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Die zweite Schuld — Zur Einführung
1.
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Hamburg, Oktober 1945. Auf der Grindelallee, wenige Schritte vor mir, geht ein hochgewachsener Mann mittleren Alters in Begleitung zweier Frauen, denen er plötzlich gestikulierend laut zuruft: »Die Juden, die Juden sind an allem schuld!« Das allerdings bereut er schon in der nächsten Sekunde, denn ich schieße ihm von hinten mit meinen Schultern im Hechtsprung gegen die Kniekehlen, was ihn zu Boden wirft, und bearbeite den Kerl, der mindestens doppelt soviel wiegt wie ich, so lange mit Fäusten, Zähnen und Nägeln, bis er ohne Rücksicht auf seine Begleiterinnen mit langen Sätzen das Weite sucht — eigentlich, ohne sich wirklich gewehrt zu haben.
Es war ein epochales Ereignis für mich, die Geburtsstunde der Idee zu diesem Buch.
Bis zum September 1945 noch hätte es in Deutschland kein Antisemit gewagt, sich öffentlich so laut zu bekennen, wie es hier soeben geschehen war. Das »nationale Kollektiv der Hitleranhänger« (Alexander und Margarete Mitscherlich in ihrem Buch »Die Unfähigkeit zu trauern«) hatte sich nämlich im Mai jenes Jahres, als Hitlerdeutschland kapitulierte, mit dem Schrei »Wir sind nie Nazis gewesen!« in Luft aufgelöst. Die kollektive Lüge quer durch die ganze Nation war so überwältigend offenbar, so unübertrefflich schäbig, so grauenhaft einhellig, daß sich dieser Eindruck sogar den vergeßlichsten Naturen für immer eingeprägt hätte. Für eine kurze Weile wollten die damaligen Deutschen aus lauter Hitlergegnern bestehen — aus Angst. Die Logik des schlechten Gewissens konnte gar nicht anders, als die eigene enthumanisierte Mentalität auf den siegreichen Gegner zu projizieren: Auge um Auge, Zahn um Zahn?
Für mich liegen die moralisch niederschmetterndsten Erfahrungen mit meiner deutschen Umgebung nicht in der Zeit bis zur Befreiung, sondern in den Monaten unmittelbar danach, angesichts solcher Unwahrhaftigkeit, Feigheit und Heuchelei. Die Generationen der Söhne, Töchter und Enkel sollten wissen, wie sie sich damals aufgeführt haben, all diese ehemaligen Anhänger, Befürworter, Großsprecher, Nutznießer und Mitläufer des Dritten Reiches — es hat in der Geschichte der Menschheit kein Beispiel so widerwärtiger Selbstcharakteristik gegeben wie dieses vom Frühling bis in den Herbstbeginn 1945.
Dann jedoch hatten die mit dem Nationalsozialismus eng verbundenen Massen, die unter schwerer Vergeltungsfurcht standen, herausgefunden, daß ihre alttestamentarischen Racheängste vor allem in ihrer Phantasie bestanden. Das gilt ganz gewiß für die drei westlichen Besatzungszonen, das spätere Territorium der Bundesrepublik Deutschland, das von Engländern, Amerikanern und Franzosen okkupiert war. Womit nicht gesagt sein soll, daß bei allem Entsetzlichen, was in ihrer Zone geschehen ist, die östliche Besatzungsmacht etwa nach dem Vorbild der deutschen Eindringlinge in die Sowjetunion von 1941 bis 1944 das Motto »Auge um Auge, Zahn um Zahn« angewandt hätte — wehe, wenn es so gewesen wäre!
In jenem Oktober 1945 war es soweit. Die Reaktion auf den ungerechtfertigten Vergeltungsschock machte sich wütend Luft! Zwar, der Hamburger Antisemit hatte sich durch den Zufall meiner Nachbarschaft verschätzt, die Regel jedoch wird mein Verhalten auf ein offenes Nazibekenntnis gewiß nicht gewesen sein. Es war ein schlimmes Signal da auf der Grindelallee: Wohl war Hitler militärisch, nicht aber ideologisch geschlagen. Die zweite Schuld hatte sich vorgestellt.
2.
Jede zweite Schuld setzt eine erste voraus — hier: die Schuld der Deutschen unter Hitler. Die zweite Schuld: die Verdrängung und Verleugnung der ersten nach 1945. Sie hat die politische Kultur der Bundesrepublik Deutschland bis auf den heutigen Tag wesentlich mitgeprägt, eine Hypothek, an der noch lange zu tragen sein wird. Denn es handelt sich nicht um einen bloß rhetorischen Prozeß, nicht um einen Ablauf im stillen Kämmerlein. Die zweite Schuld hat sich vielmehr tief eingefressen in den Gesellschaftskörper der zweiten deutschen Demokratie. Kern ist das, was in diesem Buch der »große Frieden mit den Tätern« genannt wird — ihre kalte Amnestierung durch Bundesgesetze und durch die nahezu restlose soziale, politische und wirtschaftliche Eingliederung während der ersten zehn Jahre der neuen Staatsgeschichte. Das zweite Codewort, gleichsam der rote Faden von der ersten bis zur letzten Seite, ist der »Verlust der humanen Orientierung«, ein tief aus der Geschichte des Deutschen Reiches bis hinein in unsere Gegenwart wirkendes Defizit. Beide Codewörter — der große Frieden mit den Tätern und der Verlust der humanen Orientierung — korrespondieren miteinander und bilden meine Betrachtungsgrundlage.
Hauptschauplatz ist die Bundesrepublik Deutschland, obwohl sich bestimmte Abläufe der zweiten Schuld auch auf die Deutsche Demokratische Republik übertragen ließen. Davon wird in einem Kapitel die Rede sein.
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Hauptthema ist die historische Fehlentscheidung einer Mehrheit der heute älteren und alten Generationen, sich mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und der eigenen Rolle in ihr nicht ehrlich auseinanderzusetzen, belastende Erinnerungen abzuwerfen und sich aus einem kompromittierenden Abschnitt selbsterlebter und mitgestalteter Nationalgeschichte herauszustehlen.
Dies in Mittäterschaft einer Vielzahl bundesdeutscher Politiker aller Parteien, die um der Wählerstimmen willen dem nationalen Kollektiv der Hitleranhänger bei Verdrängung und Verleugnung weit entgegengekommen sind und damit ihren Anteil zur zweiten Schuld beigetragen haben. Gleich eingangs also entschiedener Gebrauch eines hierzulande so verpönten Reizwortes wie Schuld. Das ist gegen das feingesponnene Netz der Nachsicht, das die Verdränger — und die auf ihre Stimmen erpichten Politiker — über nunmehr fast vierzig Jahre gewoben haben, und paßt deshalb nicht in den ungeschriebenen bundesdeutschen Polit-Knigge.
Der Leser soll daran früh erkennen, wie wenig Rücksicht auf solche schlechten Gewohnheiten genommen wird. Wenn der Einwurf käme: hier werde also angeklagt, so widerspräche ich nicht. Das täte ich erst, wenn behauptet würde, ich erhöbe Anklage. Denn die wohnt dem Thema selbst ganz natürlich inne, geht es doch nicht etwa um moralische Kategorien allein, sondern auch um einen blutig-realen Hintergrund von nie dagewesenen Dimensionen — um Auschwitz und um alles, was dieser Name symbolisiert und materialisiert. Jeder persönliche Zusatz wäre nicht nur überflüssig, er wäre auch vermessen. Der einzelne kann dem Urteil der Geschichte nichts mehr hinzufügen, es ist gefällt.
Bei uns hat sich eingebürgert, jede Thematisierung von Schuld in Zusammenhang mit der Nazizeit als Selbstanmaßung, als politisches Pharisäertum zu verdächtigen. Hinter dieser bezeichnenden Allergie gegen Anklage steckt die Absicht, publizistische Bearbeitungen der Schuldfrage überhaupt zu verunglimpfen. Die Schuldangst, die das öffentliche Bewußtsein der bundesdeutschen Gesellschaft so lange panisch bestimmt hat und, wenn auch abgeschwächt, heute noch bestimmt, hat damit ein sehr erfolgreiches Abschreckungsrezept gefunden. Um so wichtiger, dem Widerstand zu leisten und zu fragen: Wann werden die Generationen der Eltern und Großeltern endlich aufhören, die eigenen Söhne, Töchter und Enkel mit ihren Rechtfertigungszwängen zu belasten? Erst wenn auch das biologische Ende dieser Generationen gekommen ist? Das kann noch gut zwanzig Jahre dauern.
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Es ist den schuldlos beladenen Nachkommen jedoch schon genug an historischer, politischer und moralischer Klarsicht verstellt worden. Anklage — Selbstanmaßung — Pharisäertum? Ich will nichts als mein Lichtmolekül in jene Finsternis tragen, in die die hartnäckige Verdrängungsleistung der heute Alten und Älteren ihr eigen Fleisch und Blut gestürzt hat. Es lohnt nicht mehr, den noch lebenden Rest der Jasager und Versager anzuklagen. Schuldbehandlung als Schuldaufklärung — das ist der Tenor dieses Buches. Es gibt dankbarere Beschäftigungen, wichtigere kaum. Von der Last, Deutscher zu sein.
Wenngleich Unbelehrbarkeit, Verdrängung und Verleugnung bald weniger primitive Ausdrucksformen fanden als in jenem Oktober 1945 dort auf der Hamburger Grindelallee und sich verdeckter, taktischer gaben — die zweite Schuld setzte unmittelbar nach der ersten ein. Heute, mit der riesigen Erfahrung von vier Jahrzehnten, kann gesagt werden, daß die hartnäckige Verweigerung aus Angst vor Selbstentblößung eine Mehrheit der alten und älteren Generationen nach dem Zweiten Weltkrieg weit stärker motiviert hat als das Wohl ihrer Kinder. Natürlich ist sie nicht bereit, ihre historische Fehlentscheidung mit dieser Konsequenz zu koppeln, aber, unabhängig von der subjektiven Bewußtlosigkeit gegenüber den Folgen der Verweigerung, war dies ihr objektives Resultat.
Zu diesem Zweck haben sich die Eltern und Großeltern mit erstaunlicher Ausdauer vors Gesicht gehalten, was hier die »Maske« genannt werden soll. Sichtbar wurde dahinter nur der Teil, den der Selbstschutz zu lüften gestattete, und das war wenig genug. Der andere, größere Teil wurde seit 1945 vor Kindern und Kindeskindern fintenreich — und oft genug wohl auch qualvoll — verdeckt gehalten. Die Maske ist inzwischen von Millionen und Abermillionen ihrer Träger mit ins Grab genommen worden.
Unter Hitler lag das Antlitz offen zutage, spiegelte sich in ihm, was damals von einer Mehrheit wirklich gedacht und gefühlt wurde. Gibt es doch überaus eindrucksvolle Foto- und Filmdokumente, die die ungestellte, geradezu hysterische Verlorenheit der Massen an Adolf Hitler auf das verräterischste demonstrieren. Das spätere Bekenntnis der Zujubler jedoch zu Ursache, Wesen und Inhalt solch wollüstiger Hingabe fehlt fast vollständig. Dabei hätte niemand den Erfolg des Nationalsozialismus und seiner Wahnideen im Körper eines großen Volkes bis in die allerfeinsten Verästelungen genauer, umfassender und tiefgründiger enttarnen können als eben das riesige Kollektiv der ehemaligen Hitleranhänger selbst — wenn es geständig gewesen wäre.
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Aber es war nicht geständig, und es verpaßte so die einmalige Chance, zum eigenen, aber auch zum Wohl der Nachkommen, Herkunft und Beschaffenheit der deutschen Anfälligkeit für den Nationalsozialismus zu ergründen.
Am 17. Juli 1944 trug Thomas Mann an seinem kalifornischen Wohnsitz Pacific Palisades in sein Tagebuch ein:
»Man soll nicht vergessen und sich nicht ausreden lassen, daß der Nationalsozialismus eine enthusiastische, funkensprühende Revolution, eine deutsche Volksbewegung mit einer ungeheuren seelischen Investierung von Glauben und Begeisterung war.«
Das ist die Wahrheit, und alles andere, sage ich als Augenzeuge, ist Lüge. Die Verschmelzung war, bis auf Reste, total, und es gibt in der Geschichte der Deutschen kein Beispiel, das an diese Amalgamierung von Führung und Volk auch nur entfernt heranreichen könnte. Das war nur möglich durch einen ungeheuren Verlust der humanen Orientierung.
Die Hitlergenerationen, also jene, die von ihrem Lebensalter her für das Dritte Reich verantwortlich sind, aber auch die »Pimpf«- und Hitlerjugend-Jahrgänge, die zwar nicht in diesem Sinne verantwortlich, wohl jedoch vom Dritten Reich geprägt worden sind wie niemand sonst — sie alle werden eines Tages ausgestorben sein. Es ist jedoch der leugnenden und verdrängenden Mehrheit gelungen, mit ihrer großen Lebenslüge einen Teil der nachgewachsenen bundesdeutschen Gesellschaft zu beeinflussen. Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch...
Es muß gelingen, zu erforschen, was zwischen der Naziführung und der damaligen deutschen Nation so trefflich korrespondierte. Wir müssen ergründen, warum für die Mehrheit diese Ära »so schön«, »so begeisternd« war (Originalton Stammtisch via Bildschirm), während gleichzeitig doch alle bürgerlichen Freiheiten und Menschenrechte aufgehoben waren und Menschen ihrer politischen Überzeugung oder ihrer Rasse wegen verfolgt und schließlich zu Millionen wie Ungeziefer ausgerottet worden sind.
Wir müssen herauskriegen, warum sich die damaligen Deutschen dennoch die Kehle mit ihren »Heil! Heil!«-Rufen heiser gebrüllt haben und die ungeheuerlichsten Anstrengungen und Opfer erbrachten. Kurz, wir müssen in Erfahrung bringen, wie es zu diesem Verlust der humanen Orientierung kommen und weshalb er sich mit der zweiten Schuld so epidemisch bis in unsere Tage gegen Ende des Jahrhundterts fortsetzen konnte.
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Da die Umstände keineswegs »schön« und »begeisternd« waren (wie sich viel später wohl mancher selbst eingestand), muß es an der Beschaffenheit der damaligen Deutschen gelegen haben, daß sie so empfanden. Es kann jedoch keine Erkenntnisse der geschichtlichen Realität des Dritten Reiches geben, ohne daß die innere Verstrickung zwischen dem staatlich institutionalisierten Nationalsozialismus und ebendieser Beschaffenheit aufgedeckt wird, so schmerzlich, enthüllend und erniedrigend es für die Beteiligten und ihre Nachkommen auch sein mag.
Ein Mittel dazu ist die Analyse der zweiten Schuld. Es muß dem Verhalten von Menschen nachgegangen werden, die nach 1945 immer behaupteten, sie hätten in der Nazizeit »unter Druck« gehandelt. Gleichzeitig aber offenbarte sich nach deren Untergang durch das eigene Verhalten, wie tief die Bindewirkung der Naziepoche war, ohne daß sich nun jemand auf »Druck« berufen konnte. Etwas Unverbergbares trat da auf — Opportunismus, Verantwortungsabstinenz, Unfähigkeit, sich betroffen zu fühlen, lauter Eigenschaften, die mit erklären können, wieso es zu 1933 und dem frenetischen Triumph Hitlers kommen konnte — die zweite Schuld wird zum Spiegelbild der ersten! Denn ganz gleich, welche Bedingungen herrschen — die vom Dritten Reich und seiner Vorgeschichte geprägten Generationen verhalten sich auch im demokratischen Nachfolgestaat nach dem gleichen Muster.
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3.
Nach so langer Beobachtungszeit setzt sich die Erkenntnis durch, daß die Hoffnungen auf eine elementare moralische Regeneration einer Mehrheit jener Jahrgänge eine Verkennung der Wirklichkeit, eine falsche Erwartung waren. Sie hatte sich zu tief eingelassen mit dem Nationalsozialismus, war von ihm, weil sie sich mit ihm identifiziert hatte, zu gründlich in ihrem humanen Kern zerstört worden, um je damit fertig werden zu können. Die Erfahrungen lehren, daß sie nicht die Kraft fand, gegenüber sich selbst und anderen, auch und erst recht gegenüber ihren Nächsten nicht, aufrichtig zu sein.
Das heißt jedoch nicht, daß die Verdrängung nach 1945 undifferenziert verlaufen wäre.
Sie reicht von der unsicheren Beharrung auf den alten NS-Wahnideen und von der Schwäche, Einsichten nicht aussprechen und mitteilen zu können, über bewußt andauerndes Komplizentum und organisierte Unbußfertigkeit bis zu schweren und schwersten Depressionen. Natürlich haben im Laufe der Zeit ehemalige Nationalsozialisten dazugelernt und unter ihrer Verführbarkeit und den daraus hervorgegangenen Handlungen gelitten. Aber was auch immer die ehemaligen Hitleranhänger verhaltensmäßig unterscheiden mag, das Schweigen über die von ihnen intensiv mitgelebten zwölf Nazijahre ist ihrer Mehrheit gemeinsam und eine streng und konsequent behauptete Kollektivhaltung von höchster Negativwirkung bis in unsere Tage.
Es wäre völlig absurd, sich die Träger der zweiten Schuld als fanatische NS-Propagandisten mit ständigem Agitationsschaum vor dem Mund vorzustellen. Die gibt es zwar immer noch, aber sie sind nicht typisch für die Masse derer, von denen hier die Rede ist. Die meisten sind brave Wähler der Land- und Bundestage, und sie werden von sich, nicht zu Unrecht, behaupten, daß Politik eine verhältnismäßig geringe Rolle in ihrem Leben spiele. Sosehr das zutrifft, über eine lange Strecke der Nachkriegszeit waren es — und sind es, soweit sie noch leben, immer noch — dieselben Leute, die sich unter dem Hakenkreuz auf eine in unserer Geschichte bisher beispiellose Weise politisch mobilisieren ließen. Das Erschreckende am »gewöhnlichen Nationalsozialismus« war eben die Normalität seiner Anhänger.
Hinter dem Selbstschutzschild der Generationen, die die ersten Jahrzehnte der Bundesrepublik geprägt haben — und die immer noch von Einfluß sind —, hat sich inzwischen ein völlig versteinertes System von NS-Vergangenheitsabwehr aufgebaut.
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Neben vielem anderen Bedenklichen, was es hervorgebracht hat, ist ihm eine Generation jugendlicher Nazinachahmer entsprungen, die ihre Respektlosigkeit gegenüber der parlamentarischen Demokratie aus ihrer De-jure- und De-facto-Schuldlosigkeit am Nationalsozialismus und seinen Verbrechen bezieht. Diese Gruppe ist bisher nicht stark, gibt sich aber, ohne alle historischen Kenntnisse über ihr Vorbild, weit radikaler und risikofreudiger als die taktierenden Alt-Neonazis des rechtsextremistischen Spektrums.
Im allgemeinen weichen die Träger der zweiten Schuld davor aus, ernsthaft über das verdrängte und verleugnete Thema zu sprechen, sobald ihnen energisch Paroli geboten wird. Ihre Haltung hängt allerdings von den Umständen ab. Läuft einem irgendwann einmal solch ein Unentwegter allein in die Arme, so kann man eine interessante Feststellung machen.
Als einzelner nämlich entpuppt er sich keineswegs als unerschütterbar, sondern eher als ein schlechter Verfechter seiner Sache. Ich habe selbst in manchen Gesprächen mit »Ehemaligen« und auch mit jugendlichen Neonazis unter den Bedingungen einer Zweierdiskussion eine große Schwäche angetroffen, den eingenommenen Standort zu begründen. Das ändert sich sofort unter Gleichgesinnten. Je mehr es sind, desto kühner gibt sich der einzelne. Isoliert ist er nicht nur schwach, sondern sogar einsichtsfähig. Im Rudel aber taucht er im Imponiergehabe aller unter und fühlt sich geschützt — wahrscheinlich eines der kläglichen Geheimnisse des Stammtisch-Schwadronierers.
Es gibt in der Bundesrepublik zwei deutlich voneinander geschiedene Wege bei der Behandlung des NS-Erbes — eben den »Stammtisch«, als Teil, als Sprachrohr der öffentlichen Meinung, und die veröffentlichte Meinung, also die Zeitungen, Zeitschriften, Rundfunk und Fernsehen. Der Gegensatz zwischen den beiden Meinungsebenen ist auffallend. Während die Medien sich ununterbrochen mit Nazizeit und NS-Erbe beschäftigen, und zwar in der Regel antinazistisch oder doch jedenfalls nicht pro-, bleibt ein wesentlicher Teil der öffentlichen Meinung eher taub und unberührt. Ausnahmen, wie die Wirkung der vierteiligen TV-Serie »Holocaust«, bestätigen eher die Beobachtung, daß sich der Pegel, der Schmerz, Anteilnahme, Trauer, Mitleiden anzeigt, in der Bundesrepublik nur selten bewegt. Daß der Zugang zu einem ansonsten pauschalen Verfolgtenschicksal durch Individualisierung leichter wird, leuchtet wohl ein. Dennoch bleibt die verbreitete Unempfindlichkeit gegenüber den Schrecken filmischer Dokumentationen, die die Wirklichkeit sichtbar machen, rätselhaft.
In allen politischen und ethischen Grundfragen, die die Nazizeit betreffen, klaffen zwischen veröffentlichter Meinung und »Volkes Stimme« oft Abgründe. Dabei ist das Gefälle zwischen den Generationen zuungunsten der Älteren notorisch.
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Innerhalb der Druckmedien gibt es eine Rubrik, die sich über die Jahrzehnte hin als eine Art Schauplatz der schlimmsten rückwärtsgewandten Ansichten erwiesen hat — die »Leserbriefe«. Dabei wird nur die Spitze des Eisberges sichtbar. Das meiste bleibt ungedruckt — aus Scham und Ekel der verantwortlichen Redakteure, aber auch wegen des Grundsatzes, Anonymes nicht zu veröffentlichen. Bedenklicherweise zeigt sich seit einiger Zeit, daß die Zahl solcher anonymen Zuschriften abnimmt und immer häufiger Namen und Adressen voll ausgeschrieben werden. Offensichtlich glaubt die eingeborene Feigheit, daß damit seit der »Wende« keine Risiken mehr verbunden sind. (Was natürlich auch vorher nicht der Fall war. Nur entzieht sich das bezeichnenderweise dem Demokratieverständnis des »neuen Muts«.) Diese angesichts unserer Verfassung unzeitgemäß anmutende Sicht der eigenen Gefährdung bestätigt ein vordemokratisches Verhältnis des betreffenden Individuums zum Staat. Ein aus der Nazizeit weitertransportierter innerer Alarm blieb auch unter den völlig anderen gesellschaftlichen Bedingungen der zweiten deutschen Republik am Leben.
Eine Mißtrauensdistanz zur Demokratie äußern viel breitere Kreise als der Zirkel der unentwegt Braunen. Sie empfinden den Parlamentarismus immer noch als fremd und haben ihn keineswegs in das eigene Daseinsgefühl einbezogen. Bei ihnen konservieren sich NS-Ideen jedoch durchaus nicht plakativ oder aggressiv, sondern werden eher, wenn überhaupt, verhalten vorgetragen, in gewisser Weise zweifelnd. Was man da mit sich herumträgt, so wird gespürt, sollte in der Öffentlichkeit besser nicht laut ausgesprochen werden — man ist mit sich nicht im reinen.
Von der Last, Deutscher zu sein.
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4.
Ohne ihre Verantwortung außer acht zu lassen, befaßt sich das Buch weniger mit den großen Dienern und Handlangern des Dritten Reiches — den Industriellen, Bankherren, Militärs, Diplomaten, Wehrwirtschafts- und Parteiführern. Es befaßt sich vielmehr mit den sogenannten »kleinen Leuten«, dem »einfachen Mann« und der »einfachen Frau«, ohne die der »Führer« nichts, aber auch gar nichts geworden und gewesen wäre — mit den Millionen, die die Massen eines Volkes ausmachen. Von ihrer Haltung vor, besonders aber nach 1945 wird hier die Rede sein.
Um der Gerechtigkeit willen muß jedoch gesagt werden, daß sie selbst auch einmal Söhne, Töchter und Enkel waren, an denen sich die Eltern und Großeltern versündigten — aus der Tiefe der deutschen Reichsgeschichte heraus, aus deren Gestein lange vor 1933 Stufen geschlagen wurden, die Hitler außerordentlich zustatten kamen. Jene Generationen, die hier im Mittelpunkt der Betrachtungen stehen, waren ja bereits nationalistisch vorverseucht, auf eine Weise, die heute kaum mehr vorstellbar ist. Das Kollektiv derer, die von ihrem Lebensalter her für das Dritte Reich mitverantwortlich waren, ist von der Geschichte unseres Jahrhunderts strapaziert und überfordert worden wie keine Generation sonst.
Mancher aus diesem riesigen Personenkreis hat zu seinen Lebzeiten fünf verschiedene Staatsformen kennengelernt: das Kaiserreich, die Weimarer Republik, das Dritte Reich und — meist in der Himmelsrichtung von Ost nach West — die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik.
Ja, sie haben Hiebe ausgeteilt, die Generationen der Eltern und Großeltern, fürchterliche Hiebe und nach allen Seiten. Aber sie haben auch Hiebe empfangen, sind schwer gebeutelt und von vielfältigen und sehr dauerhaften Niederlagen heimgesucht worden. Und das so sehr, daß sich bei der Beschäftigung mit ihren Biographien unweigerlich Mitempfinden einschleicht, Anteilnahme, manchmal auch Bewunderung und Verwunderung für unerhört Ausgehaltenes, ob man es nun will oder nicht. Die überwältigende Masse derer, auf die der Begriff der zweiten Schuld zutrifft, besteht ja nicht aus simplen Bösewichtern, sondern aus Menschen, die eine Art inneren Kompaß verloren haben. An dieser Stelle ein Wort zur Verhältnismäßigkeit des Themas.
Es ist keines der Stoffe, die der Menschheit auf den Nägeln brennen, wie Welthunger und Weltarmut oder die hochexplosive Rivalität der beiden Supermächte USA und Sowjetunion, wie die hirnverbrannte
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Hochrüstung und die Furcht vor der nuklearen Apokalypse eines dritten und allerletzten Weltkrieges.
Das Thema der zweiten Schuld steht auch nicht so dräuend über unserer Epoche wie die Giftwolke von Tschernobyl, die symbolisierte, daß das Überleben der Erdbevölkerung ökologisch immer fragwürdiger erscheint. Es hat weder die Gewalt noch die Größenordnung der bedrohlichen Bevölkerungsvermehrung in Asien, Afrika und Lateinamerika oder der Verstädterung dort durch Landflucht mit den sich stetig erweiternden Jahresringen der wachsenden Slumregionen um die immer eingeschnürteren Ballungsräume der Metropolen.
Aber auch einheimische Probleme sind dem Bundesbürger näher, wie die soziale Katastrophe einer Massenarbeitslosigkeit mit dem erschreckenden Dauerbestand von über zwei Millionen und eher düsterer Perspektive. Oder wie Aids, diese moderne Pest, die die beiden lebenserhaltenden Haupttriebe des Menschen, den der Selbsterhaltung und den des Geschlechts, auf unvorhergesehene Weise miteinander in Konflikt bringt und sehr bald zum Hauptproblem überhaupt werden könnte.
All das mag im öffentlichen Bewußtsein vor der Beschäftigung mit der zweiten Schuld rangieren. Dennoch hat sie mit den zitierten Problemen zweierlei gemeinsam: ihren Langzeitcharakter und das internationale Interesse an ihren Äußerungen.
Wann und wo immer etwas von dem verdeckt gehaltenen Teil der NS-Vergangenheit zum Vorschein kommt — ob in Form einer Lokalnachricht oder des Bitburg-Debakels Ronald Reagan-Helmut Kohl —, rührt sich ringsum eine Sensibilität von schlafloser Wachsamkeit. Und das nicht nur im Osten, sondern auch und kaum geringer in Nord, Süd und West. Wann immer aus einem Ereignis geschlossen werden kann, daß Hitler wohl militärisch, jedoch nicht ideologisch geschlagen worden ist, werden Schwingungen in Gang gesetzt, die bestätigen, unter welch dünnem Firn das europäische und internationale Erinnerungsvermögen schwelt.
Das ist begreifbar, ja zu begrüßen, hat aber trotzdem manchmal auch eine groteske Note.
Die zweite Schuld ist nach meiner festen Überzeugung Teil eines riesigen Rückzugsprozesses. Sie vollzieht sich unter Bedingungen, die sich gänzlich unterscheiden von der historischen Phase der ersten Schuld. Nationalsozialismus und Faschismus waren große, bestimmende Kräfte während der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts. Der Sieg der Anti-Hitler-Koalition des Zweiten Weltkrieges und ihr rascher Zerfall danach haben ganz neue Verhältnisse geschaffen.
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Zwar hat das ehemalige nationale Kollektiv der Hitleranhänger von der Rivalität der Supermächte, die Deutschland zerschneidet, kräftig profitiert. Aber im alten Sinne stellt es kein Weltproblem mehr dar. Es geht bei der Erörterung der zweiten Schuld nicht um die Frage, ob der Bundesrepublik ein zweiter 30. Januar 1933, eine zweite Etablierung des Nationalsozialismus, droht. Es geht vielmehr um ein schweres Vergehen schuldig gewordener Älterer an den schuldlos beladenen Söhnen, Töchtern und Enkeln — sie sind die eigentlichen Opfer der zweiten Schuld, denn was die Großeltern und Eltern nicht abgetragen haben, kommt auf sie über.
Die zweite Schuld ist ein Problem der nationalen Hygiene, die von ihr bis zur Unkenntlichkeit versehrt worden ist.
5.
Ich möchte jetzt vor dem Leser den eigenen Standort bekunden und meine Motivationen, dieses Buch zu schreiben. Ich hatte es zwischen 1933 und 1945 schwerer gehabt als die meisten Deutschen — ich fiel meiner jüdischen Mutter wegen unter die Nürnberger Rassengesetze, mit Leiden für mich und meine Familie, die mich befähigten, den Hamburger Verfolgtenroman »Die Bertinis« zu schreiben, eine Arbeit von vierzig Jahren.
Nach 1945 habe ich es dagegen leichter gehabt als die meisten anderen — ich gehörte zu den überlebenden Opfern. Niemand klagte mich an, im Gegenteil — die Vergangenheit verschaffte mir moralisch einen privilegierten Platz. Ich hatte der Mehrheit aber noch etwas voraus: Der Zufall meiner Geburt, die rassische Diskriminierung hatten es mir auch leichtgemacht, den Nationalsozialismus als das zu erkennen, was er war, und von Anfang an sein geschworener Feind zu sein.
Entgegen dem festen Willen, nach allen Erlebnissen Deutschland im Falle der Befreiung zu verlassen, blieb ich hier, als sie eingetreten war. Gefragt, warum ich geblieben sei, entgegnete ich stets wieder: weil die Bindungen an das Land meiner Herkunft stärker waren als die Schäden, die die Verfolgungen, die ständige Furcht vor dem Gewalttod, vor Folter und Zwangsarbeit und das Entsetzen des illegalen Daseins in mir angerichtet hatten. Und daran gemessen, müssen es sehr dauerhafte Bindungen gewesen sein. Die Entscheidung gilt bis heute und ist nie zurückgenommen worden, muß aber ergänzt werden durch das Geständnis, daß die Konfrontation mit der zweiten Schuld sie auch zu einer schweren Bürde gemacht hat.
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Dabei vertrete ich die Ansicht, daß die Voraussetzung dafür, ein Buch wie dieses zu schreiben, keineswegs darin bestehen muß, zu den Verfolgten des Naziregimes gehört zu haben. Es hätte ebensogut geschrieben werden können von einem Autor mit einem ganz anderen Lebenslauf — wie ja auch häufig Bücher über diese Fragen erschienen sind. Nicht eigene Erlebnisse, die oft genug schon vom Lebensalter her gar nicht möglich waren, sondern Humanität und Moralität haben vielen Schriftstellern die Feder geführt, als sie sich an die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und seinem Erbe machten.
Ich beziehe meine Motivation aus dem oben kurz skizzierten Lebensabschnitt, das heißt eine Motivation. Denn es gibt noch eine weitere. Schuld und Schuldgefühle aus politischen Gründen sind mir keineswegs unbekannt, wenngleich unter einem anderen Vorzeichen als dem des Hakenkreuzes — nämlich unter dem von Hammer und Sichel.
Weil ich glaubte, die Feinde meiner Feinde müßten naturgemäß meine Freunde sein — also die nach den Juden von den Nationalsozialisten am meisten gehaßten und verfolgten Kommunisten —, trat ich bald nach der Befreiung in Hamburg der KPD bei. Elf Jahre später, 1957, verließ ich sie wieder, aus denselben Gründen, aus denen ich mich ihr angeschlossen hatte: um meinen Teil dazu beizutragen, die Erde für die Menschheit bewohnbarer zu machen. Aus der Tiefe meiner antifaschistischen Biographie heraus und wegen meiner starken Engagementfähigkeit bedurfte es der 132 Monate, um die Lüge als Lüge, die Unmenschlichkeit als Unmenschlichkeit zu erkennen und dem Fehlverhalten die Konsequenz folgen zu lassen — die Trennung.
Das war wie ein individueller Weltuntergang, zugleich aber auch, nach der Befreiung durch äußere Kräfte im Mai 1945, die ganz neue Erfahrung der Selbstbefreiung. Voraussetzung war das Eingeständnis des eigenen Irrtums. Ich hatte, als Publizist und als Parteiarbeiter, mein Atom Verantwortung an der Stalin- und der ersten Nach-Stalin-Ära zu tragen. Damit wollte, damit mußte ich nun fertig werden. Das geschah zunächst in Form eines Buches, das ich mir bis 1961 von der Seele geschrieben hatte, mit dem symbolisch-ironischen Titel »Die Partei hat immer recht«, einem Zitat aus der bekannten gleichnamigen SED-Kantate.
Nicht als Autobiographie eines enttäuschten Kommunisten, sondern als ein Beitrag zur Anatomie des Stalinismus — wie es ihm gelang, Menschen zu gewinnen, sie politisch auszubeuten, eine Zeitlang zu halten, und wie er sie dann durch die inneren Widersprüche zwischen Propaganda und Wirklichkeit wieder verlor. Die Arbeit konnte keinen anderen Sinn haben, als Menschen vor einem ähnlichen Irrtum zu bewahren.
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Genauso wichtig aber war das Bekenntnis dieses Irrtums, der Verantwortung und der Schuld vor mir selbst. Alles andere hätte meine Person und mein Leben verkrüppelt, jede individuelle Weiterentwicklung zerstört. Zu leugnen, abzuwehren, zu schweigen — all das hätte unweigerlich zur intellektuellen Auflösung geführt, die zukünftigen Wege blockiert, jede Kreativität erstickt und — vor allem — die Wiedergewinnung humaner Maßstäbe verhindert.
Gerade auf letzteres möchte ich näher eingehen, denn dabei tauchen plötzlich zwei beklemmende Parallelen auf zwischen mir und dem Personenkreis, den ich in diesem Buch aufs Korn genommen habe. Die erste Parallele besteht in der kritiklosen Gläubigkeit an einen Übervater. Denn ich war durchaus vertraut mit der Hingabe an einen Polit-Gott, der in meinem Fall den Namen Stalin trug, und mit allen Phasen eines später als blödsinnig, lächerlich und höchst mörderisch erkannten Personenkults um ihn.
Die zweite Parallele besteht in der Teilung der Humanitas aus ideologischen Gründen, in der Leugnung von Unmenschlichkeiten im »eigenen Lager« bei äußerster Scharfsichtigkeit jenseits davon. Trotz der ständigen Hinweise auf den Archipel Gulag und sein riesiges Repressionssystem bin ich ihnen allzulange nicht gefolgt, sondern habe die Berichte abgetan als kranke Ausgeburten des »Klassenfeindes« und mich jenem »guten Glauben« hingegeben, den auch meine erklärten Gegner für sich in Anspruch nahmen. Ich kenne also aus eigenem Erleben nur zu gut die Blindheit der Ideologien und ihren Mechanismus, Realität je nach Bedarf zu entwirklichen. Ich kenne auch die falschen Hoch- und Überlegenheitsgefühle des politischen Radikalismus.
Nun sind mir alle Argumente gegen solchen Parallelismus bekannt, wie: daß damit eigentlich Unvergleichbares aneinandergehalten werde, da man nicht aus denselben Gründen Kommunist werde wie Nazi; daß es gänzlich verschiedene Motive seien, die den einen nach da, den anderen nach dort trieben. Nie habe es den Eintritt in eine Naziorganisation aus humaner Absicht gegeben noch geben können. Das aber sei doch gerade das Kriterium bei nahezu jedem freiwilligen Beitritt in eine kommunistische Partei. Und schließlich befinde sich der Irrende nach seinem Bruch in bester Gesellschaft, wofür große Namen aufgeführt werden könnten.
Ich spreche einer primitiven Nivellierung nicht das Wort. Es leuchtet mir auch ein, daß der Bezug eines in der Bundesrepublik agierenden KPD-Mitglieds von 1946 bis 1957 zu dem von ihm mitzuverantwortenden Geschehen innerhalb des sowjetischen Machtbereiches nicht
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das gleiche ist wie die nationale Eingebundenheit des Durchschnittsdeutschen unter Hitler in ein Staatswesen, das er mit dem Vaterland identifizierte und das die ungeheuerlichsten Verbrechen der Weltgeschichte beging.
Aber der Streit, ob bestimmte Parallelen zwischen ansonsten völlig verschiedenen Überzeugungen nun berechtigt seien oder nicht, hebt sich angesichts der viel wichtigeren Frage auf, welche Konsequenzen aus einem politischen Irrtum gezogen werden sollten: nämlich ihn zu überwinden durch Erkenntnis und Bekenntnis, auch wenn sie schmerzen, oder auf ihm durch Verdrängung oder Verleugnung zu beharren.
Genau das aber ist das Wesen der zweiten Schuld. Mit ihrer publizistischen Behandlung verlasse ich die sanften Triften jener sicheren öffentlichen Anteilnahme, die mir meine Hamburger Verfolgtensaga »Die Bertinis« in so hohem Maße beschert hat, und begebe mich auf die hohe See der Schuldforschung und ihrer widrigen Gegenwinde: Wie kam es zu der Massenverfolgung und -vernichtung? Wer waren die Verfolger, und wer half ihnen dabei? Vor allem aber: Was geschah mit den Verfolgern, mit den Tätern danach? Mit den Antwortversuchen auf solche Fragen macht man sich bei uns nicht beliebt.
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Zum Schluß der Einführung noch etwas zu den zwangsläufigen Gefahren, die in der Verengung der stets komplexen Wirklichkeit durch das unvermeidlich Ausschnitthafte jeder speziellen Fragestellung liegen.
Natürlich besteht die Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland keineswegs bloß aus alten, neuen oder verhinderten Nazis. Nachdem zahlreiche Angehörige der von ihrem Lebensalter her für das Dritte Reich verantwortlichen Generationen seit 1945 ihr natürliches biologisches Ende gefunden haben, sieht die Gegenwart eine Mehrheit von Bürgern, die entweder in der NS-Zeit ihrer Jugend wegen keine Verantwortung haben konnten oder die erst nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges geboren worden sind.
Niemand kann in der zweiten deutschen Republik kraftvolle Demokratisierungsprozesse übersehen, und die Probleme, die von der NS-Vergangenheit aufgeworfen werden, vereinen eine große Gemeinschaft von Menschen, die in vielen anderen Fragen völlig unterschiedlicher Meinung sein können. Ganz allgemein trägt die Bundesrepublik nach außen ein Gesicht, das es etwa den Millionen von Ausländern, die sie jedes Jahr besuchen, schwermacht, mit dem Thema dieses Buches in eine direkte, dingliche Beziehung zu kommen.
Dies ist ein bemerkenswertes Land! Ob Bundesbürger oder Fremder, jedermann erlebt die Bundesrepublik in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre als eine interessante, hochmobile Gesellschaft sondergleichen. Es herrschen Buntheit und Freiheit, die beispiellos sein dürften in der deutschen Geschichte, und die Grenzen der Reisemöglichkeiten werden nur gezogen durch die Beschränktheit der finanziellen Mittel und des Urlaubs. Das Spektrum der verschiedensten Meinungen bietet sich an jedem Kiosk, in jeder Buchhandlung geradezu überquellend dar, und auch vom Bildschirm flimmert, allen Unkenrufen zum Trotz, allwöchentlich immer noch manche beträchtliche Leistung.
Das Land hat große Naturschönheiten, so dicht besiedelt, ja zersiedelt es in seiner handtuchschmalen Ost-West-Ausdehnung auch ist. Der Kultur- und Kunstdenkmale sind Legion. Den zivilisatorischen Stand, den es hat, weiß der um so höher zu schätzen, der dessen Annehmlichkeiten anderswo auf der Erde vermissen mußte. Und die Menschen dieses Landes? Sie sind so unkriegerisch, wie es sich nur denken läßt. Mehr, ihre Liebe zum Frieden ist, wie das ihrer Landsleute in der DDR, womöglich noch ausgeprägter, eingewachsener, selbstverständlicher als in anderen Regionen, schon weil sich hier, im Herzen Europas, auf deutschem Boden, die größte Vernichtungskapazität auf kleinstem Raum drängt.
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Unschwer läßt sich eine starke Hilfsbereitschaft erkennen. Die Millionenspenden, die wieder und wieder, wenn auch kampagnenhaft, für die Opfer von Hunger, Natur- und Kriegskatastrophen zusammenkommen, dürften keineswegs allein dem schlechten Gewissen des Wohlstandes zu verdanken sein. Das ist vielleicht ein, jedoch nicht das einzige Motiv. Trotz optischer Inflationierung durch das Fernsehen, die Not anderer findet immer noch den Weg zu den Deutschen von heute.
Aber — die Bundesrepublik hat einen Tanuskopf, ein Doppelantlitz. Denn gleichzeitig zeigen sich Ausländerfeindlichkeit, Politextremismus von rechts und links, Terrorismus von rechts und links sowie ein tief institutionalisierter Gegenradikalismus, der allein auf den Linksterrorismus reagiert. Dies ist ein Staat, der seine ihm von außen geschenkte Demokratie ständig nach allen Seiten verteidigen muß, besonders aber gegen Kräfte und Denkweisen, deren Ursprünge weit zurückreichen und die von den Alten und Älteren auf Teile der mittleren und jungen Generationen übertragen worden sind. Die zweite deutsche Demokratie und ihre Freiheiten sind keine Selbstverständlichkeiten von 1949 an bis in alle Ewigkeit, sondern eine fortwährend bedrohte Kostbarkeit.
Obwohl sich vieles geändert hat, obwohl Jahrgänge mit einem weit unbefangeneren Lebensgefühl herangewachsen sind, die schon von ihrem legeren Äußeren her einen wohltuenden Gegensatz zu ihren oft gravitätischen Altvorderen bilden — obwohl all das so ist, hat die Bundesrepublik dennoch die größten Schwierigkeiten, mit einer Vergangenheit fertig zu werden, aus der sie am liebsten immer wieder ausgestiegen wäre.
Aber:
»Die Hoffnung, die Nachkriegszeit sei abgeschlossen, was wiederholt von führenden deutschen Politikern geäußert worden ist, muß sich als Irrtum erweisen, weil nicht wir allein bestimmen, wenn es genug ist, Folgerungen aus einer Vergangenheit zu ziehen, die das Leben und das Glück einer so großen Zahl von Menschen vernichtet hat.«
Das schrieben Alexander und Margarete Mitscherlich in ihrem 1967 erschienenen Buch »Die Unfähigkeit zu trauern«, dieser ebenso klassischen wie bitteren Charakteristik des Durchschnittsdeutschen unter Hitler und in den ersten zwanzig Jahren nach 1945 (ein Werk, aus dem noch häufig zitiert werden wird).
Mag die Nachkriegszeit in den seither abermals verflossenen zwei Dezennien endgültig abgeschlossen worden sein, die Versuche, sich am Erbe des Nationalsozialismus vorbeizumogeln, sind es nicht. Im Gegenteil, nach den lange eher plebejischen Artikulationen der Schuldverdrängung und -leugnung üben sich heute mit beträchtlichem Stimmaufwand akademisch-intellektuelle Debattierer, die NS-Epoche zu relativieren und zu bagatellisieren (wovon noch die Rede sein wird).
Und doch werden alle diese Anstrengungen vergebens sein, definitiv umsonst, denn das Wort vom »Tausendjährigen Reich« wird sich, wenn auch nicht im Sinne seiner Schöpfer, insofern bewahrheiten, als sich die Menschheit noch in fernsten Zeiten mit ihm beschäftigen wird. So zahlreich sie schon sein mögen, alle bisherigen publizistischen Bemühungen sind erst ein Anfang, wie »Die zweite Schuld oder Von der Last Deutscher zu sein« — geschrieben in Zorn, in Trauer und in Hoffnung.
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Hamburg, August 1987, Ralph Giordano