mit Armin Sandig läßt sich festhalten: Zwischen 1900 und 1914 oszillierte die Grundstimmung der Gesellschaft zwischen Niedergangsempfindung, Trauer, Verzweiflung, Erwartung und Hoffnung. Ebendiese Uneinheitlichkeit macht die Vorkriegsepoche so faszinierend. Die traditionelle Geschichts- und Kunstgeschichtsschreibung betont hingegen einseitig den großen kulturellen Aufbruch von 1905 bis 1910 und danach.
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Voller berechtigter Bewunderung zählt man Diaghilews Ballets Russes (ab 1909) auf, den Fauvismus von 1905/06, Picassos und Braques Kubismus ab 1907, Frank Lloyd Wrights neue Architektur, Prousts Konzeption der Recherche ab 1908, die Irish Renaissance, den deutschen Expressionismus, den Blauen Reiter und Kandinskys geistige Kunst, den Suprematismus, Konstruktivismus u.v. m. Man staunt noch immer über diese einzigartige Epoche frohgemuter Hoffnung und brillanter Weltentwürfe, von der wir noch heute zehren.
Werke wie Max Beckmanns Schlacht von 1907 (Abb. 6) lassen sich in dieses Schema nicht einordnen und werden daher gern übergangen. Beckmann (1884-1950), der sich zeitlebens mit dem Tod und den Visionen des Bösen beschäftigt hat, schuf hier ein geradezu prophetisches Bild. Bis zum Horizont schlagen Menschen aufeinander ein; Mord bis zum Horizont des Möglichen. Der vom Künstler antizipierte Massenmord geschah nach 1914 real. Freilich sind die Posen der Kämpfenden auf dem Gemälde noch zu theatralisch, noch zu gewollt. Zu sehr riecht das Bild nach Anatomiestudium. Insofern gehört dieses Pathos noch ganz ins 19. Jahrhundert. Das Werk ist als Zwischenbild zwischen wahrgewordener Prophetie und Gefühlsüberschwang interessant; ein Übergangsbild.
7 Ludwig Meidner, Apokalyptische Landschaft, 1912/13
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Rein expressionistisch und daher moderner waren die apokalyptischen Visionen Ludwig Meidners von 1912-16 (Abb. 7). Mit seinen granatenzerschlagenen Apokalyptischen Landschaften erreichte Meidner (1884-1966) eine bis dahin ungesehene Bildintensität. Die unruhigen, blitzförmigen Linien, die heftigen Farben, die vereinfachten Formen schufen eine neue Bildsprache. Nur die Wirklichkeit konnte Meidners Angstvisionen übertreffen. Deswegen verwundert es nicht, wenn Meidners expressive Leidenschaft angesichts der Schützengräben des Ersten Weltkriegs verstummte.
Meidner verstummte, die Kunst der Höllenvisionen verstummte. Keineswegs löste der Schock des Ersten Weltkriegs eine allgemeine Angstreaktion in der bildenden Kunst aus. In der Literatur lassen sich etwa Siegfried Sassoons und Wilfred Owens Antikriegsgedichte, lassen sich Karl Kraus' Letzte Tage der Menschheit, läßt sich die Lost generation ausmachen. In der bildenden Kunst reagierte neben George Grosz vor allem ein Künstler ohne zeitliche Verzögerung mit drastischen Gestaltungen auf den Krieg: Otto Dix.
Im Gegensatz zu George Grosz malte Dix (1891-1969) weder Kriegstreiber noch Profiteure. In seinem berühmten Schützengrahen von 1923 (Abb. 8), in der 1924 vollendeten Graphikmappe Der Krieg und im Dresdner Kriegstriptychon von 1927-32 zeigte er den Menschen als Opfer. Dix selber schrieb: »Ich glaube, kein anderer hat wie ich die Realität dieses Krieges so gesehen, die Entbehrungen, die Wunden, das Leid. Ich habe die wahrhaftige Reportage des Krieges gewählt, ich wollte die zerstörte Erde, die Leichen, die Wunden zeigen.«
Der Schützengraben belegt Dix' Anspruch auf eindrucksvolle Weise. Das Bild ist ein Horrorkonzentrat des Krieges. Zugleich spiegelt sein Schicksal eine ganze Epoche. Zur Neueröffnung des Kölner Wallraf-Richartz-Museums war es 1923 die Hauptattraktion, nur um aufgrund vehementer Proteste bald wieder abgehängt zu werden. Dresden kaufte es 1928 auf, 1937 wurde es in der Ausstellung »Entartete Kunst« gezeigt. Seit 1940 ist es verschollen.
Der Mensch als Opfer: ein Thema, das in der Kunst der zwanziger Jahre einen wichtigen Rang bekleidete. Von dieser Zeit an sollte es von Künstlern wie Barlach, Klee, Kokoschka, Masereel, Rouault, Radziwill, Hofer, Otto Pankok, Bacon und Hrdlicka aufgegriffen werden. Höhepunkte stellen etwa Max Ernsts L'ange du foyer von 1936 oder Picassos Guernica von 1937 dar.
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8 Otto Dix, Der Schützengraben, 1923
Käthe Kollwitz (1867-1945) erhob ihre leidenschaftliche Stimme gegen die soziale Ungerechtigkeit. Auch sie — deren Sohn Peter im Ersten Weltkrieg fiel — schilderte, wie Dix, den Krieg nur aus der Perspektive der Opfer, vor allem der Mütter. Stets wollte Kollwitz im Darstellen wie im Empfinden wahrhaftig sein. Städtisches Obdach von 1926 (Abb. 9) führt exemplarisch ein zentrales Kollwitz-Thema vor Augen: soziale Ungerechtigkeit, die Leid hervorbringt, das die Mütter tragen müssen.
Noch im absoluten Elend gefangen, versäumt diese Mutter ihre Schutzpflicht gegenüber ihren Kindern nicht. Bei Kollwitz sind die Frauen die Aktiven, so bereits im Weber- und im Bauernkriegszyklus. Aber sie sind auch die Passiven, die die Lasten der Männerwelt zu tragen und zu ertragen haben. Trotz ihres Leides verläßt die Mütter ihre tiefe Humanität nicht, weshalb Kollwitz' Arbeiten noch heute eine solche Überzeugungskraft innewohnt.
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Käthe Kollwitz steht für soziales Engagement in den zwanziger Jahren; vergleichbar arbeitete Walker Evans in den Dreißigern.
Evans (1903-1975) sah sich als moderner Fotograf, der das Fotomedium auf eine sozial-didaktische Weise benützte. Er verabscheute die ästhetisierende Fotografie und wählte - wie Michael Brix - geschrieben hat, die Realität als Leitstern. Seine Lehrer waren Flaubert und Atget. Seine eindrucksvollen, nüchternen Fotos verspotten den amerikanischen Traum und den Glauben an den sozialen Fortschritt, ohne jedoch in Propaganda zu verfallen.
9 Käthe Kollwitz, Städtisches Obdach, 1926
Bud Fields und seine Familie von 1936 (Abb. 10) zeigt ohne Romantisierung das armselige Leben der Sharecroppers in den Südstaaten. Menschliche Würde, Familienzusammenhalt, Charakterstärke und unbeschreibliche Armut sprechen aus dem Bild. Evans wollte nicht Sozialrevolutionär, sondern künstlerisch wirken und auf diese Weise den gutbürgerlichen Betrachter mit der ganz anderen Lebensweise der bettelarmen Baumwollfarmer konfrontieren.
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Mit August Sander, Dorothea Lange, Margaret Bourke-White, Alexander Rodtschenko und vielen anderen hält das Foto als neues Medium Einzug in die Kunstgeschichte. Walker Evans' Arbeiten sind paradigmatisch für diese Entwicklung. In diesen Fotografien wird auf eine neue Weise Wirklichkeit ungeschminkt eingefangen.
Die Fotokunst wird richtungsweisend sein für die Darstellung der Schattenseite dieses Jahrhunderts, erlaubt doch ihre Faktizität dem Betrachter kein Entkommen vor ihrem Wahrheitsgehalt.
10 Walker Evans, Bud Fields and His Family (Bud Fields und seine Familie), 1936
https://de.wikipedia.org/wiki/Walker_Evans *1903 in Saint Louis bis 1975
https://www.britannica.com/biography/Walker-Evans
Wilhelm Lehmbrucks (1881-1919) Gestürzter von 1915/16 (Abb. 11) wird zum Sinnbild einer Epoche, die trotz des gigantischen kulturellen Aufbruchs an ihrem Selbstverständnis zu zweifeln beginnt. Lehmbrucks empfindsame, feingliedrige Menschen, diese beinahe ätherischen Wesen weisen voraus auf die realen Opfer und auf die dunkelsten Jahre der Menschheitsgeschichte.
Der verfolgte Felix Nussbaum (1904-1944) »wehrt sich«, wie er 1939 schreibt, mit seiner Kunst gegen den Terror des Nationalsozialismus. In seinen Selbstbildnissen versuchte Nußbaum die Gewalt in seinem eigenen Gesicht detektivisch aufzuspüren.
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Mit seinem Blick wollte er der Lüge der Nazipropaganda von der Entmenschlichung des Menschen entgegenwirken. Seit 1943 mit seiner Frau in einem Versteck in Belgien verborgen, sah Nußbaum sich buchstäblich in die Ecke gedrängt. Im berühmten Selbstbildnis mit Judenpaß (Abb. 12), nach August 1943 entstanden, sucht der Künstler Schutz im Schatten einer Gartenmauer, die ihm zugleich die Fluchtmöglichkeit versperrt. Die Lebenszeichen Baum und Telegrafenmast vermögen nichts gegen die große, einengende Mauer, gegen die Unmenschlichkeit der doppelten Stigmatisierung durch Judenpaß und Judenstern auszurichten. Nußbaum bekannte sich zu seinem Judentum und verweigerte sich auf diese Weise der passiven Opferrolle; ein heroisches Bild des Widerstands angesichts der sicheren Vernichtung. Der Künstler und seine Frau wurden aufgrund einer Denunziation 1944 nach Auschwitz verbracht und dort ermordet.
Nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Völkermord in den Konzentrationslagern vermochte die Kunst unmittelbar erkennbare politische Aussagen nicht mehr hervorzubringen. Sie entwich in die Internationale des Informel. Wo sie sich zur Figuration aufraffen konnte, stand der existentielle Mensch mit seinen Ängsten im Zentrum. Alberto Giacomettis (1901-1966) Taumelnder von 1950 (Abb. 13) drückt die ganze Nachkriegsepoche und zugleich eine zutiefst menschliche Einsicht aus. Ohne göttlichen Beistand, ohne Sicherheit, ohne gewachsenen sozialen Zusammenhalt taumelt der moderne Mensch durch das Leben. Nichts ist ihm sicher außer dem eigenen Fall.
11 Wilhelm Lehmbruck, Der Gestürzte, 1915/16
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12 Felix Nußbaum, Selbstbildnis mit Judenpaß, 1943
Der unheilige Mensch verwandelt sich in ein Stück Fleisch. Namenlos und ohne Individualität, erscheint er nur mehr als blutiger Klumpen. Bei Ensor wird Christus gepeinigt. In Francis Bacons (1909-1992) Drei Studien für eine Kreuzigung aus dem Jahre 1962 (Abb. 14) kommt der Erlöser nicht mehr vor. Der Mensch ist zum Schlachthausobjekt geworden.
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13 Alberto Giacometti, L'homme qui chavire (Taumelnder), 1950
14 Francis Bacon, Three Studies for a Crucifixion (Drei Studien für eine Kreuzigung), 1962
Hatte Ensor ihn noch mit dem Schmerzensmann Christus verglichen, so verschwindet achtzig Jahre später die Jenseitigkeit völlig. Der Mensch als Gekreuzigter hat sich in einen Kadaver verwandelt, der aufgehängt wird, je nach Lust und Laune des Täters.
Der Opferstatus scheint besiegelt.
Opfer auch bei Andy Warhols Unfallserien.
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Im <Weißen Unglück I> von 1963 (Abb. 15) hängt der aus dem Auto herausgeschleuderte Tote am Mast, während ein Passant achtlos vorbeigeht. Warhol (1928-1987) benützte ein Zeitungsfoto typisch für das Verfahren der Pop-Künstler, Alltagsbilder in die Kunst hereinzuholen und dadurch deren Grenzen auszuweiten. Diese Arbeit repräsentiert ebenso wie Warhols Bilder des elektrischen Stuhls die Themen Gewalt, Tod und Opfer auf eindringliche und überaus aktuelle Weise. Die Unfall- und Todesbilder Warhols transzendieren die simple Welt der Massenmedien. Warhols Aussage gehört zum Ernsthaftesten der zumeist heiter-verspielten Pop-art. Gerade die Objektivität, mit der der Künstler die Alltagswelt wiedergibt, verweist auf die Kühle unserer Gesellschaft. Kein Mitleid, keine Hilfe. Ein Unfall, ein Mensch stirbt, and then is heard no more.
15 Andy Warhol, White Disaster I (Weißes Unglück I), 1963
Vereinfacht gesagt, wurden die siebziger Jahre vom Minimalismus und von der Concept-art beherrscht. Um 1979 kamen Malerei und aussagekräftige Figuration wieder zur Geltung. Künstler wie Anselm Kiefer (geb. 1945) wandten sich der blutigen deutschen Vergangenheit zu. Paradigmatisch dafür ist Sulamith von 1983 (Abb. 16). Verschlüsselt erzählt das Gemälde von Paul Celans ermordeter Jüdin, deren »aschenes Haar« mit dem der blonden Urdeutschen Margarethe kontrastiert wird. Die sieben Opferflammen lassen den Raum als Gedenkstätte für die im Konzentrationslager Ermordeten erscheinen.
Das kryptenartige Gebäude (Vorlage: die »Begräbnishalle für den Großen Deutschen Soldaten« in Berlin, 1939, von Wilhelm Kreis) weist durch die geschwärzte Decke auf eine ganz andere, obszöne Funktion hin: Es erinnert an einen Ofen.
Kiefers düstere Bilder behandeln die unheilvolle deutsche Geschichte, den Mythos und die Krankheit der Kunst in der modernen Gesellschaft. Elvira Bach (geb. 1951) hingegen widmet sich ganz der Gegenwart. Starke Frauen bevölkern ihre schwunghaft gemalten Bilder.
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16 Anselm Kiefer, Sulamith, 1983
Der Gleichheit aller Menschen setzte die Künstlerin ein bleibendes Memento. Das Frauenbild hat sich seit Käthe Kollwitz völlig verwandelt: Die Frau ist dynamisch und ebenso aggressiv wie der Mann.
Daß die falsch verstandene Stärke bar jeden Humanismus in Selbstzerstörung umschlagen kann, macht ein paradigmatisches Bild wie Geistesverwandte von 1985 deutlich (Abb. 17). Frauen, die Frauen bekämpfen, anstatt neue Formen des Zusammenlebens zu finden, vernichten sich selbst. Es ist ein Kampf sogar der Haare als Schlangen, der Fingernägel, der roten Augen, der Knie, des dolchartigen roten Schuhs. Ein anderer Aspekt: Ein hellhäutiges Wesen kämpft mit einem dunkelhäutigen Wesen bis auf den Tod. Ob damit auch der Nord-Süd-Konflikt angedeutet ist? Eines bleibt sicher: Zwei einander mordende Täter sind identisch mit zwei Opfern.
Die Kunstwerke, die in diesem Kapitel vorgestellt wurden, kann man zusammengefaßt als thematische Knotenpunkte in der nächtlichen Seite der Kunstentwicklung des 20. Jahrhunderts lesen. Dix' Schützengraben steht für das langanhaltende Trauma des Ersten Weltkriegs, Kollwitz' Städtisches Obdach und Walker Evans' Bud Fields und seine Familie für das soziale Elend der zwanziger und dreißiger Jahre, Nußbaums Selbstbildnis mit Judenpaß für den Holocaust und die Völkervernichtung des Zweiten Weltkriegs.
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Giacomettis und Bacons Arbeiten drücken die existentialistische Einsamkeit der fünfziger und frühen sechziger Jahre aus, Warhols Unfallbild verkörpert den kühlen Sensationalismus der sechziger Jahre, die Malereien Kiefers und Bachs die Beschäftigung mit der mörderischen Vergangenheit und der aggressionsgeladenen Gegenwart. Andere Beispiele wären denkbar. Man könnte mit Picassos Tod des Casagemas, 1901, und seiner unmittelbar daran anschließenden, von Trauer erfüllten Blauen Periode von 1901-04 beginnen. Fortzusetzen wäre der Strang mit Frida Kahlos Leidensbildern. Edward Hoppers Arbeiten, die die Einsamkeit und die Entfremdung behandeln, wären zu diskutieren. Am Ende stünden Robert Longos Bilder, die vom Kampf der Angestellten untereinander in den urbanen Konzernen zeugen. Das Ergebnis der Auswahl bliebe dasselbe: ein Jahrhundert der wohlbegründeten Angst und des realen Schreckens.
17 Elvira Bach, Geistesverwandte, 1985
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Das Fin de siècle des 19. geht nahtlos über in das Fin de siecle des 20. Jahrhunderts. Trotz der Ähnlichkeiten gibt es jedoch große Unterschiede.
Die Themen Tod und Melancholie beherrschten das gesamte 19. Jahrhundert und fanden ihre Zuspitzung im Symbolismus. Das Todesthema setzt sich geradlinig bis zum heutigen Tag fort. Die Melancholie hingegen mit ihrer Schwüle, ihrer Sehnsucht und ihrer Morbidität gehört eindeutig ins vergangene Jahrhundert. Die mystische Sehnsucht nach der wahren, besseren jenseitigen Welt will uns heute nicht mehr überzeugen. Der Satanismus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erscheint dem modernen Kunstrezipienten melodramatisch. Zu diesem Komplex von Mystik und Satanismus des 19. Jahrhunderts gesellt sich der symbolistische Gedanke der irdischen Hölle. Sie war eher gedacht denn real, auch wenn sich hinter der Darstellung der Welt als Hölle die Revolte der Boheme gegen die sie einengende Spießerwelt verbirgt.
Die gedachte irdische Hölle in der Kunst des 19. Jahrhunderts wird in der Kunst des 20. Jahrhunderts real. Die Antibürgerlichkeit der revoltierenden Bohemiens des 19. Jahrhunderts verließ den Gefühlsbereich nicht. Das heißt nicht, daß die Kritik dieser Künstler an Enge, Doppelmoral und Bevormundung nicht berechtigt gewesen wäre. Doch erst die kriegerischen und sozialen Konvulsionen im 20. Jahrhundert wandelten die seelische Verweigerung zur zugespitzten Anklage. Es ist daher folgerichtig, wenn das Thema »der Mensch als Opfer« in diesem ganzen Jahrhundert an Bedeutung gewann. Picassos Guernica von 1937 schrie in grandioser Zusammenfassung den Objektstatus des Subjekts in die Welt hinaus.
Beginnend mit Ensor und Munch, wird der gedachte Horror des 19. Jahrhunderts zum wirklichen des 20. Jahrhunderts. Schon mit der Neuen Sachlichkeit waren Schwüle und Poesie aus der Kunst verbannt worden. Die Kunst nach dem Ersten Weltkrieg gab sich härter, brutaler, schonungsloser und zugleich nüchterner, als man es je zuvor gesehen hatte. Das Poetische geriet in den Verdacht der Unaufrichtigkeit.
Trotz des negativen Bekenntnisses zu sich selbst drückte die Kunst des 19. Jahrhunderts eine große Sehnsucht nach dem Goldenen Zeitalter und dem Paradies aus. Bereits die Künstler der Jahrhundertwende jedoch — denkt man etwa an den frühen Paul Klee — hatten nur mehr ein sarkastisches Verhältnis zu dieser Sehnsucht, die bald, im Granathagel von 1914, vollends untergehen sollte. Expressionismus und Neue Sachlichkeit zeigten mit je eigenen Mitteln die schöne neue Welt — eine der innerlich und äußerlich blutenden Wunden.
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Mit dem Abschied von der Morbidität zog nach 1910 der reale Tod in die Kunstgeschichte ein. Die Symbolisten verteidigten, wie Hans Hofstätter schrieb, die Idee gegen die Tagesrealitäten. Die Kunst des 20. Jahrhunderts, die sich mit der Nachtseite des Daseins beschäftigt, gab der Idee einen Fußtritt. Ganz im Gegensatz zu Kandinsky und dessen ästhetisch-moralischer Euphorie hielten und halten viele Künstler die Idee einer irgendwie gearteten anderen oder höheren oder besseren Welt für schal.
Natürlich gab es das Phänomen ausgesprochener Krisenstimmung schon mehrmals in der Geschichte: am Ende des Römischen Reichs; kurz vor dem Jahr 1000, als man den Weltuntergang erwartete; im 14. Jahrhundert nach dem ersten Auftreten der Beulenpest von 1348/49; im gesamten und insbesondere im späten 19. Jahrhundert. Aber das Krisenbewußtsein am Ende des zweiten Jahrtausends besitzt eine neue Qualität. Auf künstlerische Weise spitzt es die realen Höllenvisionen des gesamten 20. Jahrhunderts zu.
Das Gewaltthema und das Thema »der Mensch als Opfer« setzten sich von Beckmanns früher Arbeit von 1907 bis zum heutigen Tag fort. Bei Bruce Nauman, Marcel Odenbach, Jeff Wall und Gottfried Heinwein wandeln sich zwar die künstlerischen Mittel radikal, nicht aber das Thema selbst. Bei Chris Bürden schlägt die Aggression um in den selbstzugefügten Schmerz. Bei Kiki Smith ist die Frau das Opfer der Erniedrigung und Beleidigung. Überhaupt drückt sich in der Body-art der frühen neunziger Jahre eine Art toter Körperlichkeit aus. Auch der Leichnam bestätigt die Körperlichkeit des Menschen. Bei Jürgen Brodwolf erinnern die Körper an Mumien, bei Smith an ausgelaugte Objekte, bei Cindy Sherman an sexuell mutierte, zerstückelte Schaufensterpuppen, bei Steven Hudson an aus dem Paradies Verstoßene. Der menschliche Körper wird in der Kunst unseres Fin de siecle als unterworfenes und gedemütigtes Objekt gesehen.
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Nachdem die Malerei seit den sechziger Jahren als zentrales Medium des künstlerischen Ausdrucks verdrängt worden ist, sind immer mehr Künstler neue Wege gegangen. Naumans Neonröhren verbinden auf beispielhafte Weise Kunst und Alltag. Das Billige, Abgeschmackte der Reklameröhre erinnert an die Alltäglichkeit der Gewalt. So brutal die Neonröhre, so brutal die Gewalt. Auch Naumans andere Installationen, etwa das Südamerikanische Dreieck (Abb. 44), schaffen mit der scheinbar formalen Geometrie eine Atmosphäre der Angst.
Insbesondere das Video und das Foto sind die heute geeigneten Medien für Gewalt- und Todessujets. Die Fotografien von Jeffrey Silverthorne, oberflächlich gesehen Dokumente, wirken als solche echt und wahrhaftig. Nachdem die Pathetik des Sterbens und des Todes von der Malerei ad nauseam dargeboten wurde — man denke an die Historienmalerei des 19. Jahrhunderts mit ihrem Schlachtengetümmel —, vermag das kühle, objektive Foto durch die unmittelbare Konfrontation mit dem Angesicht des Todes eine emotionale und nicht zuletzt künstlerische Wirkung zu erzielen, die den Effekt eines Ölbilds mit denselben Sujets, durch den Maler vermittelt, weit übersteigt.
Das künstlerische Video mit seiner Opposition zu Fernsehen und Video als Massenmedium erschließt, erst recht in der Form der Videoinstallation, ein neues Feld ästhetischer Wahrnehmung. Die Subtilität von Marcel Odenbachs Videos und Videoinstallationen gegen die Gewalt spottet eo ipso der Vulgarität der internationalen Fernsehkultur. Schließlich die Performance, etwa der Survival Research Laboratories und Chris Burdens: Wie das Environment und wie Fluxus richtet sich die Performancekunst gegen das vermittelte Wirklichkeitserleben der elektronischen Unterhaltungsmedien.
Die künstlerischen Medien Video, Foto, Performance erstreben eine vertiefte Erlebnisintensität und eine unmittelbarere Konfrontation mit den Sujets Tod, Gewalt und Untergang, als sie die Malerei allein hätte vollbringen können. Kiki Smith' bienenwachsweiche Körperobjekte, Christian Boltanskis assoziationsreiche Installationen und Environments, Jeff Walls und Hans Danusers fotografierte Chroniken einer gewaltreichen Welt sind dieser Zeit und den neuen medialen Gegebenheiten absolut adäquat. Diese Zeit: eine Gegenwart voller Schall und Wahn, bedeutsam nur durch die Kunstprodukte, die sie, mit Recht, denunzieren.
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Die zeitgenössische Condition humaine, wie sie von Künstlern neu geschaffen wird, läßt sich an Schwärze kaum überbieten. Christa Nähers Bilder aus den achtziger Jahren, vor ihrer Wandlung von 1992, zeugen von der Ausweglosigkeit der irdischen Hölle. László Fehérs Bilder weisen auf die Vergänglichkeit aller Menschen hin. Bei Werner Knaupp rollen die Schädel der Toten durch die Welt. Sogar die positive Botschaft eines Joseph Beuys gilt in den achtziger Jahren nicht länger uneingeschränkt: Der Mensch, zu Stein erstarrt, kündigt auf fürchterliche Weise das Ende unseres Jahrtausends an.
Der Tonfall der Kunst wird am Ende des Jahrhunderts immer schriller. Der Tod hat seinen Stachel nicht verloren. Im Gegenteil. In den achtziger Jahren beginnt die Kunst, das letzte in der westlichen Gesellschaft weithin tabuisierte Thema neu zu erobern: nicht die Sexualität, sondern den verdrängten Tod.
Seit den achtziger Jahren haben sich Enzo Cucchi und Christian Boltanski intensiv mit dem Todesthema auseinandergesetzt, nachdem dieses Sujet in den sechziger Jahren von Warhol und dem Wiener Aktionismus künstlerisch verarbeitet worden war. In den siebziger Jahren entstanden Jeffrey Silverthornes erste Leichenschauhausfotos und Arnulf Rainers Übermalungen von Totenmasken und Totenportraits. Virulent wird das Thema am Ende der achtziger und am Anfang der neunziger Jahre bei Robert Mapplethorpe, Hans Danuser, Jeffrey Silverthorne und Andres Serrano, besonders im Medium der Fotografie. Tua res agitur: so lautet die Botschaft beim Betrachten eines Leichenfotos.
Die Beschäftigung mit dem Todesthema kann man von der in Künstlerkreisen grassierenden Aidserkrankung nicht trennen. Susan Sontag hat auf den realen und metaphorischen Gehalt der Immunschwäche hingewiesen. Sie sieht Aids als den Wendepunkt in der gegenwärtigen Einstellung zur Sexualität, zur Krankheit, zur Medizin und überhaupt zum Katastrophenbewußtsein. Aids, schreibt sie, verstärke die breite Tendenz zur Endzeitstimmung, die das Kernwaffenzeitalter bereits gefördert habe. »Aids beschäftigt einen großen Teil unseres Bewußtseins wegen dem, wofür es steht: Es erscheint als der Inbegriff all jener Katastrophen, die privilegierte Populationen auf sich zukommen fühlen.«
Bei Mapplethorpe, Serrano, Shozo Nagano, um nur einige zu nennen, ist Aids selbst zum Thema der Kunst geworden. Darüber hinaus leistet es einer Katastrophenmentalität Vorschub, die Sontag kritisch »apokalyptisches Geschwätz« nennt. Freilich wird Aids die Weltbevölkerung nicht auslöschen, doch Sontag übersieht den realen Hintergrund der Ängste.
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Den täglich drohenden GAU des atomaren Komplexes, die irreparablen ökologischen Schäden kann man nicht als Gegenstand bloßen Geschwätzes abtun. Diese endlich erkannten und rasch zunehmenden Gefahren — man denke etwa an die dramatische Verringerung der lebenswichtigen Ozonschicht — existieren tatsächlich.
Die Endzeitstimmung widerspiegelt eine tiefe Legitimationskrise der Gesellschaft ebenso wie eine Funktionskrise der westlichen Demokratien. Auch das vor 1914 stetig wachsende Angstgefühl besaß reale Ursachen: die Unfähigkeit der europäischen Mächte zum Frieden, die aberwitzige Aufrüstung des deutschen Kaiserreichs und das damit verbundene »Hineinschlittern« in den Weltkrieg.
Nimmt man die Endzeitstimmung in der Kunst heute als Ausdruck einer allgemeinen Krise ernst, billigt man ihr eine neue Qualität zu. In der gesamten Menschheitsgeschichte hat es das unglückliche Zusammentreffen so vieler zerstörerischer Phänomene noch nicht gegeben: die anhaltende Wirtschaftskrise, die Krise des Vertrauens in die Gesellschaft und — nach Auschwitz — in den Menschen überhaupt, die Ernüchterung nach den osteuropäischen Umwälzungen von 1989, die zahllosen lokalen Kriege.
Aids mag einen unmittelbaren Anlaß für die Endzeitstimmung vorgeben. Die ökologischen Zerstörungen sind in ihrem Weltvernichtungspotential aber weitaus gravierender als alle anderen Phänomene zusammengenommen.
Der mörderische Feldzug des Menschen gegen die Natur findet seit den achtziger Jahren seinen Niederschlag in der Kunst. Tim Heads Welt wird vom zivilisatorischen Abfall und der (Gen-)Mutation beherrscht; letzteres auch bei Laurie Hogin.
Bei den Survival Research Laboratories geht die Maschinenwelt im simulierten Krieg mit Pauken und Trompeten unter. Alice Stepanek und Steven Maslin zeigen eine sterbende Natur und setzen ihr zugleich das letzte Denkmal. In den Bildern Karin Kneffels brennen die Wälder. Helmut Schweizer verwandelt in seinen Werken die Erde in eine einzige apokalyptische Atomruine. Cindy Sherman schließlich konstatiert das Ende des Eros, das Ende der menschlichen Fortpflanzung und den Eintritt in das posthumane Zeitalter. Thanatos regiert, die Apokalypse setzt ein. Die zeitgenössische Fin-de-siécle-Kunst ist nicht morbid-verspielt oder ideenverliebt wie die Kunst des späten 19. Jahrhunderts.
Gegenbilder einer heilen oder besseren Welt, wie sie etwa der Konstruktivismus der zwanziger Jahre formulierte, werden nicht mehr entworfen. Diese unsere Fin-de-siecle-Kunst geht unter die Haut, weil billige Effekte mit Tabubrüchen vermieden werden. Mit neuartigen und zeitadäquaten Mitteln wie der Neonröhre oder dem Foto oder dem Video wird Gefühlsintensität nicht zelebriert oder gar genossen, wie Sontag den angeblichen Endzeitfreunden pauschal vorhält.
Die schonungslose zeitgenössische Kunst bezieht ihren Stoff aus der zeitgenössischen Welt voller körperlichen und seelischen Elends. Die zeitgenössische Kunst wird auf bizarre Weise von einer Welt des Mordes und des Totschlags und des Krieges inspiriert; von einer Menschenwelt, die ihre natürliche Mitwelt en passant vergiftet. Die Kunst des zweiten Jahrtausendendes faßt ihre Zeit in den Bildern, die die Gesellschaft selbst hervorbringt.
Wer diese Kunst nicht beim Wort nimmt, besitzt ein gerüttelt Maß an Verdrängungskapazität. Man streife die von Günther Anders so bezeichnete »Apokalypseblindheit« ab, auf daß man sehend werde.
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wikipedia Susan_Sontag 1933-2004
Gregory Fuller 1994 Endzeitstimmung