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   II.

 "Gleichgewicht des Schreckens" 

 - der Mythos der Nuklearwaffen

Geulen-2023

 

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Seit Beginn des Atomzeitalters ist die zentrale Option des nuklearen Krieges die Vernichtung des Territoriums und der Zivilbevölkerung des Gegners. Das amerikanische Militär hatte mit dem Beginn des Kalten Kriegs die sogenannte MAD-Doktrin entwickelt, die Strategie der »Mutually Assured Destruction«, »der gegenseitig versicherten Zerstörung«.(49) Die militärstrategische Dimension der MAD-Doktrin bestand darin, genügend nukleare Waffen vorzuhalten für einen Gegenschlag nach einem Erstangriff des Gegners. In der Folge verfügten beide Seiten - die USA und die Sowjetunion - zu jedem Zeitpunkt des Kalten Kriegs über einsatzbereite nukleare Overkill-Kapazitäten.

Seit den fünfziger Jahren wird die »gegenseitig versicherte Zerstörung« in Deutschland als »Gleichgewicht des Schreckens« bezeichnet. Gleichgewicht suggeriert, dass die Vernichtungswaffen in den Händen der Atommächte sich gegenseitig neutralisieren. Auch der Begriff des »Schreckens« hat eine verharmlosende Konnotation. Ein Schrecken ist die spontane, kurze Reaktion auf ein Ereignis; der Begriff reduziert die Vernichtungsgefahr des gegen­seitigen Overkills auf einen temporären Gefühlszustand.

Selbst in den Hoch-Zeiten des sogenannten Kalten Kriegs befand sich das nukleare Zerstörungspotential nicht in einem »Gleichgewicht«. Zu keinem Zeitpunkt waren nukleare Angriffe und Gegenschläge wirklich zu kalkulieren. Zwischen 1962 und 2002 gab es mindestens 13 Beinahe-Auslösungen nuklearer Angriffe zwischen den USA und der Sowjetunion (bzw. Russland).(50)

Die Aufarbeitung der sogenannten »Kuba-Krise« 1961 ergab nach dem Zerfall der Sowjetunion, dass ein sowjetischer Nuklearangriff auf die USA unmittelbar bevorstand. Das Gleiche gilt für die sogenannte Able Archer-Krise, deren Umstände bis heute nicht aufgeklärt sind.(51)

Im Jahre 1983 befanden sich im europäischen Teil der Sowjetunion 243 einsatzbereite SS-20-Raketen mit ca. 750 nuklearen Gefechtsköpfen.

Das NATO-Manöver Able Archer (»Geschickter Bogenschütze«), das im November 1983 einen Atomkrieg simulieren sollte, wurde vom sowjetischen Geheimdienst KGB als Vorbereitung eines bevor­stehenden nuklearen Schlags gedeutet.

Zu den ungeklärten Umständen der Able Archer-Krise gehört auch eine Fehlfunktion des sowjetischen Raketenfrühwarnsystems, das versehentlich einen Angriff mit fünf Inter­kontinental­raketen auf die Sowjetunion meldete. Am 27. September 1983 stand Europa kurz vor einem nuklearen Krieg.

Die Kuba- und die Able Archer-Krise hatten gezeigt, dass im unmittelbaren Vorfeld des Startens nuklearer Vernichtungswaffen nicht die Politiker der Hegemonialstaaten an ihren roten Telefonen die Handlungs­macht hatten, sondern ranghohe Militärs, die ihre Entscheidungen innerhalb weniger Minuten auf der Grundlage unsicherer Daten und Prognosen treffen mussten. In beiden Fällen wurde die Eskalation verursacht durch Fehl­meldungen der eigenen radargestützten Frühwarnsysteme über einen drohenden Erstschlag des Feindes.

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Seitdem Anfang der fünfziger Jahre das Atombomben-Monopol der USA durch die Sowjetunion gebrochen worden war, rechtfertigten die Hegemonialmächte die ständige Vergrößerung ihrer nuklearen Vernichtungs­arsenale mit der militärstrategischen Notwendigkeit eines Verteidigungskrieges: Ein »präventiver Erstschlag« könnte geboten sein, um einem vernichtenden Erstschlag des Feindes zu entgehen.

In Wahrheit war es zu keinem Zeitpunkt seit 1945 möglich, durch einen präventiven Erstschlag einen nuklearen Gegenangriff zu verhindern, denn die beiden großen Atommächte hatten bereits in den sechziger Jahren damit begonnen, die Abschusspositionen ihrer nuklear ausgestatteten Missiles soweit zu camouflieren, dass eine Ausschaltung des gegnerischen Angriffs­potentials durch einen Erstschlag unmöglich war.

Praktisch waren die beiden großen Atommächte von Anfang an in der Lage, nukleare Erstschläge mit vernichtenden Zweitschlägen zu beantworten. Die MAD-Doktrin zielte auch nicht entscheidend auf gegnerische Angriffswaffen, die ohnehin nicht auszuschalten waren, sondern auf die Zerstörung industrieller Anlagen und die Vernichtung der Bevölkerung.

Interkontinentalraketen mit nuklearen Sprengköpfen lagen einsatzbereit in unterirdischen Silos (Weapons Storage Vaults), die so konstruiert waren, dass sie der Explosionswirkung eines nuklearen Angriffs auf die Anlagen funktionstüchtig widerstehen konnten. Die Besatzungen der unterirdischen Abschussanlagen beider Seiten waren in der Lage, die seismischen Druckwellen und die Strahlen­belastung eines nuklearen Angriffs für mindestens drei Wochen zu überleben - und den Erstschlag durch einen Zweitschlag zu erwidern.(52)

Die Sowjetunion begann in den siebziger Jahren, mobile Abschussbasen zu entwickeln, die während des gesamten Kalten Krieges auf riesigen Sattelschleppern operierten, permanent getarnt und unsichtbar unterwegs in den Weiten der Sowjetunion. Insgesamt verfügte die Sowjetunion über eine dreistellige Zahl mobiler Abschlussrampen, die praktisch täglich ihren Standort wechselten(53) und die sich getarnt permanent in Sibirien bewegten und mit nuklearen Sprengköpfen ausgerüstet waren.

In hohem Maße mobil und für den Gegner kaum zu verorten waren schließlich die Trägersysteme für nukleare Sprengköpfe wie Flugzeuge und Unterseeboote. Insgesamt verfügte die Sowjetunion bis 1990 über mehrere hundert Abschussstationen unter der Erde, auf mobilen Fahrzeugen, in militärischen Flugzeugen und Unterseebooten; jede dieser Basen war gefechtsbereit und konnte innerhalb kürzester Zeit bei Freigabe der entsprechenden Codes nukleare Vernichtungswaffen starten.

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