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  III    Kriege der Zukunft   1-    2- 

 Geulen-2023

 

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    1-  Die Arsenale      

 

Nach dem Zerfall der Sowjetunion konnte es scheinen, die Zeit der Kernwaffen ginge zu Ende. Während des Kalten Krieges lagerten in deutschen Bunkern bis zu 5000 Kernwaffen, die in den neunziger Jahren weitgehend abgezogen oder verschrottet wurden.

Aber schon in den neunziger Jahren begannen die großen Atommächte, alte Waffen zu ersetzen durch neue Systeme, deren Zerstörungspotential inzwischen größer ist als das zur Spätzeit des Kalten Krieges. Insgesamt verfügen die beiden großen Atommächte - die USA und Russland - gegenwärtig über 14.000 Atomwaffen (überwiegend Sprengköpfe), von denen 3300 sofort einsatzbereit sind sowie etwa 1800 in ständiger Höchst­alarm­bereitschaft (launch on warning); andere Sprengköpfe befinden sich in Reserve, der Rest ist für die Verschrottung vorgesehen. Sprengköpfe in Höchstalarmbereitschaft können ihre Ziele vom Zeitpunkt des Einsatzbefehls innerhalb weniger Minuten oder Stunden erreichen.

Die »Atombombe« hat heute keine strategische Bedeutung mehr. Langstreckenbomber, Freifallbomben wurden seit den fünfziger Jahren ersetzt durch Trägerraketen, die mit nuklearen Sprengköpfen ausgestattet waren. Es hat etwa zwanzig Jahre gedauert von der Entwicklung der Kurzstreckenraketen mit einer Reichweite von ca. tausend Kilometern über Mittelstreckenraketen mit Reichweiten von etwa zweitausend Kilometern bis hin zu den ball­istischen Interkontinentalraketen, den Hypersonic Missiles, die mit einer Geschwindigkeit von Mach fünfzehn bis zwanzig (also bis etwa 25.000 Stundenkilometer) innerhalb weniger Stunden weltweit jedes Ziel zerstören können.

Alle Atommächte modernisieren weiterhin ihre nukleare Waffentechnik.(54) Die Trägerraketen werden sukzessive ersetzt durch sogenannte automatisierte Lenkwaffen, die von Bodenstationen, Flugzeugen oder U-Booten abgeschossen werden können und jeweils mit mehreren nuklearen Sprengköpfen ausgestattet sind.


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Seit dem Ukrainekrieg 2022 ist die Gefahr des Einsatzes kleinerer, substrategischer Atomwaffen gestiegen. Der gängige Begriff »taktische Atomwaffen« ist verharmlosend, zumal die Sprengkraft der substrategischen Waffen und die Auswirkungen ihrer ionisierenden Strahlung die der Hiroshimabombe weit übertreffen können. Es sind Gefechtsfeldwaffen mit einer relativ geringen Reichweite, die ihr Ziel mit hoher Treffgenauigkeit ohne Vorwarnzeit erreichen. Ihr größtes Risiko liegt darin, dass sie die Schwelle zum Einsatz nuklearer Waffen einreißen: Eine einzige >taktische< Atomwaffe kann Gegenschläge taktischer und strategischer Atomwaffen auslösen und innerhalb weniger Stunden zu einem nuklearen Schlagabtausch bis hin zu einem globalen Atomkrieg führen.

Ein besonders gravierendes Risiko ist die zunehmende Zahl der Atommächte, die über Nuklearwaffen verfügen. Neben den USA und Russland sowie später Großbritannien, Frankreich, China, Indien, Pakistan und Israel operieren inzwischen Staaten wie der Iran und Nordkorea mit waffenfähigem Nuklearmaterial und werden zeitnah in der Lage sein, nukleare Zündungen auf fremdem Territorium auszulösen.

Darüber hinaus ist seit Jahrzehnten kerntechnisches Material aufgrund der unkontrollierten Proliferation in die Hände religionsfanatischer Staaten und terroristischer Organisationen gelangt. Über die souveränen Staaten hinaus, die bereits über nukleare Waffen verfügen, treten damit anonyme Akteure als potenzielle nukleare Angreifer jenseits jeder Abschreckungslogik auf.

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    2   Cyberwarfare und die Kriege nach dem Ende der Menschheit       ^^^^   

 

Am 27. November 2020 saß Dr. Mohsen Fakhrizadeh am Steuer einer schwarzen Limousine auf dem Weg nach Absard, einer kleinen Stadt östlich von Teheran. Sie liegt an einem Ausläufer des Elburs­gebirges in einer Höhe von etwa 1600 Metern und ist wegen ihres Klimas ein beliebter Freizeitort der Teheraner Eliten; auch Fakhrizadeh besaß hier ein Haus und wollte das Wochen­ende in Absard mit seiner Familie verbringen.


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Neben ihm saß seine Frau, auf dem Rücksitz einer seiner Söhne. Der Wagen wurde eskortiert von drei gepanzerten Militärfahrzeugen mit zwölf bewaffneten Leibwächtern der Revolutions­garden. Fakhrizadeh war der wichtigste Nuklearwissenschaftler des Iran, er leitete die Projekte zur Konstruktion nuklearer Sprengköpfe und spielte eine führende Rolle im iranischen Programm zur Herstellung biologischer Waffen. Der Anschlag dauert etwa vierzig Sekunden. Die Eskorte Fakhrizadehs wird von einem Maschinengewehr beschossen. Fakhrizadeh wird getötet, seine Frau, sein Sohn und alle Begleiter bleiben unverletzt. Die Leibwächter gehen hinter ihren Fahrzeugen in Deckung und versuchen die Attentäter zu stellen. Aber es ist nichts zu sehen, kein Mensch, keine Waffe, keine Drohne, nichts.

Neun Monate lang haben zwei Journalisten der New York Times, Ronen Bergman und Farnaz Fassihi, das Attentat investigativ erforscht und dokumentiert.55 Die Operation wurde ausgeführt durch eine cybergesteuerte Tötungsmaschine. Es handelte sich um ein belgisches Maschinengewehr vom Typ FN MAG, Kaliber 7,62 - ausgerüstet mit Kameras, Sendern, Empfangsantennen und einer Software zur Gesichtserkennung, die mit einem Foto Fakhrizadehs programmiert worden war. Die Tötungsmaschine sollte zunächst auf Befehl der Lenkungszentrale eine Salve auf die Limousine abfeuern und dann den Ort solange absuchen, bis sie Fakhrizadeh erkennt.


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Die Attentäter montierten die Cyber-Tötungsmaschine in einen alten Lieferwagen, den sie am Straßenrand abstellten, bevor sie das Land verließen. An diesem Freitag wurde der Konvoi auf dem Weg nach Absard über Mobil­telefone geortet. Als er sich der Tötungsmaschine näherte, erkannten ihn die Kameras. Die Lenkungszentrale in Israel löste das Maschinengewehr aus. Fotos der Limousine zeigen acht Einschüsse an der Windschutzscheibe. Fakhrizadeh sprang aus der geöffneten Fahrertür, um in Deckung zu gehen. Die Maschine erkannte sein Gesicht und tötete ihn automatisch mit fünf präzisen Schüssen.

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Die Kriege der Zukunft werden bestimmt von der Cyberwarfare, der Kriegsführung der Künstlichen Intelligenz. Ihre Bedeutung reicht über das Ende der Menschheit hinaus. Begonnen hatte alles mit den Rechnern und »Robotern«, die das Leben und Wirtschaften der Menschen erleichtern sollten. Schon bald bemächtigte sich die Kriegstechnologie der Informatik und entwickelte immer neue Optionen der Kriegsführung: Die Verbreitung digitaler Falschmeldungen (fake news), militärische Täuschung (military deceptiori), Hacken und Ausbeuten fremder Netzwerke (Computer network exploitation), Zerstörung gegnerischer Computernetze (Computer network attack), Hacken fremder Computersysteme, digitale Angriffe auf die Physis von Hardware (z.B. Satelliten), Attacken zur Störung feindlicher Dienste (denial of Service attacks).

Die grenzenlose Vernetzung von Daten und Informationen wird ermöglicht durch weltraumgestützte Satellitensysteme, die seit den fünfziger Jahren parallel zur Fortentwicklung der Raketen­technik entwickelt wurden. Es begann mit dem sowjetischen Satelliten Sputnik 1, der am 4. Oktober 1957 in die Umlaufbahn der Erde geschossen wurde; ein halbes Jahr später folgte Explorer 1, der erste Satellit der USA.


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Seitdem ist die Zahl der Satelliten kontinuierlich und - zuletzt progressiv - angewachsen. Bis 1969 umkreisten etwa 350 aktive Satelliten die Erde, bis 2016 bereits 1400, gegenwärtig sind es 5500, ferner inaktive oder zerstörte Objekte (»Weltraummüll«), deren Zahl auf 18.000 bis 20.000 geschätzt wird. Satellitenbetreiber in den USA kündigen an, in den nächsten zehn Jahren bis zu 15.000 Erdsatelliten auszusetzen.(56)

Die Raketentechnik ist inzwischen so weit entwickelt, dass mit einem Start mehr als zehn Satelliten im Orbit platziert werden können. Es sind Erdsatelliten, anthropogene Mini-Monde in den Umlaufbahnen der Erde. Physikalische Grundlage ihrer Stationierung ist zum einen die Gravitation der Erde, die in dem Maße abnimmt, in dem sich ein Körper von der Erde entfernt, und zum anderen die Zentrifugalkraft, die sich aus der Erdum­drehung ergibt. Einige der gegenwärtig 4900 aktiven Erdsatelliten operieren geostationär in großer Höhe und ändern ihre Position mit der Erddrehung nicht. Die meisten umkreisen die Erde auf einer elliptischen Bahn. Etwa ein Drittel der Satelliten dient der Informationsgewinnung, der Kartographie und der Telekommunikation. Ihre wichtigste Funktion ist der Empfang und die Verarbeitung digitaler Informationen, Daten und Befehle, die sie durch ihre Interaktion verbinden.

Inzwischen kann weltraumgestützte Künstliche Intelligenz praktisch mit jedem Punkt der Erde in Kontakt treten, sei es zum Senden oder Empfangen von Informationen, zu Angriffen auf fremde Cybersysteme, zur Übermittlung von Botschaften und Befehlen.


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Es war kein weiter Weg von der endlosen Vernetzung des Cyberspace zur Cyberwarfare, der Kriegsführung mit den Mitteln der Künstlichen Intelligenz. Die Auswirkungen der Cyberwarfare auf künftige Kriege sind fundamental. Die Kombattanten sind anonym, mit den Bildern traditioneller Kriegsszenarien haben sie nichts mehr zu tun, sie sind eher vergleichbar mit einer Söldnerarmee, die in ein Kriegsgeschehen eingreift, gelenkt von denen, die über die Daten und die Cyberintelligenz verfügen. Zurecht nennt der amerikanische Autor Paul Scharre sein Buch über die Cyberwarfare »Army of None«.(57) Im Cyber-Theater haben die dramatis personae kein Gesicht; sie ähneln den Spielern auf der Bühne eines Butoh, des japanischen »Theaters der Finsternis«. Sie treten aus den Kulissen mit geschminkten Gesichtern, sagen nichts, stoßen Laute aus, verschwinden im Nichts.

Das traditionelle Bild von Gegnern, Fronten und Schlachtreihen wird im Cyberwar anachronistisch. Im konventionellen Krieg scheint die traditionelle Frontenstellung noch zu existieren, wenn etwa Panzerverbände einander gegen­überstehen. Aber schon im Kosovokrieg 1990 setzten beide Seiten weltraumgestützte Cybersysteme ein. Der Ukrainekrieg 2022 wurde bereits weitgehend von der Cyberwarfare geprägt. Unbemannte Drohnen spähen Positionen gegnerischer Verbände auf, übermitteln die digitalen Informationen und ermöglichen präzise Angriffe aus nahezu beliebig großer Entfernung. Die Manipulation gegnerischer Software ermöglicht, Panzer­kanonen einer gegnerischen Division gegeneinander einzusetzen.

Der Vergleich mit traditionellen Formen der Kriegsführung verkennt die Bedeutung der Cyberwarfare bereits im Ansatz.

Die Cyberworld und ihre Kriegsführung sind virtuell. Sie interessiert sich weder für ihre Schöpfer noch für ihre Opfer, sie hat keine Interessen, keine Gefühle, keine Gegner und keine Freunde. Sie hat keine Ideologie, und sie braucht keine Ideologie. Sie ist die höchste Entwicklung anthropogener Rationalität, aber Aufklärung und Vernunft sind ihr fremd.

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Und sie hat keine Moral, der kategorische Imperativ hat in ihrer Welt keinen Platz. Sie ist weder Subjekt noch ein Instrument in den Händen der Kriegsherren. Das Herrschaftsprinzip der Cyberwarfare ist die Anarchie. Durch die Anonymisierung der Spieler im Cyberwar wird das Risiko nuklearer Kriege nicht geringer, sondern größer. Bevor militärische Konflikte zu einem Schlagabtausch nuklearer Waffen führen, werden sie in der virtuellen Cyberwelt ausgetragen. Verhandlungen, Diplomatie, die Präsidenten an ihren roten Telefonen: ihre Handlungsoptionen werden immer kleiner. Es spricht viel dafür, dass ein nuklearer Krieg nicht beginnen wird mit einem apokalyptischen Vernichtungsschlag, sondern mit einem Angriff auf die Logistik des Gegners. Der Cyberwar ist zunächst einmal ein Krieg der Cybersysteme. Das innerste Prinzip die Cyberwarfare ist - wie das jeder Kriegs­führung - die Vernichtung eines Gegners, aber die Cyberwarfare findet zunächst unterhalb der Schwelle globaler Vernichtungskriege statt.

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Die Cyberwarfare geht über das Ende der Menschheit hinaus. Als Söldnerarmee steht sie grundsätzlich jedem zur Verfügung entsprechend seiner Macht über die digitalen Systeme. Der beste Herrscher über die Cyberwelt aber ist diese selbst. Der Cyberkrieg kann auch nach einem Ende der Menschheit geführt werden. Cyber ist Künstliche Intelligenz und lenkt autonom die nuklearen Waffen; der menschlichen Intelligenz bedarf es hierzu nicht, wohl aber der Hardware des Krieges, der Missiles, ihrer Abschussstationen, der Sprengköpfe.

Es ist wenig wahrscheinlich, dass die Künstliche Intelligenz und die Cyberwarfare in der Lage wären, die eigentliche Hardware des Cyberwar - Missiles, Nuklearwaffen oder auch nur Panzerkanonen - selbst zu konstruieren. Der Abbau des Erzes in den Bergwerken bis zur Konstruktion etwa nuklearer Waffen war nur möglich auf der Grundlage einer mehrhundertjährigen Entwicklung der Technik und der Wissenschaften bis hin zur Errichtung industrieller Anlagen. Der Cyberwar nach dem Ende der Menschheit kann daher nur das vorhandene Zerstörungs- und Vernichtungspotential nutzen. Ebenso wenig wird die Künstliche Intelligenz in der Lage sein, nach einem Ende der Menschheit kreativ in die Gestaltung der Erde einzugreifen.

Nuklearwaffen konnten schon vor der Entwicklung der Cyberkriegsführung das gesamte Leben auf der Erde zerstören, die Overkill-Kapazität war bereits zur Zeit der Atombomben in den fünfziger Jahren erreicht und ist durch die weitere Perfektionierung bis zu den Lenkwaffen mit nuklearen Sprengköpfen und den Möglichkeiten des Cyberwars immer weiter angewachsen; gegenwärtig beträgt die Overkill-Kapazität der vorhandenen nuklearen Vernichtungs­waffen etwa das Zwanzigfache.

Die Vernichtung der Menschheit und eines großen Teils einfacher Lebensformen bis hin zu den Einzellern ist bereits mit dem Einsatz weniger Prozent der vorhandenen Vernichtungswaffen möglich ist. Dies bedeutet, dass auch nach einem nuklearen Erstschlag und nach dem Verlust jeglicher menschlicher Steuerungsfähigkeit noch achtzig bis neunzig Prozent der Missiles und Sprengköpfe einsatzbereit sind und einer autonomen und von Menschen unabhängigen Cyberwarfare zur Verfügung stehen.

Nukleare Kriege können nach dem Ende der Menschheit fortgesetzt werden, bis die Arsenale vernichtet sind; dann wird die Macht der Cyberwarfare enden. Die häufig gestellte Frage, wer Gewinner und wer Verlierer in einem nuklearen Krieg sein wird, kann mit der Feststellung Albert Einsteins beantwortet werden: Nach dem Dritten Weltkrieg wird der Vierte wieder mit Pfeil und Bogen ausgetragen.

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