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Ralph Giordano Die zweite Schuld oder: Von der Last, Deutscher zu sein Den
schuldlos beladenen Söhnen,
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1987+2000 374 Seiten Wikipedia.Autor *1923 in Hamburg bis 2014 (91) DNB.Buch DNB.nummer Bing.Buch Google.Buch
detopia: Mitscherlich 1967 Unfähigkeit zu trauern |
Mit dem Begriff der zweiten Schuld bringt Ralph Giordano das Versagen der deutschen Gesellschaft nach dem Holocaust auf den Punkt. Er untersucht, was mit den Verfolgern geschah und beklagt die Scheinheiligkeit wie Unvollständigkeit der deutschen Vergangenheitsbewältigung. Sie gründet auf einer Amnestie für Naziverbrecher, die wieder in die Nachkriegsgesellschaft eingegliedert wurden.
Diese zweite Schuld hat die politische Kultur Deutschlands wesentlich mitgeprägt; Giordano nennt das den »großen Frieden mit den Tätern«. Da zugleich ein Bekenntnis zur Kollektivschuld ausblieb, konnte auch in der Erinnerungskultur kein zuverlässiges Fundament entstehen. Und in dieser Verweigerung, sich mit dem Holocaust zu beschäftigen, liegt ein großes moralisches Versagen. Doch wurde das Buch zugleich in der Hoffnung geschrieben, damit sich nicht wiederholt, was schon einmal in Verfolgung und Krieg mündete.
(Verlagstext 2020)
Inhalt 1987 bei 2000 Neuausgabe bei Kiepenheuer & Witsch
Die zweite Schuld? Zur Einführung (15)
Von der Last, Deutscher zu sein (337) Ein Nachwort
Anhang: Briefe an den Autor (347) Literatur (371) Personenverzeichnis (372) |
»Die anderen haben auch Verbrechen begangen« (35) Vom Verlust der humanen Orientierung Absage an das Deutsche Reich 1871-1945 (47) Zur Geschichte des Verlustes der humanen Orientierung Vom Widerstand und seinen Widersachern (73) Die mißbrauchte Minderheit Das Fundament: der große Frieden mit den Tätern (87) Die Mörder blieben unter uns
Wehrmacht und Krieg — die heiligen Kühe (165) Über das Hauptverbrechen Hitlerdeutschlands Der perverse Antikommunismus (199) Heillos verstrickt in der NS-Vergangenheit Der verordnete Antifaschismus (209) Ein Wort zum Thema »NS-Erbe und DDR« Heil! Heil! Heil! (219) Schamzentrum: die Liebe zum »Führer« FJS und die Zwangsdemokraten (233) Über die verbliebene Sehnsucht nach dem starken Mann Kollektivschuld? Kollektivunschuld? Kollektivscham? (245) Von der Verantwortung des nationalen Kollektivs ehemaliger Hitleranhänger Apropos »Charta der deutschen Heimatvertriebenen« (267) Überfälliges Nachwort zu einem verkannten Dokument Gegenradikalismus plus Terrorismus — die Hauptgefahr (293) Plädoyer für eine wehrhafte Demokratie Vom Versuch, einen Schlußstrich zu ziehen (305) Die Dauerverdrängung eines Zeitalters
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Das Hauptthema sind die Folgen der moralischen Katastrophe, die eintrat, weil das Bekenntnis zur Kollektivschuld ausblieb. Das Buch wurde — mit Zorn, Trauer und Hoffnung — geschrieben, damit sich nicht wiederholt, was schon einmal in Verfolgung und Krieg mündete. Giordanos vielleicht wichtigstes und — nach "Die Bertinis" — erfolgreichstes Werk hat nichts von seiner Aktualität eingebüßt. "Jede zweite Schuld setzt eine erste voraus — hier: die Schuld der Deutschen unter Hitler. Die zweite Schuld: die Verdrängung und Verleugnung der ersten nach 1945." Die zweite Schuld hat die politische Kultur der Bundesrepublik bis auf den heutigen Tag wesentlich mitgeprägt. Ihr Kern ist die kalte Amnestie für jede Art von Naziverbrechern, darunter hohe Repräsentanten des NS-Vernichtungsapparats: Blutrichter und -staatsanwälte, Militärs, Diplomaten, Wirtschaftsführer — die Funktionselite des »Dritten Reichs«, die bis 1958 nahezu lückenlos wieder in die Nachkriegsgesellschaft eingegliedert war. Ralph Giordano nennt das den »großen Frieden mit den Tätern«, für ihn ein Fundament der bundesdeutschen Staatsexistenz. Das Hauptthema Giordanos sind die Folgen der moralischen Katastrophe, die eintrat, weil das Bekenntnis zur Kollektivschuld ausblieb. Das Buch ist eine gnadenlose Abrechnung mit zahlreichen Einzelposten einer langen politischen Mängelliste bundesdeutscher Wirklichkeit. Es wurde — mit Zorn, Trauer und Hoffnung — geschrieben, damit sich nicht wiederholt, was schon einmal in Verfolgung und Krieg mündete. Ralph Giordano wurde 1923 in Hamburg geboren. Weil seine Mutter Jüdin war, fiel die Familie unter die NS-Rassengesetze. Es folgten Flucht in die Illegalität und Befreiung durch die Briten am 4. Mai 1945 in Hamburg. Danach arbeitete Giordano als Journalist, Fernsehdokumentarist und Schriftsteller.
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Vorwort zur Neuausgabe 2000
»Ich weiß, daß ich eine der deutschesten Bestien bin, ich weiß nur zu gut, daß mir das Deutsche das ist, was dem Fische das Wasser ist, daß ich aus diesem Lebenselement nicht heraus kann, und daß ich — um das Fischgleichniß beyzubehalten — zum Stockfisch vertrocknen muß, wenn ich — um das wäßrige Gleichniß beyzubehalten — aus dem Wasser des deutschthümlichen herausspringe. Ich liebe sogar im Grunde das Deutsche mehr als alles auf der Welt, ich habe meine Lust und Freude dran, und meine Brust ist ein Archiv deutschen Gefühls.«
(Heinrich Heine)
9-13
Das Buch <Die zweite Schuld oder Von der Last Deutscher zu sein>, 1987 herausgekommen, hat dreizehn Jahre später nichts von seiner Aktualität eingebüßt, im Gegenteil. Überall zwischen Rhein und Oder flammen mit bestürzender Kontinuität Warnzeichen auf, daß Rassismus und Antisemitismus nach wie vor wirksam sind, brachial auftreten und sich unter Ausnutzung moderner Kommunikationstechnik immer effektiver organisieren.
Und das mit Emblemen, die keinen Zweifel daran lassen, welche Ziehväter hier Pate stehen. Ergänzt und zusätzlich belastet wird die Szene noch durch das Erbe des zweiten Gewaltregimes, das in diesem Jahrhundert auf deutschem Boden untergegangen ist, mit politischen und sozialen Verwerfungen, deren Ausmaß und Dauerhaftigkeit niemand in der Euphorie der Wiedervereinigung erwartet hatte.
Und dennoch gibt es heute einen gravierenden Unterschied zu der Zeit der Erstausgabe, eine Differenz, die nicht hoch genug veranschlagt werden kann, nämlich die ganz andere Dimension des öffentlichen Bewußtseins für die Problematik der zweiten Schuld, also der Verdrängung und Verleugnung der ersten unter Hitler nach 1945 bzw. 1949, samt ihren Folgen bis in unsere Gegenwart. Das hat sich nur noch einmal bestätigt durch die flächendeckende Debatte um Daniel Jonah Goldhagens Buch »Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust« und das alle Erwartungen der Veranstalter weit übertreffende Interesse der Öffentlichkeit an der Ausstellung »Vernichtungskrieg — Verbrechen der Wehrmacht 1941-44«.
Ohne Indifferenz und Gegenkraft unterschätzen zu wollen — zu keiner Zeit hat es in Deutschland regere Anteilnahme an der Geschichte des Nationalsozialismus und seiner Hypothek gegeben als heute, gegen Ende dieses fürchterlichsten und erstaunlichsten Jahrhunderts der Menschheitsgeschichte.
Erst heute dringen Einzelheiten dessen, was ich »die zweite Schuld« genannt habe, in den Sichtkreis einer breiteren Öffentlichkeit, namentlich jüngerer Menschen — wird von ihnen fassungslos zur Kenntnis genommen, daß die nahezu kollektive Entstrafung selbst höchstrangiger NS-Täter mit nationalem Konsens der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft irreparable Fakten geschaffen hat.
Ohne in den Verdacht der Unbescheidenheit geraten zu wollen, darf doch wohl gesagt werden, daß das Buch »Die zweite Schuld oder Von der Last Deutscher zu sein« dabei Pionierarbeit geleistet und seinen Teil zu dem neuen Bewußtseinsstand beigetragen hat. Das Kapitel »Wehrmacht und Krieg — die heiligen Kühe«, die Skandale der »Renazifizierung statt Entnazifizierung«, die »untilgbare Schmach Bundesjustiz-NS-Justiz«, das »Schamzentrum: die Liebe zum >Führer<« oder die »verbliebene Sehnsucht nach dem starken Mann« — vorweggenommen wurden schon damals manche Themen, die in öffentlichen Debatten wie in forschungswissenschaftlichen Arbeiten seither stetig an Gewicht gewonnen haben.
Dabei sind Begriffe geprägt worden, quasi Codewörter mit dem intellektuellen »Copyright« des Autors, die inzwischen Eingang in die Alltagssprache der politischen Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus gefunden haben. So etwa »der große Frieden mit den Tätern«, »der Verlust der humanen Orientierung«, »der verordnete Antifaschismus«, »der Zwangsdemokrat«, vor allem aber das Wort von der »zweiten Schuld« selbst.
Seine Wirkung war so stark, daß eine Art Gegenliteratur entstand, darunter die von Manfred Kittel direkt als Anti-Giordano-Buch konzipierte »Legende von der <Zweiten Schuld>«. Das Charakteristische an diesem Buch, wie auch an allen anderen mir vor Augen gekommenen Reaktionen mit direktem Bezug auf die »Zweite Schuld«, bestand darin, daß die konkreten Fakten meines Buches, sein Inhalt und seine Analysen, notorisch ausgeblendet blieben.
Eine nachhaltige Wirkung hat diese Kampagne von Seiten der »neuen Rechten« dann auch nicht gehabt. Vielmehr gab es gewisse Parallelen zum sogenannten »Historikerstreit« Mitte der achtziger Jahre, deren konservativ-revisionistische Auslöser einen Gegengeist beschworen, der schließlich die Oberhand behielt. In diesem Fall sind die Verneiner einer »zweiten Schuld« zur Zielscheibe fundierter Untersuchungen renommierter Politikwissenschaftler und Zeithistoriker geworden, die die eingespielten Rituale der Verdrängung unwiderlegbar dokumentiert haben.
Darin wird die »zweite Schuld« umfassend bestätigt als ein öffentliches Bewußtsein, das die Verbrechen des Nationalsozialismus an eine kleine Gruppe von »Nazis« delegierte, »dem Volk« in seiner Gesamtheit aber die Rolle politisch Verführter zuerkannte, die letztlich auch Opfer gewesen seien — die Machtperiode des Nationalsozialismus wurde verfälscht in einen Betriebsunfall der nationalen Geschichte, seine Herrscher extraterrestrische Dämonen, die von irgendwoher aus dem All zufällig auf Deutschland herabgeregnet waren.
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Diese ahistorische Zweiteilung »Hie die Nazis — hie die Deutschen« entspricht genau der Befindlichkeit der unter schwerem, aber uneingestandenem Schulddruck stehenden Bevölkerungsmehrheit der Nachkriegszeit — mentaler Status und Humus der »zweiten Schuld«. Ursache und Ergebnis des »großen Friedens mit den Tätern« war der fast unbegrenzte Wille nach Anklageverschonung oder Amnestie Zehntausender von NS-Tätern zum Zwecke der Selbstsexkulpierung von Millionen Mitläufern — das unfreiwillige Eingeständnis gesamtgesellschaftlicher Verstrickung in den Nationalsozialismus. Bezeichnenderweise hat niemand heftiger gegen die These von der Kollektivschuld gewettert als das »nationale Kollektiv ehemaliger Hitleranhänger« (Margarete und Alexander Mitscherlich).
Es hat auf das Buch Hunderte und Aberhunderte von Rezensionen gegeben, eine immense Aufmerksamkeit aller Medien; es war, als sei in ein Wespennest gestochen worden. Dabei habe ich Widerspruch und Zuspruch nicht ohne Genugtuung registriert — beides kam aus der richtigen Ecke.
Doch die Zustimmung zu dem Buch überwog bei weitem. Sie war elementar und dauert eigentlich, wie sich für den Autor immer wieder erweist, bis heute an.
Dabei kam der Erfolg angesichts des allen Erfahrungen nach höchst unpopulären Themas völlig überraschend und darf als überwältigend bezeichnet werden: »Die zweite Schuld oder Von der Last Deutscher zu sein« behauptete sich fast ein halbes Jahr auf der Bestsellerliste des »Spiegels« und auf anderen Foren deutschen Leserinteresses. Dazu kam eine Flut von Briefen, die quantitativ alle mir bisher bekannten Dimensionen sprengte: weit über tausend — ihres erschreckenden Grundtenors wegen hielt sich jedoch die Freude darüber in Grenzen.
Denn nun blätterte sich Zeile um Zeile auf, was die systematische, streng durchgehaltene Verdrängung, das Schweigen der Eltern und Großeltern über die Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft und die eigene Rolle darin, in der nachgewachsenen Generation angerichtet hatte. Die über Monate hin abgelieferte Post war eine Lektüre erschütternder Auseinandersetzungen, familiärer Konflikte, verzweifelter Zusammenstöße, ja, persönlicher Tragödien — sehr selten begleitet von Bekenntnis, Ausgleich und Versöhnung durch Ehrlichkeit.
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In den Medien fortwährend mit den Verbrechen der Nazizeit konfrontiert, stießen Söhne und Töchter zu Hause meist auf blanke Verweigerung, mußten nach über vierzig Jahren noch Enkel und Enkelinnen erkennen, daß Eltern und Großeltern um der Aufrechterhaltung eines falschen Selbstbildnisses willen den eigenen Kindern und Kindeskindern die politische und historische Klarsicht verstellt hatten.
Generationen, die de jure, de facto, politisch und historisch, einfach schon von ihrem Lebensalter her, nur völlig schuldlos sein konnten, wurde so die Bürde unaufgearbeiteter Vergangenheit zugeschoben und die Kronzeugenschaft gerade von denen verweigert, die ihnen am nahesten standen, und so das Rüstzeug im Kampf gegen Neonazismus und Wiederholungsverfahren versagt.
In den Briefen kam aber auch zum Ausdruck, daß ein Teil der Nachkriegsgeneration sich politisch selbständig gemacht hatte und daß der Ursprung der 68er-Revolte unschwer hier, in diesem Generationskonflikt zu erkennen war — als Empörung gegen die in ihren Lebenslügen total verkrustete »Wir sind wieder wer«-Verdrängergesellschaft der Adenauer-Ära, als vehemente Auflehnung gegen die inzwischen voll entfaltete »zweite Schuld«. Aus diesen bewegenden Bekundungen ist damals eine typische Auswahl von etwa hundert Briefen getroffen und 1990 in dem Bändchen »Wie kann diese Generation eigentlich noch atmen? Briefe zu dem Buch <Die zweite Schuld oder Von der Last Deutscher zu sein>« veröffentlicht worden.
Um den direkten Bezug zwischen dem Buch und seiner Wirkung herzustellen, werden nun einige dieser Briefe am Ende dieser Ausgabe übernommen.
Änderungen gegenüber dem Original wurden nur an zwei Stellen nötig, und zwar beide bedingt durch den 9. November 1989 und seine Folgen. So konnte, erstens, der Schluß des Kapitels »Absage an das Deutsche Reich 1871-1945. Zur Geschichte des Verlustes der humanen Orientierung« gestrichen werden, weil darin ausgegangen worden war von meiner inzwischen geschichtskorrigierten Fehleinschätzung einer bleibenden deutschen Teilung (ein Irrtum, den sich der Autor bis zur Wende wohl mit dem Rest der Welt geteilt haben dürfte und dessen unwiderrufliche Aufhebung er seither mit anhaltender Zustimmung begrüßt).
Die zweite Änderung ergab sich durch die notwendig gewordene Aktualisierung des Kapitels »Der verordnete Antifaschismus. Ein Wort zum Thema <NS-Erbe und DDR>«. 1987, noch während der Ära des real existierenden SED-Sozialismus beschrieben, war er durch die veränderten Machtverhältnisse zu einem historischen Anachronismus geworden, ohne daß deshalb die geschichtliche Bedeutung des von oben »verordneten Antifaschismus« und seine bereits sichtbar gewordenen Folgeschäden unerwähnt bleiben dürften. Deshalb wird hier nun jene Neufassung des besagten Kapitels gedruckt, die schon in die Lizenzausgabe meines Buches beim Ostberliner »Verlag Volk und Welt« von 1990 eingebracht worden war.
Schließlich noch eine Anmerkung.
Wer die Widmung der Originalausgabe — »Den schuldlos beladenen Söhnen, Töchtern und Enkeln« — mit der jetzigen vergleicht, wird feststellen, daß es sich um eine ergänzte Fassung handelt — sind darin nun doch auch die »Enkelinnen« einbegriffen.
Mit dem Eingeständnis, daß ich traurigerweise von Leserinnen auf das Versäumnis aufmerksam gemacht werden mußte, danke ich dem Verlag für die Neuausgabe auch deshalb, weil bei dieser angenehmen Gelegenheit die Unterlassung, wenn auch zu spät, doch noch korrigiert werden konnte.
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Köln, im Juli 2000,
Ralph Giordano