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Entwurf einer erotischen Farbenlehre  

 

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Da küßte sie ihn auf den Mund. Es war so ein russischer Kuß, von der Art derer, die in diesem weiten, seelenvollen Lande getauscht werden an hohen christlichen Festen, im Sinne der Liebesbesiegelung. Da aber ein notorisch »verschlagener« junger Mann und eine ebenfalls noch junge, reizend schleichende Frau ihn tauschten, so fühlen wir uns, während wir davon erzählen, unwillkürlich von ferne an Doktor Krokowskis kunstreiche, wenn auch nicht einwandfreie Art erinnert, von der Liebe in einem leise schwankenden Sinn zu sprechen, so daß niemand recht sicher gewesen war, ob es Frommes oder Leidenschaftlich-Fleischliches damit auf sich hatte.

Machen wir es wie er, oder machten H.Castorp und C.Chauchat es so bei ihrem russischen Kuß? 

Aber was würde man sagen, wenn wir uns schlechthin weigerten, dieser Frage auf den Grund zu gehen. Unserer Meinung nach ist es zwar analytisch, aber – um Hans Castorps Redewendung zu wiederholen – »im höchsten Grade linkisch« und geradezu lebens­unfreundlich, in Dingen der Liebe zwischen Frommem und Leidenschaftlichem »reinlich« zu unterscheiden. Was heißt da reinlich! Was schwankender Sinn und Zweideutigkeit! Wir machen uns unverhohlen lustig darüber.

Ist es nicht groß und gut, daß die Sprache nur ein Wort hat für alles, vom Frömmsten bis zum Fleischlich-Begierigsten, was man darunter verstehen kann? Das ist vollkommene Eindeutigkeit in der Zweideutigkeit, denn Liebe kann nicht unkörperlich sein in der äußersten Frömmigkeit und nicht unfromm in der äußersten Fleischlichkeit, sie ist immer sie selbst, als verschlagene Lebensfreundlichkeit wie als höchste Passion, sie ist Sympathie mit dem Organischen, das rührend wollüstige Umfangen des zur Verwesung Bestimmten – Charitas ist gewiß noch in der bewunderungsvollsten oder wütendsten Leidenschaft. 

Schwankender Sinn? Aber man lasse in Gottes Namen den Sinn der Liebe doch schwanken!

Thomas Mann, »Der Zauberberg«

 

Liebe kann nicht unkörperlich sein: Die Anziehungskräfte zwischen den Beteiligten, von Dantes Planetenerotik bis zur Geschlechter­liebe, sie haben immer auch eine leibhaftige Seite. Diese Einsicht ruft eigentlich nur in Erinnerung, daß kein Stern und auch kein Hans und keine Clawdia ohne ihren besonderen, so im ganzen Weltall nicht noch einmal vorkommenden Körper Individuen wären.

Wer jedoch ausdrücklich die Leibhaftigkeit alles Erotischen betont, hält der nicht immerhin für möglich (wenn auch für falsch oder illusionär), daß die Liebe sich als etwas <rein Geistiges> auffassen läßt?

Wie auch immer – darin behält die Zauberbergpassage vom russischen Kuß wohl recht: In der Liebe finden sich alle Spektral­farben des Eros zusammen. Nur ihre jeweilige Mischung ändert sich geschichtlich und damit auch individuell. Der <schwankende Sinn> der Liebe, das nicht in Definitionen endgültig Festlegbare weist auf die grundsätzliche Offenheit dieser Mischungen hin. Erich Fromms <Kunst des Liebens> setzt eben dies voraus: die Gestalten unseres erotischen Erlebens und Verhaltens werden in Lernvorgängen angeeignet, die sich immer in einer konkreten geschichtlichen Situation abspielen.

So bringt die hochmittelalterliche <Jesus-Minne> mit ihren Braut-Bräutigam-Phantasien eine der Antike gegenüber ganz neuartige religiöse Glut ins Erotische. Umgekehrt wandert heidnische Schönheits-Faszination in die Gottesliebe mit ein und wird Teilmoment der Marienverehrung und Christusanbetung bestimmter geschichtlicher Epochen. In einer der griechischen Ausgangs­bedeutungen war Eros Symbol der Männerfreundschaft. Später wurde Eros, im Sinne des Dantezitats, zu einer allum­fassenden menschen- und weltbewegenden Energie.

Bei den biblischen Kulturen findet sich diese Erosgestalt in religiöser Färbung als <Agape>  mit unterschiedlichen Bedeutungstönungen, je nach der zugrunde gelegten Theologie. In puritanischen Traditionen wurde eine Abspaltung des sexuellen Teilmoments aus dem Farbenspektrum des Erotischen durchgesetzt, die bis heute in biblisch beeinflußten Teilkulturen nachwirkt und dort in populär vereinfachter Gegenüberstellung <Eros> und <Agape> als sinnlich-triebhafte Liebe und religiös-geistige Nächstenliebe zu unterscheiden sucht.

Auch diese wenigen Hinweise auf die Historizität des Eros, die ein Aspekt der Geschichtlichkeit unserer Existenz überhaupt ist, machen bereits deutlich: <Eros> und <Agape> können keine ein für allemal feststehenden, jedem Menschen angeborene Strebungen oder Werthaltungen sein. Vielmehr sind sie wie alle unser Handeln und Erleben bestimmenden Beweggründe oder Motivationen kulturell geprägt. Das heißt: sie sind geschichtlich veränderbar, und auch neue, vorher so noch nicht verwirklichte Farbakkorde des Erotischen sind möglich.

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So sind bei den Oneida-Leuten religiöse, soziale, ökonomische und vitale (sexuelle) Erosmomente auf vorher so nur selten verbundene Weise zu einem Akkord vereinigt worden. Und ist nicht auch der Typus von <Liebe, die ein Paar verläßt> (eines der Probleme, die Max Frisch immer wieder beschäftigt haben), eine besondere Erosgestalt, bei der vor allem eine Verbindung vitaler und ästhetischer Teilmomente dominiert? Diese dem Augenblickskult ergebenen Verbindungen haben eine weit geringere Haltbarkeit als die oft lebenslangen Allianzen, die auf weniger rasch erlöschenden Gestalten der Liebe beruhen, und bei denen geschwisterlich-freundschaftliche und noch weitere Färbungen den Charakter solcher Bindungen ausmachen.

Daß auch die Geschwisterlichkeit nur ein Teilakkord des Erotischen sein kann, dafür findet sich in Robert Musils <Mann ohne Eigenschaften> ein unterhaltsam-instruktives Beispiel: Bruder und Schwester wissen in diesem Roman mit ihrer neuartigen Liebe, einem umfassend mystisch-erotischen Zustand, sozusagen nichts Rechtes anzufangen. Sie bleiben eingesperrt in das Getto ihrer großbürgerlichen Konventionen, auch und gerade wo sie ihm zu entkommen scheinen. Daß die unvermittelte Ausweitung ihres neuen Zustands auf andere Menschen (Schillers »... diesen Kuß der ganzen Welt!«) nur komisch-peinliche Wirkungen haben kann, ist auch Musil noch klar. Er läßt aber dann seine inzestseligen Geschwister einen totalen Rückzug ins Private unternehmen, und es scheint ihm nicht in den Sinn zu kommen, daß die Liebe auch noch andere Spektralfarben als die religiösen, ästhetischen und sexuellen annehmen kann  etwa soziale und ökonomische.

Alle Versuche, hier etwas Tragfähig-Neues zu erproben, lösen verständlicherweise im psychischen Haushalt der meisten Menschen zunächst Ängste aus. Das ist einer der Gründe dafür, daß solche Neuansätze anfangs nur in relativ kleinen Gruppen gelingen. Sie finden am ehesten Resonanz und Zustimmung, wenn sie ihre Erneuerung auf Eros-Bereiche konzentrieren, die nicht – wie zum Beispiel das Inzest-Tabu und andere Sexualkonventionen – tiefsitzende Gewissensängste mobilisieren, sondern weniger brisante Teilmomente unserer Liebesfähigkeit ins Spiel bringen. Bei kommunitären Experimenten, die genossenschaftlich wirtschaften, Gütergemeinschaft einführen und sich die ur-christliche Gemeinde der Apostelgeschichte zum Vorbild wählen, ist das in der Regel der Fall.

 

Die Geschichtlichkeit der Eros-Gestalten – sie erinnert uns einerseits an unsere Begabung zur Kreativität; sie ruft uns damit jedoch gleichzeitig deren Gegenspieler ins Bewußtsein: Hintergrund jeder Geburt ist der Tod, und unser Endlichkeitsbewußtsein gehört zu den Ingredienzien unserer Liebesfähigkeit. 

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Auch der russische Kuß auf dem Zauberberg weiß davon, wenn sich in ihm das <zur Verwesung Bestimmte> in selig-konfuser Ekstase vereinigt. Er weiß: die Endlichkeit wird ihn einholen, und der Tod wird immer den größten Teil der Wirklichkeit und des Gewesenen für sich behalten. Vom Leben her gesehen, das mein individuelles, endliches Leben ist, gibt es vor mir und nach mir nur das gestaltlose Nichts. Muß aber der gefräßigen Macht des Todes angesichts so unermeßlich ausgedehnter Reiche, in denen sie ohnehin herrscht, auch noch in unserem begrenzten Leben Platz eingeräumt werden? In unserer bisherigen Pyramidengeschichte waren wir vor allem als Komplizen zerstörerischer Mächte erfindungsreich. Können wir aber nicht auch auf der Gegenseite Neues hervorbringen?

Noch haben wir nur hilflose oder sehr verschlissene Bezeichnungen für die Vorgänge auf dieser Gegenseite. Dem Tode dort gegenüber haben sie etwas mit <ewigem Leben> zu tun, nur daß Ewigkeit hier nicht im Sinne unserer mit Uhren meßbaren Zeit aufzufassen wäre. Vielmehr ist <Ewigkeit> nur ein Behelfsausdruck für einen qualitativ neuartigen Zustand, der als endlos dauernd mißverstanden wird, wenn man ihn auf die Ebene der meßbaren Zeit zu projizieren versucht. Eine menschliche Lebens­geschichte, sogar eine verkürzte, reicht aus, um das <ewige Leben> in diesem Sinne zu erlangen. Um der Endlichkeit zu begegnen, muß man das Leben und seine ihm zugemessene Zeit in Verbindung mit anderen Menschen gestalten, als gemeinsame Selbstgestaltung in der Teilhabe an der Liebeswirklichkeit.

Zeitgestaltung, Lebensform in diesem Sinne ist schon immer als eine Form der Aufhebung von Zeit gedeutet worden. Das bekannte <Verweile doch, Du bist so schön> läßt sich ja umwandeln in <Wenn es uns gelingt, Dich, den Augenblick, schön zu machen, dann bist Du – zeitweise zumindest – als das aufgehoben, was Du dauernd bleibst: vergänglich>. Das <zeitweise> bleibt diesem Zustand äußerlich, ähnlich wie Hirnzellen dem Gedanken äußerlich bleiben, den zu denken sie doch unerläßlich sind. Auf der diesem Äußerlichen korrespondierenden Innenseite bedeutet das <zeitweise>, also die Aufhebung des Charakters der Vergänglichkeit, einen anderen Aggregatszustand des Bewußtseins. Zustände der Ekstase, der Meditation, auch der ästhetischen Überwindung des Augenblicks, jedenfalls also der Einklammerung von Zeit, sind seit jeher so aufgefaßt worden.

Der Tod wird hier nicht wegerklärt oder in trostspendende Vorstellungs­gespinste (wie etwa bei Bataille) gehüllt. Wenn ihm aber schon der größte Teil der Wirklichkeit gehört, soll er dann auch noch in unserem Zusammenleben herrschen?*

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Die Teilhabe an der Liebeswirklichkeit, die für jeden von uns erfahrbar ist, da wir ihr — wie undeutlich auch immer vermittelt — unser eigenes Dasein verdanken, liegt aller Eros-Geschichtlichkeit zugrunde. Zwei Menschen müssen sich, wie immer flüchtig, dumpf oder wach miteinander verbunden haben; meine Mutter muß mit mir, ihrem Kinde, verbunden gewesen sein, und diejenigen, die mich in den frühesten Lebenstagen betreut, umsorgt, nicht umgebracht haben, müssen mir zugetan gewesen sein — sonst wäre ich gar nicht am Leben. Um diese Liebesgewißheit geht es: Ich bin, also hat es auch in meinem Fall einmal Liebe auf der Welt gegeben (sum ergo coitus fuerat)...

 

* Kritische Randnotiz: In seinem Buch <L'erotisme> versucht Bataille den Tod aufzuwerten. Jedoch unterlaufen ihm Ungenauigkeiten dabei: Von der <Diskontinuität>, also vom Individuum her gesehen, ist der Tod, mein Tod eben doch das definitive Ende. Diesen meinen Tod dann in den Tod umzudenken und diesem Zustand das Qualitätssiegel <Kontinuität> zu verleihen, ist ein Kunstgriff, der auch die Liebe metaphysisch aufwerten soll. <Kontinuität des Seins> in bloßer Dauerhaftigkeit haben auch Steine, zum Beispiel Pyramidentrümmer, und erloschene Sonnen.

Wer das Leben und die Liebe von ihrem Gegenzustand her mit Bedeutung aufladen möchte – entwertet der sie nicht eigentlich? Den sexuellen Höhepunkt als <kleinen Tod> zu interpretieren, ist (spätestens seit Freud) sicher möglich, wenn auch wiederum ungenau. Bataille läßt sich hier anmuten von analogiegeeigneten Teilmomenten, die aber eben doch in verschiedenartige Zusammenhänge gehören. In der erotischen Vereinigung (von der die sexuelle ihrerseits nur ein Teilmoment ist) löse ich <mich> eben nicht vollständig auf, sondern gerade daß ein Subjekt als Erlebnissubstrat für ozeanische Erfahrungen der Ich-Auflösung der lokalisierbare Ort des Geschehens bleibt, macht diesen Vorgang ja so faszinierend. Gäbe es diesen Ort nicht, so wäre Erinnerung an derartige Fusionserfahrungen nicht möglich, Wiederholung nicht möglich, die an Identifizierbarkeit von <mir> und <dir>, der Partner des Fusionsgeschehens also, gebunden ist – wenn es denn eine dialogische Erlösung und nicht nur eine Art Selbstmord in einsamer, echoloser Selbstaufgabe sein soll. Der kann sogar auch zu zweit, sozusagen synchron praktiziert werden; aber selbst wenn die Ich-Auflösung gleichzeitig und im gleichen Bett geschieht, muß sie deswegen noch nicht gemeinsam, dialogisch, in gegenseitiger Zuwendung geschehen.

Dieses dialogische Moment ist bei Bataille nach meinem Gefühl viel zu wenig im Blick. Sehr vergröbert gesprochen, liegt seiner Betrachtung eigentlich ein masturbatorisches Modell der <Auflösung> zugrunde. Nicht die Vereinigung mit einem Du ist der Schlüsselvorgang für Bataille, sondern die im Orgasmus erfahrene punktuelle Ich-Auflösung. Das <Gefühl tiefer Kontinuität, das sich dabei einstellen kann, bezieht sich gar nicht auf das Du, sondern erfährt das Du nur als Anlaß für dieses Gefühl. Es ist, in zeitgenössischer Variante, die alte platonische Himmelsleiterphilosophie, die den Partner monologisch <transzendiert>, um mit dem Wahren-Guten-Schönen, dem <ens realissimum> in Einklang zu kommen. Geht es bei Bataille (wie bei Platon) nicht allzu rasch kopfüber ins Meer der Kontinuität, »das mit der Sonne kreist« (Rimbaud)? Statt daß zunächst einmal die faszinierenden Möglichkeiten der über Fusionsprozesse entstehenden neuen <Diskontinuitäten> erkundet und gelebt werden, etwa in meso-sozialen neuen Lebensformen...

Die kreative Regression im Bereich mystischer Zustände könnte, im Unterschied zur atavistischen gerade darin bestehen, in der Fusion noch imstande zu bleiben, Ich und Du zu sagen: die Egogrenzen zwar zu öffnen und bedeutungslos werden zu lassen, dennoch diesen Vorgang aber nicht vollständig fremdbestimmt zu erleiden, sondern noch darüber mitzubestimmen, also gemeinsam in Freiheit Gelassenheit zu praktizieren.

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»Es war eine neue Liebesgründung; zum ersten Mal gab es das: die Liebe, die nicht aus dem Fleisch kommt, sondern aus dem Gedanken, so daß man sie wohl dämonisch nennen mochte, so gut wie die Unruhe, die Thamar selbst der Mannheit erweckte ohne Fleischesform ...« (Thomas Mann: Joseph und seine Brüder)

Das auf Vereinigung oder Verbindung zielende Grundpotential des Eros kann sich in verschiedenen Bedeutungs- oder Wertrichtungen verwirklichen. Bei der <neuen Liebesgründung>, über die in Thomas Manns Josephs-Roman berichtet wird, spielt der <Gedanke>, spielt das auf Erkenntnis und <Theorie> gerichtete Moment (theoria = Zusammenschau) eine entscheidende Rolle; die <Fleischesform>, das vital-sexuelle Moment tritt demgegenüber beinahe vollständig in den Hintergrund.

Bei der Nächstenliebe sind es wieder ganz andere Bedeutungstönungen, etwa religiöse und soziale, die ihre besondere Gestalt ausmachen. Wenn im Josephs-Roman von einer <neuen Liebesgründung> gesprochen wird, so ist mit diesem Wort ein Schlüssel­gedanke umschrieben: unsere Liebesfähigkeit ist nicht nur eine Innovativkraft, die bei allem Neu-Herstellen beteiligt ist; sie ist selbst erneuerungsfähig. Sie ist offen für Innovationen, kann also neue Gestalten annehmen. Die Liebe, heißt das, läßt sich nicht ein für allemal festlegen oder bestimmen im Sinne einer endgültigen Definition. Ihr Wesen ist, wie das des Menschen selbst, geschichtlicher Natur und damit zur Zukunft hin offen.

Schon mehrfach habe ich das Bild von den Farbkompositionen verwendet, die für verschiedene Bedeutungs- oder Wertgestalten des Eros stehen können. Mit dieser Hilfsvorstellung läßt sich der Grundgedanke veranschaulichen, um den es hier geht: daß historisch veränderliche Fusionsgestalten aus den Spektralfarben oder Wertrichtungen des Eros entstehen.

Unter welchen Bedingungen geschieht dies? Lassen sich solche Bedingungen überhaupt angeben? Ich meine damit hier keine gesamtgesellschaftlichen oder gattungsgeschichtlichen Bedingungszusammenhänge, die uns von System- und Evolutions­theoretikern als feststellbar weisgemacht werden, und die uns erklären sollen, warum es in verschiedenen historischen Epochen zu dieser oder jener Art von kommunitären Bewegungen kommt, warum sie überleben (wie im Fall der Hutterer, die seit über 450 Jahren existieren) oder sich wieder auflösen (wie die Oneida-Perfektionisten). Nein, ich meine die Frage nach den konkreten Voraussetzungen etwa für Haltungen wie Brüderlichkeit, die ja nicht eigens gefordert werden müßten, wenn sie bei allen Menschen zur Charakterausstattung gehörten.

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Fraternitäres Verhalten und die zugehörige Motivation müssen jeweils erst gelernt werden, und um die Voraussetzungen für dieses Lernen geht es. Jeder weiß aus der Alltagserfahrung: Lernvorgänge sind Aneignungsvorgänge, und wenn ich Chinesisch, Traktorfahren oder Segeln lernen möchte, dann muß es die chinesische Sprache, Traktoren und Segelboote geben, die mir die Aneignung der zugehörigen Verhaltensweisen, ihre Einübung und allmähliche Verfeinerung ermöglichen. Ähnlich braucht unsere Liebesfähigkeit Aneignungs-Gelegenheiten, um sich entwickeln zu können. Werden sie ihr verweigert und bleiben unsere Lebens­verhältnisse hauptsächlich an den herrschaftsfrommen Abgrenzungen, an der Naturzerstörung und anderen Defekten unseres Pyramiden­systems orientiert, dann brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn die vorherrschenden Aneignungs­prozesse in unserer Gesellschaft dies im Bereich unserer Liebesfähigkeit getreulich wiederholen.

Anders gesagt: Die (natürlich von niemandem ausdrücklich so erlassenen) faktischen Rahmenrichtlinien des von den historisch entstandenen herrschenden Verhältnissen selbst ständig erteilten Unterrichts begünstigen zwar viele Lippen­bekenntnisse zur Nächstenliebe und zu brüderlich-solidarischem Verhalten, sie verweigern aber durch ihre reale Verfassung und durch die darin fortwährend belohnten Verhaltensweisen, Wünsche und Bedürfnisse die Gelegenheiten zur Aneignung oder Ausbildung dieses Könnens. Im bestehenden System bleibt daher unsere Liebesfähigkeit unentwickelt, und eine umfassend erneuerte Kunst des Liebens, die auch die Liebe zur Natur einschlösse, setzt vor allem umfassend erneuerte herrschaftsfreie Sozialstrukturen voraus.

Das auf Vereinigung oder Verbindung zielende Grundpotential des Eros kann sich, wie wir gesehen haben, in verschiedenen Bedeutungs- oder Wertrichtungen verwirklichen, die sich bildlich als Regenbogenfarben der Liebe auffassen lassen. Die Bindungen und Neuverbindungen können so weit reichen, daß derzeit getrennte Teilbezirke unseres Daseins, zum Beispiel religiöse, ökonomische, vitale (etwa sexuelle) oder politische Lebensbereiche neu zueinander finden, ähnlich wie die verschiedenen Regenbogenfarben, die vereinigt weißes Licht ergeben, sich zu verschiedenen Farbmischungen verbinden können.

Versuchsweise nehme ich in meiner erotischen Farbenlehre sieben Spektralfarben oder Wertrichtungen des Eros an, und ich verstehe dieses siebenfarbige Eroskonzept als eine poetische Ordnung. 

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Sie ist, wie es sich für eine fröhliche Wissenschaft ziemt, offen und unfertig, kein abgeschlossenes theoretisches System. Zugrunde liegt ihr eine Orientierung an den bekannten sechs Hauptdimensionen unserer Werthaltungen, wie etwa Dilthey und nach ihm Spranger oder Allport/ Vernon sie unterscheiden: Die theoretische, die religiöse, die soziale, die ästhetische, die politische und die ökonomischer Eine siebente, die vitale, läßt sich noch ergänzen, die mit Gesundheit und Wohlbefinden als Werten zu tun hat. Wollte ich diese Aspekte zusammenhängend und vollständig, womöglich mit allen Implikationen behandeln, so müßte ich hier die gesamte bisherige Kultur- und Geistesgeschichte der Menschheit rekapitulieren. Auf enzyklopädische Horizonte und Systembauten verzichtet aber fröhliche Wissenschaft gerade. Einer der Gründe dafür ist, daß sie auch noch außerhalb ihrer Veröffentlichungen handlungsfähig bleiben möchte. Zu ihren bevorzugten Darstellungsweisen gehört daher das Pars-pro-toto-Verfahren, bei dem stellvertretend für einen ganzen Fragenkomplex einige Beispiel­probleme herausgegriffen werden. Ihre vertiefende Untersuchung läßt sich ja bei Bedarf von Fall zu Fall verabreden.

 

 

Zum theoretischen Aspekt des Eros

 

Vor einiger Zeit geisterten Berichte aus der astronomischen Forschung durch die Zeitungen: da soll es im Kosmos irgendwo schwarze Schlünde geben, die alles verschlingen, was an Sternsystemen, Milchstraßen und Himmeln jemals entstanden ist. Angesichts der Entfernungen und Zeiten, von denen im gleichen Atemzug bei diesen Berichten die Rede war, und die unvorstellbare Ausmaße haben, verlieren diese schlürfenden Löcher jedoch etwas von ihrem Schrecken und wecken eher Neugier, ja sogar den Gedanken, ob sich womöglich bei rechtzeitiger Vorkehrung diesem Sog ins Nichts <etwas> entgegen­stellen läßt. Sollte dieses <Etwas> damit zu tun haben, daß wir die Schwarzen Löcher erkennen, von ihnen wissen und daher, zunächst geistig, mit ihnen umgehen können, beispielsweise indem wir diese Nachricht in Umlauf bringen? Vielleicht lassen die kosmischen Kräfte sich ja überlisten, behutsam steuern und so von ihrem Zerstörungswerk ablenken? Eine Menschheit, die Atombomben baut und zum Mond fliegt, Meßkapseln zum Jupiter schickt und das Klima auf ihrem eigenen Planeten verändert, warum sollte die nicht eines Tages imstande sein, die Erde selbst und andere Himmelskörper nach eigenem Willen zu bewegen, als Fahrzeuge zu lenken und kosmische Kettenreaktionen einzuleiten, die den Menschen sogar bei der Naturgeschichte zum Mitspieler machen?

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Ist das Alles-wissen-und-lenken-Wollen, das Verfugen über Geschichte und vielleicht sogar Naturgeschichte aber nicht eine Erscheinungsform des <Verfügungswahns>, der zur Herrschsucht gehört und ein Symptom der Pyramidenkrankheit darstellt? Gerade der Verzicht auf Totalaussagen und das Offenlassen von Zukunft, offen auch für künftige Generationen, eine neue Gelassenheit also, macht das Selbstverständnis der gelebten Utopien und ihrer herrschaftsfreien Netzlogik aus. Müßte dieser Haltung nicht eine dosiert agnostische Orientierung, jedenfalls aber eine poppersche Bescheidenheit im Bekenntnis zum Nichtwissen (und vielleicht sogar zum Nicht-wissen-Wollen) entsprechen? Einflüsterungen, die uns zum Mitspielen bei kosmischen Lenkmanövern oder bei der Steuerung von gattungsgeschichtlichen Prozessen verführen möchten, stammen aus der Pyramiden­sprache, die der praktische Humanismus nur noch rollenweise verwendet, etwa in didaktischer Absicht. Außer für jemanden, der buchstäblich die Weltherrschaft besitzt, sind derartige Steuerungen für niemanden verfügbar und können von der hier zugrunde liegenden Position her, die ja gerade auf Herrschaftsabbau zielt, auch niemals angestrebt werden.

Die Rolle eines Newton der Geschichtsgesetzlichkeiten ist lange Zeit Karl Marx angetragen worden, und erst allmählich scheint jetzt eine Art produktiver Dezentralisierung dieser Denkschule in Gang zu kommen, die den bunten Flickenteppich der Wirklichkeit nicht mehr mit einer hegelschen Überlogik zu einem Systemganzen zwangsvereinigen will. Die generationenlange Erhebung des <Proletariats> zum Tugendbock unzufriedener Intellektueller wird endlich desillusioniert, und ein neuer Realismus breitet sich bei kritischen Geistern aus: Andere Berufsgruppen treten als potentielle Bundesgenossen für die Einleitung gesell­schaftlicher Erneuerungs­prozesse ins Blickfeld.

An einem charakteristischen Grundgedanken des historischen und dialektischen Materialismus halten jedoch viele Theoretiker der alten Linken fest: Das philosophische Denken könne, meinen sie, stets nur die realen Bewegungen der Wirklichkeit selbst zum Bewußtsein bringen; jedes missionarische, appellative, fordernde und normsetzende Verhalten scheitere regelmäßig und müsse, als idealistische Bewußtseins­fehlhaltung, in die Irre gehen. Steckt aber nicht im scheinbaren Realismus dieser Position ebenfalls ein geistiger Entwurf zum Verständnis der Wirklichkeit, letzten Endes also auch ein normatives Moment, ohne dessen Mitwirkung die stets vieldeutige Realität gar nicht identifiziert und auf <reale Bewegungen hin befragt und abgesucht werden könnte?

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 Und außerdem: müßte ein solcher Realismus in Aufsätzen und Büchern öffentlich angeraten werden, wenn er die allseits verbreitete Haltung wäre? Wer appellative Sollensforderungen herunterkanzelt, fordert der nicht seinerseits eine bestimmte Haltung: eben die der illusionslosen, nüchternen Orientierung an dem, was <ist>, statt an dem, was <sein soll>?

Wer im Bewußtsein immer nur das bewußt werdende Sein sehen möchte, erinnert der nicht an den König von Exuperys <Kleinem Prinzen>, der in seiner großen Weisheit immer nur das anordnet, was sowieso passieren wird? Zum Beispiel befiehlt dieser König an jedem Morgen der Sonne aufzugehen; er tut es aber genau in dem Augenblick, in dem sie nach der Berechnung seiner Astronomen am Horizont erscheinen muß.

Wird unsere Begabung zur Kreativität beim Übertragen einer am Modell der Naturwissenschaften abgelesenen Erkenntnislogik auf Geschichtsprozesse nicht grundlegend fehleingeschätzt? Sie überläßt unsere Lebenswirklichkeit allzu fatalistisch den skrupellosen Geschichte-Machern und Irre-Führern. Oder soll, nach dieser Position, Hitler etwa ein Naturereignis gewesen sein wie der Aufgang einer blutigschwarzen Sonne, nicht zu verhindern, Kismet, Schicksalsfügung der großen Weltmaschine, gegen die anzurennen nur kindisch sei?

Unsere Fähigkeit, <neue Kausalketten anheben zu lassen> (Kant), macht Geschichte erst zu einem kreativen Prozeß. Diese Erkenntnis ist jedoch nur gültig, indem sie praktisch wird; indem sie sich nimmt, wovon sie behauptet, daß es sie gibt: unsere Freiheit. Jede Theorie der Freiheit ist auf ihren praktischen Vollzug angewiesen: im Rückgriff, im Vorgriff und im Zugriff. Im Rückgriff auf Beispiele praktizierter Selbstbestimmung, einschließlich ihrer gescheiterten Versuche; im Vorgriff, als Bedingung der Möglichkeit von Projekten zur Erweiterung unserer Selbstbestimmung; im Zugriff, als hier und jetzt wahrgenommene Gelegenheit zum erneuernden Handeln.

Herrschaftsfreiheit im theoretischen Verhalten bedeutet Verzicht auf Systemphilosophien, die für das Ganze von Universum und Geschichte durchgängige Gesetzmäßigkeiten konstruieren wollen. Eine praktische Konsequenz aus dieser Haltung besteht darin, unser Handeln nicht auf Globaltheorien zu gründen und auch <aufs Ganze gehende> Weltver­besserungspläne nicht mehr zu entwerfen, sondern in Alternativprojekten bewußt partikular anzusetzen, mit gezielten Verweigerungen gegenüber den historisch entstandenen Makro­strukturen und ihren Vereinnahmungs­tendenzen.

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Nicht der Verzicht auf wissenschaftliche Partikular-Erkenntnisse ist hier gemeint, sondern der Widerstand gegen ihren Mißbrauch im Dienst von Herrschaftsausübung. Ich halte es in diesem Zusammenhang für fahrlässig-ungenau, dem naturwissenschaftlichen Denken die Schuld an der Weltmisere zu geben, wie das viele Geisteswissenschaftler immer wieder tun. Als ob es vor dem Aufkommen der Naturwissenschaften keine Unterdrückung, keine Hexenverbrennungen und keine Verkrüppelung von Menschen zu bloßen Arbeitssklaven gegeben hätte. Herrschaftsinteressen machen sich zwar die empirischen Methoden der Natur­wissen­schaften zunutze. Aber auch der Mörder macht sich das Messer zunutze; ist das Messer also schuld am Vorkommen von Mord und Totschlag oder, in einem anderen Beispiel: das Fieberthermometer am Fieber? Zur Beruhigung derer, die sich vor Messern, vor dem Messen und vor dem Rechnen fürchten: ein neues Selbstverständnis der Naturwissenschaften bereitet sich derzeit vor, z.B. bei Theoretikern wie Prigogine. Danach ist die Natur kein Automat, dessen Verhalten sich vollständig vorherberechnen läßt, sondern sie steckt ebenso voller Überraschungen, voller Offenheit und nichtumkehrbarer Zeit wie die menschliche Geschichte. Wir stehen der Natur dieser dialogischen Auffassung nach (die sich schon bei Goethe findet) nicht als kalte, objektivierende Beobachter und Vivisekteure gegenüber, sondern erfahren uns selbst als einen Teil von ihr.

Mit der agnostischen Orientierung (unserer neuen <docta ignorantia>) wollen wir es also nicht übertreiben; die beim Herstellen des Neuen notwendige Regression gleitet sonst leicht ins Atavistische ab. Den damit verbundenen Verlust der kritischen und wissenschaftlichen Intelligenz suchen kreative Neuansätze wie Twin Oaks oder das MNS-Netzwerk in den USA gerade zu vermeiden. Modelle sozialer Innovation können sie auch nur dann sein, wenn sie den zeitgenössischen Stand der Wissenschaften und der auf ihnen beruhenden Technologien kritisch-konstruktiv einbeziehen in ihre Projekte.

<Kritisch-konstruktiv einbeziehen> heißt, daß die neuen, ökologisch orientierten Alternativen zur naturzerstörenden Wissenschaft und Technik aufmerksam genutzt und weiterentwickelt werden. Kritisch-wissenschaftliches Denken wird dabei gleichsam <erotisiert>, und nur in diesem Verbund bleiben Wissenschaften und theoretisches Denken erhalten in den Neugründungen der gelebten Utopien. In vereinfachender Gegenüberstellung: Viele Kommunen, vor allem Rückzugs-Kommunen, bauen zu einseitig auf theorie- und reflexionsunlustige <Liebe> in atavistischer Regression.

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Viele <Kommunisten> bauen zu einseitig auf eindimensional verkürzte <Vernunft> in Gestalt lebensfeindlicher Wissenschafts- und Bürokratierituale. Liebe ohne Vernunft wird zu etwas Blindem, Vernunft ohne Liebe zu etwas Totem. Erst die Verbindung aus beiden: lebendige Wissenschaft und ein aufgeklärter Eros, erkennende Liebe, sind Bausteine von Alternativen, aus denen unsere Gesellschaft sich erneuern kann.

 

Brauchen wir angesichts der <letalen Zivilisation> wie George Wald in einer Ansprache an die Nobelpreisträger unseren selbstmörderischen Weltzustand genannt hat, brauchen wir zur Rettung des Lebens auf unserer Erde nicht eine Bewegung, bei der alle <Wissenden>, also auch die Wissenschaftler eine <geradezu religiöse Funktion> (George Wald) übernehmen, um die drohenden Katastrophen verhindern zu helfen? Müssen wir nicht alles daransetzen, unsere Erkenntnisse über Zusammenhänge zwischen ökologischer Krise, Großkapital, Wettrüsten und Pyramidenstrukturen wirksam werden zu lassen bei der Einleitung praktischen Handelns gegen diese Selbstzerstörungs-Maschine? Und muß das nicht mit gänzlich anderen Mitteln geschehen, als alle bisherige Aufklarung sie verwendet hat? Die Flut der (jedermann zugänglichen) Informationen, Analysen, kritischen und beschwörenden Aufsätze, Reden, Filme und öffentlichen Veranstaltungen: was bewirkt sie tatsächlich? Macht sie die Menschen betroffen, erreicht sie die Herzen und den Willen großer, ins Gewicht fallender Mehrheiten unserer Bevölkerung? Nein, sie tut dies nicht; ein großes Verdrängen findet statt, und nur kleine Minderheiten erheben bisher wie George Wald ihre Stimme gegen die allgemeine Apathie.

 

Wie also läßt dieser tödliche Schlaf mit offenen Augen sich beenden? Müssen wir nicht wachmachende, bis in Tiefenschichten hinein wirksame Posaunenstöße oder zeichengebende Impulse neuer Art ersinnen, herstellen und verbreiten – in allen Weltsprachen und mit konkreten Vorschlägen zur Selbstorganisation von Widerstandsgruppen, die gegen die drohende Zerstörung unserer Lebensgrundlagen an ihrem Ort den Kampf aufnehmen? Bereitet sich zur Zeit nicht ein noch viel entsetzlicherer <Holocaust> vor als der mit den Naziverbrechen begangene? Sind wir nicht alle längst dabei, in die Güterzüge zu steigen, die uns zu neuen, bisher nur von Minderheiten erkannten Vernichtungsanlagen transportieren?

Viel zu wenige setzen sich gegen diesen Transport in den Untergang zur Wehr. Die große Mehrzahl der Menschen läßt dies alles einfach widerstandslos mit sich geschehen. Warum?

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Weil niemand von den vielen diese Vernichtungsstrategie erkennen will, zu der es ja auch, anders als beim NS-System, keinen Hitler oder Himmler gibt, keine herrschende Clique, aus deren Willen dies alles entspränge. Es gibt nur die zahllosen, ihre <Pflicht> tuenden oder auch ihrem geschäftlichen Vorteil nachjagenden Menschen, von denen keiner vorsätzlich andere Menschen vernichten will.

Die Verpestung der Welt mit Industriegiften, der massenhafte Unfalltod, die vielen Krebsleiden: diese schleichende und daher im ganzen gar nicht wahrnehmbare, schon jetzt beinahe ungehemmt arbeitende, lautlose Vernichtung von Leben durch menschen­gemachte Einrichtungen und Maschinen — sie wird von <niemandem> angeordnet, geplant oder gewollt. Sie geschieht einfach, als entsetzliche Folge einer allmählich aus allen Rudern laufenden, selbsterzeugten und doch so von niemandem bewußt gesteuerten Entwicklung. Sie überhaupt wahrzunehmen ist das erste, worum wir uns bemühen müssen. Sie zu verstehen, ihre Bedeutung zu erfassen, ist der nächste Schritt. Die deutende Selbsterkenntnis ist dann Voraussetzung für das Dritte, Wichtigste: die neue Selbstgestaltung, die zur Veränderung der Verhältnisse führen kann. Sie kann dies, wenn sie als gelebte Utopie Deutung verkörpert und so für andere glaubwürdig erfahrbar macht; wenn sie Modell, Beispiel, Demonstration der Gültigkeit, wahrnehmbare Verdichtung neuer Möglichkeiten: wenn sie <Symbol> der Erneuerung unserer Lebensverhältnisse ist. Dies meinte ich unter anderem, als ich von neuartigen zeichengebenden Impulsen sprach, die bis in unsere Tiefenschichten hinein wirksam werden können: ich interpretiere die domistischen Bewegungen und gelebten Utopien oder <Archen> in diesem Sinne auch als Symbole, die uns bei der Deutung unserer Situation behilflich sein können; sie lassen sich als Gegen-Symbole auffassen, mit denen wir dem tödlichen Bann der <letalen Zivilisation begegnen können.

Ist es erlaubt, das grauenauslösende Bild vom Transport in den Untergang und sogar das grauenhafte reale Geschehen des Holocausts selbst auch in dieser symbolischen Weise zu sehen? Ich glaube, diese deutende, Ereignisse als Symbole erlebende Sichtweise, die das kausalgenetische Erklären um die Dimension des Sinnverstehens erweitert, ist für den Entwurf handlungs­wirksamer Alternativen unerläßlich. Sie zielt auf unseren Willen — eine in der zeitgenössischen Diskussion Überwiegend verpönte oder zumindest fahrlässig vernachlässigte Instanz unserer psychischen Ökonomie, auf deren verhängnis­volle Diffamierung ich im Abschnitt über die <Pyramidenkrankheit> schon kurz eingegangen bin. Tiefenschichten und Tabubezirke unserer Existenz werden berührt, sobald wir uns der Holocaustwirklichkeit auf der Symbolebene aussetzen, wo sie Angst, Schrecken und Grauen auslöst.

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Die <wissenschaftliche> kritische Analyse drängt diese Erlebnismomente beiseite, tritt vermutlich in vielen Fällen sogar mit aus diesem Grund an die Stelle der Symbolerfahrung und bleibt daher auch folgenarm für unser Handeln. Aber nicht nur wegen der zu gewärtigenden Angst gehört Überwindung zur Begegnung mit der Holocaustrealität als Symbol. Sie als Symbol zu erfahren, bedeutet ja auf der Erkenntnisebene auch, durch die Angst und das Grauen hindurch nach dem Sinn der Ereignisse zu fragen, die jene existenzielle Betroffenheit in uns auslösen. Und erleben wir nicht schon die Frage nach einem möglichen Sinn des Holocausts als eine Art Sakrileg? Denn welchen <Sinn> kann ein solches massenhaftes Sterben überhaupt haben? Führt diese Frage nicht notwendig zu der Vorstellung, daß hier nur die umfassendste Negation jeglicher Art von Sinn dem Geschehen gerecht wird?

Vielleicht war es eine solche oder eine ähnliche Vorstellung, die Adorno zu seinem bekannten Ausspruch mit bewegte, nach Auschwitz seien keine Gedichte mehr möglich. Wer darin aber das letzte Wort über die Frage nach dem Sinn der Vernichtung von Menschen durch Menschen sieht, der ist, wie ich meine, selbst auf die Seite des Todes übergelaufen. Er bedenkt nicht, daß mit jedem Neugeborenen und auch mit jedem Gedicht ein Gegenpotential zu den Mächten, die Zerstörung anrichten, auf die Welt kommt. Er vergißt, daß unsere Liebesfähigkeit durch die geschichtlichen Ereignisse unseres Jahrhunderts nicht nur abgewürgt, sondern auch in einem so vorher nie dagewesenen Maße herausgefordert wird.

In dieser Richtung, meine ich, können wir den Versuch wagen, nach dem Sinn unseres Wissens von der Vernichtung zu fragen, für die Ortsnamen wie Auschwitz, Hiroshima, Dresden und My Lai stehen. Nicht das massenhafte Sterben selbst, aber unsere Erinnerung daran kann diesen Sinn erhalten (und indem wir uns erinnern, bilden wir ja Symbole für das schier Unvorstellbare): den Sinn, Einsicht zu bewirken, indem wir uns wiedererkennen in diesem Vernichtungsprozeß, wiedererkennen als Opfer und als Handlanger der Zerstörungs­maschinerie. Wir sind immer beides, und die an den genannten Orten in ungeheurer Übersteigerung geschehenen Dinge dauern ja an: In unserer letalen Zivilisation werden immer noch Minderheiten ausgeschlossen und verfolgt (Zigeuner, Kurden, unlängst in Vietnam: Chinesen); immer noch gehorchen Ingenieure, Sachbearbeiter, Beamte, Telefonistinnen und Bankangestellte überall selbstverständlich

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nur ihren jeweiligen Vorschriften und Chefs; die internationalen Wirtschaftsgiganten sind ungewollt mit der lautlosen Vernichtung von Leben beschäftigt, indem sie Millionen von Handlangern für sich arbeiten lassen, die alle an ihrem kleinen Platz nichts tun als ihre Pflicht. Dann sterben Säuglinge, wird lebensgefährliches Plutonium angehäuft, die Milch vergiftet, bei Autounfällen auf den landschafts­zerschneidenden Straßen kommen jährlich Hunderttausende auf der Welt um. Man nennt dies bekanntlich den Preis für den Fortschritt, und er besteht nicht nur im unmittelbaren Töten, sondern viel heimtückischer: im allmählichen Vergiften und schleichenden Zerstören unserer körperlichen und seelischen Gesundheit, unseres Selbstwertgefühls und unseres Willens. Alle diese Leiden sind der Preis für eine Lebensordnung, deren fortdauernde Selbstbeweih­räucherung durch ihre Wortführer sich als ein ungeheurer Selbstbetrug erweist. Dieser Betrug ist nicht nur ein moralisches Problem; er kostet vielmehr eine Menge Geld, denn Alkoholismus, Arbeitslosigkeit, Jugendkriminalität, Drogenkonsum, berufsverursachte Krankheit und Invalidität, Lebensmittel- und Umweltvergiftung, Wettrüsten und die unzähligen Planungspannen unserer Bürokratien verursachen astronomisch anwachsende Kosten. Was ließe sich mit einem Bruchteil dieser Unsummen an Neuentwicklungen und grund­legender Kursänderung bewirken!

Der theoretische Aspekt unserer Liebesfähigkeit hat es also mit dem Erkennen und dem Sinnverstehen in weitreichender Bedeutung zu tun. Erkennen wir den Zusammenhang zwischen anderen Menschen und uns selbst, verstehen wir den Sinn des Verbunden- oder <Eins-seins> mit ihnen, erkennen wir uns wieder in anderen, so daß wir füreinander als Geschwister erfahrbar werden? Je nach dem Bedeutungsganzen, von dem her wir selbst uns und andere verstehen, werden wir unser Verbundensein in verschiedenen Symbolsprachen ausdrücken. Wir können uns in biblischer Tradition als <Kinder Gottes> erfahren, unsere Geschwisterschaft aber auch aus anderen Welt- und Selbstdeutungen herleiten, und diese Sinnhorizonte verweisen bereits auf religiöse Aspekte des Eros.

Indem wir sein Aufklärungsmoment entfalten, können wir die verschiedenen Symbolsprachen, die uns als Brüder und Schwestern erscheinen lassen, im Sinne von Lessings Ringparabel im <Nathan> deuten: keine dieser Symbolsprachen darf sich absolut setzen, und der einzige Streit, den wir zwischen ihnen für erlaubt halten sollten, ist der Streit um die richtige Leere: gegen Kernenergie, gegen Naturzerstörung und gegen unqualifiziertes Wachstum, gegen hemmungslose

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Bevölkerungsvermehrung, gegen Luft-, Wasser- und Gemüsevergiftung, gegen Hunger und Wettrüsten kann ich sein, auch wenn ich den Sinn dieses Kampfs von sehr unterschiedlichen Legitimationstheorien her auslege. Vielleicht hängt das damit zusammen, daß es bei den meisten dieser Weltprobleme um elementare biologische Bedingungen unserer Existenz geht und damit um Voraus­setzungen jeder menschlichen Kultur. Wenn ich nicht mehr atmen kann, also den für mein physisches Überleben notwendigen Sauerstoff nicht mehr erhalte, dann ist es zur Lösung dieses Problems ziemlich gleichgültig, ob ich atme, um als Christ, als Marxist, Buddhist, Anthroposoph, Castaneda-Anhänger oder als Hindu zu leben.

Natürlich geht unsere Existenz nicht auf in den elementaren Voraussetzungen des Überlebens. Der Sinn unseres Lebens besteht nicht darin, Sauerstoff aufzunehmen. Sinnfragen können aber überhaupt erst gestellt und erörtert werden, wenn den Menschen nicht die elementaren Voraussetzungen zum menschenwürdigen Überleben weggenommen werden. Vielleicht sollten wir uns tatsächlich für eine Weile weltweit darauf konzentrieren, diese Elementarprobleme zu lösen und dabei weltanschauliche Enthaltsamkeit in dem Sinne zu üben, daß wir nicht versuchen, uns gegenseitig auf nur eine Deutungs-Logik festzulegen. Die Preisgabe des Anspruchs auf Allgemeingültigkeit für eine und nur eine <alleinseligmachende> Lehre verstehe ich hier als die »richtige Leere>. Sie begünstigt praktische Toleranz. Gegenüber der alten Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert haben wir heute den Vorteil (wenn man das einen Vorteil nennen kann), weltweiten Problemdruck als Hilfsmotivation für die damals schon formulierten Ziele liberté, égalité, fraternité zu erfahren. Diesen Problemdruck zu erkennen und bewußt zu machen, gehört zu den Wirkungsbedingungen von Modell-Einrichtungen, wie sie uns in gelebten Utopien vor Augen stehen. Zur Liebesfähigkeit, die sich in ihnen verwirklicht, gehört das Wahrnehmen, Erkennen und Verstehen unserer Lebensverhältnisse; es gehört dazu die Zusammen­schau des Getrennten, aber auch die Achtung vor fremden Sinngebungen, ohne die es keine dialogische Liebe gibt: alle Farben zusammen machen erst das Licht.

 

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Zum religiösen Aspekt des Eros

 

Wo die Liebe als weltdurchdringende Energie aufgefaßt wird, die <alles> zusammenhält und <die Sonne und die anderen Sterne bewegt> (Dante), dort begründet sie ein umfassendes Seinsvertrauen, das

religiösen Charakter trägt. Wo unsere Liebe dieses Moment betont, fühlen wir uns <eins> mit dem Universum und verbunden mit allen Menschen.

Wir verwenden unterschiedliche Symbolsprachen, um uns über diese allumfassende Wirklichkeit zu verständigen. Wenn wir Ernst machen mit der im vorigen Abschnitt befürworteten Dialogbereitschaft, dann lassen sich Schlüsselsymbole aus der Vorstellungs­welt der einen Sprache näherungsweise übersetzen in andere Sprachen. Ein Beispiel: was die traditionelle biblische Symbolsprache als Inhalt ihrer Gottesvorstellungen nach <außen> verlegte, begegnet uns in der Sprache der zeitgenössischen Tiefenpsychologie als innere Realität, etwa als archetypischer Inhalt eines <kollektiven Unbewußten> bei C. G. Jung. Viele Menschen sind heute eher bereit, sich über ihre religiösen Selbstdeutungen in der Sprache einer solchen Psychologie zu verständigen als in der traditionellen biblischen Symbolsprache.

Sagt die Bibel <Und Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn> (1. Mose 1.27), so wird damit dem Menschen ein entscheidender Wesenszug zugeschrieben, der gleichzeitig als eine Eigenschaft Gottes in diesem Ausspruch erkennbar wird: das Schöpfertum. Als Schöpfer wird Gott hier dargestellt, und der Mensch ist demnach  <ihm zum Bilde>  auch in der biblischen Symbolsprache zu Innovationen fähig und berufen. Er ist zur <Kreativität> begabt, sagt die Psychologie. Eine wiederum andere Sprache, die Sprache der Ideologie- und Religionskritik gibt diesen entscheidenden Inhalt keineswegs preis, versteht ihn aber in einem anderen Sinn; auch für sie ist der Mensch seinem Wesen nach schöpferisch. Wahrhaft produktiv wird er aber vor allem im Zusammenspiel mit anderen Menschen. Indem wir uns mit anderen verbinden, bringen wir all das hervor, was uns überhaupt erst zu Menschen macht: unsere wechselnden Existenzformen, unsere Kulturen, unsere Geschichte, ja sogar unsere Gottesvorstellungen.

Auch in diesen wenigen und sehr unvollständigen Hinweisen wird deutlich, daß ein gemeinsamer Kerngedanke den verschiedenen Symbolsprachen zugrunde liegt, wenn sie ihr Menschenbild zeichnen: die Vorstellung, daß der Mensch seinem Wesen nach schöpferisch ist. Diese Begabung zur Innovation macht auch Geschichte erst möglich, wie wir gesehen haben. Sich mit anderen zu verbinden, um größere Einheiten oder Gemeinschaften zu bilden, von denen Erneuerung ausgeht: damit läßt sich ein Grundzug des Eros umschreiben.

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Daß wir immer in Verbindung mit anderen Menschen, also gesellschaftlich leben, wußte man auch schon in der Antike, und Aristoteles bestimmte daher den Menschen als <zoon politikon>. Die politische Logik der damaligen Gesellschaften, die allesamt auf Herrschaft beruhten, jedoch gleichzusetzen mit der Natur gesellschaftlicher Existenz überhaupt, erscheint auf dem Hintergrund unserer historischen Erfahrungen mit Staat und Herrschaft als zeitgebundene und revisionsbedürftige Position. Sie läßt das Moment des Schöpferischen außer acht, das im Geschichts­prozess beispielsweise zur Abschaffung der Sklaverei führen kann (für Aristoteles war Sklaverei noch in der Natur des Menschen begründet).

Beziehen wir das Moment des Schöpferischen mit ein in unser Menschenbild und deuten es gleichzeitig im Sinne des Eros-Konzepts, wie es hier entworfen wird, dann läßt sich anstelle von <zoon politikon> vielleicht besser von <zoon erotikon> sprechen. Der Mensch ist danach das liebesfähige Wesen mit Geschichte. Da Liebesfähigkeit hier stets auch als Fähigkeit zum Eingehen von Verbindungen verstanden wird, schließt dieser Ausdruck die gesellschaftliche Natur unserer Existenz mit ein, legt sie aber nicht auf eine bestimmte Gestalt und schon gar nicht auf herrschafts­orientierte (pyramidenförmige) Staaten­bildung fest.

In der philosophischen Rechtfertigung der Pyramidenstruktur unserer politischen Tradition sehe ich ein Stück unmenschliche Anthropologie, die den Menschen auf Herrschaft festzulegen und seine Liebesfähigkeit zu mißbrauchen oder zu zerstören hilft. Indem wir unsere Liebesfähigkeit und unsere damit zusammenhängende Begabung zur Kreativität und Geschichte verleugnen (in traditioneller Symbolsprache ausgedrückt: indem wir <Gott> verleugnen), unser eigentliches Wesen also nicht wahrhaben wollen oder annehmen können, bleiben wir Gefangene der herrschenden Festlegungen. Unser Liebes- und Innovations­potential kann dann in Bruchstücke aufgespalten, aus dem Bewußtsein abgedrängt und bis zur Unkenntlichkeit deformiert werden. Ich führe einige Beispiele an, bei denen zu vermuten ist, daß ein unterirdischer, nicht durchschauter Zusammenhang zwischen dem manifesten Verhalten, also den an der <Oberfläche> unseres Bewußtseins sich abspielenden Prozessen und weniger bewußten (Freud oder Jung würden sagen: unbewußten) Tiefenschichten unserer Existenz besteht, und zwar vor allem ein Zusammenhang mit abgedrängten religiösen Momenten des Eros. Ich beschränke mich auf hypothetische und skizzenhafte Überlegungen, denen bei anderer Gelegenheit ausführlicher nachzugehen wäre.

Warum treffen denn grundlegende Erneuerungsversuche oft auf so hartnäckigen Widerstand, auch und gerade, wenn sie darauf zielen,

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Pyramidenstrukturen abzubauen und freiere, gerechtere und lebensfreundlichere Verhältnisse herzustellen? Ich habe diese Widerstände schon mehrfach erwähnt und zu zeigen versucht, daß es Ängste gegenüber tiefreichenden Veränderungen sind, die bei diesem Widerstand entscheidend mitwirken. Unseren Ängsten liegt aber zuletzt fast immer eine Angst vor Trennung zugrunde. Verbunden bleiben zu wollen, auch mit den falschen Haltevorrichtungen, ist eines der mächtigsten Motive unseres psychischen Lebens. Kein Wunder: dieses Motiv ist ein Teilmotiv des Eros, und zwar eines blinden Eros, der seine Anklammerungen an zerstörerische Ordnungen und Instanzen nicht wahrhaben will oder kann. Er kann dies oft nicht, weil es eine bereits durch die herrschenden Verhältnisse selbst verursachte Erkenntnis- und Willensschwäche ist (Mitscherlich spricht von <hergestellter Dummheit>), die sich den falschen Halt mit ihren Anlehnungen sucht.

So wollen heute viele Menschen nicht wahrhaben, daß uns Katastrophen von planetarischem Ausmaß bevorstehen, wenn wir weitermachen wie bisher. Daß Menschen sich eine trügerische Sicherheit vormachen, auch und gerade wenn sie existenziell bedroht sind, dafür gibt es zahllose erschütternde Beispiele in unserer Geschichte. Nicht einmal die Führer der jüdischen Emigrantengruppen in London haben 1942/43 für möglich gehalten, was doch schon grausige Wirklichkeit der antisemitischen Verbrechen war. Warnende Informationen und Schreckensnachrichten wurden anfangs als unglaubwürdig zurückgewiesen  man wollte sie nicht zur Kenntnis nehmen.

Das unvorstellbar Grauenhafte, aber auch seine Gegenzustände, alle Extremverhältnisse also, scheinen tiefreichende Ängste und Abwehrreaktionen in uns aufzurühren, die uns daran hindern, die Hölle (aber auch ihre Gegenwelten) als etwas Wirkliches anzuerkennen. In dieser Abwehrbereitschaft könnte, nebenbei angemerkt, einer der Gründe dafür liegen, daß <Gottes­erfahrungen> so überaus selten sind und in der Regel als Wahnsinn gedeutet werden: Eher zweifeln wir an unserer geistigen Gesundheit, als daß wir unsere Erfahrungen im Bereich solcher Grenz- und Extremzustände für realitätsbezeugend halten: muß es sich nicht um bloße Einbildungen und Hirndefekte handeln? Auf diese Weise werden ganze Wirklichkeitsbereiche zugedeckt, verleugnet, aus dem Verkehr gezogen. Nur war die Ermordung von Juden und anderen Minderheiten im Dritten Reich eine entsetzliche Realität. Und das andere Extrem?

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Vielleicht gehört ein mittlerer Dämmerzustand, eine Art Schläfrigkeit in wesentlichen Daseinsfragen, zu den Lebensbedingungen unserer Gattung. Anders ist die zuverlässige Ignoranz gegenüber der Wirklichkeit von <Höllen> (und <Himmeln>) eigentlich schwer zu erklären. Dieser Schlaf muß eine wichtige Abschirmfunktion haben. Sind wir wirklich meistens so schwach, daß wir die Realität dieser beiden Zustände anders nicht aushalten?

Diese Schwäche, das Fehlen eines zur Selbstbestimmung tauglichen Willens, liegt wohl auch den meisten Bindungen an herrschende Götzen und Idole zugrunde. Sind nicht beispielsweise einige der letzten Götter, an die heute noch ernsthaft geglaubt wird, ohne daß sie so genannt werden, die Haupt- und Nebengottheiten unserer Ökonomie, die alle Funktionen einer <religiösen> Orientierung übernommen haben? <Alles> dreht sich um sie, <alles> wird von ihnen durchdrungen, der Sinn aller Dinge scheint letztlich mit wirtschaftlichem Wachstum und Gedeihen zusammenzuhängen, und ökonomische Argumente bringen leicht jedes Widerwort gegen die geheiligte Religion des Habens (Erich Fromm) zum Schweigen.

Bankpaläste und die Zentralen der Multis sind ihre zeitgenössischen Tempelanlagen, Konzernbeamte und die Funktionäre der Wertpapiermärkte ihr moderner Klerus. Vermögensbildung, Rendite und neuerdings Konsum sind es, auf die sich das Sinnen und Trachten der Angehörigen dieser modernen Religion richten, die angeblich keine Götter mehr kennt, und die doch die Macht und die Filialmächte des Kapitals so anbetet, wie in früheren Zeiten nur veritable Götter mit anderen Eigennamen angebetet worden sind. Unser Zeitalter ist also keineswegs irreligiös; es hat nur eine besondere Religion, die niemand so nennt, die aber doch das Leben der meisten Zeitgenossen genauso umfassend prägt, wie nur je eine andere Hochreligion es zu ihrer Blütezeit bei ihren Angehörigen tat. Wäre es nicht konsequent, diese herrschende Religion auch offiziell als Konfession zu bezeichnen?

Daß religiöse Motive unerkannt eingewandert sind in unsere ökonomischen Denkweisen und Verhaltensformen, läßt sich vielleicht auch aus einigen Nebentönen der jüngsten weltweiten Energiediskussion heraushören. Verweisen nicht Nebengeräusche der vorder­gründig ausgesprochenen Sorge um ausreichende Energiereserven auf eine Tiefendimension, in der eine beklemmende Angst vor dem Verlust von heilig gehaltenen Sicherheiten aufkommt? Symbolisiert sich in der Angst um Energie­sicherung von dorther nicht vielleicht eine weiterreichende, bislang aber noch nicht allgemein bewußt gewordene Sorge, der unser Seins­vertrauen selbst erschüttert scheint? Die Intensität und Leidenschaftlichkeit, mit der diese neue Grenz- und Endlichkeits­erfahrung die Gemüter bewegt, könnte daraufhin­deuten, daß hier falschen Göttern der Lebensgeist auszugehen droht, der aber ohnehin ein gestohlener, von seiner ursprünglichen Quelle abgedrängter und bis zur Unkenntlichkeit maskierter Lebensgeist ist.

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Grenz- und Ohnmachtsgefühle hat es zwar auch bisher schon immer für viele Menschen, zumal benachteiligte, gegeben. Deren Eingeschränktsein hat aber unter den <oben>, im Licht Sitzenden kaum jemanden ernstlich gekümmert. Dieses Licht droht jetzt zum ersten Mal in der Geschichte auszugehen auch für diejenigen, die immer verstanden haben, sich das Öl für ihre Lampe zu beschaffen und zu sichern. Zum ersten Mal in unserer Geschichte scheint es weltweit auch für Privilegierte so etwas wie die Erfahrung zu geben, an Grenzen zu stoßen. Ein unbehagliches Gefühl, das schon bei der ersten Energiekrise 1973 mit ihren tageweise leergefegten Straßen einen leicht gespenstisch-numinosen Einschlag hatte. Aber auch eine Chance, denn ein neues Endlichkeits­bewußtsein, dessen Vorboten solche menetekelartigen Signale sein könnten, wäre ja eine unerhörte Heraus­forderung unserer Fähigkeit zur Erneuerung unserer Lebensverhältnisse.

In den gelebten Utopien begegnen uns Modelle solcher Erneuerung. Gemeinwesen wie der Bruderhof, die <Farm>, Koinonia oder der Laurentiushof sind ausdrücklich spirituell orientiert. Sie verkörpern umfassende Liebeshaltungen, denen bei allen Unterschieden in der Lehre das Bewußtsein zugrunde liegt, daß wir letztlich <eins> sind mit dem Kosmos und allen seinen Bewohnern.

 

Die Anfänge der christlichen Bruderhof-Gemeinwesen in den USA und in England gehen auf die zwanziger Jahre zurück, als der deutsche Theologe Eberhard Arnold mit seiner Frau und einigen Freunden in einem hessischen Dorf eine Kommunität gründete.24 Dieser <Rhön-Bruderhof>, zu dem auch ein kleiner Verlag gehörte, mußte in den dreißiger Jahren wegen seiner konsequent-pazifistischen Grundhaltung im Deutschland der Gestapo aufgegeben werden. Alle Mitglieder flohen damals zuerst nach England; nach dem Kriegsausbruch 1939 übersiedelte die Gruppe nach Paraguay. Seit den fünfziger Jahren leben die inzwischen fast tausend Bruderhof-Angehörigen in drei kibbuzartigen Siedlungen in Nordamerika und einem englischen Bruderhof. Die ökonomische Hauptgrundlage ihrer Existenz ist eine für ihre besondere Qualität bekannte Spielzeug-Produktion. Ähnlich wie die Hutterer, denen sie sich sehr nahe fühlen, praktizieren die Bruderhofleute vollständige Gütergemeinschaft nach dem Muster der urchristlichen Gemeinde von Jerusalem.

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Das Charakteristische am Bruderhof ist, daß sein Hauptheiligtum nicht eine bestimmte Stätte oder ein Buch oder sonst etwas dergleichen ist, sondern das Gemeinwesen selbst. Das Heilige unterscheidet sich vom Profanen auch nach der Auffassung des Bruderhofs durch seine spirituelle Qualität, die etwas grundsätzlich anderes ist als alle Eigenschaften der profanen Wirklichkeit: sie besteht darin, daß – wie im Bruderhof gesagt wird – der <Geist Gottes> wie ein Geschenk über die Gemeinde kommt. Dieser Geist kommt und geht, wie er will; die Eigenschaft des <Heiligen> ist also nichts ein für allemal Gewisses, wie es die verläßlichen Eigenschaften der alltäglichen Dinge sind.

Es hat immer wieder in der Geschichte Versuche gegeben, diesem Kommen und Gehen des Geistes, seiner Unverfügbarkeit also, eine feste Gestalt zu geben: dem Heiligen sozusagen eine dauernde Bleibe, ein Haus zu verschaffen. Wo das – wie immer unvollkommen – gelingt, da entsteht so etwas wie eine Kirche, als feste Einrichtung zur Zähmung und Einfriedung des Geistes. In gewissem Sinne betrachtet auch der Bruderhof sich selbst als <Kirche>: als ein Gefäß für den Heiligen Geist auf Erden. Aber der Bruderhof ist sich bewußt, daß dieser Geist nicht verfügbar ist; man kann ihn niemals <haben> als Besitz; er bleibt Geschenk oder, in religiöser Sprache, er bleibt <Gnade>.

Es gibt und gab durchaus auch Krisen im Bruderhof, die sich aus Spannungen, unterschiedlichen Auffassungen und Konflikten zwischen Mitgliedern nähren. Sie betrachten solche – wie sie meinen – unvorhersehbaren schmerzvollen Erfahrungen mit sich selbst als einen weiteren Beweis für die grundsätzliche Nichtverfügbarkeit der Zukunft durch menschliche Planung. Nach Meinung des Bruderhofs zeigt sich darin, daß es auf das vorsätzliche Wollen des einzelnen nicht in erster Linie ankommt. Ein ehemaliges Mitglied stellt diesen Aspekt der Bruderhof-Philosophie so dar:

»Im Bruderhof wird viel über Geschichte gesprochen, aber im wesentlichen über die eigene Geschichte, und in einem bestimmten Sinne ist das eine ungeschichtliche Daseinsform. Der einzelne kennt keine Karriere, die geplant werden könnte, und auch keine anderen Lebensentscheidungen, die allein er treffen müßte – außer dem Eintritt in die Gemeinschaft oder dem Austritt. Das Gemeinwesen verfolgt, auch wenn es natürlich Aufbau und Planung bei Einzel­vorhaben gibt, im Ganzen und Entscheidenden nicht das Ziel, daß alles immer besser werden muß, sondern es strebt danach, seine unwandelbare Wahrheit in jedem Augenblick so umfassend wie möglich zu verkörpern. Wir haben immer über das <Neuanfangen> gesprochen. Der einzelne wie die Gemeinschaft machen jedes Mal einen Neuanfang nach einem Ereignis, das als <Sündenfall> erfahren wurde.

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Aber wenn man so will, bringt ja jeder Tag einen Sündenfall oder Verfehlungen, und jeder Morgen fordert einen Neuanfang. Man kann nicht an irgendwelche Ziele kommen. Unter spirituellem Gesichtspunkt gibt es auch so etwas wie <Leistung> eigentlich nicht, und wer doch so denkt, der fällt auf seinen eigenen Hochmut oder Stolz herein. Man kann immer wieder nur neu beginnen, und im Grunde ist man niemals besser, sicherer und unschuldiger als im Augenblick des Neuanfangs. ..«

Die Bruderhof-Gemeinwesen lassen sich also nicht auf das historische Jenseits einer irgendwann in der Zukunft liegenden neuen Qualität des Daseins vertrösten, sondern sie versuchen das Ideal, das in ihrer Sprache <Gottesreich> heißt, schon in ihrer eigenen Lebensgeschichte zu verwirklichen.

Nach dem religiösen Selbstverständnis des Bruderhofs kann der Mensch eine Lebensform aus dem Geist der Liebe, des Friedens und der Wahrhaftigkeit nur verwirklichen, wenn er zu Opfern bereit ist – vor allem zur Hingabe des eigenen Ichs. In einem ihrer Texte heißt es dazu:

»... der Mensch erfährt, daß jedes Handeln aus eigener, individueller Anstrengung wirkungslos bleibt. Bald entdeckt er, warum dies so ist: Individuelles Handeln setzt voraus, daß ein Ich existiert, mit Abgrenzungsbedürfnissen und folglich mit Trennwänden gegenüber anderen Menschen. Willensstarkes Handeln hängt meistens mit nachdrücklichen Abgrenzungen zusammen. Gottes Reich aber besteht in der Einheit, im Überwinden von Trennwänden und Abgrenzungen ...«

<Gleichheit> und <Brüderlichkeit> sind in dieser lebendigen Gemeinde, die seit fast sechzig Jahren Ernst macht mit dem Neuen Leben aus christlichem Geist, in weit höherem Maße verwirklicht als in der übrigen Gesellschaft. Es fehlt dafür an <Freiheit>, wie der erklärte Verzicht auf Willensregungen dies auch ausspricht. Dabei praktiziert der Bruderhof ja eine eigene Form der Selbstbestimmung oder Freiheit, allerdings ohne daß diese Selbstbestimmung auch bewußter Teil der Selbstauslegung der Kommunität wäre. In einer anderen Begriffssprache als der des Bruderhofs könnte man sagen: diese Freiheit bleibt dort unbewußt, und ihre praktische Verwirklichung, zum Beispiel in der Abschaffung des Privateigentums, erhält im Bewußtsein der Bruderhofleute einen ganz anderen Sinn; nämlich den Sinn, die Gebote Jesu zu erfüllen und den Heiligen Geist im Sinne des Neuen Testaments zu verkörpern. Die unbewußt bleibende Freiheit, die sich in diese biblische Symbolsprache kleidet, wird dadurch vermutlich für viele Bruderhofleute selbst schwer erkennbar.

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 Vielleicht hängt mit dieser Erkenntnissperre auch zusammen, daß im Bruderhof nur bei wenigen Mitgliedern ein wirkliches Verständnis für seine Bedeutung als Modell einer neuen Gesellschaft zu finden ist. »Der religiöse Mensch«, sagt Nietzsche einmal boshaft, »nur an sich«; er bleibt oft auf eigentümliche Weise in sich beangen und ist letzten Endes mit der Rettung seines eigenen Seelenheils befaßt, auch und gerade, wenn er das individuelle Ego preisgeben will und verleugnet.

Sollte meine Hypothese zutreffen, daß im Bruderhof (und in vergleichbaren Gemeinwesen) die praktizierte Freiheit ein Stück weit <unbewußt> bleibt, so würde dies vielleicht auch verständlich machen, warum die erwähnte Erkenntnissperre ähnlich das Liebesmotiv betrifft, das eine so zentrale Rolle bei den Bruderhofleuten spielt: Die Liebe wird bei ihnen als religiöse brüderlich-schwesterliche Nächstenliebe praktiziert, deren ökonomischer Aspekt als Güter­gemeinschaft nach dem Muster der Apostelgeschichte verwirklicht ist. Für andere Aspekte des Liebesmotivs gelten dagegen Meidungsgebote im Sinne der biblischen Paradiesgeschichte: über moralische und Erkenntnisfragen selbst dialogisch nachzudenken, statt kindlich den überlieferten Lehren zu folgen, ist offenbar ähnlich sündhaft, wie es die sinnlich-vitalen Aspekte der Liebe sind, zu deren Zähmung und Einfriedung auch im Bruderhof die überlieferte Form der Ehe dient.

Die Vorgeschichte der <Farm> in Tennessee reicht zurück in die späten sechziger Jahre, nach Kalifornien.25 Stephen Gaskin, der Gründer dieses heute aus rund zwölfhundert Menschen bestehenden Gemeinwesens, war dort College-Dozent für Literatur und Englisch. Aus Diskussionsgruppen von College-Studenten entstanden damals die ersten Freundeskreise, die aus dem ungeliebten Leistungsklima hinausdrängten und neuartige Erfahrungen suchten: in engen persönlichen Beziehungen, mit Drogen­experimenten zur Bewußtseins­erweiterung, mit neuen Verkehrsformen allumfassender Freundlichkeit – <make love, not war>...

Eine Hippie-Karawanejunger Leute, mit Stephen Gaskin als ihrem <Lehrer>, wie sie ihn bis heute nennen, hat sich 1971 in alten Schulbussen aufgemacht, um zu versuchen, noch einmal ganz von vorn anzufangen. Zuerst wollten sie nur <zurück zur Natur>, aufs Land, zu den einfachen Dingen, zur Erneuerung aus dem Geist der Liebe. Wie in einem strengen Kloster haben sie damals zu leben versucht, in Keuschheit, Armut und Gehorsam. Ihre selbstauferlegten Regeln, von Stephen Gaskin geprägt, waren eine Verbindung der Grundideen

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aller Weltreligionen, denen es um <Eins-Sein> und umfassende Brüderlichkeit geht, um Heilung von den Schäden der krank und unmenschlich machenden Konkurrenzgesellschaft. Viel Fernöstliches floß ein: Absage an Aktivismus, an Organisations- und Planungswut; statt dessen: Geschehenlassen und überhaupt »Gelassenheit. Wichtig waren gute <vibrations>, praktische Solidarität, kleine Armut, Konsumverzicht, planetarisches Bewußtsein...

Sie experimentieren bis heute mit diesen Grundlagen und der zugehörigen Lebenspraxis. Nach der anfänglichen Ordensphase mit umfassender Askese leben sie jetzt in Paarbindung und Familien (ähnlich wie der Bruderhof) – mehrere Familien jeweils in gemeinsamen Haushalten unter einem Dach. Viele Kinder sind inzwischen auf der Farm geboren worden, und ihre Hebammenkunst ist ein wichtiger Bestandteil ihres Lebens. Sie haben eigene Schulen, Werkstätten zur Verarbeitung von Lebensmitteln (überwiegend auf Sojabohnen-Basis), eine Bauabteilung, den Farmbetrieb, einen großen Fuhrpark, Verlag und Druckerei, ein Krankenhaus, ein Gewächshaus, eine Wäscherei und eine Radiostation.

Im Zentrum der religiösen Lehren von Stephen Gaskin stehen Erfahrungen auf einer neuen Bewußtseinsebene, auf der sich der Mensch <eins> fühlt mit dem Universum und durch Energieströme mit allen anderen Menschen verbunden ist. Sie nennen diese Erfahrungen <telepathisch>: Die Ich-Grenzen, die uns zu getrennten Individuen machen, werden dabei als durchlässig erlebt. Bei der Suche nach den Voraussetzungen für solche Fusionserfahrungen stießen Gaskin und seine Freunde auf Praktiken, wie sie seit alters her in den Religionen geübt werden: Man muß <reinen Herzens> dabeisein, und wer auf dieser <heiligen> Ebene mit anderen Menschen in Beziehung treten will, darf keine <unreinen> Hintergedanken dabei im Kopf haben.

Das Universum ist ein Ganzes voller <Vibrationen>, sagt Gaskin. Diese berühmten <vibrations> oder Schwingungen sind ein Gleichnis für das alles durchdringende Strahlen und Pulsieren, das die Dinge miteinander verbindet. Es liegt als gemeinsame Energie allem zugrunde und wird als dessen Wesen aufgefaßt. Gott selbst ist dieses Strahlen, und bestimmte Verhaltensweisen unseres alltäglichen Lebens sind Resonanzbedingungen für diese Energiestrahlung. So vor allem eine praktisch gelebte Haltung allumfassender Liebe zum Mitmenschen.

Jede Kultur hat ihre Bildersprache zur symbolhaften Umschreibung des letzten Seinsgrundes oder des Göttlichen. Für die Farm und Stephen Gaskin läßt das Göttliche sich symbolisieren durch Feldkräfte, Energiefelder, Vibrationen. Andere Kulturen haben sich mit Lichtgleichnissen über das Göttliche zu verständigen versucht.

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Hier nun sind es <Schwingungen> und Feldkräfte. Jeder Mensch verfügt nach dieser Lehre über solche Energiefelder. Sie können sich auch vereinigen, und dabei entstehen neue Feldgestalten, die mehr sind als die Summe ihrer Teile. Gaskins Symbolsprache, die heute an der Westküste der USA in vielen Abwandlungen vorkommt und längst auch hierzulande verbreitet ist, macht also erkennbar Anleihen bei der Gestaltpsychologie und gruppendynamischen Feldtheorien, etwa von Kurt Lewin.

Stephen Gaskin hat seine Lehre in verschiedenen Schriften veröffentlicht; darin sagt er einmal: »... Die Gesamtheit all unserer Vibrationen vereinigt sich zu der einen reinen Vibration des Göttlichen... Auf der höchsten Ebene gibt es keinen Unterschied zwischen den verschiedenen Religionen. Mystische Traditionen des Christentums, Zen-Buddhismus, die Yogi-Lehren des Hinduismus, die chassidische Strömung des Judentums, die Sufi-Lehren des Islam, sie alle sprechen in ihren Schriften immer wieder über ähnliche Phänomene, über ähnliche Erlebnisse und Wirklichkeitserfahrungen: Es gibt danach bestimmte Bewußtseins­regionen, die den Menschen verändern, wenn er in sie einzudringen wagt. Er kehrt als ein anderer daraus zurück... Wir ehren daher die alten Religionen, denn in ihnen ist eingeschlossen, was sich einmal in den Herzen bestimmter Generationen abgespielt hat. Es gibt spirituelle Erfahrungen, die den Menschen aus der Vergangenheit Übermacht werden. In Zeiten großer materieller Erfolge geraten diese Erfahrungen manchmal in Vergessenheit, mitunter ganze Generationen lang. Wenn sie sich dann erneuern, ist es jedes Mal wie eine große Erleuchtung. So spielt sich in unseren Tagen etwas ab, wofür wir noch keinen Namen haben, weil es dafür noch nicht alt genug ist; aber es lebt in den Herzen der Menschen...«

So oder ähnlich haben es die Kirchen aller Zeiten eigentlich gelehrt. Diese Lehre enthält also nicht viel Neues. Neu aber und bewundernswert ist es, wie diese uralten Forderungen bei den Farm-Leuten in gelebte Praxis umgesetzt werden. Unbekümmert um theologische Spitzfindigkeiten, unbekümmert auch um alle Religions- und Ideologiekritik von Feuerbach und Marx bis zu Nietzsche oder Ernst Bloch versuchen sie zu tun, wovon Stephen Gaskin redet. Es geht ihnen gar nicht in erster Linie um die <richtige Lehre>; die ist ja eher eine Kraut- und Rübenmischung aus verschiedenen Weltreligionen. Auf die einfachsten Gebote zusammengefaßt, lautet die Lehre: »Dies sind die Schlüssel zum Himmel: Liebe Gott. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Und dies sind die Schlüssel zur Hölle: Ja, ja, ich weiß, ich sollte mich mehr um andere kümmern, aber erst mal möchte ich ein bißchen für mich selber sorgen.«

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Ausdrücklich weist Gaskin ein weitverbreitetes Mißverständnis zurück, wonach die neue Religiosität vor allem ein langer Marsch nach innen ist: Sobald uns bewußt wird, daß wir alle <eins> sind, muß unsere ganze Kraft dem Dienst am anderen gehören. Alle großen spirituellen Lehrer, sagt Gaskin: Mohammed, Jesus, Buddha, Krishna haben diese Grundeinsicht ausgesprochen, daß wir alle <eins> sind. Aus dieser Einsicht folgt, daß wir anders leben müssen als bisher. Ein paar einfache praktische Konsequenzen sind zum Beispiel für Gaskin und die Farm:

Auch Dinge wie Essen und Trinken sind bedeutsam für das Ganze, und jeder trägt in jedem Augenblick des Alltagsverhaltens die volle Verantwortung dafür, ob sein Leben gelingt oder nicht. Stephen Gaskin betont ausdrücklich die Eigenverantwortung und moralische Selbständigkeit des einzelnen. Auch Selbstkritik wird angeraten: hegen wir irgendwelche Klischeevorstellungen von uns selbst oder von anderen Menschen? Solche Klischees, warnt Gaskin, können uns festlegen und am spontanen und richtigen Verhalten in neuen Situationen hindern. Und spontanes Verhalten ist eigentlich noch wichtiger als Kritik: zu vieles Zweifeln und Fragen tötet oft nur die schöpferischen Impulse ab. Aus solchen Impulsen heraus sollten wir auch unser Gemeinschaftsleben gestalten, rät Gaskin, und die Alltagspraxis der Farm hat ja tatsächlich viel von dieser improvisierenden Spontaneität. Die Leichtigkeit, ja: das Erlebnis des <Fliegens>, wie es aus der Drogenerfahrung vertraut ist, sollen auf alle Bereiche des alltäglichen Lebens ausgedehnt werden.

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Ein fast unbegrenztes Vertrauen in die heilende, wiederherstellende, alles gut machende Kraft des Unbewußten steht hinter dieser Auffassung und letztlich wohl ein tiefes Mißtrauen gegenüber dem kritisch fragenden, skeptischen Denken. Bewußtsein, das in der europäischen Tradition meist als kritische Reflexion aufgefaßt wird, nimmt hier eine neue Qualität an, wenn Stephen Gaskin statt dessen für Aufmerksamkeits- und Konzentrationsübungen plädiert. Bei Karate, beim Bogenschießen und bei der Meditation wird diese Art von Bewußtsein entwickelt. Da geht es aber nicht um begriffliches Denken, um Wissen oder Verstandestraining, sondern um Willensexerzitien, um die Einübung von <Gelassenheit> und blitzschneller Entladung aller vorher konzentrierten inneren Energien.

Geistig gärt es noch gewaltig in den Köpfen und Herzen dieser Pioniere einer gewaltfreien Gesellschaft. Stephen Gaskin ist die Seele des Ganzen, und darin besteht wohl ein Hauptproblem für die weitere Entwicklung der Farm. Die wachsende Größe dieses Gemeinwesens wird, nebenbei gesagt, bald Organisationsformen nötig machen, die nur schwer mit der zur Zeit noch funktionierenden einfallsreichen Improvisation dort in Einklang zu bringen sind. Die nächsten Jahre werden zeigen, wie sie das schaffen.

Stephen Gaskin ist jetzt noch die große Überich-Figur, mit der die Gemeinde sich identifiziert: er ist es, der den Weg weist und damit auch weitgehend dem Gemeinschaftsleben seine Gestalt gibt; fast alle Schriften der Farm, sogar das Kochbuch, zeugen von seiner Vaterschaft. Er ist der unbestrittene spirituelle Führer: Prophet, Oberpriester und Ayatollah in einem. Von den religiös verwahrlosten jungen Leuten in San Francisco, in deren Seelen Wüste herrschte, ist wahrscheinlich manch einer für jede spirituelle Nahrung dankbar gewesen, die seinem Gefühl der Sinnleere und Frustration eine Alternative bot. Stephen Gaskins Lehren tun das. Sein pädagogischer Eros ist bezwingend, und er hat viele liebenswerte Eigenschaften. Er besitzt ein großes Wissen und hat sich umgetan, von der Bibel bis zum Tibetanischen Totenbuch, vom Hinduismus bis zum Buddhismus, von Moses bis zu Marshall McLuhan und zu Ernst Schumachers <Small is Beautiful>: alles ist einverleibt worden in Stephen Gaskins große Religions-Montage. Nur scheint mir in seinem moralischen Verhalten ein zentraler Widerspruch zu stecken: Gaskin spricht viel von Kreativität, Selbstbestimmung und Gleichberechtigung. Seine Lehrpraxis ist aber oft allzu monologisch. Fragen sind manchmal gestattet, ja. Aber nur wie Schüler den Meister fragen, der alles weiß. Stephen Gaskin ist nie um eine druckreife, bündige Antwort verlegen. Das ist in meinen Augen eine Theologie der Ausrufungszeichen, keine Theologie der Fragezeichen, wie sie eigentlich zum Dialog von Gleichberechtigten gehört.

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Und noch ein Letztes: Stephen Gaskin redet gern in Gleichnissen, deren Bildersprache eine bestechende Mischung aus fernöstlichen Vorstellungen und moderner westlicher Naturwissenschaft ist. Scheinbar ist das eine höchst anschauliche und wirklichkeitsnahe Sprache und Begrifflichkeit. Sie wird aber vage und ungefähr, wo reale geschichtliche Veränderungen ins Spiel kommen, und wo wir etwas Genaueres darüber erfahren möchten, warum zum Beispiel die Menschheit in <goldenen Zeiten> mit der göttlichen Energie so weise und verständig umging, daß Frieden herrschte, keine Verbrechen geschahen und alles eitel Harmonie gewesen ist, wie Gaskin meint.

Liegt es nur an unserer Selbstsüchtigkeit, die das schöne Harmoniegebilde einer durch und durch <guten> Gesellschaft immer wieder zerstört? So daß alles nur von uns und von unserem guten Willen abhängt? Mangelnder guter Wille, Selbstsucht und Liebesunfähigkeit genügen uns nicht mehr als Erklärungen für entfremdetes Bewußtsein und Verhalten. Sie sind ihrerseits erklärungsbedürftige Charaktereigenschaften, über deren Entstehung wir heute Genaueres wissen, als die poetischen Gleichnisse von Gaskin es uns lehren möchten. Die sind ja deswegen nicht verkehrt, aber vielleicht unvollständig. Die Gefahr, die ich bei Stephen Gaskins neuem Bewußtseinskult sehe, ist die, daß er blinde Flecken haben könnte für die <hinter unserem Rücken> wirkenden Verhaltensbedingungen: die gesellschaftlichen sowohl als auch die psychischen.

 

Denk- und Erkenntnisverbote, wie sie in überstarker Dosierung der Bruderhof praktiziert, sowie die Orientierung an charismatischen Führergestalten (im <Farm>-Gemeinwesen und vielen anderen spirituell orientierten Gruppen) lassen sich als Nachwirkungen einer Pyramidentradition deuten, die bis zu Noah, dem Patriarchen, bis zu Moses und zur Willensdelegation an immer wieder neue religiöse Autoritäten zurückreicht. Hat also das Bibelvolk im Grunde bis heute noch nicht endgültig seinen Auszug aus Ägypten beendet?

In einer seiner zeitgenössischen Varianten hat das Pyramidenunwesen sich als Religion des Habens in unsere Seelen gekrallt; davon war schon die Rede. Als Amtskirchen dieser neuen Hochreligion können die internationalen Giganten der Energie­wirtschaft und ihre Hilfsagenturen betrachtet werden. Alle drei Angebote, die der Mann aus Nazareth damals zurückgewiesen hat, haben sie zu Grundpfeilern ihrer Herrschaft gemacht: Die moderne Petrochemie verwandelt Steine in Brot; das Fliegen ist im Jet-Zeitalter zu einer alltäglichen Selbstverständlichkeit geworden, und mit Öldollars machen die Großmächte inzwischen Weltpolitik.

War nicht all dies nur möglich, weil das Energie-Ganze, das für religiöses Wirklichkeitsverständnis <eins> ist, aufgespalten wurde? Hier Ideen, Seele, Libido — dort Petroleum, fossile Sedimentierung von Sonnenenergie und das radioaktive Feuer des Atoms. Hier der aus aller Materie verjagte Geist — dort die entseelte, geistberaubte Natur. Hier das Beten — dort die Arbeit. Diese Abtrennungen sind mit Hilfe ihrer immer weiter getriebenen Zerstückelungen, etwa in der hochgezüchteten modernen Arbeitsteilung, auf einen historischen Gipfel anonymer Herrschaftseffizienz gelangt, der alle Pyramidensysteme der Vergangenheit zu Maulwurfshügeln macht.

Zur Erinnerung:

Das Arbeiten war noch in den Ora-et-labora-Praktiken der monastischen Bewegungen um 1200 eine ekstatisch-meditative Verrichtung, keine im heutigen Sinne <ökonomische>, auf Gewinn, Erhöhung von Lebensstandard und Konsumglück zielende Aktivität. Das Arbeiten war dort also Teil einer religiösen Grundorientierung. Auf verschlungen-unerkannten Wegen hat sogar heute das Arbeiten gelegentlich davon noch einiges: bei allen <workoholics> und Pflichtmenschen.

Umgekehrt ist das <Beten> in vielen religiösen Kulturen eine weit dimensionsreichere Praxis als die dürftige Schrumpfgestalt, die etwa der protestantische Verbalismus daraus gemacht hat. Der früher schon erwähnte Sun Dance der Cheyenne-Indianer und ähnliche Gemeinschaftsgebete enthalten vielfältige sinnliche Momente, die beim bloßen Wortemachen verlorenzugehen drohen. Neoreligiöse Sekten finden vermutlich auch deswegen derzeit so viel Resonanz, vor allem bei jungen Menschen, weil die pyramidengeschädigten Formen biblischer Liebeskonzeption und -praxis den möglichen Gestaltenreichtum unserer Liebe am Blühen hindern.

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