Johan Galtung 

Wie Zukunft 
Gestalt annimmt....

Biografische Notizen 1998  

 

  

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Hier sitze ich nun, mein PC auf dem Tisch des Zuges, während die tulpenbedeckte holländische Land­schaft vorbeirollt. 

Es gibt keinen Ausweg. Sie bestehen einfach darauf, diese Herausgeber, daß ich über mich selbst schreibe. Ich versuchte, sie mit epistemologischen Delikatessen zu füttern: dem Bankrott der Internationalen Bezieh­ungen im US-Stil — besonders an selbst­stilisierten "Elite"-Universitäten1), wo die Disziplin <Internationale Beziehungen> ordentlich seziert, in Teile geschnitten und zwecks Selbstbedienung der US-Ideologie dekonstruiert wird. Auch das wurde abgelehnt, und dies ohne politischen Grund. Sie wollten schlicht einen Essay darüber, wie ich der Friedens­forscher wurde, der ich vorgebe zu sein. Sie wollten, daß ich über mich schreibe. Eine strukturelle Theorie, aber nicht über Imperialismus und Gewalt, sondern über mich. Und ich nehme wahr, wie Redseligkeit der Zurückhaltung weicht, die in einer gewissen Schüchternheit im Wesen der Norweger begründet liegt, sich ihr sogar beugt. 

Damit vermischt sich die Befürchtung, daß hier die Offenheit, die ich als Sozial­wissenschaftler versuche zu praktizieren — indem ich nicht nur Tabus breche, sondern mich (einige würden sagen: auf krankhafte Weise) von ihnen anziehen lasse —, an ihre innere Grenze kommt. Es ist nicht so sehr die Sorge, daß ich unehrlich und rechtfertigend sein könnte, als der Ausdruck eines Bewußtseins von Inkompetenz. Ich weiß einfach nicht, wie ich es machen soll! Autobiographie: der Ausdruck riecht, stinkt sogar nach Narzißmus.

Also lassen Sie mich mit einem Punkt außerhalb von mir beginnen, mit meinem Vater, der ein halbes Jahrhundert vor mir geboren wurde in einer kleinen Stadt nahe Oslo. Er stammte von der ältesten norwegischen Familie aus den Zeiten der Wikinger ab, einer Art von Adel. Er war praktizierender Christ, ein Leutnant der norwegischen Armee, die mobilisiert wurde, um den Schweden einen heißen Empfang zu bereiten, falls die Auflösung der Union 1905 nicht erfolgreich sein würde, und um die norwegische Neutralität 1914 zu schützen. Von seiner Ausbildung her war er Arzt.

1)  Der englische Ausdruck ist "place of excellence", Ort herausragender Leistungen; d. Ü. 


In den 20er Jahren war er Vize-Bürgermeister von Oslo für die Konservativen. Er machte einen Abschluß in Wirtschafts­wissen­schaften und versorgte gleichzeitig die Patienten, die in seiner Privatpraxis Schlange standen. Er war Chefarzt im Städtischen Krankenhaus von Oslo, ein Liebhaber Frankreichs und der französischen Sprache und ein göttlicher Geschichten­erzähler. Er war ein charmanter, lieber und liebens­würdiger Mann und wurde von seinem einzigen Sohn offenkundig geliebt.

Ich kam am Ende seiner Karriere. Er hatte Zeit für mich. Es gab fast nie ein schroffes Wort, keine Bestrafung, viel Belohnung. Sehr viel Liebe (soviel, daß ich — eher ineffektive — Selbstmordpläne machte für den Fall, daß er starb). Er sagte mir zwei Dinge: Ich sei auf mich allein gestellt, könne tun, was ich wolle und würde erfolgreich sein, wenn ich hart arbeitete. Und zum anderen: noblesse oblige.2) Kurz: Oberklassen-Ideologie. Aber nicht der schlechtesten Sorte.

Er verzog mich sanft und mit Stil. Ich begann, Fragen zu stellen; er tat sein Bestes, mir zu antworten. Aber was wichtiger ist: Er ermutigte mich, weitere Fragen zu stellen — warum ist dies so, warum ist das so und warum soll ich das und das tun?

"Warum bist du ein Christ?", fragte ich einmal meinen Vater. Weder seine Antwort noch die Bücher, die ein zwölfjähriges Kind lesen konnte, befriedigten mich. Am 24. Oktober 1945 war ich um 9 Uhr im Büro des örtlichen Priesters, um aus der Staatskirche auszutreten. Das war der Tag, an dem ich 15 Jahre alt wurde, das Mindestalter für diesen Unabhängigkeitsakt, und um 9 Uhr öffnete das Büro. "Typisch christlich", bemerkte meine japanische Frau verständnisvoll, als sie 25 Jahre später davon erfuhr.

Zwei andere Vorfälle, etwas wichtiger, ereigneten sich auch an diesem Tag — einer in San Francisco, der andere in Oslo. Die Charta der Vereinten Nationen wurde unterzeichnet, wodurch ein neuer zentraler Friedens­versuch aus der Taufe gehoben wurde. Und Quisling, unser lokaler Nazi, wurde als Verräter hingerichtet. Der Frieden war jung und frisch in diesem Herbst, ein halbes Jahr nach dem "Tag des Sieges"3.

Ich vergalt es meinem Vater schlecht, indem ich zugunsten von Humanismus und, viel später durch Gandhi-Studien, zugunsten eines Hanges zum Buddhismus seinen Glauben verließ. Ich verließ ihn auch politisch. Sein Konservatismus war vom sanften Noblesse-oblige-Typ, und mein Vater tat viel im Bereich der Gesundheitspolitik, besonders in der präventiven Medizin. Aber das war nicht die allgemeine Haltung der sozialen Klasse, in der ich aufwuchs, einschließlich meines Schulunterrichts.

2  Adel verpflichtet; d.Ü.
3  V-E Day / V-Day: Der Tag des Sieges im 2. Weltkrieg, der 8. Mai 1945; d.Ü.

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Die allgemeine Vorstellung war, daß der Arbeiter zu dumm für etwas anderes als niedrige Arbeit sei, unmoralisch und gefährlich, ein potentieller Dieb und ein Triebtäter; es sei denn, daß er gerade aus Neid Revolutionen plante und schöne Häuser von bürgerlichen Familien wie meiner niederbrannte. Einige Leute wurden so geboren. Andere — wie wir — wurden für die höheren Sphären der menschlichen Existenz geboren: für das Kultivierte und Zurückhaltende im Leben, in der Lust und in der Liebe, und das etwas weniger Zurückhaltende in bezug auf Macht und Privilegien. So war es, und mehr noch, das war die Art, wie es immer bleiben sollte. "Damit eine Gesellschaft funktioniert, müssen einige Menschen oben sein und einige Menschen unten" — wie häufig habe ich das gehört, von sehr nahen Verwandten.

Ich entschied mich, es selbst herauszufinden. Mein Fahrrad brachte mich weiter und weiter weg von "unserem" Stadtteil Oslos, aufs Land und weiter. Ausflüge in soziale Räume, um den sozialen Körper und Geist zu erforschen, bevor ich mit etwas Erfreulicherem und Gegenseitigerem anfing: junge Mädchen zu erforschen. Im Rückblick klingt es so naiv, aber für mich waren diese sozialen Untersuchungen wichtig. Ich fand Menschen der Arbeiterklasse, die weniger von Sauberkeit und Ordnung und weniger von ihrem Besitz besessen waren, die statt dessen spontaner waren, die sangen und laut redeten, die bereitwilliger teilten und den Fahrradfahrer hereinbaten. 

Ihre angeborene Neigung zu stehlen, zu lügen und faul zu sein, materialisierte sich nicht. Ich fand auch heraus, daß sie sich über seltsame Sachen unterhielten: nicht, daß sie nicht etwas "erreichen" wollten, aber alle möglichen Dinge standen im Weg. Vor allem die Schulausbildung: Der Oberstufen­abschluß war der Engpaß, das Nadelöhr, durch das alle Kamele gehen mußten. Aber Menschen der Arbeiterklasse mußten zum Familien¬einkommen beitragen, bevor sie ihn erreichten — es blieb keine Zeit, um den Oberstufenabschluß zu machen.

Diese Erkenntnis traf mich an einem besonderen Punkt. Ich mochte die Schule überhaupt nicht. Während ich erfolgreich von Klasse zu Klasse trieb, verglich ich das, was gelehrt wurde, mit anderen Büchern und fand zu viele Diskrepanzen. Schule war Ideologie und ganz sicher nicht meine Ideologie — außer um Sprachen zu lernen, was von meinem Vater stark unterstützt wurde. Die Schule predigte evangelischen Lutherismus, norwegischen Nationalstolz, chronische Anglophilie und völlig unbrauchbare Mathematik. Irgendwie wurden selbst die faszinierendsten Themen staubig. Der Verdacht wurde zur Gewißheit: All dies wurde getan, um Menschen draußen zu halten, um einen Keil zu treiben. Sicherlich, Latein und Griechisch gab es nicht mehr, aber ihre Nachfolger gab es, und sie dienten dem gleichen Zweck.

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Als ich sechzehn Jahre alt war, trat ich der Jugendsektion der Norwegischen Arbeiterpartei bei. Ich wurde sehr enttäuscht. Ich erwartete etwas von der Wärme, die ich außerhalb meines großbürgerlichen Zirkels gefunden hatte, und fand statt dessen Neid, Habgier und politische Tricks. Die Vorstellung, die die Oberschicht von der Arbeiterpartei hatte, war fast genau so verrückt wie die umgekehrte. Ich war nicht in der Lage, Brücken zu bauen — weder außerhalb noch in mir. Mein Interesse nahm ab (später kam heraus, daß der Chef der örtlichen Jugendsektion ein Informant der US-Botschaft war, ein Teil der örtlichen McCarthy-Operation. Kein Wunder, daß es nicht funktionierte.).

Aber die grundlegende Orientierung, Solidarität mit den unteren Schichten der Gesellschaft, blieb. Und — ganz nützlich für einen Sozialwissenschaftler — ich lernte, daß soziale Dinge ganz allgemein nicht so sind, wie sie auf den ersten Blick erscheinen — und sicher nicht so sind, wie sie in den Schulen gelehrt werden. Lügen, Lügen, Lügen; ich wurde auch belogen. Und es gefiel mir nicht. Eine anhaltende Voreingenommenheit.

Wurde ich rachsüchtig? Vermutlich. Ich wollte zurückschlagen. Arme Lehrer. Ich saß arrogant hinten im Klassenzimmer mit tadellosen Zensuren in allen Fächern (außer in Christentum — dort hatte ich schlechte Zensuren wegen Mangels an Demut), feuerte meine Fragen ab und nagelte diese Gang von Hochstaplern fest, die sich als Lehrer ausgaben. Da diese weiser und sanfter waren als ich, fanden sie eine Lösung: Sie ließen mich unterrichten. Im Alter von fünfzehn Jahren war ich so etwas wie ein Lehrassistent, einschließlich der Pausen, wenn die gesamte Klasse in einer Ecke des Schulhofs meine "autorisierten" Übersetzungen und Antworten auf mathematische Probleme erhielt.

Unnötig zu sagen, daß dies bedeutete, daß ich mich vorbereiten mußte. Ich hatte Verantwortung. Ich dachte auch, ich würde etwas Subversives tun. Die Lehrer waren jedoch glücklich: Meine Energien wurden konstruktiv genutzt; meine Klassenkameraden nahmen von mir bereitwillig Wissen an, das sie — erfolgreich — im Klassenzimmer mit einem Achselzucken abgetan hätten. Und es packte mich. Zusätzlich entdeckte ich, daß man aufblüht, wenn man herausgefordert wird, und wie man zusammenfällt, wenn man sitzt und passiv etwas aufnimmt, das andere bereits be- und verarbeitet haben.

In der Zwischenzeit waren die Internationalen Beziehungen in einer sehr konkreten Weise zu mir gekommen. Am 9. April 1940 marschierten grün uniformierte deutsche Soldaten durch die Straßen Oslos, nahe meinem Haus. Man könnte sagen, ich begann mit den Internationalen Beziehungen durch eine Begegnung der Dritten Art.

Nicht daß die Deutschen, die gehorsam für ihr Naziregime marschierten, wirklich "unidentifiziert" waren — wenn sie auch das zweite Kriterium eines guten UFOs, "fliegend", erfüllten: aber sie waren außerirdisch in dem schlichten Sinne, daß sie überhaupt nicht auf die Straßen Oslos gehörten und, mit Waffen vollgespickt, unsere erschreckte, verblüffte Obrigkeit vertrieben, die die Zivilgesellschaft in ihren Händen zurückließ.

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Also schmeckten Internationale Beziehungen schlecht. Um so mehr, als die "Begegnung der Dritten Art"-Qualität von den Deutschen dadurch gesteigert wurde, daß sie meinen Vater einluden, ein Fahrzeug in Richtung auf das Tausendjährige Reich zu besteigen, zu einem Konzentrationslager nahe Oslo. Jeden Sonntag konnte ich in einiger Entfernung daran vorbeigehen, im Winter auf Skiern, um auf das Lager herunterzublicken. Unten waren Hunderte, Tausende Gefangene, die in Schwarz gekleidet waren, vereinzelt eine deutsche Wache in Grün, die sie mit einer Waffe in der Hand beobachtete. Einer dieser schwarzen Punkte war mein Vater. Einige der grünen Punkte waren nett, lernten wir später. Andere waren es eindeutig nicht.

Meine Mutter war phantastisch. Mit meinem Vater im Konzentrationslager und meinen beiden Schwestern als politische Flüchtlinge in Schweden war die Familie auf zwei Personen geschrumpft. Jeden Morgen griff ich mir die Zeitung, weil ich die schlimme Schlagzeile fürchtete: "Dr. Galtung wurde hingerichtet als Vergeltung für ...". Das war einem Chefarzt-Kollegen von ihm passiert. Wir hatten Glück. Er kam zurück.

Meine zweite Begegnung mit den Internationalen Beziehungen fand 1949 statt. Ich war 18 und wurde, wie andere Männer in einem Land mit allgemeiner Wehrpflicht, zum Militärdienst eingezogen. Es war eine Begegnung der zweiten Art. Irgendwie gerieten Internationale Beziehungen, der "Ost-West-Konflikt" und all das in den Hintergrund, obwohl sie immer noch sichtbar waren — aus einer sicheren Entfernung. Was eindeutig im Vordergrund stand, war die Beziehung zu etwas, was myndighetene in meiner Sprache heißt, Obrigkeit im Deutschen: bei weitem der beste Ausdruck für etwas, das eigentlich nicht übersetzbar ist — "die Oberherren" oder so ähnlich. 

Meine zentrale Frage wurde: 

1953 erhielt ich die Chance, dies herauszufinden. In einer der ersten Studentendelegationen aus dem Westen ging ich in die Sowjetunion. Stalin starb, als wir dort waren; tatsächlich erreichte uns die Nachricht seines Todes genau in der Stadt, in der er geboren wurde, in Gori in Grusinien. Die Geschichte ist schlicht. Nicht, daß ich nicht herausfand, daß das meiste der schlimmen, sogar gräßlichen Dinge, die über die Sowjetunion gesagt wurden, stimmte.

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Der Punkt ist, daß ich noch viel mehr fand. Wieder einmal war ich das Opfer verblödender Propaganda geworden, einiges davon hausgemacht, viel davon als "His Master's Voice", made in USA. Die Sowjetunion wurde als eine Einheit dargestellt, als eine Nation, und erschien als ein "Akteur" in etwas, das Internationale Beziehungen genannt wurde. Was mich aufregte, war nicht das pars-pro-toto4)-Argument, das die schlechten Eigenschaften einiger Menschen in einem Land auch allen anderen zuschreibt. Vorurteile, mit anderen Worten. 

Das ist beinahe unvermeidlich; und zudem ist ein nachteiliges, stereotypes Merkmal, das in 80 Prozent der Fälle zutrifft, kaum zu ignorieren. Doch in der Konstruktion der dortigen Welt kamen überhaupt keine Menschen vor, weder gute noch schlechte, wie sie für gewöhnlich sind. Das einzige, was gesehen wurde, war der Nationalstaat und das System. Ich fand das verrückt. Alle diese reizenden Menschen, die von der Geschichte so schlecht behandelt wurden, wurden reduziert auf "UdSSR". Punkt. Schlimmer als verrückt: dumm.

 

Die dritte Begegnung mit den Internationalen Beziehungen kam später. Es war eine Begegnung der ersten Art: ein Lehrbuch über Internationale Beziehungen. Ich werde nicht verraten, welches. Aber der Autor war ein vielbewunderter Europäer, und sein Ansatz wurde als so realistisch bejubelt, da er sagen würde, wie es wirklich wäre. Aber das Buch war nur eine Abstraktion, weit entfernt von jeder realistischen Vorstellung. Wo ich die Welt zweigeteilt sah in Regierungen und Bevölkerung, die auf der ganzen Welt die gleichen Probleme mit ihren Regierungen hatten — eins davon war, daß Regierungen dachten, sie hätten das Recht, junge Männer aufzufordern, ihr Leben zu geben für Gründe, die von Staaten definiert und den Medien propagiert wurden —, sah er die Welt geteilt in Staaten.

Nicht daß er Unrecht hatte und ich Recht. Die Staaten waren sicherlich real. Aber sie waren nicht die einzige Realität der "Internationalen Beziehungen". Politikansätze, die auf dieser Abstraktion basieren, können Realpolitik genannt werden, aber das macht sie nicht "realistisch". Zudem macht jede Vorstellung, die die Welt als anarchischen Dschungel mit herumstreifenden egoistischen, habgierigen Nationalstaaten sieht, sie genau zu dem.

So wurde ich ein Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen und verriet meinen Vater zum dritten Mal, diesmal den Offizier in ihm. Nicht, daß ich dachte, dies sei ein perfekter Standpunkt, der frei von jedwedem Widerspruch sei. Tatsächlich fügte ich dem Brief, der den Justizminister um Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen bat, die Bitte hinzu, die später das Thema meines Lebens wurde: "Um all dies weiter zu erforschen, möchte ich mein Leben den Friedens­studien widmen."

4 Redefigur, die einen Teil als Ausdruck des Ganzen setzt; d.Ü.

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Damals, 1951, nachdem ich mich drei Jahre mit dem gequält hatte, was mein Vater mich gelehrt hatte: immer weiter zu fragen, hatte ich kaum eine Vorstellung, was Friedensstudien wirklich bedeuteten. Irgendwie habe ich genau das getan, dank der allgemeinen Wehrpflicht in Norwegen.

Das Lager für Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen war lächerlich. Ich absolvierte die zwölf Monate, in Anlehnung an die Länge des Militär­dienstes, indem ich Bäume fällte, Gräben aushob, für jene kochte, die die ersten beiden Dinge beträchtlich besser beherrschten als ich, und weigerte mich dann, die zusätzlichen sechs Monate zu absolvieren, die dazu gedacht waren, die Aufrichtigkeit der Überzeugung der Kriegs­dienst­verweigerer aus Gewissensgründen zu testen. Ich wollte zu besseren Internationalen Beziehungen beitragen, während ich "meinem Land diente". Ich bat um die Erlaubnis, in einem gegenseitig vereinbarten Friedens­projekt zu arbeiten. 

Die Bitte kam in ein Kabinettstreffen, wurde mir gesagt. Der Premierminister war dafür, aber die beiden Schlüsselminister für die NATO, der Außen- und der Verteidigungsminister, sagten nein. Ich sagte nein auf ihr Nein. Das Ergebnis waren sechs Monate im Bezirksgefängnis von Oslo, Kost und Logis wurden von myndighetene bezahlt.

Es war eine nützliche Erfahrung. Nicht daß es irgendwie angenehm war; das war es nicht. Aber das Thema meines Lebens erhielt eine solide Bestärkung durch die Möglichkeit, die Gefängnisgemeinschaft zu erforschen. Wieder war ich belogen worden. Nicht daß die Insassen so großartig gewesen wären; das waren sie nicht. Aber nur wenige waren Gauner, die meisten waren in der falschen Ecke der Gesellschaft geboren worden, und der Weg, der sie zur Kriminalität, Festnahme, Verurteilung und zum Gefängnis geführt hatte, war direkt und vorhersehbar. Von da an wurde der Weg kreisförmig, wieder draußen, wieder drinnen. 

Bei vielen kamen zu ihrer mißlichen Lage ernste Erkrankungen hinzu, vor allem schwere psychische Störungen. Niemand von ihnen schien damit beschäftigt, den nuklearen Genozid im Namen des Friedens zu planen, im Rückgriff auf eine sehr wacklige "Theorie". Wenn sie Gauner waren, dann auf einem niedrigen Niveau. Bestrafung schien weder als allgemeine noch als individuelle Prävention zu wirken. Mein Fall war keine Ausnahme: Wie alle anderen kam ich eines schönen Frühlingstages heraus und wußte etwas über die Kluft im Verständnis zwischen den Machthabern und Menschen wie, in casu, mir.

Sie waren nicht gerade Revolutionäre, meine Mitinsassen. Eines Tages, als ich im Gefängniskrankenhaus arbeitete und den Boden putzte, kam ich zu zwei Mitinsassen, die mich fragten: "Wie lange hast du bekommen?" — was die Art war, im Gefängnis zu fragen: "Was sind Sie von Beruf?"

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Ich sagte, sechs Monate, sagte etwas über Kriegs­dienst­verweigerung und erwiderte die Frage. Die Antworten deuteten Mord an, und ich erkannte die Gesichter aus den Schlagzeilen der Zeitungen vor einigen Jahren. Also putzte ich mich weg von ihnen und wieder zu ihnen hin, zufällig hinter einen Schrank. Ich hörte ihre Unterhaltung. Mörder A zu Mörder B: "So ein Typ, eh, der nicht bereit ist, seinem eigenen Land zu dienen." Bürgerlicher "patriotischer" (auch patriarchalischer) Konventionalismus mitten in Verbrecherland.

Mein Vater kam einmal im Monat, so sanft, liebenswürdig und unterstützend wie immer. Und ich fing an, darüber nachzudenken, was ich von diesem außer­gewöhnlichen Mann gelernt hatte. Jetzt, da ich in dem Alter bin, in dem er war, als ich ein kleiner Junge war, verstehe ich es besser. Ich fasse zusammen:

Ist es notwendig, darauf hinzuweisen, daß die grundlegenden Zutaten von Friedensstudien hierin bereits enthalten waren? Und daß die Kriegserfahrung, die mir unter anderem meinen Vater weggenommen hatte, mir zwei Probleme aufgezwungen hat: Wie vermeidet man Krieg und Besatzung? Und wie kämpft man am besten, wenn die Besatzung trotzdem kommt?

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Da ich weder Christ noch Konservativer noch Militär bin, könnten die Leute annehmen, daß die Bedingungen zu Hause irgendwie stürmisch waren. Das waren sie überhaupt nicht. Sie waren besser denn je. Ich habe von meinem Vater wahrscheinlich gelernt, keinen völlig unnötigen Streit vom Zaun zu brechen, sondern mich auf die großen Konflikte zu konzentrieren. In einer Sache wollte ich ihn nicht verraten. Er war Arzt. Das war auch sein Vater. Meine Mutter war Krankenschwester. Ihr Vater war norwegischer Generaldirektor für Gesundheit. Mein Onkel schickte meinem Vater zu meiner Geburt ein Telegramm: "Ein Arzt ist geboren."

Fast jeder übte Druck auf mich aus, der sich soweit verstärkte, daß ich es selbst für selbstverständlich hielt. Im Alter von zwölf Jahren las ich medizinische Lehrbücher. Im Alter von 13 Jahren nahm mein Vater mich mit in den Operationssaal. Chemie folgte, indem ich mich in einige Universitätsvorlesungen stahl. Das Ergebnis war offensichtlich: Im Alter von 16 Jahren wußte ich in meinem Innern, daß ich kein Arzt werden würde. Meine Leidenschaft lag anderswo: ein Teil von mir in den Naturwissenschaften, besonders Chemie; ein anderer Teil in den Sozialwissenschaften jeglicher Art. Aber ich wollte meinen Vater nicht zum vierten Mal verraten! Also sagte ich etwas vage, daß ich mit Chemie so beginnen würde, daß es auch Teil eines medizinischen Studiums sein könnte.

Kein Problem. Mein Vater hatte alles lange vor mir verstanden. Zudem erzählte er mir ausführlich von den Nachteilen des medizinischen Berufes. Dem Snobismus, der Arroganz. Den Dingen, die Mediziner vorgaben zu verstehen (ich war das einzige Kind in der Nachbarschaft mit intakten Mandeln — mein Vater nahm nur die Mandeln anderer heraus, nicht die seines eigenen Sohnes. "Es gibt einen Grund, warum sie da sind. Nur weil wir nicht verstehen warum, ist das noch kein Grund, das Messer zu benutzen."). Die Habgier, die Widerwilligkeit, sich für angemessene präventive Medizin zu engagieren, "weil sie sehr viel mehr Geld mit kurativer Medizin verdienen." 

Prophylaxe ist die halbe Heilung, stimmte mein Vater an. Die meisten Kollegen stimmten in diesen Chor nicht ein.

Ein langes und meist wundervolles Studentenleben folgte, eine parallele Reise an zwei Fakultäten, die das - zu der Zeit - Nicht-Kombinierbare kombinierte. Chemie verschwand von der Tagesordnung, da ich es schon vorzeitig konsumiert hatte.5) 

5) Intellektuelle Überreste dieser Auseinandersetzung können in Kapitel 4 meines Buches Methodologie und Ideologie. Aufsätze zur Methodologie (Band I, Frankfurt/M. 1978) gefunden werden.

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Mathematik, angewandte Mathematik, Physik und Statistik an der einen Fakultät (Dissertation: Stochastic Relation Matrices); Philosophie und Soziologie an der anderen (Dissertation: The Prison Community). Der Weg war lang und manchmal qualvoll, auf jeden Fall gewunden. Nach acht Jahren Studium, die von Intuition geleitet waren, fragte mein Vater diskret, ob ein Ende in Sicht sei. Wäre er heute noch am Leben, könnte ich ehrlich sagen; nein. Nie. Forschen heißt: immer erneut suchen.6 Es kann kein Ende geben, aber es gibt Stationen auf der Strecke.

Als begeisterter Reisender, Radfahrer, Anhalter, Motorradfahrer (daß ich jene fünf Jahre überlebt habe, ist ein Wunder), der überall Autos fuhr, im Motorboot die herrliche norwegische Küste rauf und runter fuhr, kleine Flugzeuge (die fürs Reisen sehr unpraktisch sind) steuerte und mit großer Freude Sprachen verschlang, fühlte ich, ich hatte die notwendigen Empfehlungsschreiben für einen internationalen Nomaden. Zusätzlich hatte mein gewundenes Studium mich als intellektuellen Nomaden ausgewiesen. Kurz, der Friedensforscher begann Gestalt anzunehmen, indem die Welt zu seinem Heimatland wurde und er nach Einblicken in die Probleme von Frieden und Gewalt über alle Grenzen der Disziplinen hinweg jagte. Aber etwas Wichtiges fehlte. Inter- oder transnational und inter- oder transdisziplinär zu sein ist gut. Aber dies sind Mittel, nicht Ziele. Das Ziel ist Frieden mit friedlichen Mitteln — die Abschaffung von Krieg und solchen Dingen.

 

Wie dem Frieden näherkommen?  

Wie bereits erwähnt, gelobte ich (mir — kein anderer war besonders interessiert), mich den Friedensstudien zu widmen. Die erste wirkliche Chance kam im Frühling 1953, als ich einen weiteren bemerkenswerten Mann traf, den Philosophen Arne Naess, Professor an der Universität Oslo. Die norwegische Regierung der Arbeiterpartei hatte, um die linke Opposition zu beschwichtigen, ein "Entwicklungshilfe"-Fischerei-Projekt in Kerala begonnen.7) Arne hatte die ausgezeichnete Idee, dies als gegenseitigen Austausch zu gestalten, und stellte die ungefragte und unbeliebte Frage: Was können wir von Indien lernen? Seine Antwort: Gandhi. Da Arne von der Politik Gandhis in den 30er Jahren fasziniert war, machte er eine Vorlesungsreihe und benötigte dafür einen Assistenten. Dieser Assistent war sehr bereitwillig ich. Ich arbeitete hart und vervollständigte unser gemeinsames Manuskript, sehr angemessen, als ich gerade im Gefängnis saß, im Winter 1954/55. - Sowohl Arne wie ich veröffentlichten später unabhängig voneinander Bücher zu Gandhi (meines heißt: Gandhi Today8).

6)  Unübersetzbares Wortspiel des englischen Textes: Research is research; d. Ü.
7)  Das sich später als Desaster herausstellte; vgl. mein Buch Development Assistance: Its Rise and Fall.
8)  Es wurde 1955 unter dem Titel Gandhis politiske etikk in Norwegen veröffentlicht.

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Ich lernte vier Dinge aus der Begegnung mit diesem Lichtzeichen in unserem finsteren Jahrhundert. Daß die Gewalt, die schnell mit einer Kugel tötet, und die Gewalt, die langsam durch Hunger und Krankheit tötet, beide schlimm für die Opfer und die Hinterbliebenen sind. Ich lernte Optimismus: daß Gewalt beseitigt werden kann, wenn man ihre Ursachen kennt. Ich lernte Strukturalismus von Gandhi: daß die Ursache in der falschen Struktur liegt, nicht in dem bösen Akteur auf der anderen Seite. Und ich lernte, daß Gewaltlosigkeit Nicht-Kooperation mit der falschen Struktur bedeutet, während man zur gleichen Zeit die alternative Struktur beschreibt und sie aufbaut, soweit das möglich ist; nicht indem man gegen den Akteur der anderen Seite handelt (dann mag ich jedoch nicht so gut sein. Ich ziehe eine Grenze gegenüber dem Faschismus, gegenüber allen Menschen, die andere entmenschlichen und die eine so hohe Einschätzung von sich selbst haben, daß sie denken, sie hätten das Recht auf jede An von Ausrottung und Ausbeutung anderer).

Mein Aufenthalt im Gefängnis war ein Versuch, dies zu praktizieren. (Zehn Jahre später erhielt ich die Belohnung: die Stimme der Justizministerin am Telefon, die fragte, ob ich Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen als Forschungsassistenten akzeptieren würde. Große Feier. Heute ist das in ganz Westeuropa etwas Alltägliches.)

Mit zwei Äquivalenten des US-amerikanischen Ph. D. als Legitimation, einem in Mathematik, einem in Soziologie, wurde ich als Dozent der Columbia-Universität im Fachbereich Soziologie angefordert, der damals in seiner Lazarsfeld-Merton-Blüte war. Drei große Jahre in der Nähe zweier großer Sozial­wissenschaftler. Einer hatte mich für mathematische Soziologie vorgesehen, der andere für allgemeine Sozialtheorie. Meine Absicht war, die Konflikte um Antisemitismus und Rassismus zu studieren — "nicht besonders chic", sagte einer von ihnen —, und ich arbeitete für die Anti-Diffamierungs-Liga in jener großen Zeit, als das amerikanische Judentum progressiv war. (Ein Minidialog zwischen zwei Kollegen, der mir später erzählt wurde: "Ist Galtung jüdisch?" "Ich glaube nicht. Aber er ist aufgeweckt genug, um Jude zu sein.")

1959 nahm ich mir von der Columbia-Universität ein Semester frei und gründete mit vier anderen das, was später das Internationale Friedensforschungs­institut Oslo (International Peace Research Institute, Oslo — PRIO) wurde. Dabei wurden wir von meinem geliebten Guru Otto Klineberg ausgezeichnet beraten und erhielten die Anfangsfinanzierung von der Person, die hinter dem schnellen Wachstum der norwegischen Sozialwissen­schaften stand, Erik Rinde. 

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Ich erinnere mich gut an den netten Spitzenbeamten des Erziehungsministeriums, der mir mitteilte, daß dem zugestimmt worden war, aber, erstens, was für ein häßlicher Name "Friedensforschung" doch sei, und, zweitens: Ich würde natürlich in die USA zurückkehren, um das zu studieren, was dort bisher in diesem Bereich erarbeitet wurde, um davon eine für die norwegischen Verhältnisse angemessene Kopie herzustellen.

Er machte keine Scherze, er machte intellektuelles Babysitting, wobei er besonders besorgt war, daß ich mit diesem häßlichen Untersuchungsfeld eine vielversprechende Karriere zerstören könnte. Nun, das war ein Rat, den wir nicht annahmen — und nicht nur, weil ich wußte, daß es auf diesem Gebiet kaum etwas von den USA zu lernen gab. 

(Und das ist auch heute noch so. Tatsächlich haben die Amerikaner große Schwierigkeiten, mit ihrer Rolle in der Welt zurechtzukommen; sie sind nicht in der Lage, sich eine friedliche Welt vorzustellen, in der die USA die Rolle eines Landes unter vielen spielen; sie sind nicht gut darin, in den Begriffen von Gleichheit, Gerechtigkeit und Kampf gegen ihre eigene Vorherrschaft und Ausbeutung zu denken. Es ist kostspielig, eine Supermacht zu sein.)

Wir waren fünf junge Norweger, übten Selbständigkeit, machten unsere ersten Schritte in Gebiete wie allgemeine Konflikttheorie, der Prozeß der Entwicklungshilfe, Duelle als überholte gewaltsame Konfliktlösungs­mechanismen, die Struktur der Nachrichtenkommunikation, Diplomatie-Modelle, die Theorie und Struktur von Gipfeltreffen, die Wirkung von imperialistischen Strukturen, und so weiter.9

Ausgebildet in Mathematik und Soziologie, hatte ich die Absicht, nach Strukturen zu suchen, wo immer ich sie finden konnte, mit Vorliebe komplexe Strukturen, und das Innere der nationalstaatlichen Billardkugel zu erforschen. Indem ich das tat, wuchs meine Unzufriedenheit mit dem Mainstream der Theorie Internationaler Beziehungen stetig, besonders in der Form, wie sie von der Supermacht entwickelt wurde, den Vereinigten Staaten. Eine Einladung vor einigen Jahren an eine der Elite-Universitäten, einen "Ort herausragender Leistungen", gab mir die umfassende und frische Gelegenheit zur Feldforschung am US-amerikanischen Stamm der Internationalen Beziehungen. Ich will die Leser nicht mit intellektuellen Horrorgeschichten langweilen. Aber ich möchte dem meine Position hinzufügen: weder Mainstream noch Gegentrend, noch beide, noch weder-noch. Die Suche geht weiter.

9  Für meine Beiträge zu diesen Feldern der etwa ersten 15 Jahre vgl. meine Essays in Peace Research, Vol. 1-5, Kopenhagen 1975-80.

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Das System der Internationalen Beziehungen ist komplex, und das zwischenstaatliche System ist nur ein Teil davon. Es zu fetischisieren hätte schlimme intellektuelle und politische Konsequenzen. Es zu vergessen birgt auch erhebliche intellektuelle und politische Risiken. Eine davon könnte die Naivität sein, die fürchterliche Macht zu vergessen, die von Regierungen akkumuliert wurde und von ihnen freigesetzt wird, wenn sie für etwas kämpfen, das sie als ihre "Interessen" definieren (so hätte ich nie geglaubt, daß die Vereinigten Staaten so viele Millionen Menschen in verdeckten Aktionen ermorden würden, nur im Namen des nationalen Interesses.) Ein weiter Horizont bedeutet, viele Standpunkte und Perspektiven zur gleichen Zeit zu haben. Ausreichend viele, um die Welt sowohl als Beziehungen zwischen Staaten als auch zwischen Völkern zu sehen — und als vieles mehr. Natur. Struktur. Kultur. Aber vor allem: Menschen. Du. Ich. Die zusammenarbeiten und nicht nur die ganze Zeit gegeneinander kämpfen.

Das ist nicht so einfach, aber auch nicht so schwer. Aber ich lasse hier die Forschungsunternehmungen beiseite, bis auf vier Punkte. Wenn du auf einem sensiblen Gebiet arbeiten willst, und "Frieden" ist sicherlich subversiv auf dem Gebiet und im Zeitalter des Kalten Krieges, dann versuche, deine Finanzierung aus vielen unterschiedlichen Quellen zu erhalten; sichere dich ab, indem du zumindest international, wenn schon nicht national akzeptiert bist; sei offen und ehrlich, mache nie irgendwelche "geheimen Untersuchungen" (ein Widerspruch in sich, denn Wissenschaft ist per definitionem öffentlich, um intersubjektiv zu sein); und arbeite hart, tu dein Bestes, denn das Gebiet verdient es; Dilettantismus, eingebaute Selbstzensur oder vertraulicher Umgang mit den Reichen und Mächtigen werden nicht weiterhelfen.

Aber immer noch fehlte etwas Wesentliches. Ich hatte die nationale Gesellschaft von unten gesehen, aus dem Gefängnis betrachtet. Noch hatte ich aber nicht die Weltgesellschaft von unten gesehen. Meine damalige Frau, ein großartiges und engagiertes norwegisches Mädchen (die später eine norwegische Politikerin werden sollte), und ich reisten durch Nordamerika, einschließlich Mexiko, was einen ersten Blick von weiter unten eröffnete. Ein Besuch auf Kuba, im Juni 1960, war jedoch lehrreicher: Ich entdeckte, daß beinahe alles, was in den USA gesagt wurde, mit einigen Ausnahmen, schlimmer als Lügen war: ein Versagen, intellektuell mit den Themen zurechtzukommen, wie sie weiter unten in der Welt-"Gemeinschaft" gesehen wurden.

Die richtige Chance kam 1962. PRIO war eingerichtet. Die Ansicht hatte sich durchgesetzt, daß Frieden in einer internationalen und interdisziplinären Weise erforscht werden konnte. Wir warteten auf einige neue Verträge bezüglich der Finanzierung. Die UNESCO bot mir eine Lehrtätigkeit in Methodologie in Santiago, Chile, an.

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Meine Aufgabe war es, junge lateinamerikanische Sozialwissenschaftler in "modernen" sozialwissen­schaft­lichen Methoden zu unterrichten, indem ich ihnen das mir wohlvertraute Evangelium vorbetete, das Chi-Quadrat-Evangelium. Die Studenten waren absolut brillant. Sie sprachen über so seltsame Dinge wie Ausbeutung und Imperialismus, die ich in meiner Columbia-Phase gelernt hatte, als "leere Slogans" anzusehen. "Modernisierung", "Wirtschaftswachstum" waren objektive und garantiert wertfreie Wörter.

Ich lernte enorm viel von ihnen, diesen jungen Männern und Frauen aus ganz Lateinamerika. Also blieb ich drei Jahre länger in Lateinamerika, aus purer Liebe zu dieser Region. Meine Studenten stellten seltsame Fragen wie: Was hat Chi-Quadrat je für die armen Menschen getan? Natürlich gab es Antworten für solche nörgelnden, ungebildeten, ideologischen Fragen — aber sie klangen zunehmend weniger überzeugend in meinen Ohren. Zahllose Reisen überallhin erbrachten die Details. Am Ende war der Handel klar. Meine Studenten erhielten Chi-Quadrat. Ich erhielt etwas Kenntnis darüber, wie die Welt funktioniert. Wie immer erwischte die Erste Welt den besseren Teil; die Dritte Welt wurde kurz abgefertigt.

Der eigentliche Test kam 1965. Als ich auf dem Weg zu meiner zweiten Anstellung in Santiago durch Princeton reiste, wurde ich gebeten, beim Camelot-Projekt über die Schnittstelle zwischen Konflikt und Entwicklung mitzuarbeiten, da ich Lateinamerika, die spanische Sprache und die dortigen Sozialwissenschaftler kannte und im Bereich Konflikt- und Entwicklungstheorie arbeitete. "Eine kleine Wochenendkonferenz in Arlington, Virginia, ein bescheidenes Honorar von 2000 $ (1965 gar nicht so bescheiden) als Zeichen unserer Wertschätzung", sagte der Brief, der in meinem Büro in Santiago etwas später ankam.

Das paßte mir gut: die Hypothek unseres Hauses in Oslo konnte von dem UNESCO-Gehalt nicht voll bezahlt werden, obwohl die Vereinten Nationen sicher viel für die Baubranche in der ganzen Welt getan haben. Aber dann fiel ein kleiner Schnipsel aus dem Briefumschlag: "Der Zweck dieses Projektes, das vom Verteidigungsministerium unterstützt wird, ist es herauszufinden, wie die US-Armee Armeen befreundeter Regierungen in Zeiten der Krise helfen kann."

Da stand ich nun. Spät in der Nacht in meinem Büro. Der endgültige Beweis, daß meine Studenten recht hatten. Nicht nur, daß die Vorstellung eines interventionistischen Imperialismus real war (als ob irgend­jemand, der mit der Geschichte der USA vage vertraut ist, das jemals bezweifeln könnte). Sondern es schien auch eine grundsätzliche Kompatibilität zwischen der US-amerikanischen Sozialwissenschaft im allgemeinen und dieser besonderen Art, Internationale Beziehungen zu praktizieren, zu geben — genauso wie es eine grundsätzliche Kompatibilität zwischen neoklassischer Wirtschaftswissenschaft und Militärdiktatur zu geben scheint.

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Ich schaute auf die Liste der US-amerikanischen Sozialwissenschaftler, die an diesem Projekt beteiligt waren. Jede Menge Leute mit Auszeichnungen, eine Liste der Top 20. In meinem Inneren wußte ich, daß die Antwort nicht nur "nein" sein würde, sondern, daß dieses Camelot bekämpft werden mußte. Mein Herz schmerzt immer noch ein wenig, wenn ich an die schöne Möglichkeit, die Hypothek abzuzahlen, denke. Aber mein Kopf hatte ein anderes Problem; War ich verrückt oder sie, oder wir alle, oder keiner? Also schrieb ich an alle einen Brief mit der Bitte, das zu erklären, und sagte, daß ich eine eher düstere Einschätzung dieses Projektes hätte. Nur zwei machten sich die Mühe zu antworten. Einer davon war ein Hauptorganisator, der sagte, daß er es bei einer anderen Gelegenheit "erklären" würde (was er niemals tat); der andere sagte: Also schau, Johan, verstehst du nicht, daß das der Weg ist, auf dem wir nicht nur Millionen Dollar bekommen, sondern das dringend benötigte Ansehen für die Sozialwissenschaften?

 

Ich begann mit der Arbeit und machte Überstunden. Ich wußte, dies war in Übereinstimmung mit meiner UNESCO-Mission, die Sozialwissenschaften in Lateinamerika zu verbreiten. Wenn Sozialwissenschaftler auf frischer Tat in diesem Projekt ertappt wurden, wäre das das Ende für viele gewesen oder zumindest für jene, die nicht bereit waren, ihre Kenntnisse und Forschungsergebnisse an irgendjemanden zu verkaufen. Aber ich war, zu Recht, nicht sicher, ob die UNESCO es auch so sehen würde, wenn ein mächtiger Mitgliedsstaat auf der anderen Seite stand. Die benötigten Dokumente waren jedoch zur richtigen Zeit auf dem Tisch des chilenischen Präsidenten, und es gab einen Zornesausbruch; der US-amerikanische Präsident (Lyndon Johnson) gab eine Erklärung ab und strich das Projekt; es gab Anhörungen; es gab Panik.10 Meine Studenten zollten mir die größte Ehre: "Wir wußten, daß wir Ihnen trauen können." Meine Kollegen waren weniger heiter — wegen des schönen Geldes für das Projekt, das verloren war. Aber, unnötig zu sagen: Washington startete das Projekt irgendwo anders, unter einem anderen Namen und benutzte Sozialwissenschaftler, um kleine Leute auszuspionieren. Die Verräter erhielten ihr Geld auf die eine oder andere Weise. Das ist so üblich. Im Namen von Patriotismus, nationalem Interesse oder der Hypothek für ihr Haus. Oder im Namen von allem auf einmal.

10  Mehr dazu siehe in: "After Camelot" in meiner Publikation Papers on Methodology, Kopenhagen 1979.

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Nachdem ich aus Lateinamerika zurückgekehrt war, folgten Jahre der Konsolidierung. PRIO war in guter Verfassung. Wir wurden zu einem Zentrum der Aufmerksamkeit, mit Besuchern aus der ganzen Welt, wurden sogar in Touristeninformationen zusammen mit dem Vigeland-Skulpturenpark aufgeführt. Exzellente Kollegen, Assistenten, Studenten, von denen viele eher von der intellektuellen "Gärung" angezogen wurden als von der Kompliziertheit der Friedensstudien, die soviel schwieriger sind als die Kriegs-, Konflikt- und Entwicklungsstudien. Ein Gefühl, angekommen zu sein, lagerte sich in Seele und Körper ab. Das begann mich zu ängstigen.

Politisch war nichts erreicht worden, kein Friede, nur eine Menge Friedensforschung. Mein Land war und ist ein abhängiger Staat; das war mein Hauptunglück. Großzügig, nett und sanft in vielfacher Weise, eine Stütze der sich entwickelnden Forschungsbemühungen, mit wunderbaren Menschen, und davon viele. Aber es war ein abhängiger Staat, der sich nicht in die unbekannten Gewässer des Friedens wagte, sich nicht gegen die führende Supermacht engagierte, gegen jene, deren Morden sich auch nach dem eindeutig faschistischen Angriff auf Vietnam fortsetzt. 

Es machte mich krank, die Unehrlichkeit bei norwegischen Politikern zu beobachten, die die wenigen übriggebliebenen Kommunisten mit allen Formen der Verachtung überhäuften, weil diese ein wenig langsam erkannten, was Stalinismus bedeutete, die aber gleichzeitig unfähig waren zu sehen, was die Vereinigten Staaten unter den verschiedenen Präsidenten im Ausland taten. Wenn ich als Schwede, Finne geboren worden wäre — ein blockfreies Land, das bereit und in der Lage war, sich einzusetzen! Aber wir können unseren Geburtsort nicht wählen. Noch können wir die Zeit unserer Geburt wählen. Das war mein zweites Unglück: mehr als 40 meiner inzwischen 67 Jahre im völlig unnötigen "Kalten Krieg" verbracht zu haben.

Die Meinungsumfragen waren eindeutig genug: Unterstützung für die NATO, aber nicht für die US-amerikan­ische Außenpolitik (ein Widerspruch, den die Amerikaner oft nur schwer verstehen können, der jedoch von entscheidender Bedeutung für das Verständnis der "Alliierten" in Westeuropa ist). Aber die abhängigen Regierungen wenden alle Arten von Tricks an, um die Bindung an die USA aufrechtzuerhalten. Das Niveau an Autismus war auf beiden Seiten bemerkenswert; es kümmerte wenig, was die andere Seite tat. Ich sehnte mich nach neuen Horizonten.

Die Chance ergab sich im Januar 1968. Die UNESCO suchte einen Berater für ein japanisches Projekt über Technologieentwicklung in Japan, ein Zwei-Monats-Job. Ich wurde angesprochen, aber antwortete, daß ich erstens nichts über Japan wüßte und zweitens nichts von Technologie verstünde.

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Für die UNESCO waren das Argumente, die dafür, nicht dagegen sprachen; ein unvoreingenommener Berater. Ich reiste über Saigon an, wo ich einen jener US-Botschafter erlebte, der seine Expertenmeinung zur "Situation" abgab: die Pazifizierung ginge gut voran, die Zahl "unserer" Dörfer nähme zu, der Vietcong läge am Boden, "kein schlechtes Zeichen". Die Tet-Offensive startete drei Tage später; ich war zwei Tage zuvor abgereist.

Japan schlug bei mir wie ein Blitz ein. An jenem Sonntagmorgen war eine junge, aufgeweckte, schöne Vertreterin der japanischen UNESCO-Kommission am Flughafen, geschickt, um den Ausländer an seinem ersten Tag zu begleiten. Wir sind nun etwa 30 Jahre verheiratet, und es gibt keine Person, von der ich soviel gelernt habe und immer noch lerne. Ein Ost-West-Projekt dieser Art ist nicht so einfach, aber es ist auch nicht unmöglich. (Zwei wunderbare Kinder sind immer noch optimistisch, daß sie ihren Vater erziehen können.) 

Ich hatte die Gesellschaft von unten aus der Gefängniszelle, die Welt von unten in den lateinamerikanischen Slums gesehen. Nun begann ich, die gesamte okzidentale Erfahrung von außen zu sehen.

Wir machten zahllose Hochzeitsreisen. Aber die wichtigste war eine Autofahrt von Neu-Delhi nach Oslo im Frühling 1969. Als wir uns Europa näherten, sagte Fumiko; "Du legst häufig die Weltstruktur in zehn bis fünfzehn Minuten dar. Kannst du mir die Geschichte Europas in der gleichen Weise darstellen?"

(Mein ältester Sohn kam später mit der gleichen Frage; er mußte am nächsten Tag eine Geschichtsprüfung bestehen.)

Ich arbeite immer noch daran. Aber es rief das hervor, was ich als den wichtigsten Teil meiner Arbeit ansehe: die Untersuchung von Zivilisationscodes, von Kosmologien, wie ich sie nenne, und dadurch die Untersuchung der kulturellen Gewalt, die direkte und strukturelle Gewalt legitimiert, was der zentrale Punkt von Friedensforschung ist. Um nur ein Beispiel zu nennen: die Vorstellung, ein Auserwähltes Volk zu sein — wie sie zum Beispiel von den Juden, den Christen und den Moslems praktiziert wird; und im Orient von den Shintoisten; heute in amerikanischen, russischen und burischen Varianten, gestern in deutschen, britischen und französischen. Und morgen?

Aber hier, liebe Leser, ende ich — falls Sie immer noch da sind, heißt das. Nicht daß es nicht noch mehr zu berichten gäbe oder daß die Reise irgendwie vorbei wäre; es kann sein, daß sie noch gar nicht angefangen hat. Es gibt immer noch Tulpen auf den Feldern, viele — um sie zu genießen, von ihnen zu lernen und sie zu bewundern, nicht um sie zu pflücken und zu töten. Aber ich habe getan, was ich tun wollte und was ich letztendlich den Herausgebern versprochen habe:

ihnen zu erzählen, wie ich denke, wie ich codiert bin und wie ich diesen inneren Code erhalten habe — weil ich nicht denke, daß ich damit geboren wurde. Für diesen Zweck wirkt der frühe Teil eines Lebens wie der frühe Teil des Lebens einer Kultur: prägend. Die Gestalt der zukünftigen Dinge ist schon da, bereit, sich den Umständen entsprechend zu entfalten. Nicht daß Codes nicht verändert werden können. Aber das verlangt viel. Und dieser Code hat mich auf einen Kurs gesetzt, der immer noch der meine ist, in Richtung auf das einzige Ziel der Internationalen Beziehungen, das der Mühe wert ist: die Abschaffung des Krieges als sozialer Institution. Schickt ihn in den Abfluß der Geschichte, laßt ihn der Sklaverei und dem Kolonialismus Gesellschaft leisten, dort, wo er hingehört. Zusammen mit dem Patriarchat, den Auserwähltes-Volk-Vorstellungen und einigen anderen.

Hier sitze ich also, diesmal an Bord eines Flugzeuges in Richtung auf mein geliebtes Hawai. Mit diesen Vereinigten Staaten komme ich klar. Nicht wegen der Palmen, der Berge und des Ozeans (wir Norweger können nicht lange ohne die beiden letzteren leben; ich, der ich verwöhnt bin, muß alle drei haben). Ich denke nicht, daß ich naiv bin in bezug darauf, wie Washington ein friedliches Königreich "annektierte", seine Kultur zerstörte und seine Einwohner auf einen Bruchteil dessen dezimierte, was sie einmal waren, und dem Archipel eine Rolle im sinkenden US-Imperium gab. 

Aber ich liebe die Menschen der pazifischen Hemisphäre, nicht die Händler des pazifischen Beckens und ihre willigen Diener, über die Wirtschafts­wissen­schaftler reden; sondern ihre wunderbare Heterogenität, die immer noch viel von der Vielfalt zeigt, die die Menschheit in der Lage ist zu produzieren. Möge sie symbiotisch, gerecht werden. Möge sie blühen. Möge Pazifik einfach "friedlich" bedeuten. Möge eine kleine Anstrengung, ein Trainings­programm für Professionelle auf diesem Gebiet, ein Diplom Friedensstudien an der Universität von Hawai (als erstes in der Welt nicht nur ein Diplom mit ein wenig Friedensstudien) ein kleiner Beitrag dazu sein.

Warum? Weil unsere Disziplin, Friedensstudien, mündig geworden ist. Wir haben etwas zu sagen. Frieden kann gelehrt werden. Menschen können ausgebildet werden. Wir haben lange genug Gelder, Papier und Tinte konsumiert. Es ist Zeit zurückzuzahlen. Um unsere Kapazität zu erhöhen, das zu tun, worum es bei Friedensstudien geht: Frieden mit friedlichen Mitteln.

Und ich bin stolz darauf, ein kleiner Teil dieses Strebens der Menschheit nach Sicherheit, ökonomischer Gerechtigkeit, Freiheit und Sinn zu sein — allesamt wesentliche Bestandteile des Friedenspaketes. Ich war privilegiert, das ist klar. Ich hatte bisher ein faszinierendes Leben. Aber alle sind willkommen, an dem Kampf für Frieden teilzunehmen. Und alle haben etwas beizutragen, wenn die grundsätzliche Entscheidung erst einmal gefallen ist.

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  Ende  

 

 wikipedia  Johan_Galtung  *1930

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