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 Teil 2    Grenzenlose Strahlung  

Geulen-2023

 

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In den fünfziger Jahren wird Deutschland von einer Euphorie erfasst: Die Spaltung des Kerns wird Energie liefern für grenzenlosen Fortschritt. In den nächsten Jahrzehnten sollen jedes Jahr drei Reaktoren ans Netz gehen. Berlin plant ein Atomkraftwerk in Charlottenburg.

Dann beginnen die Massenproteste gegen die Kernkraft und ihre ewig strahlenden Brennstoffe. Kurzfristig bestimmt die Politik einen Salzstock unter der Elbe als zukünftiges Endlager, aber schnell wird bekannt, dass der Berg durch­gängig Kontakt zur Biosphäre hat. Die Lüge vom »Endlager Gorleben« ist geboren. Fünfundzwanzig Jahre wird das Salz aus dem Berg geholt, 2021 räumt die staatliche Betreiberin ein, dass die verstrahlten Brennstoffe in Gorleben niemals gelagert werden können. Jetzt wird das Salz wieder in das Bergwerk verpresst. Sechzig Jahre lang, die gesamte Bauzeit von 1978 bis 2038, wird das Phantombergwerk täglich im Mittel 80.000 bis 110.000 Euro gekostet haben, ausschließlich finanziert von Stromnutzern und Steuerzahlern.

Die gesamten hochaktiven Brennstoffe aus fünf Jahrzehnten deutscher Atomenergie liegen nun in oberirdischen Lagern, die gegen militärische und terroristische Anschläge nicht ausgelegt sind. Auch der Sicherheits­status der Behälter ist prekär. Die Unfallrisiken der Lager sind enorm und werden weitgehend verschwiegen. Im Falle eines unkontrollierten Flächenbrandes ist die Bevölkerung in einem Umkreis von zwanzig bis dreißig Kilometern zu evakuieren; dies trifft in Deutschland besonders die Städte Stuttgart, Hamburg und Mannheim/Ludwigshafen.

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   I-    Mit der Spaltung des Kerns zum Neuen Jerusalem      I-     II-      ^^^^ 

 

In den fünfziger Jahren wird Deutschland von einem Rausch erfasst: Die Spaltung des Atoms verspricht grenzenlose Energie. Und alle wollen mitmachen: Stromkonzerne und Minenbesitzer, Banken und Gewerkschaften, die Parteien von der politischen Rechten bis zur linken Sozialdemokratie, und Intellektuelle wie der marxistische Philosoph Ernst Bloch, der im Geiste des Urans auf den Trümmern Hiroshimas das Neue Jerusalem ausruft:

Einige hundert Pfund Uranium und Thorium würden ausreichen, die Wüsten verschwinden zu lassen und die Antarktis zur Riviera zu verwandeln, eine blaue Atmosphäre des Friedens.(1)

Den größten Anteil aber haben die Physiker, die alles getan hatten, um für den Hitlerstaat Atombomben zu bauen; wie vielen anderen Mittätern und Mitläufern war es ihnen gelungen, sich nach dem Krieg eine Legende zuzulegen. Die bekanntesten von ihnen, Werner Heisenberg, Otto Hahn und Carl Friedrich von Weizsäcker, waren Mitte 1945 an verschiedenen Orten im Reichsgebiet aufgegriffen und ins Chateau du Grand Chesnay, neben dem Schlosspark von Versailles gebracht worden. Lautstark protestierten die Physiker dagegen, dass sie keine Vorzugsbehandlung erhielten; sie würden behandelt wie »Kriegsverbrecher« und lebten in einem »Konz­entrations­lager«.(2) Als letzter wurde Prof. Walther Gerlach aufgegriffen, Görings persönlicher Bevollmächtigter für die Beschaffung des Urans in den von Deutschland besetzten Ländern, was ihm den Namen »Reichs­mar­schall für Kernphysik« eintrug. Das Protokoll bemerkt hierzu:

»Die Professoren waren hoch erfreut, als sie ihren alten Kollegen wiedersahen.«(3)

  • 1 Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt/M. 1985, S. 775.

  • 2 Dieter Hoffmann (Hg.): Operation Epsilon. Die Farm-Hall-Protokolle oder Die Angst der Alliierten vor der deutschen Atombombe, Berlin 1993, S. 84 ff.


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Schließlich wurden sie am 3. Juli 1945 über das Jagdschloss Facquval in den belgischen Ardennen nach Farm Hall gebracht, einem alten Landsitz in der Nähe von Cambridge im Süden Englands, den der britische Geheimdienst zur Ausbildung von Agenten nutzte. Ihr völkerrechtlicher Status war unklar. Sie waren keine Kriegsgefangenen - interniert wurden sie, weil die Alliierten das Wissen der deutschen Physiker ausforschen wollten.4 Farm Hall war komplett verkabelt, vom ersten Tag an wurden alle Zimmer abgehört, und zwar täglich rund um die Uhr, ohne dass die Internierten davon wussten.(5) Am 6. August 1945 meldet die BBC den Abwurf der Hiroshimabombe. Und weltweit berichteten die Rundfunkstationen über die Gründe für den Bau der Vernichtungswaffe: die Deutschen hätten während des Krieges »fieberhaft« daran gearbeitet, »die Atomenergie in Kriegswaffen einzusetzen«.5 Die Farm Hall-Protokolle dokumentieren die Reaktion der deutschen Physiker wie folgt:

Alle Gäste waren extrem besorgt über die Berichte der Presse zu den angeblichen Arbeiten in Deutschland an der Atombombe. Und Weizsäcker sagte: »Es wird nicht mehr lange dauern, bevor die Namen der deutschen Wissen­schaftler in den Zeitungen erscheinen.«(7)

  • 3 Ibid., S. 94.

  • 4 Ibid., S. 28 ff.

  • 5 Vgl. die Darstellung bei Richard von Schirach: Die Nacht der Physiker. Heisenberg, Hahn, Weizsäcker und die deutsche Bombe, Reinbek b. Hamburg 2015, S. 57f

  • 6 Sir Charles Frank (Hg.): Operation Epsilon. The Farm-Hall-Transcripts, London 1993, S. 70.

  • 7 Ibid., S. 92 f.

  • wikipedia.org/wiki/Farm_Hall 

  • wikipedia.org/wiki/Operation_Epsilon


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Am folgenden Tag setzt Weizsäcker eine Erklärung auf, die schließlich von den meisten internierten Physikern unterschrieben wird:

Die Atomkernspaltung beim Uran ist im Dezember 1938 von Hahn und Straßmann am Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie in Berlin entdeckt worden. Sie war die Frucht rein wissenschaftlicher Untersuchungen, die mit praktischen Zielen nichts zu tun hatten. [...] Beim Beginn des Krieges wurde in Deutschland eine Gruppe von Forschern zusammengerufen, deren Aufgabe es war, die praktische Ausnutzung dieser Energien zu untersuchen. Die wissenschaftlichen Vorarbeiten hatten gegen Ende 1941 zu dem Ergebnis geführt, dass es möglich sein werde, die Kern-Energien zur Wärme-Erzeugung und damit zum Betrieb von Maschinen zu benutzen. Dagegen schienen die Voraussetzungen für die Herstellung einer Bombe im Rahmen der technischen Möglichkeiten, die Deutschland zur Verfügung standen, damals nicht gegeben zu sein.(8)

Für mehrere Jahrzehnte war damit die Legende geschaffen von den friedlichen Kernphysikern, die mit Hitlers Bombenprojekt »nichts zu tun hatten«. Die Farm Hall-Protokolle waren Top secret gestempelt und blieben dies für mehrere Jahrzehnte. Ein halbes Jahrhundert später wurden sie veröffentlicht, und die Legende der deutschen Physiker brach zusammen.

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Als sie 1946 aus ihrer Internierung nach Deutschland zurückkehrten, sind sie wieder zu Ehren gekommen, zu Lehrstühlen, wurden gefeiert für ihr Lebenswerk, waren Berater der Adenauer-Strauß-Regierung mit hochdotierten Aufträgen der Ministerien für Atomfragen und Verteidigung.

  • 8 Ibid., S. 102.


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Ab 1955 wurden die Pläne zur Wiederbewaffnung umgesetzt, und die Bundesregierung tat alles, um die Bundeswehr mit eigenen deutschen Atomwaffen auszustatten. Als die USA eine nukleare Bewaffnung der Bundeswehr ablehnten, sahen die deutschen Physiker keine Chance mehr, ihre Arbeit aus den dreißiger und vierziger Jahren fortzusetzen. Im Ausland konnten sie ohnehin nicht arbeiten, in den USA schon gar nicht, und am Ende wollten sie nicht mit leeren Händen dastehen und wenigstens Atomkraftwerke bauen.

Am 12. April 1957 veröffentlichten sie die »Göttinger Erklärung«: »Die gegenseitige Angst vor den Wasserstoffbomben«, erklären die Professoren, leiste »heute einen wesentlichen Beitrag zur Erhaltung des Friedens in der ganzen Welt«, doch sei diese Friedenssicherung »unzuverlässig«. Das Manifest schließt mit dem Satz:

Gleichzeitig betonen wir, dass es äußerst wichtig ist, die friedliche Verwendung der Atomenergie mit allen Mitteln zu fördern, und wir wollen an dieser Aufgabe wie bisher mitwirken.(9)

Den deutschen Physikern ist natürlich bekannt, dass die zivile Kernspaltung von der militärischen nicht zu trennen ist. Schon vor Kriegsbeginn hatten sie Kenntnis von den »großen Energien, die bei der Uran­spaltung frei werden«10, und während des Krieges haben sie ihre Arbeiten zur Spaltung des Uranatoms ungestört fortgeführt. Sie wussten von der weltweiten Suche nach dem strahlenden Rohstoff, der Grundlage war für den Bau der Atombombe wie auch der Atomkraftwerke. Und seit dem zweiten Kriegsjahr wussten sie von den Plänen der Deutschen Wehrmacht, den kostbaren Rohstoff aus Katanga zu requirieren, den die belgischen Kolonial­herren auf einem Schiff bei Antwerpen lagerten.11


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Die liberale Presse feiert das Manifest als »Aufstand«, als Rebellion mutiger Wissenschaftler(12) und Statement gegen die Atompolitik der Bundesregierung. Fünf Tage später werden die Professoren von Bundeskanzler Adenauer zum Appell gerufen, und wir erleben einen weiteren Beitrag zum ewigen deutschen Thema: »Wegen schlechter Witterung wird der Aufstand abgesagt.«

Teilnehmer des Gesprächs berichten, dass die Rebellen vom Bundeskanzler behandelt wurden wie Schuljungen; schließlich unterzeichnen sie demütig die Erklärung, dass die Bundesrepublik Deutschland auf Kernwaffen »verzichten« solle (obwohl es nichts zu verzichten gab), ein Einsatz von Atomwaffen gegen die Sowjetunion von deutschem Boden aber gerechtfertigt sein könne.(13) Die Rebellen verlassen das Kanzleramt durch den Hinter­ausgang; den wartenden Journalisten wird mitgeteilt, der ganze Vorgang habe sich erledigt.

In den fünfziger Jahren gab es in Deutschland eine starke Stimmung gegen die Kerntechnologie, es gab Proteste und Ostermärsche und eine kritische Öffentlichkeit. Mit dem Canossa-Gang der »Göttinger Achtzehn« ist der Protest eingebrochen. Der Weg ist bereitet für die unbegrenzte Spaltung des Atoms in Deutschland, für die nuklearen Reaktoren, die Plutonium-Wirtschaft, die Technologie der chemischen Wieder­aufarbeitung und die Produktion ewig strahlender Brennelemente.

Mut hat keiner der Physiker bewiesen, Empathie auch nicht. Keiner von ihnen wird in den folgenden Jahrzehnten gegen die nukleare Aufrüstung der Atommächte seine Stimme erheben.


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Seit den sechziger Jahren wird der Bau nuklearer Reaktoren forciert. Jährlich sollen zwei bis vier ans Netz gehen, achtzig bis zum Jahre 2020.(14) Die Genehmigungen sind unbefristet, und nach dem Atomgesetz besteht ein Anspruch, die Kapazität der Reaktoren zu vergrößern. Gebaut werden schließlich 21 Reaktoren in der Nähe dichtbesiedelter Räume wie der Millionenstadt Hamburg, dem Ruhrgebiet und in der Rhein-Main-Region.

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Auch Berlin plant ein Atomkraftwerk. Ende der fünfziger Jahre werden zwei Standorte in Zehlendorf anvisiert, und zwar am Griebnitzsee und auf der Pfaueninsel, dem Sehnsuchtsort der friderizianischen Könige. Die drei West-Alliierten hatten keine Bedenken gegen ein Atomkraftwerk in West-Berlin, wohl aber gegen einen Bau an der Grenze zur DDR, und so verlegt der Berliner Senat den Standort nach Downtown West-Berlin auf eine Industrie­brache in Charlottenburg, 700 Meter entfernt von der nächsten Siedlung.(15)

Die Einzelheiten werden erst fünfzehn Jahre später bekannt, als der Senat plant, in einem großen Waldgebiet an der Berliner Mauer ein Kohlekraftwerk zu bauen. Das Projekt, für das 80.000 Bäume gefällt werden sollten, löste in Berlin die ersten großen Umweltproteste aus. Zur Rechtfertigung erklärte der Senat, der Standort in Charlottenburg müsse freigehalten werden für das geplante Atomkraftwerk. Schließlich wurde nach mehrjährigen Prozessen das »Kohlekraftwerk im Spandauer Forst« endgültig untersagt und - nunmehr mit Anlagen zu einer effektiven Entschwefelung - auf der Industriebrache in Charlottenburg errichtet. Damit waren die nuklearen Träume der West-Berliner Energiewirtschaft erledigt.

  • 14 Vgl. Joachim Radkau, Lothar Hahn: Aufstieg und Fall der deutschen Atomwirtschaft, München 2013, S. 320 ff.

  • 15 Vgl. ibid., S. 259 ff.


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Die Atomkraftwerke sind nunmehr stillgelegt, geblieben sind ihre verstrahlten Ruinen.16 Der Abriss jedes einzelnen wird etwa ein halbes Jahrhundert dauern, drei bis vier Milliarden Euro kosten und damit erheblich teurer sein als seine Errichtung. Der Reaktordruckbehälter und das Containment sind stark kontaminiert, ihre hohen Aktivitäten werden erst in Jahrtausenden zerfallen.

Die Risiken lassen sich an zwei Beispielen demonstrieren.

Das Atomkraftwerk Mülheim-Kärlich wurde im mittleren Rheintal gebaut auf der Bruchlinie eines Erdbebengebiets am Rande der Vulkaneifel. Nach fünfzehn Jahren ist der Bau fertig, es beginnen die nuklearen Testläufe, aber die Gerichte untersagen den Betrieb.(17)

Jahrelang versucht der Konzern die Risiken zu entkräften, aber immer mehr gehen seinen hochdotierten Gutachtern die Argumente aus, der Konzern verliert einen Prozess nach dem anderen und gibt schließlich auf. Strom hat der Reaktor nie geliefert, aber die Tests haben seinen Kern und das Containment kontaminiert. Nun liegt das Projekt seit drei Jahrzehnten still, der Abbau wird noch weitere vierzig Jahre dauern und mehr kosten als der Bau; der Anlagenkern wird für unbegrenzte Zeit als radioaktiver Abfall in der Biosphäre lagern.

Der Schnelle Brüter, der in Kalkar am Niederrhein gebaut wurde, begeisterte die Medien, die Politik und natürlich die Wissenschaftler. Ein solcher Reaktor würde mehr Uran produzieren als verbrauchen, ein perpetuum mobile, ein »Menschheitstraum«.


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Zwanzig Jahre nach Kriegsende steckte der Atomwirtschaft noch die traumatische Erfahrung in den Knochen, dass für den Bau der deutschen Atombombe nicht genug Uran in den Kriegsgebieten requiriert werden konnte.(18)

Die staatlichen Subventionen sind enorm, obwohl es sich um ein privates Projekt handelt. Den Gegnern des Brüters gelingt es nach einem langen juristischen Kampf schließlich, das Anfahren des fertiggebauten Reaktors - und damit die Kontamination der Anlage - zu verhindern.(19) Nach und nach verfiel der Brüter, aber verkauft werden konnte die Ruine noch nicht, denn es waren hohe Kosten für den Weiterbau abzuschreiben. Nach über zehn Jahren schließlich wird die Ruine zu einer Wellnessanlage umgebaut. Aus dem Schnellen Brüter wird nun das »Kernwasser-Wunderland«.(20) Der Menschheitstraum hatte etwa 3,5 Milliarden Euro gekostet, davon mehr als eine Milliarde Euro staatliche Subventionen. Weniger als ein Promille der Kosten realisiert der Betreiber durch den Verkauf der Ruine; die öffentlichen Gelder werden nicht zurückgezahlt.

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Das gleiche Schicksal dürfte das ITER-Projekt erleiden, an dem Deutschland mit großem Engagement und finanziellem Einsatz beteiligt ist. ITER ist die weltweit größte Versuchsanlage eines Fusionsreaktors und operiert mit dem Versprechen absoluter Sicherheit; nicht einmal Abfälle würde die Anlage produzieren und saubere Energie liefern im Kampf gegen die Erderwärmung. Das Projekt stammt aus den Zeiten der Sowjetunion und wird betrieben von den EU-Staaten und den großen Atommächten Russland und China. Bewusst wurde der Name aus dem lateinischen Wort iter (Reise, Weg) entlehnt.


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Mag die Globalisierung ihre Schattenseiten haben, mögen wir Wirtschaftskriege führen, vielleicht demnächst auch richtige Kriege: den Weg in die Zukunft der Nuklearzeit gehen wir gemeinsam. Und wieder sind die Medien begeistert; die Wissenschaftsressorts feiern eine Revolution, diesmal wird der Kern nicht gespalten, Wasserstoffplasma wird auf 150 Millionen °C erhitzt, die Wasserstoffatome verschmelzen und setzen grenzenlose Energie frei. Vorbild des Fusionsreaktors ist die Energieerzeugung der Sonne. Die hybride Terminologie, die das Projekt bis heute begleitet, ist die gleiche, die Präsident Truman 16 Stunden nach der Zündung der Hiroshima­bombe gefeiert hat: »Sie verkörpert die Nutzbarmachung der elementaren Kräfte des Universums.«21

ITER, der Weg, war von Anfang an ein Holzweg. Seit vierunddreißig Jahren wird geplant und gebaut, 2016 sollte die Anlage fertig sein, der Termin wurde immer wieder verschoben, aber grundlegende Sicherheitsfragen sind weiterhin ungelöst. Nunmehr soll der Test 2035 gelingen: Wenigstens für eine Millisekunde sollen Kerne fusioniert werden, danach wird ITER abgerissen. Energie sollte der Reaktor nie liefern, sondern Modell sein für die Planung eines kommerziellen Fusionsreaktors, der im Laufe des nächsten Jahrhunderts saubere Sonnenenergie liefert. Die Kosten von ITER sind inzwischen von 2,7 Milliarden auf 8 Milliarden Euro gestiegen.

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   II   Hochaktive Abfälle:          ^^^^ 

das Phantomprojekt Gorleben und die Lüge vom nuklearen Endlager  

 

Die Aktivitäten der Brennelemente werden in den Reaktoren um das Einhundertmillionenfache angereichert.


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Aktivierungsprodukte sind insbesondere Cäsium 134 und Strontium 90 sowie die langlebigen Spaltprodukte Plutonium und Tritium, deren Aktivitäten in Jahrhunderten nicht signifikant zerfallen. Nach etwa vier Jahren sind die Brennelemente abgebrannt und für immer verstrahlt; sie müssen unter allen Umständen vor Anschlägen geschützt werden, oberirdische Lager können dies nicht leisten.

Als immer mehr Abfälle produziert werden, beginnen in den siebziger Jahren die Massenproteste gegen die Kernenergie. Unter dem Druck der Demonstranten wird das Atomgesetz geändert: Reaktoren dürfen nur noch gebaut werden, wenn gesichert ist, dass die Abfälle im tiefen Gestein endgelagert werden. Am 17. Oktober 1977 wird der Bau des Atomkraftwerks Brokdorf gerichtlich untersagt, weil das gesetzlich vorgeschriebene unterirdische Endlager nicht einmal geplant ist.22 Politiker aller Parteien suchen fiebernd einen Ort, der die geforderten sicheren Barrieren zur Biosphäre aufweist: Neben einer geschlossenen Salzformation in der Tiefe musste das Deck­gebirge zwischen dem Salzstock und der Biosphäre aus »grundwasserhemmendem Gestein« bestehen.

Bereits nach wenigen Wochen wird ein großes Waldgebiet im Hannoverschen Wendland zum Standort des Endlagers bestimmt; hier erstreckt sich unter der Elbe eine Steinsalzformation. Die Entscheidung sei endgültig und alternativlos. Schon in zwei Jahren - Mitte 1979 - soll die Genehmigung vorliegen und der Bau beginnen, ab 1992 würden die Abfälle für alle Zeiten in den Tiefen des Salzes verschlossen.23

So beginnt die systematische Lüge vom Bau eines deutschen Endlagers, eng verbunden mit dem Namen des kleinen Ortes Gorleben.


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Weltweit scheint die Sicherung der hochaktiven nuklearen Abfälle unlösbar, nicht einmal Länder wie Russland und die USA, die in menschenleeren Wüsten und Permafrost-regionen oberirdisch Nuklearbomben getestet hatten, konnten Orte für ein sicheres Endlager benennen. Und nun wird Deutschland ein Jahrtausendprojekt bauen und den Beweis dafür liefern, dass die Kernenergie vom Abbau des Urans bis zur Beseitigung der strahlenden Abfälle absolut sicher sei.

Dann werden die Daten des Salzstockes veröffentlicht. Nach zweihundert Jahren intensiven Bergbaus sind im Norden Deutschlands die geologischen Formationen bis auf 3500 Meter Tiefe gründlich erkundet. Die Geodätische Datenbank des Landes Niedersachsen dokumentiert bereits Ende der siebziger Jahre 300.000 Bohrungen mit 3,2 Millionen Datensätzen aus den letzten 150 Jahren.24 Die Erkenntnisse sind vernichtend. Unter dem Salzstock liegt ein ausgedehntes Gasvorkommen in 3000 Metern Tiefe, das in den sechziger Jahren am rechten Ufer der Elbe auf dem Gebiet der DDR erkundet worden war. Als die Bohrung etwa 900 Meter erreicht hatte, explodierte das Gasgemisch mit einem Druck von 600 bar, und die Exploration wurde eingestellt. Noch gravierender war die Durchlässigkeit des Deckgebirges: dreihundert Meter mächtige Sedimente aus losem Gestein, Lehm, Gasblasen und wasserführenden Schichten, die seit der letzten Eiszeit über dem Salzstock lagern.


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Darüber hinaus ist das Deckgebirge hydrogen erodiert; im 17. Jahrhundert war es ausgehöhlt, stürzte auf einer Länge von vier Kilometern ein und bildete den Rudower See. »Grundwasserhemmendes Gestein« gibt es in Deutschland an vielen Stellen, im Wendland aber nicht.

Explosive Gasblasen im Salzstock, wasserführende Schichten des Deckgebirges: niemals würden hier strahlende Abfälle lagern können. Und so greifen die Verantwortlichen zu einem Etikettenschwindel. Aus der »Eignung« des Salzstocks wird eine »Eignungshöfigkeit«25, aus dem »Endlager« wird ein »Endlagerbergwerk« und schließlich ein »Erkundungsbergwerk«, und aus dem »Entsorgungsnachweis« wird ein »Entsorgungsvorsorgenachweis«. Es ist symptomatisch für die Stimmung der achtziger Jahre, dass die Justiz diesen Schwindel akzeptiert und den Betrieb neuer Reaktoren freigibt. Am 17. März 1980 wird die Klage der Betroffenen abgewiesen:

Zurzeit steht nicht mit absoluter Sicherheit fest, ob und wann die Entsorgung von Kernkraftwerken verwirklicht werden kann. Es ist allerdings der politische Wille der Legislative und der Exekutive vorhanden, dieses Problem langfristig zu lösen.26

Eine gerichtliche Kontrolle findet vor der deutschen Justiz nun nicht mehr statt, und die Geschichte des Bergwerks Gorleben wird zu einer Geschichte des Justizversagens. Die Anwohner der Reaktoren, die Bauern, Elbfischer und die Eigentümer der Salzrechte in Gorleben werden damit abgespeist, sie könnten in einigen Jahrzehnten gegen das fertige Endlager klagen. Kurze Zeit später räumt der Bundesgrenzschutz die »Freie Republik Wendland«, das Hüttendorf, das Anwohner und Aktivisten über dem Salzstock errichtet hatten.

  • 25 Ein Begriff der Lagerstättenkunde für die mögliche Eignung eines Vorkommens zum Abbau von Bodenschätzen.

  • 26 Verwaltungsgericht Schleswig, Urteil vom 17.03.1980 (VG 10 A 512/76).


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Das Phantom ist ein Meisterwerk der Technik. Zwei breite Schächte werden abgeteuft auf 900 Meter Tiefe, die dreifache Höhe des Eiffelturms, die fünffache des Kölner Doms. 30.000 Kiefern werden gerodet und große Becken errichtet, um 20.000 Kubikmeter Sole zu speichern und durch einen 4,6 Kilometer langen Kanal in die Elbe zu leiten. Das gesamte poröse Deckgebirge über dem Salzstock wird bis zu einer Tiefe von 300 Metern eingefroren; eine Armierung mit Betonringen soll die Schächte vor einbrechendem Wasser schützen. Die Abteufung dauert sieben Jahre; mehrere hunderttausend Kubikmeter Steinsalz werden ausgegraben und neben den Schächten aufgehaldet. Dann wird schweres Gerät auf die Sohle gebracht, um die Stollen und Strecken aufzufahren.

Die Einfahrt in das Bergwerk ist einzigartig. Auf die Teufe führt kein Förderkorb, sondern ein Eisenkübel, der lotrecht in die Tiefe gleitet; das Steinsalz darf aus Sicherheitsgründen nicht durch Schienen verritzt werden. Das Förderseil weicht auf neunhundert Meter Tiefe nur wenige Zentimeter von der Senkrechten ab. Es herrscht absolute Stille. Nach hundert Metern zeigt sich die Schachtöffnung als kleine Linse, die schließlich nicht mehr zu sehen ist. Auf der Teufe begrüßt einen das Bild der Heiligen Barbara, die seit dem Mittelalter die Aufgabe hat, katholische Bergleute ihr elendes Leben ertragen zu lassen. Und dann betritt man eine Kathedrale. 328.000 Kubikmeter Steinsalz wurden aus dem Berg geholt, Strecken und Stollen sind autobahnähnlich aufgefahren auf einer Länge von über acht Kilometern. Schaufelbagger transportieren das Salz zum Schacht. Aus den Wänden hängen Kabel und Sensoren, Techniker laufen herum in weißen Overalls und notieren wichtige Daten, schließlich ist es ja ein Erkundungsbergwerk.


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Und für die Nachwelt wird jedes Detail dokumentiert, analog und digital. Das Tagebuch der Madame Marie Curie ist bis heute verstrahlt und darf nur mit Schutzmasken gelesen werden. Hier aber wird alles anders sein: Die Daten werden in Bleisärge eingeschreint, damit sie die nächste Eiszeit überstehen und noch in einigen hunderttausend Jahren lesbar sind, falls dann im Wendland noch Menschen leben. Das Endlager soll wirklich ganz sicher sein, wenn es schon nicht gebaut wird. Wissenschaftlich wird das Jahrtausendprojekt auf höchstem Niveau begleitet. Gutachten um Gutachten werden erstellt, Aufsätze und Bücher geschrieben und immer neue Tagungen veranstaltet, Workshops, Konferenzen und Symposien. Wissenschaftler werden eingeladen, Politiker, Radiologen, Geologen, Ingenieure, Juristen, Ministeriale und natürlich die Lobbyisten der Atomwirtschaft, um ein eurythmisches Schattenboxen aufzuführen. Besonders spannend sind die Debatten zur sogenannten Langzeitsicherheit. Soll das Endlager Gorleben Schutz bieten für zwei Eiszeiten oder sogar für drei, für fünfhunderttausend Jahre oder vielleicht für eine Million? Kritische Gutachter meinen, dass wir auch für die Menschen sorgen müssten, die erst in sechs- oder achthunderttausend Jahren hier leben.

Hochprofessionell arbeiten die PR-Agenturen der Atomwirtschaft. Für politische Entscheidungsträger werden Exkursionen angeboten, Landräte, Bürgermeister und Honoratioren sind eingeladen, die Atomanlagen zu besuchen. In La Hague, der weltweit größten Fabrik zur chemischen Verarbeitung von Kernbrennstoffen, werden sogar Austern serviert; wir sind hier in der Normandie, und das Atlantikwasser vor der Tür ist sauber. Die Energie­konzerne schalten ganzseitige Anzeigen, in denen Professoren erklären, warum die strahlenden Abfälle in Gorleben absolut sicher lagern werden. Den Journalisten werden PR-Berater zur Seite gestellt, auf Wunsch auch mit Führung ins Phantom.


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Und die Wissenschaftsressorts der Printmedien drucken alles; niemand will abseits stehen, wenn die Technologie der Zukunft aus berufenem Mund erklärt wird. Von Anfang an ist auch das Fernsehen dabei. Dreißig Jahre lang werden sie nun Bilder von Männern zeigen, die in weißen Helmen und Overalls aus den Tiefen des Salzstocks vom hohen Niveau des deutschen Bergbaus künden. Politiker reißen sich darum, im Teufkübel gefilmt zu werden. Früher war es ihnen wichtig, mit rußverschmierten Gesichtern aus den Kohleflözen zu steigen und Solidarität mit den Kumpeln zu zeigen, solange die Kamera läuft. Die Schaufelradbagger im Westrheinischen Tagebau werden von zwei Ingenieuren bedient und können Bilder mit Kumpeln nicht liefern, und die Kohle ist wegen des Klimas auch nicht mehr reputabel. Die neuen Bilder zeigen die Politiker als Botschafter der sauberen Kernenergie in den keimfreien Tiefen eines Salzstocks.

Dass Gorleben schließlich als Phantom enttarnt wird, liegt an den Demonstrationen gegen die Transporte verstrahlter Brennelemente in eine Eingangshalle, die über dem Salzstock gebaut worden war. Hier sollten die Brenn­elemente angeliefert werden in Transportbehältern, den sogenannten Castoren. Als die Reaktoren immer mehr Abfall produzieren, wird die Eingangshalle heimlich umgewidmet in ein Langzeitlager. Für die Transporte war keine Region weniger geeignet als das entlegene Wendland. Jahr für Jahr treffen die Castoren in Gorleben auf größeren Widerstand. Bereits die Verladung auf die Güterzüge in den Ausgangslagern findet unter schwerem Polizeischutz statt. Für die Anlieferung in Gorleben werden Polizisten aus vielen Bundesländern angefordert, auch die Bundespolizei tritt auf. Im Jahr 2014 sollen sechzehn Castoren (gut ein Prozent der gesamten Kernbrennstoffe, die in Deutschland endzulagern wären) nach Gorleben überführt werden; allein die Sicherung dieses Transports kostet neunzig Millionen Euro.


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Inzwischen übersteigt der Aufwand jedes erträgliche Maß, zumal offenkundig ist, dass die verstrahlenden Abfälle wieder weggeschafft werden müssen, weil es in Gorleben kein Endlager geben wird.

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Nun sendet das Fernsehen nicht mehr sterile Bilder aus dem Salz, es wird live berichtet von den Schlachten aus Gorleben, als seien sie eigens fürs Fernsehen inszeniert. Auf der Bahnstrecke zwischen Lüneburg und Dannenberg ketten sich Demonstranten an Gleise, das Schotterbett wird unterminiert, die Polizei kann die Demonstranten nicht hindern, die Gleise zu besetzen. Höhepunkt ist das Verladen der schweren Castoren auf Sattelschlepper im Bahnhof Dannenberg, die letzten zehn Kilometer nach Gorleben führen über schmale Straßen durch Dörfer und Waldgebiete. Wegen der Demonstranten kommen die Sattelschlepper über ein stop and go nicht hinaus. Der gesamte Konvoi wird von mehreren tausend Polizisten begleitet; kein Staatsmann der Welt hat jemals eine solche Security erhalten.

Und die Demonstranten mit ihren phantasievollen Aktionen sind auch telegener als die Politiker in ihrem Förderkübel und die Techniker aus der Grube. Als schließlich CNN tagelang live von der »Battle of Gorleben« berichtet, wird ein Moratorium verfügt: die »Erkundungen« werden eingestellt. Schächte und Stollen werden aber nicht berührt; solange die Reaktoren laufen, wird das Bergwerk noch als Alibi gebraucht.

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Im Oktober 2020 erklärt die staatliche Betreiberin, der Salzstock Gorleben-Rambow und das umgebende Gebirge seien für eine Endlagerung der hochaktiven Abfälle ungeeignet.27 Begründet wird dies mit den Tatsachen, die von Anfang an bekannt waren: Es gibt keine »grundwasserhemmenden Gesteine im Deckgebirge«, die strahlenden Abfälle würden das Grundwasser und die Biosphäre kontaminieren.

  • 27 Vgl. Bundesgesellschaft für Endlagerung Anwendung der geowissenschaftli-chen Abwägungskriterien mit Bezug zur Ausweisung von Teilgebieten im Rahmen der Suche nach einem Endlagerstandort für hochradioaktive Abfälle, Peine 2020, S. 48 f. Die Bundesgesellschaft für Endlagerung mbH (BGE) ist Betreiberin des Vorhabens Gorleben. Alleinige Gesellschafterin ist die Bundesrepublik Deutschland.


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Neue Erkenntnisse habe es seit Jahrzehnten auch nicht gegeben. Die Gasblasen im Inneren des Salzstocks werden nicht mehr erwähnt; so ersparte sich die staatliche Betreiberin die peinlichen Fragen, warum sie auch diesen K.O.-Punkt seit dreißig Jahren verschwiegen hat. In den nächsten Jahrzehnten wird der gesamte Abraum wieder in den Berg verpresst. Alles soll sein wie früher, als hier die Kiefern wuchsen. Damit endet die Geschichte des Phantombergwerks Gorleben. Was aus der Heiligen Barbara wird, ist noch nicht geklärt.

Kein Politiker, kein Wissenschaftler, keine Institution, die das Projekt zu verantworten hatten, hielten es für angezeigt, sich zu erklären. Drei Jahrzehnte hatte eine staatliche Gesellschaft das Endlager in Gorleben gebaut, drei Jahrzehnte hatte sie sich geweigert, über die allbekannten unüberwindbaren Defizite des Gorleben-Projekts ernsthaft zu reden.

Als der Schwindel aufflog, gestattete sie sich immerhin gegenüber der Presse die ironische Erklärung: »Jetzt freuen wir uns auf die Diskussion mit den Bürgerinnen und Bürgern und der Fachöffentlichkeit.«(28) Zum Lohn für den erfolgreichen Endlagerbau wurde die staatliche Endlagergesellschaft schließlich damit beauftragt, das Salz wieder in den Berg zurückzuschaffen.

Wenn alles vorbei ist, vielleicht in zwanzig Jahren, werden zwei Generationen von Geologen, Physikern, Chemikern, Gutachtern und Ingenieuren - die meisten gut dotierte Akademiker - ein halbes Jahrhundert damit verbracht haben, einen Berg auszuhöhlen und wieder zuzuschütten. Die Kosten des Phantombergwerks sind detailliert dokumentiert.(29)


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Umgelegt auf Tagesdurchschnitte ergeben sich für Planung, Bau und Unterhalt des Phantombergwerks folgende Kosten: Ab 1982 wurden täglich 160.000 bis 180.000 Euro investiert, und zwar 31 Jahre lang. Die Offenhaltung des Bergwerks nach dem Baustopp im Jahre 2013 kostete täglich 85.000 bis 95.000 Euro. Für die anschließende Verfüllung des Abraums in das Bergwerk sind bis zum Jahre 2035 täglich 90.000 bis 110.000 Euro aufzuwenden, die aus dem staatlichen Fonds zum Bau eines Endlagers finanziert werden.30

Mit dem gängigen Verständnis von Kapitaleinsatz, Risiko und Profit hatte die Kernenergie von Anfang an nichts zu tun. Ohne unternehmerisches Risiko haben die Stromkonzerne Jahr für Jahr hohe Gewinne realisiert, die immensen Kosten ihrer Bauten wurden durch die Erhöhung der Strompreise finanziert, die Sicherung der nuklearen Abfälle in den nächsten Jahrzehnten wird der Staat aus Steuermitteln bezahlen.

Erst recht gilt dies für künftige Kosten der Sicherung verstrahlter Brennelemente aus dem jahrzehntelangen Betrieb der Atomkraftwerke. Im Auftrag der Bundesregierung hat eine Wirtschaftsprüfungsgesellschaft vor sechs Jahren diese Zahlen wie folgt abgeschätzt:

  • 19,7 Milliarden Euro für Stilllegung und Abriss der Atomkraftwerke,

  • 9,9 Milliarden Euro für Behälter, Transport- und Betriebsabfälle,

  • 5,8 Milliarden Euro für Zwischenlagerung,

  • 12 Milliarden Euro für die Errichtung der Endlager.(31)

 


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Die saldierten 47,5 Milliarden Euro werden aber nach den Erfahrungen der letzten Jahrzehnte mit dem Abbau der stillgelegten Atomkraftwerke erheblich übertroffen werden. Auch die enormen Kosten, die in den nächsten sechzig bis achtzig Jahren für den Abbau der Reaktoren und für die Lagerung der gefährlichen Abfälle zu zahlen sind, werden mit Steuermitteln und den Gebühren der Stromkunden finanziert.

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Das Zeitalter der Atomenergie ist in Deutschland vorbei, die Reaktoren sind abgeschaltet, geblieben sind die verstrahlten Brennelemente, hochaktive und hitzeentwickelnde nukleare Abfälle. Neben Frankreich hat kein europäisches Land in diesen Jahrzehnten solche Mengen gefährlicher Nuklearabfälle produziert wie Deutschland; inzwischen sind es über 8500 Tonnen(32) und die Abfallmengen werden nach der Stilllegung der Reaktoren weiter zunehmen, weil feste und flüssige Spaltprodukte aus der fehlgeschlagenen Wiederaufarbeitung in Frankreich zurückgenommen werden müssen.

Statt eines Endlagers im tiefen Salz gibt es jetzt Hallen, die rechtlich als »Zwischenlager« deklariert sind, faktisch aber einer unbegrenzten Lagerung dienen. Sicherheitstechnisch sind es Provisorien, Trockenbauten aus dünn­wandigen Betonplatten. Ausnahmslos sind sie nicht ausgelegt gegen terroristische Angriffe mit Waffen, die im Darknet angeboten und ohne große Schwierigkeiten zu erwerben sind: Drohnen für gezielte Sprengstoff­angriffe und betonbrechende Panzerfäuste, die von einer Person aus einem vorbeifahrenden Fahrzeug abgefeuert werden.


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In dem unterirdischen Lager sollten die Kernbrennstoffe verschlossen werden in sogenannten Polluxbehältern, die neben den geologischen Barrieren einen sicheren Abschluss für hunderttausende von Jahren gewährleisten würden. Aber die Entwicklung der Polluxbehälter wurde aufgegeben, nachdem die Endlagerplanung gescheitert ist.

Die gefährlichen Abfälle lagern also weiterhin in den Castoren, die für einen Transport, nicht aber für eine lange oberirdische Lagerung ausgelegt sind. Es handelt sich um Stahlbehälter, etwa vier Meter hoch und zweieinhalb Meter breit. Für die Presse gibt es Farbbilder, denn die Castoren wurden extra in leuchtendem blau und rot angemalt, als stünden sie nicht in einem gefährlichen Lager, sondern in der Villa Kunterbunt. Nach der jahrelangen Lagerung in den Castoren ist der Sicherheitsstatus der verstrahlten Brennelemente prekär. Die Wärmeentwicklung sowie die hohen atomaren Aktivitäten führen zu einer unkontrollierten chemischen Zersetzung der Kern­brenn­stoffe. Die Castoren können auch nicht mehr geöffnet werden, niemand weiß genau ob die Brennelemente nicht schon zerfallen sind.

Die Unfallrisiken der Castorlager sind enorm und werden weitgehend verschwiegen. Fünf der zwölf Castorlager in Deutschland liegen unweit größerer Städte: 33 Kilometer entfernt von Köln in Jülich (152 Castoren), 24 Kilometer von Stuttgart in Neckarwestheim (36 Castoren), 19 Kilometer entfernt von Hamburg in Krümmel (42 Castoren), 35 Kilometer von Bremen in Esenshamm (40 Castoren), 27 Kilometer von Mannheim / Ludwigshafen und 42 Kilometer von Frankfurt am Main in Biblis (102 Castoren). Es hat in den vergangenen Jahren mehrere höchstrichterliche Entscheidungen zur Sicherheit der Castorlager gegeben.33 Das Ergebnis war eindeutig: Die Lager waren bereits bei ihrer Errichtung nicht ausgelegt gegen die damals existierende konventionelle Waffentechnik. Einzelne Lager wurden nachgebessert, aber gegen die neuen Waffen bieten sie weiterhin keinen Schutz.

Soweit in Deutschland Katastrophenschutzpläne veröffentlicht werden, enthalten sie nichts zu den Risiken der Bevölkerung;34 niemand soll ohne Not verunsichert werden. Einzelne Pläne erklären, dass Menschen in einem Radius von dreißig Kilometern zu evakuieren sind, wenn in einem Castorlager ein mehrstündiger Flächenbrand ausbricht; dies würde insbesondere die Bewohner von Hamburg, Stuttgart und Ludwigshafen/Mannheim treffen. Von den Worst-Case-Szenarien erfährt die Öffentlichkeit wenig. In den Gerichtsverfahren liegen valide Einschätzungen des Bundeskriminalamts vor. Dokumente zu terroristischen Anschlägen sind aber »VS-VERTRAULICH« gestempelt und werden in diesen Prozessen in einem In-Camera-Verfahren erörtert. Die Akten sind nur den Richtern des Bundesverwaltungsgerichts und den Rechtsanwälten der Prozessparteien zugänglich und dürfen nicht veröffentlicht werden.

Im Jahr 2022 hat der Ukrainekrieg ein weiteres Szenario bewusst gemacht: die Erpressbarkeit von Staaten, auf deren Territorium verstrahlte Brennelemente liegen. Als russische Panzer im März 2022 den Chernobyl-Komplex besetzten und im August 2022 die sechs Reaktoren in Saporischschja, gerieten Teile der Anlagen in den Beschuss von Panzerkanonen. Unkontrollierte Feuer gefährdeten die 22.000 Brennelemente in den Lagern, die gegen militärische oder paramilitärische Anschläge nicht ausgelegt sind.(35) Besonders betroffen sind in Europa die Länder mit dem größten Aufkommen an hochaktivem nuklearen Abfall: Deutschland, die Ukraine, Schweden und Frankreich.

Nachdem die Pläne für den Betrieb unterirdischer Endlager gescheitert sind, besteht keine Aussicht, dass die verstrahlten Brennelemente jemals gegen Anschläge gesichert werden.

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Geulen-2023