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Erkundungen in neuen Landschaften:

Psychotherapie als Chance und Wagnis  

Giese, Kleiber

 

 

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Immer mehr Menschen nehmen psychotherapeutische Hilfe in Anspruch. Viele Betroffene leben isoliert, trauen sich nicht unter Menschen, haben das Gefühl, anderen nur noch zur Last zu fallen, fühlen sich zurück­gestoßen oder sind verzweifelt.

Beziehungs- und Partnerschaftsprobleme, allgemeine Überforderung, Über- oder Untergewichtsprobleme, Drogen-, Tabletten- oder Alkoholprobleme, Schwierigkeiten am Arbeitsplatz oder gerade damit, daß man keinen hat oder findet; Depressionen, verschiedene Ängste, Kontaktstörungen, Schmerzen oder körperliche Befunde, für die sich keine "medizinischen Ursachen" finden lassen u.ä., können Anlaß für die Suche nach therapeutischer Hilfe sein. 

Zumeist haben die Betroffenen zunächst jahrelang allein versucht, einen Weg aus der Krise zu finden. Doch nachdem alle "Bewältigungsversuche" nicht geklappt haben und auch Angehörige, Freundinnen oder Partner­innen oder Arbeitskolleginnen nicht mehr weiterhelfen konnten oder wollten, führt nicht selten sanfter Druck zu der Frage, ob vielleicht eine Psychotherapie weiterhelfen könnte.

Wer jedoch könnte helfen? Wem kann ich mich soweit öffnen, daß die privatesten Dinge zur Sprache kommen können, die ich selbst kaum zu denken wage? Und was kann ich erwarten? Was ist eigentlich mein Problem? Ist es — und wenn — wie ist es zu behandeln? Ist es egal, ob ich zu einem Gesprächs-, Verhaltens- oder Gestalt­therapeuten gehe oder ob ich an irgendeiner Gruppe teilnehme?

Was passiert eigentlich in der Psychotherapie?  

Im Bekanntenkreis lassen sich zwar meist noch Menschen finden, die eigene Erfahrungen mit Psychotherapie oder verschiedensten therapeutischen Angeboten gemacht haben, doch sehr viel mehr als daß es irgendwie genutzt hat, eine wichtige Erfahrung war oder auch nur gut tat, ist selten zu erfahren. Und daß der/die Therapeutin damals eine unglaublich wichtige Stütze war, beruhigt zwar, hilft aber auch nicht so sehr viel weiter.

Die von anderen berichteten Probleme sind ja nicht die eigenen (viel bedrückenderen). Außerdem praktiziert Therapeutin X möglicherweise nicht in der eigenen Stadt, rechnet außerdem nicht über Kassen ab, hat im Umgang mit meinen Problemen vielleicht gar keine Erfahrungen, und gehört zur Mehrzahl der Therapeuten, die sogenannte YAVIS-Klienten behandeln: young, attractive, verbal intelligent und successful; also jung, attraktiv, kommunikationsfähig, intelligent und erfolgreich müssen die Klientinnen sein, damit sie maximalen Nutzen aus dem Psychotherapieangebot ziehen können. So geht nach langem Zweifeln "ob überhaupt" die Unsicherheit weiter, die die Suche nach geeigneten Therapeuten begleitet.

 

Es gibt bereits eine Reihe von Veröffentlichungen, die in einer solchen Situation Hinweise oder zumindest einen Überblick über den undurchschaubar gewordenen Psycho(therapie)markt zu geben versuchen (z.B. Kovel 1977; Moser 1984; Welche Therapie? 1987; Kraiker u. Peter 19882). 

Doch die meisten dieser Bücher geben die mehr oder weniger distanzierte Sicht von Fachleuten wieder, nicht jedoch die Erfahrungen der Klientinnen. Der vorliegende Band, der explizit nicht als Therapieführer gedacht ist, versteht sich zu solchen Werken nicht als Konkurrenz, sondern als Ergänzung, indem — nicht repräsentativ, sondern mit einem Akzent auf den Fallstricken, Wagnissen und Risiken der Psychotherapie — Berichte vorgestellt werden, die die unverstellte Teilnahme an den Erfahrungen von Betroffenen ermöglichen.

Wir beabsichtigen, auf diese Weise ein wenig zu sensibilisieren, allzu hohe Erwartungen zu bremsen, um so erfolgreichere Psychotherapien zu fördern. In diesem Beitrag werden einleitend ohne Anspruch auf Vollständigkeit einige der Risiken und Wagnisse, die in den Betroffenenberichten sichtbar sind, beschrieben.

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Erste Eindrücke

 

"Eine Kugel, die durch eine hügelige Landschaft läuft, die kommt an eine Verzweigung, läuft eine Bergkuppe hinauf. Wenn sie oben an der Kuppe ist, genügt ein ganz kleiner Einfluß, sie entweder nach links oder nach rechts weiterlaufen zu lassen. Aber danach läuft sie rechts oder links weiter. Nun kommt sie wieder an eine nächste Verzweigung. Wieder ist es ein ganz kleiner Einfluß, der über ihren weiteren Verlauf entscheidet. Man kann am Schluß sehr gut nachvollziehen, wie die Kugel dahingekommen ist, wo sie schließlich gelandet ist. Aber man hätte am Anfang nie vorhersagen können, wo sie einmal landet. Weil es winzige Fluktuationen sind, die darüber entscheiden. 

Nehmen Sie das als grobe Analogie zum Prozeß des Psychotherapie. Die Kugel wäre die Persönlichkeit des Klienten. Es gibt sehr viele Verzweigungspunkte, an denen es entweder die eine oder die andere Möglichkeit des weiteren Verlaufs gibt. Wenn der Klient einmal an der Stelle angekommen ist, dann ist es durchaus nicht beliebig, ob der weitere Verlauf so oder so aussieht. Aber man kann nicht vom Ausgangs­punkt her voraussagen, an welchem Punkt sich der Klient zum Schluß befinden wird. Insofern ist das Ergebnis prinzipiell offen." (Grawe 1987, S. 3, zit. nach Huber 1987).

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An anderer Stelle (1988) zeichnet Grawe ein anderes Bild: Er vergleicht die Aufgabe eines Therapeuten mit der eines Bergsteigers, der sich einen Weg in einem vorerst noch unbekannten Gelände sucht. 

"Jedes neue Ziel hängt von dem zuvor zurückgelegten Weg ab und ist insofern nicht von vornhinein festlegbar. Was den Bergsteiger instande setzt, diesen Weg zu gehen, sind die schon früher von ihm zurückgelegten Wege in einem anderen Gelände. Wir wissen am Schluß, wie der Bergsteiger zu einem bestimmten Punkt gekommen ist, indem wir den Prozeß zurückverfolgen. Hätte er beim Zurücklegen des Weges nicht gegenstandsangemessene Heuristiken angewandt, so wäre er nicht an diesen Punkt gelangt. Wir hätten aber nicht im voraus genau sagen können, was er an welcher Stelle genau hätte tun sollen (nur wenn er abgestürzt wäre, hätte man gegebenenfalls sagen können, was er nicht hätte tun sollen;  E.G. + D.K.).

Sein Weg war zwar zielgerichtet, aber er hat sich ergeben, er war nicht im voraus genau so geplant. Auch dieses hier zur Veranschaulichung benutzte Bild hat jedoch seine Schwächen: Wir müßten uns ein Gelände vorstellen, das in seiner Beschaffenheit nicht gleichbleibt, sondern sich abhängig von jedem Schritt, den der Bergsteiger tut, verändert. Erst mit dieser Erweiterung wird unmittelbar einsichtig, daß ein solcher Weg nicht im voraus festlegbar wäre. Erst wenn wir uns den Berg als in permanenter selbstaktiver Bewegung befindlich vorstellen, wobei diese Bewegung teils abhängig, teils unabhängig von den Schritten des Bergsteigers erfolgen, würde das Bild einigermaßen den Verhältnissen gerecht, mit denen wir es ... in einer Psychotherapie zu tun haben" (Grawe 1988, S. 48 f).

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Wir schlagen vor, sich Psychotherapie wie eine Erkundungsreise, eine Expedition in Neuland vorzustellen, bei der man sich der Begleitung eines zwar fachkundigen und möglichst expeditions­erfahrenen, aber gleichermaßen ortsunkundigen Helfers versichert. Ausgelöst von Unzufriedenheiten vor Ort, von Sehnsüchten, Wünschen — oder aber weil man zwangsweise (Trennung, Tod eines Partners, Arbeitslosigkeit) in neues Gelände hineinversetzt wurde — stellt sich die Aufgabe, sich neu zu orientieren, sich ein Bild von der Landschaft, die man zu durchqueren beabsichtigt, zu machen und Ziele zu entwerfen. Oft existiert nur eine vage Idee vom Ziel der Reise, oder aber es erweist sich, daß feste Vorstellungen vom Ziel falsch bzw. verzerrt waren, wenn man es einmal erreicht hat. Vielleicht aber verändert sich auch das Ziel im Verlauf der Reise.

Ganz sicher aber ist eine solche Reise auch mit Wagnissen verbunden, die sich nicht vollständig kontrollieren oder ausschalten, aber immerhin doch verringern lassen.

 

Vor Antritt der Reise

 

Ein Minimum an Vorbereitung sollte schon sein: Insbesondere sollte man sich über die eigenen Ziele im klaren sein, sich Informationen beschaffen und überprüfen (lassen), ob man sich eine solche Expedition zutraut; ob die entsprechende körperliche Verfassung gegeben ist, ob man sich wirklich darauf einlassen will und die persönlichen Verhältnisse dieses auch erlauben. Mit den wichtigsten Bezugspersonen wird man besprechen, was man eigentlich vor hat, was man sich von der Erkundung verspricht und wie man zurückzukehren gedenkt. Eine realistische Vorausplanung kann helfen. Fehlerwartungen zu minimieren und so Fehlentscheidungen und Fehlinvestitionen zu vermeiden.

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Wer schon den Reiseantritt gehetzt plant und am liebsten ohne Zeitverlust und persönlichen Einsatz reisen möchte, wird letztlich seine Erkundungsmöglichkeiten einschränken: Wir raten von Pauschalreisen im Bereich der Psychotherapie ab. Gruppenveranstaltungen gestalten sich leicht zu Erlebnisreisen mit Unterhaltungswert, die gleichwohl ihre Gefahren bergen; tiefere Gründe sind wohl eher in Einzel­expeditions­reisen zu erforschen.

 

Wohin und mit welchem Veranstalter reisen?

 

Mit der Psychotherapie ist es oft ähnlich wie mit Reiseveranstaltern: Hier gibt es seriöse und weniger seriöse Veranstalter (Therapieschulen). Die weniger seriösen versprechen zumeist besonders viel, geben ungenauere, unzureichende Vorinformationen, und machen die Reise somit zu einem enormen Risiko. Scheuen Sie sich deshalb nicht, sich vorher genau zu erkundigen! Vertrauen Sie auf Ihr Urteil, lassen Sie sich nichts aufschwatzen und bedenken Sie von vornherein: Sie haben ein Rücktrittsrecht. Trotzdem ist eine Entscheidung für einen "Veranstalter" gar nicht so leicht.

Die Vielfältigkeit und Unübersichtlichkeit des Psychotherapieangebotes macht Konsumentenschutz und "Verbraucheraufklärung" ebenso schwierig wie notwendig. Etwa 300 bis 600 Therapieschulen bieten ihre Dienste auf dem Psychomarkt feil. Zum Glück ist vor Ort nicht immer alles zu haben — beruhigend ist auch, daß sich die verschiedenen Veranstalter in ihren Angeboten oft so sehr nicht unterscheiden. Was sie als Besonderheiten herausstreichen, sind häufig genug Merkmale, die auch andere Therapieschulen haben.

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Wie in anderen Marktbereichen auch, ist es häufig die Suche nach einer Marktlücke, die zu neuen Therapieangeboten führt, nicht aber nachgewiesene Überlegenheit eines neuen Verfahrens. Hinter der scheinbaren Vielfalt verbirgt sich daher viel mehr Einfalt als mancher denkt, "verbergen sich immer wieder ähnliche Einstellungen und Vorurteile und es kommt immer wieder zu ähnlichen Erfahrungen zwischen Patienten und Therapeuten" (Hemminger, in Hemminger & Becker 1985, S. 35), eine Einschätzung, die mit Blick auf die in diesem Band vorgestellten Berichte sicher zutrifft. Die Ausbildung immer neuer Psychotherapierichtungen, die meist einhergeht mit scharfer Kritik der "Alt-Therapien", muß aber auch als Versuch gewertet werden, der relativen Erfolglosigkeit von bisherigen Psychotherapieangeboten zu entkommen. Die Tendenz zur aggressiven Schulen- und Sektenbildung ist eher als Symptom der Erfolglosigkeit denn des Erfolges von Psychotherapie (ders. 1985, S. 46) zu werten.

 

Wenn das Ziel unklar ist  

 

Gerade im "Dschungel" des Psychotherapiemarktes mit seinen vielfältigen, zum Teil marktschreierischen Angeboten erscheint es unabdingbar, daß sich der Therapiesuchende ein Bild von seinen eigenen Bedürfnissen und Erwartungen macht und diese mit dem vorhandenen Therapieangebot "abgleicht". Therapeuten und ihre Therapie- und Berufsverbände sollten hierbei Hilfestellung geben. Tausch (1988) hat ganz zurecht vorgeschlagen, dem Therapiesuchenden schriftliche Informationen über den Ablauf der Therapie, mögliche Nebenwirkungen, voraussichtliche Dauer usw. wie auch über ihre Rechte und Beschwerde­möglichkeiten auszuhändigen. In der Realität sind wir von solchen Vorschlägen leider noch weit entfernt, obwohl sie eher zu den Minimalvoraussetzungen psychotherapeutischer Praxis gehören sollten.

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Was die Klientenziele anbelangt, fällt bei den uns zugesandten Berichten auf, daß globale (aus der psychotherapeutischen Literatur bekannte) Ziele, wie "Wachstum der Person", kaum auftauchen. Eher wurden die bisherigen Verhältnisse als beengend, einengend erlebt und damit die Suche nach Hilfestellungen begründet, individuelle Handlungsspielräume zu erkennen und besser nutzen zu lernen. Alle Klienten wollen erst einmal besser funktionieren, besser leben, mit sich und ihrer Umwelt leichter interagieren. Befürchtungen "an gesellschaftliche Konventionen angepaßt zu werden" wurden ebenfalls nicht geäußert. An diesem (vermutlich verallgemeinerbaren) Klienteninteresse gehen gesellschaftspolitisch inspirierte Diskussionen über die Anpassungsfunktion von Psychotherapie (vgl. Hellerich 1985) glatt vorbei — was nicht dafür spricht, diese Thematik aufzugeben, sondern sie konkreter an den Bedürfnissen von Psychotherapiesuchenden entlang voranzutreiben. Eine offene Diskussion der gegenseitigen Erwartungen und anzustrebenden Ziele dient sicher der Minderung von Risiken, wie sie aufgrund unrealistischer Vorstellungen bezüglich Dauer, Rollenverteilung und erreichbarer Veränderung entstehen mögen.

 

Mit wem gehen?

 

Hat man sich erst einmal entschieden, wohin die Erkundungsreise gehen soll und mit welchem Reise­veranstalter man das "Neuland" zu entdecken gedenkt, kommt angesichts der Tatsache, daß es sich ja um eine Expedition handeln wird, der Entscheidung, wen man als Expeditionsbegleiter auswählen soll, große Bedeutung zu. 

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Sofern wirklich Neuland beschritten werden soll, wird es maßgeblich auf das Verhältnis und das Vertrauen ankommen, daß man glaubt, "seinem" Expeditionsbegleiter entgegenbringen zu können. Ganz analog ist die psychotherapeutische Beziehung das engste Dienstleistungsverhältnis, das vorstellbar ist, aber gerade hier sind die Kriterien für Auswahl und Bewährung leider besonders vage. 

Neben Erfahrenheit und Kenntnisreichtum werden aber auch der "persönliche Stil" des Therapeuten — das Ausmaß an Besonnenheit, seine Risikobereitschaft, und die Art, mit der Sicherheit vermittelt wird — über die Frage mitentscheiden, ob eine gemeinsame Wellenlänge gefunden wird, ob Vertrauen möglich ist. Keiner der in unseren Berichten erwähnten Psychotherapeuten hat die Frage zum Thema gemacht, ob der Klient für ihn bzw. für die Therapierichtung, die er repräsentiert, geeignet sein mag — tatsächlich wird es in der Praxis nur selten vorkommen, daß ein Psychotherapeut einen Klienten abweist. Aber auch die Klienten haben sich meist nicht hinreichend klar gemacht, daß sie durchaus auswählen dürfen, daß sie sogar nachfragen und prüfen sollten, ob sie mit dem/der Expeditionsbegleiterln einverstanden sind.

Die "richtige" Wahl von Therapiemethode und Therapeut könnte aber ein eminenter Beitrag zur Risiko­prävention sein. Goldberg (1980, zit. nach W. Schulz, 1984) hat Hinweise für die Auswahl eines Psychotherapeuten zusammengestellt, die deutlich risikomindernd sein könnten, und auch R. Tausch (1988) hat eine Reihe risikomindernder Verfahrensvorschläge vorgestellt. Die Prominenz oder der akademische Erfolg von Therapeuten scheint unseren Berichten zufolge keine besondere Erfolgsgarantie darzustellen, was ja auch etwas Tröstliches für das Gros der Psychotherapiesuchenden darstellen dürfte, die sich zu einem durchschnittlichen Therapeuten begeben.

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Wie sich in den Berichten zeigt, macht auch die kompetente Beherrschung von Therapietechniken allein noch keinen guten Psychotherapeuten. J. Kovel (1984) hat aufgrund dieser Sachlage menschliche (Qualifikationen für Psychotherapeuten aufgezählt, von denen man sich wünschen würde, daß sie in die Ausbildungsgänge der Therapieverbände und -Institute Eingang fänden:

"Die beste Sicherung gegen Schädigungen bildet dabei die Integrität des behandelnden Therapeuten.... Er muß fähig sein, zu spüren, was in der Psyche eines anderen vorgeht; er muß sich auf Kommunikationen einstellen können; er muß ausgewogene, vernünftige Urteile fällen und gleichzeitig offen bleiben gegenüber seinen Gefühlen; er muß sich veränderten Situationen flexibel anpassen können, ohne sein Ziel aufzugeben oder seine Identität zu verlieren; und vor allem muß er ausgereift für das Wohlergehen des Patienten sorgen" (S. 242 f.).

Leider — so stellt Kovel weiter fest — sei die Unfähigkeit der Therapeuten "eher die Regel als die Ausnahme". Die Zahl schlechter Therapeuten sei erschreckend hoch. Ob dies an der Aufgabe, die zu schwer sei (ein unmöglicher Beruf, dessen unzureichenden Erfolges man sich von vornherein sicher sein könne, wie er Freud zitiert), an zu großer Nachfrage oder einer unangemessenen Ausbildung liege, sei schwer zu entscheiden (S. 243).

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Beziehungs-Störungen

Die Exklusivität der therapeutischen Beziehung wird als Risiko in allen mißlungenen Therapien deutlich. Die Hinzuziehung eines externen, wirklich neutralen Beraters kann möglicherweise aus völlig verfahrenen Situationen heraushelfen; eine Erfolgsgarantie bietet sie allerdings auch nicht. So wandte sich eine Klientin (vgl. Lindre in diesem Band) an den Supervisor ihres Therapeuten, der freilich unverzüglich für "seinen" Therapeuten Partei nahm. Daß es hier zu Beziehungsstörungen kommt, die sich als Risiko für das Gelingen einer Therapie erweisen können, ist auch ein Beweis für die Bedeutung der Therapeut-Klient-Beziehung für den Erfolg/Mißerfolg einer Psychotherapie (vgl. Petzold 1980; Goldberg 1980; Garfield 1982; Zimmer 1983). 

Natürlich läuft eine Therapie besser, wenn beide Parteien sich wohlwollend begegnen und wenn der/die Therapeutin nicht allzusehr von den Erwartungen des Klienten/der Klientin abweicht. Dann wird es besser möglich sein, gegenseitiges Vertrauen zu gewinnen, Zuversicht und Hoffnung zu vermitteln und eine Änderungsbereitschaft beim Klienten zu erzeugen. Insbesondere Echtheit und Selbstkongruenz des Therapeuten, seine Fähigkeit zu einfühlendem Verstehen (Empathie) und das Ausmaß von Akzeptanz und Wertschätzung des Klienten sind als diejenigen Therapeuteneigenschaften identifiziert und untersucht worden, die auf den Verlauf und Erfolg einer Psychotherapie einen wesentlichen Einfluß haben. 

Daneben haben aber auch Klientenmerkmale eine große Bedeutung. Geringe Therapieerfolge sind wahrscheinlicher, wenn Klienten negative Einstellungen zur Therapie mitbringen, wenn sie nicht so gut über ihre Gefühle sprechen können oder der Wille zur Veränderung nicht gegeben ist (keine Behandlungs- und Veränderungs­motivation besteht). Wahrscheinlich sind die sogenannten Klientenmerkmale sogar zentral für den Erfolg/Mißerfolg einer Therapie. 

Die oben beschriebenen Bilder verdeutlichen, daß den Therapeuten eher eine katalysierende Rolle zukommt, die vielleicht mit dem Bild eines Wegbegleiters, einer Hebamme oder eines Lehrers verglichen werden kann. 

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Positive therapeutische Einflußnahme ist — unabhängig von der Therapieschulenorientierung — offenbar durch verschiedene Grundmerkmale gekennzeichnet (vgl. auch Frank 1961, 1971):

  1. Unbedingte Voraussetzung ist eine intensive, vertrauensvolle Beziehung zur hilfreichen Person.

  2. Bedeutsam ist ferner die Vermittlung einer Orientierungsgrundlage, mit der in der Therapie eine ursächliche Erklärung für die Probleme des Klienten geleistet werden soll.

  3. Problemlösungsschritte, also Wege, mit einem Problem umzugehen, sollten aufgezeigt oder erarbeitet werden.

  4. Von zentraler Bedeutung scheint zu sein, gegen die Demoralisierung des Klienten anzugehen, Hoffnung zu vermitteln und das Gefühl erlebbar zu machen, Kontrolle über die eigene Lebenssituation zu haben bzw. (wieder) herzustellen.

  5. Und schließlich ist es in jeder Therapie wichtig, den Klienten Erfolgserlebnisse zu vermitteln. 

Je enger die Therapeut-Klient-Beziehung ist und je größer das Vertrauen in den Therapeuten/Therapeutin ist, um so größer wird der Therapeuteneinfluß sein. Dies fördert die Chancen, vergrößert aber auch die Risiken einer Psychotherapie: So wird die Veränderungsbereitschaft steigen, wird der Therapeut eher als "Modell" angenommen werden, was jedoch auch Risiken birgt: So zum Beispiel das Risiko einer erhöhten Folgebereitschaft von Klienten und die Gefahr, eigene Problemlösekompetenzen an Therapeuten zu überantworten und dadurch zu zerstören. All das macht anfällig gegenüber materieller und emotionaler Ausbeutung durch Therapeuten.

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Verliebtsein in den Therapeuten ist ein recht häufig auftretendes Phänomen, das auch gleich in drei der vorliegenden Berichte zum massiven Problem wurde. Zwar sehen zum Beispiel bei der American Psychological Association berufsethische Regeln eine "Abstinenzregel" vor und betrachten insbesondere sexuelle Beziehungen zwischen Therapeuten und Klientinnen als (gegebenenfalls auch rechtlich) zu ahndenden Kunstfehler, doch sexuelle Beziehungen, ja sogar sexuelle Übergriffe kommen dennoch keineswegs selten vor.

In den in diesem Band abgedruckten Therapieerfahrungsberichten reicht die Skala von zweideutigem Therapeutenverhalten bis zum grausamen Spiel mit Gefühlen einer Klientin, bei dem Nähe und Bestätigung willkürlich als "Belohnung" für vom Therapeuten erwünschtes Verhalten eingesetzt wurde. In keinem der beschriebenen Fälle wurde die Verliebtheit der Klientin in der Therapie thematisiert und ernsthaft bearbeitet. Zwar beherzigten die beschriebenen Therapeuten die "Abstinenzregel" in der letzten Konsequenz, doch scheinen sie sich dazu eher durch eigene Ängste als durch ein souveränes Durcharbeiten der Beziehung haben leiten lassen. Fehlverhalten von Therapeuten kann zu Mißverständnissen und Verwirrungen führen, die den therapeutischen Fortschritt lahmen. Eine Klientin (Michaela Schütte in diesem Band) sei beispielhaft zitiert:

"Herr W. schlug zu Beginn der Stunde vor, daß wir uns auch duzen könnten... Er meinte, ich sei sehr mutig... Ich war an Therapeutenlob schon gewöhnt. Es ist so sicher wie das Amen in der Kirche... Ich bekam zu hören, daß er sich auf die Stunden mit mir freut. Mehr als bei anderen Klienten - aber alles habe eben seine Grenzen... Ich hatte das Gefühl, daß Herr W. mal wieder seine privaten Probleme in die Therapie einbrachte... Ich hatte Herrn W. von Anfang an schon mit F. verglichen...

Als ich die Augen geschlossen hatte und an F. dachte, bemerkte ich, wie W. aufstand. Er setzte sich neben mich und legte den Arm um mich. Ich hatte das Gefühl, er ,wollte was von mir'... Ich fragte ihn, was er sich dabei denke, so mit mir dazusitzen. Er richtete sich auf und nahm den Arm weg. Ich sah ihn an, und er sagte dann, daß ich ihm leid getan hätte... W. wurde lehrerhaft streng. Er sagte noch irgend etwas von Distanz, die er zu seiner Arbeit brauche und die ich nicht akzeptieren wolle... Um die Situation zurechtzubiegen, meinte ich, es sei schon wieder alles in Ordnung und fragte, ob er mir noch mal den Arm um die Schultern legen könnte... Ich ärgerte mich, daß mich die Aussicht, daß W. die Therapie abbrechen würde, erschreckte... Ich glaubte, er wollte nur Macht über mich erlangen... "usw.

Was die wirklichen Intentionen des Therapeuten gewesen sein mögen, muß hier offenbleiben. Doch sicher ist, daß ein solches Verhalten mehr Probleme produziert als Problemlösungen forciert — auch wenn ihm die Klientin leid getan haben mag. Der Textausschnitt zeigt jedoch auch, wie Gedanken, Befürchtungen etc. weiteres (Klienten-)Verhalten steuern und noch mehr Verwirrungen produzieren können. Nicht nur in Fällen wie dem beschriebenen, wird die Beziehung zum Therapeuten bzw. das Verliebtsein in den Therapeuten zu einem schweren Risiko, das für Frauen ungleich größer ist als für Männer. Bei der Lektüre einiger Berichte in diesem Band wird deutlich, daß monatelange oder gar jahrelange Ambivalenz von selten des Therapeuten ebenso schädigende Auswirkungen für die Klientinnen haben kann, wie eine tatsächliche sexuelle Beziehung, die oft genug wenigstens zu einer Beendigung der "therapeutischen" Beziehung führt.

Gerade in letzter Zeit häufen sich Hinweise auf die Risiken, die die Nichtbeachtung der therapeutischen Abstinenzregel für Klientinnen bedeuten (Vogt 1989, Davidson 1989, Claussen 1989, Anonyma 1988).

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Amerikanische Studien, in denen in Zufallsstichproben ausgewählte Psychiater, Psychologen, Sozial­arbeiter und Ärzte danach gefragt wurden, wie sie es mit erotischen und sexuellen Beziehungen zu ihren weiblichen und männlichen Klientinnen halten, machten deutlich, daß sich etwa 10-12% der Männer auf erotische Kontakte mit Klientinnen eingelassen haben und es bei immerhin 7% auch zu Geschlechtsverkehr mit Klientinnen gekommen ist. 

Bedenkt man die Ergebnisse von Bouhoutsos u.a. (1983), nach denen 90% der 559 befragten Ex-Klientinnen, die früher sexuelle Beziehungen mit Psychotherapeuten eingegangen waren, über schwere negative Konsequenzen berichtet haben, so wird die Art der Risiken deutlich: Suizidversuche kamen ebenso vor wie psychiatrische Einweisungen infolge sexueller Beziehungen mit Therapeuten (12%), gesteigerter Alkoholkonsum (2%) oder abgebrochene persönliche Beziehungen (26%).

Luepker u. Retsch-Bogart (1985) berichteten, daß nahezu alle von ihnen befragten Frauen schwere Scham und Schuld empfanden und sich ihres Realitätsbezuges nicht mehr sicher waren. Vinson (1987) fordert auf diesem Hintergrund verstärkte Aufklärung und Möglichkeiten zu wirkungsvollen Beschwerden, die über das hinausgehen, was 1986 von der American Psychological Association (vgl. Brodsky 1986) zur Verhinderung sexueller Intimitäten und sexueller Ausbeutung durch Therapeuten vorgeschlagen worden ist. In der Bundesrepublik wird dieser Problematik bisher noch viel zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Entsprechende Regeln ethischen Handelns in der Psychotherapie stehen noch aus. Von Kontrollen der Einhaltung solcher Regeln kann deshalb hierzulande noch keine Rede sein. Dabei sind "Verletzer der therapeutischen Abstinenzregel" keineswegs "Einmaltäter". "Haben Therapeuten und Arzte erst einmal die Abstinenzregel gebrochen, neigen sie zu Wiederholungstaten. Der ersten Affäre folgt also die zweite, dritte usw." (Butler 1975, zit. nach Vogt 1989, S. 41; vgl. auch Franke 1989).

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Gefahren blinder Nachfolge

Die in diesem Band vorgestellten Berichte über fehlgeschlagene Therapien belegen eindrucksvoll, daß die stark erhöhte "Folgebereitschaft" von Psychotherapieklienten ein großes Risiko darstellt. "Es hat den Anschein, als dürfte der Therapeut im Namen der Psychotherapie buchstäblich alles sagen oder tun, ohne daß seine Patienten protestieren" (Längs 1987, S. 58). Für diese Tatsache macht er "Verschwörungen" im Bereich von Psychotherapie verantwortlich, aber auch die zu große Bereitschaft von Patienten und Öffentlichkeit, sich widerspruchslos "therapeutischen Maßnahmen zu unterwerfen oder solche zu akzeptieren, die im Grunde destruktiv sind" (ebd., S. 56).

Mit Blick auf die uns vorliegenden Berichte sind es situative Merkmale wie die verzweifelte persönliche Lage des Therapiesuchenden und das Gefühl der Angewiesenheit auf den Therapeuten; das die Ohnmächtigkeit des Klienten begünstigende Setting mancher Therapien... verbunden mit einem meist geringen Selbstwertgefühl auf selten des Klienten und einer autoritären Therapeutenpersönlichkeit, die jenen anfällig für die Unterwerfung unter einen autoritären Therapeuten bzw. dessen unzumutbare Bedingungen machen.

In Psychotherapiegruppen herrscht leider oft ein starker Konformitätsdruck. Wer sich nicht anpaßt, wird lächerlich gemacht oder unter Druck gesetzt. Die Folgebereitschaft (aus dem Gefühl der Hilflosigkeit heraus) erweist sich als Ergebnis autoritärer Herrschaft (vgl. Giere 1981, S. 180).

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Wenn man nicht mehr weiter will: "Widerstand" als Chance und Risiko

Ein wesentliches Kriterium für die Seriosität von Psychotherapie ist der Umgang mit Widerstand: Die "Instanttherapeuten" der Psychoszene neigen dazu, Widerstände beim Klienten zu brechen, statt die Abwehr mit dem Klienten aufzuarbeiten. Statt, wie es leider häufig geschieht, einen Mangel an Therapie­motivation für das Mißlingen einer Therapie verantwortlich zu machen, wäre es häufiger angebracht, den Widerstand des Klienten zu diagnostizieren und als Gegenstand der Therapie aufzuarbeiten (Wittmann, 1988).

Es gibt keine Psychotherapie ohne Widerstand. Verantwortliches therapeutisches Handeln sollte deshalb darauf hinzielen, Kritik und Skepsis des Patienten zu ermuntern, statt sie mit der immer gleichen (wenngleich durchaus in manchen Fällen gerechtfertigten) Gedankenfigur des "Widerstandes" totzuschlagen. Die uns vorliegenden Berichte über therapeutische Mißerfolge zeigen nicht selten eine unangemessene Umgangsweise des Therapeuten mit Klienteneinstellungen, mit Zweifel, Angst, Abhängigkeit und Rebellion (vgl. Giese, 1984).

Alle positiv getönten Berichte zeugen hingegen von einem annehmenden Therapeuten, was nicht bedeutet, daß dieser auf Konfrontation und kritische Hinweise völlig verzichten würde. Der Therapeut ist hier Spiegel, kritisch wohlwollender Wegbegleiter für Menschen, die sich in unüberschaubarem Terrain befinden, in schwierigen Lebenssituationen ihr Selbstwertgefühl verloren haben oder aber Blockierungen und Ängste erleben. Der wohlwollende, aufmerksame und ermutigende Gesprächspartner, der vielen Menschen in ihrem Alltag fehlt, ist in der Psychotherapie schon wieder ein Wert an sich.

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Sensibles und behutsames Eingehen auf den Patienten und die Fähigkeit zur Selbstkritik auf selten des Therapeuten scheinen Voraussetzungen erfolgreicher Psycho­therapie zu sein. Wohin das Gegenteil führt, ist aus einigen Berichten in diesem Band und der Literatur (vgl. v.Drigalski 1982, Erdheim 1985, Anonyma 1988) zu ersehen.

Die Berichte über gelungene Therapien zeigen in der Regel, daß der Therapieprozeß ein zweiseitiger Lernprozeß ist. Therapie ist aber auch ein Stück Selbstaufgabe des Klienten mit den darin enthaltenen Risiken. Der Psychotherapieklient hat eine schwierige Aufgabe zu erfüllen: Er muß sich in gewisser Weise von bisherigen Überzeugungen und Erfahrungswerten trennen, muß gegebenenfalls Symptome aufgeben, die auch funktionale Aspekte hatten und soll Verhaltensweisen verändern, die trotz allen Leidens doch auch eine gewisse Stabilität ermöglicht haben. Symptome sind immer auch Anpassungsversuche, individuelle "Lösungsstrategien" und "Bewältigungsversuche". Daß es im Zuge dieses "Umlernens" zunächst einmal zu Verunsicherungen kommen kann, die die Therapiemotivation erschüttern können, wird auf diesem Hintergrund verständlich. Hier ist es Aufgabe des Therapeuten, Therapiemotivation zu fördern und Aufgabe des Klienten, krisenhaft empfundene Situationen nicht automatisch als Mißerfolg, sondern auch als Chance zu interpretieren. Doch solche Krisenerfahrungen können mitunter auch zum Entschluß führen, die Reise abzubrechen, zu beenden oder auf weitere Erfahrungen zu verzichten.

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 Abbruch der Reise: Risiko Therapieabbruch 

Das Risiko, eine Psychotherapie ergebnislos zu beenden (oder gar schlechter dazustehen als zu Beginn der Therapie), ist für viele Klienten so beängstigend, daß sie häufig sogar jahrelang eine als unfruchtbar oder schädigend erlebte therapeutische Beziehung fortsetzen, statt dem Schrecken beherzt ein Ende zu setzen. Nur einer der uns vorliegenden Berichte kann als positives Beispiel dafür gelten, wie man eine unfruchtbare therapeutische Beziehung beenden kann, und zwar war dies im konkreten Fall möglich, weil die Klientin ihre Fähigkeit zu zweifeln nicht verloren hatte und sie sich nie vollständig auf den Therapeuten angewiesen erlebte, so daß sie der Umklammerung durch diesen entkommen konnte.

Häufig wird die vorzeitige Beendigung einer Therapie nicht nur von Klienten als Scheitern erlebt. Es kam in den uns vorliegenden Berichten nur einmal vor, daß ein Therapeut das offenkundige Scheitern der Beziehung einsah und die Behandlung von sich aus abbrach.

Die uns vorliegenden Berichte zeigen auch, daß die Risiken für den Klienten existentieller sind als für Therapeuten, auch wenn beide aus einer gescheiterten Beziehung geschädigt hervorgehen. Die negativ getönten Berichte zeigen die Notwendigkeit, die Dyade Klient/Therapeut nicht alleine zu lassen, wenn sich beide in eine unheilvolle, unproduktive Verstrickung begeben haben. Es muß in solchen Fällen Instanzen geben, an die sich Therapeut und Klient zwecks Überprüfung wenden können. Es besteht die Notwendigkeit einer Kontrolle und Beratung für den Therapeuten einerseits im Team und in der Supervision; Ansprechpartner für den Klient können ein dritter, unabhängiger Psychotherapeut sein und auch der Freundeskreis.

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 Vorkehrungen zur Risikominderung 

1. Bei Expeditionen (der Anwendung von Psychotherapie) sind auch bei guter Planung Risiken, Fehlschläge und Mißerfolge nicht ganz auszuschließen: Die Komplexität des Gegenstandfeldes ist zu groß, um alles vorausplanen und vollkommene Sicherheit bieten zu können.

2. Fehler und Mißerfolge können auch nicht "technologisch" ausgeschaltet, sondern nur zum Gegenstand weiterer Reflexion gemacht werden. Sie zeigen, wo man ansetzen muß, wenn man nach (Trainings- und) Verbesserungs­möglichkeiten sucht!

3. Voraussetzung dafür ist ein offener, fehlerfreundlicher Diskurs, der entlastet von negativen Konsequenzen geführt werden muß.

4. Für Therapeuten setzt das systematisch Möglichkeiten zur (schulenübergreifenden) Reflexion eigenen Handelns voraus, die zu verstärken, und erst recht in der Ausbildung, zu realisieren sind.

5. Offenheit und Transparenz werden nur möglich sein, wenn im therapeutischen Prozeß die Möglichkeit zur Umkehr mitgedacht wird. Wirksamer Klientenschutz ist nur möglich, wenn mehrere Voraussetzungen geschaffen werden:

a) Installierung eines (Spontan-) Berichtssystems bezüglich negativer Effekte von Psychotherapie.

b) Einrichtung von Anlaufstellen für Klienten und Therapeuten um Schwierigkeiten, Fehlentwicklungen Fehler und Mißerfolge der Psychotherapie zu berichten und zu reflektieren. Hier sollten die Therapieverbände initiativ werden!

c) Um von Schuldzuschreibungen wegzukommen, ist die Supervision von Psychotherapien zu verstärken. Supervisoren sollten nicht allein Anwälte der Therapeuten sein. Erst wenn es gelingt. Fehlerfreundlichkeit zum Grundprinzip therapeutischer Interaktion zu machen, wird ein echtes Aneinander-Entwickeln, wird gemeinsames Handeln möglich werden! Psychotherapie, die sich als Hilfe zur Selbsthilfe versteht, die Empowerment bewirken möchte, wird sich um Offenheit, Transparenz, um Ziel- und Interessenoffenlegung sowie Selbstevaluation bemühen, also eine Entmystifikation psychotherapeutischer Prozesse vorantreiben müssen!

 

Doch zum Schluß sei noch einmal daran erinnert: Psychotherapie wirkt! 

Wirksamkeit und Nutzen psycho­therapeutischer Behandlung können — trotz der aufgezeigten Risiken und Wagnisse — als empirisch gesichert gelten. Es ging uns nicht darum, Klientinnen von einer Psychotherapie abzuhalten oder zu warnen, sondern über potentielle Nebenwirkungen, Risiken, Schädigungen, Mißerfolge und Wagnisse, die mit jeder Psychotherapie verbunden sind, aufzuklären.

Entscheidungen für oder gegen eine Psychotherapie sind immer auch persönliche Kosten/Nutzen-Entscheidungen und Risikoabwägungen: Auch für die Psychotherapie sollte gelten, was für die Zulassung von Pharmaka durch das Bundesgesundheitsamt regelmäßig und pflichtgemäß zu prüfen ist (und — wie die Geschichte zeigt — auch katastrophale Schädigungen keineswegs vollständig hat vermeiden helfen): Der Nachweis des eindeutigen und sicheren Überwiegens erwünschter Wirkungen und die Dokumentation — im Lichte der Dramatik der jeweils zu bekämpfenden Krankheit zu beurteilende Vertretbarkeit — unerwünschter Nebenwirkungen. 

Für Maßnahmen im psychosozialen Bereich stehen solche bilanzierenden Risikoabschätzungen, die Gesamtwirkungen aus der Analyse gewünschter Wirkungen, aber auch unerwünschter Nebenwirkungen (d.h. nicht-intendierte Wirkungen für Betroffene, deren Partnerinnen, Angehörige, für das soziale Netzwerk, die Sozialgemeinschaft etc.) trotz tausender von Therapiestudien noch weitgehend aus.

Wir hoffen, daß der vorliegende Band Betroffenen die "persönliche Risikoabschätzung" erleichtert, realistische Erwartungen und "kritische Verbraucher" fördert und Anstöße zu einer risikobewußten psychotherapeutischen Praxis gibt. 

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