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Zum sozialen Aspekt des Eros

 

 

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Während das religiöse Moment unserer Liebesfähigkeit auf ein umfassendes Einssein mit der gesamtem Wirklichkeit zielt, betont ihr soziales Moment das Verbundensein, die Identifikation mit unseren Brüdern und Schwestern, also die Beziehung zum Mitmenschen, zum Nächsten oder Genossen. Je nach religiösem oder philosophischem Selbstverständnis werden hier unter­schiedliche Begriffe für dieses soziale Verbundensein, für die Natur unserer <Assoziation> mit anderen Menschen verwendet.

Daß soziale Aspekte unseres Zusammenlebens, paradox genug, auch in den Sozialwissenschaften bisher im allgemeinen phantasieloser als die politischen und ökonomischen behandelt worden sind, habe ich schon erwähnt.

Das mehrdimensionale Eroskonzept deute ich als das umfassendere Assoziationsprinzip, demgegenüber Assoziationsprinzipien wie Verwandtschaft oder Arbeitsteilung unsere gesellschaftliche Existenz auf Teildimensionen verkürzen. Da die hier zugrunde gelegte Deutung unserer Liebesfähigkeit ihre Historizität einschließt, sind auch ihre Dimensionen und deren Zusammenspiel offen für Innovationen. So können soziale wie politische und ökonomische Aspekte unseres Zusammenlebens herrschaftsbestimmt sein, und sie waren dies bekanntlich auch während lange andauernder Zeiten unserer Geschichte für die Mehrzahl der Menschen.

Das Beispiel der gelebten Utopien bezeugt jedoch die Möglichkeit herrschaftsfreier Existenzformen, deren soziale Dimension ein gleich­berechtigtes, solidarisches und dialogisches Miteinander statt hierarchisch strukturierter Beziehungen und Verkehrsformen zwischen den Menschen kennzeichnet.

Im frühen Kibbuz und in den herrschaftsfreien Netzwerken, wie sie etwa im >Movement for a New Society< (MNS) verkörpert sind, findet sich dieser Typus sozialer Beziehungen vielleicht am deutlichsten ausgeprägt. Von der religiös getönten >Agape< bis zur >Solidarität< der Frühsozialisten, Kropotkins oder Rühles reichen die historischen Bestimmungs­versuche des sozialen Aspekts unserer Liebesfähigkeit.26)

Friedensbewegungen, Öko- und Alternativbewegungen in vielen Ländern zeigen an, daß neue grenzüberschreitende Werthaltungen bei den strukturellen Veränderungen unserer Lebensformen eine entscheidende Rolle spielen. Diese Werthaltungen gewinnen quer zu den überlieferten Fronten, etwa der Klassengegensätze, Nationen oder Religionszugehörigkeiten, ihre Anhänger – nach individuellen Resonanz­bedingungen, die nicht mehr ohne weiteres in den klassischen Einteilungen nach Stellung im Produktions­prozeß, Bildung usw. aufgehen. Man könnte auch sagen: neue, übergreifende Interessen sind derzeit im Entstehen und überlagern die überlieferten Interessen­muster; sie lassen die für lange Zeit gültig gewesenen Identitätsmarkierungen verblassen. Neue, bisher noch undeutliche Konturen unserer sozialen Identität bilden sich aus. Sie haben mit einem Selbst­verständnis zu tun, das Schubladen­denken und die sozialen Abgrenzungen der Pyramiden­traditionen gerade überwinden möchte.

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Der Pyramidenordnung entsprach für lange Epochen auch ein Kanon von Persönlichkeits­eigenschaften mit zugehöriger Rangordnung. Ein Beispiel dafür ist die heimliche oder offene Orientierung an längst erloschenen aristokratischen Lebensmustern, die auch in >Demokratien< (gar: >Volksdemokratien<) die Alltagskultur immer noch prägen – von der Hotelästhetik bis zu Staatsempfängen, Familienfeiern und Betriebsfesten, einschließlich der dahinterstehenden Verhaltens­dispositionen. Mit zunehmender Abwertung dieser heimlichen Leitbilder werden die Streubreite der als positiv geltenden Eigenschaften und ihr tatsächliches Vorkommen im sozialen Stoffwechsel voraussichtlich anwachsen. Für das pädagogische Denken, sofern es >Ideale< liebt, bedeutet dies, daß kein prägnanter Gegentyp zum Sozialcharakter der bestehenden Pyramidenordnungen gezeichnet werden kann. Als einziger gemeinsamer Grundzug ließe sich allenfalls eine möglichst facettenreiche Liebesfähigkeit nennen, die aber eben wegen ihres Gestaltenreichtums keine Festlegung auf ein bestimmtes Menschenbild erlaubt.

Die am >Zoon erotikon< orientierten Neuansätze haben dennoch keineswegs chaotische soziale Strukturen, im Gegenteil: sie verwirklichen >Gesetz und Freiheit ohne Gewalt< in dialogischer Ordnung; davon war schon die Rede. Für die Regelung ihrer Beziehungs­probleme entwickeln alle herrschaftsfreien Lebensformen eine eigene Konfliktkultur, die dem darwinistischen Austragen von Kontroversen mit domistischen Alternativen begegnet. Schiedsverfahren und auf Konsens zielende gruppen­dynamische Praktiken haben sich dabei in zahlreichen gelebten Utopien als hilfreich erwiesen. Sie gehören zur Selbst­steuerungs­praxis herrschaftsfrei strukturierter Gruppen und Einrichtungen, also zu ihren Führungs­methoden.

Alles gesellschaftliche Leben des Menschen konstituiert sich durch >Vertrag<, also durch eine Kultur des Rechts, der Verkehrs­formen, der geregelten Beziehungen der Menschen untereinander. In ihnen verkörpern sich die gemeinsamen Werthaltungen, die einer Lebensform erst ihre unverwechselbare Gestalt oder Identität geben. Die Kommunebildung, das kreative, frei vereinbarte Miteinander in Gemeinschaft macht uns erst eigentlich zum Menschen. Verwandtschaftshorden sind vor-menschliche Sozialgebilde, und auch arbeitsteilige Termitenstaaten kennt schon das Tierreich. Familie, Staat und Arbeit sind es also nicht, die uns von anderen Lebewesen unterscheiden. Erst bestimmte Kulturen, also historisch wandelbare Formen von Verwandtschafts­beziehungen, von politischen und von ökonomischen Verhältnissen, machen unsere menschliche Daseinsweise aus. Diese Kulturfähigkeit und Begabung zur Geschichte, also zur Kreativität, ist der entscheidende Grundzug unserer sozialen Existenz.

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Selbst die Forderung, <natürlich> zu leben, den Gesetzen der Biologie also Priorität einzuräumen (welchen übrigens? Den um 1800, um 1900 bekannten, den von 1980 oder welchen?), diese Forderung würde ja niemals erhoben werden, wenn nicht Menschen, die andere Prioritäten setzen, dauernd dagegen verstießen. Alle biologistisch argumentierenden Genanwälte übersehen gern diese elementare Bedingung der Möglichkeit ihres eigenen Wirkens.

Den historisch veränderlichen Strukturen unseres Zusammenlebens korrespondieren Grundzüge unserer Ego-Strukturen oder unseres >Sozialcharakters<. Erich Fromm nennt >Sozialcharakter< den »Kern der Charakterstruktur, der von den meisten Angehörigen einer Gesellschaft geteilt wird, im Gegensatz zum individuellen Charakter, in dem die Menschen derselben Gesellschaft sich voneinander unterscheiden«.27 Im Sozialcharakter nimmt unsere Persönlichkeits­struktur über eine Vielzahl von Vermittlungs­schritten in Aneignungs­prozessen diejenige Grundgestalt an, die der jeweiligen Gesellschafts­form gemäß ist und ihre (zumindest zeitweilige) Stabilität verbürgt.

Anders gesagt: unsere sozialen Existenzformen, unser >Sein<, und unser Bewußtsein beeinflussen sich wechselseitig. Ein Beispiel, wie Fromm es gibt: Die moderne Industrie- und Wettbewerbsgesellschaft wäre ohne einen leistungsorientierten, disziplinierten und ursprünglich auch relativ anspruchslosen Sozialcharakter, der sich willig in die hierarchischen Strukturen unseres Konkurrenz­systems einfügt, nie entstanden. Dieses System hat sich seine Menschen herangezogen. Gesellschaftliche Systeme lassen sich aber auch verändern und mit ihnen unsere grundlegenden Persönlichkeitsstrukturen: eben darin besteht ihre Geschichtlichkeit. Auf meso-sozialer Ebene sind die gelebten Utopien ein Beleg für diese Veränderbarkeit. Indem wir uns herrschaftsfreie, domistische Lebensformen einrichten, können wir Voraussetzungen für die Entstehung eines fraternitären Sozial­charakters schaffen.

Angewandt auf die Lern- oder Aneignungsprozesse, die in der zeitgenössischen Psychologie >Sozialisationsprozesse< genannt werden, bedeutet der Grundgedanke von Fromm, daß es in Korrespondenz zur hochgradigen Spezialisierung unserer heutigen Kulturen und Gesellschaften für jeden von uns ein Berufs-Ich, ein Freizeit- und Hobby-Ich, ein Familien-Ich, ein Freundschafts-Ich und so weiter gibt, sozusagen mehrere Kernbereiche unserer Sozialcharakterstruktur. In zahlreichen Wirklichkeits­feldern, in denen wir ebenfalls Egostrukturen ausbilden könnten, bleiben wir jedoch weit hinter unseren Möglich­keiten des vollentwickelten Denkens, Urteilens, Fühlens, Wollens oder Handelns zurück.

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So gibt es bekanntlich viele Gefühlsanalphabeten, Stümper des erotischen Verhaltens, Anfänger oder Nichtskönner auf politischem Feld und auf dem Gebiet sozialer Beziehungen. Auf allen solchen Wirklichkeitsfeldern verhalten wir uns, bevor wir uns dort durch schmerzhaft-mühseliges Lernen das entsprechende Können angeeignet haben, sozusagen wie lallende Kleinkinder vor dem Erwerb der Sprache. Viele von uns können heute in Bereichen wie Religion, Kunst, in den Wissenschaften, der Philosophie oder auch in Vitalbereichen, wie etwa der Sexualität, des Älterwerdens und Sterbens nur stammeln.

Wir haben, mit anderen Worten, in unserer zerstückelten und gleichzeitig überspezialisierten Kultur nur Teilstrukturen unseres Egos ausgebildet, während der Baugrund für andere mögliche Gebäudeteile ungenutzt bleibt, verkrautet ist, Schutthalden oder allenfalls improvisiert zusammengenagelte Bretterbuden zeigt. In jedem Teilbereich sind wir zunächst Stümper, sobald wir ihn in Kultur zu nehmen beginnen: wenn ich ein Musikinstrument zu spielen beginne, Surfen oder eine neue Fremdsprache, Brot backen oder eine Gruppe zu leiten lerne - zuerst mache ich alle typischen Anfängerfehler und lasse mich, je später im Leben ich solche neuartigen, ungewohnten Dinge in Angriff nehme, durch Rückschläge, Mißglücken und Ungeschick leicht entmutigen. Solche Mißerfolgs­erlebnisse nimmt niemand gern auf sich; wir halten uns daher meist lieber an die Dinge, die wir einigermaßen >können<. So erweist sich das konservative Syndrom als ein weiteres Beispiel für psychologisch selbstragende Strukturen, die sich fortwährend automatisch verstärken.

Was folgt aus diesen Erinnerungen an lernpsychologische Elementareinsichten? Erstens: vor allem Menschen mit relativ stabilem Selbstbewußtsein die nicht leicht zu entmutigen und durch Mißerfolge einzuschüchtern sind, bringen die seelischen Voraus­setzungen für Lernprozesse mit, die tiefreichend unsere Ichstrukturen berühren. Zweitens: Menschen, deren seelischer Haushalt eine im großen und ganzen ausgeglichene Bilanz aufweist, die ihre Lebensprobleme also mit Hilfe des in verschiedenen Teilbereichen angeeigneten Könnens subjektiv erfolgreich zu lösen imstande sind, haben oft psychologisch; wenig Anlaß, auf die Suche nach neuen Wegen (oder gar Zielen) zu gehen. Erst Not macht erfinderisch und begünstigt Innovationen. Dieser Tatbestand liegt der furchtbaren psychologischen Wahrheit mit zugrunde, daß oft erst großer Leidensdruck Veränderungen und neues Lernen in Gang zu setzen hilft. So wäre ohne die Pogrom-Erfahrung in Europa die jüdische Kibbuzbewegung vielleicht nie entstanden.

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Von Moses bis Robespierre haben denn auch die großen Zuchtmeister der Geschichte den Schrecken (Terror) als Motivationshilfe für ihre aus eben diesem Grunde anfechtbaren Neuerungen zu nutzen versucht. Drittens: Das Neue muß so viel Attraktivität für mich besitzen, daß ich sogar die typischen Anfängerfehler und Rückschläge in Kauf nehme, wenn ich mich auf die Aneignung des Neuen einlasse.

Angesichts der krebsartigen Wucherungen von immer weiter verästelten Spezialisierungs­feldern unserer Weltkultur wird die Vorstellung von einer >allseitig entwickelten Persönlichkeit< freilich absurd. Sie läßt ihrerseits eher auf eine dürftig entwickelte Intelligenz schließen. Soll ich etwa alle Weltsprachen lernen? Mir in allen Wissensdisziplinen Könnerschaft aneignen? In allen erotischen Praxisfeldern, vom religiösen bis zum vitalen, Handlungskompetenzen ausbilden? Hier hilft offensichtlich nur kreative Regression und gegenseitige Ergänzung in solidarischer Entsagung, wie domistische Lebensformen sie zu verwirklichen erlauben.

Wenn wir uns verbinden mit anderen, um Neues hervorzubringen, dann geschieht in solchen Fusionsprozessen immer ein Stück Ich-Auflösung, ein Preisgeben von Egostrukturen und Grenzbefestigungen. Bei den Beteiligten kommt es dabei zu einer Umstrukturierung, die unsere Ich-Strukturen teilweise verflüssigt und die Psychodynamik Feldkräften überläßt, die aus dem Fusionsgeschehen entstehen. Ge-Lassenheit, >Loslassen<, altmodisch gesprochen: Hingabe, Er-Lösung können Teilmomente dieses Geschehens sein, das unterirdisch ein tiefes Einverständnis mit Auflösung, Hinsterben und Tod einzuschließen scheint (>Stirb und Werde!<).

Aber es ist keine endgültige, vollständige Auflösung, denn ein Subjekt-Rest oder -Kern bleibt ja als Erlebnis- und Geschehens-Ort bestehen. Selbst wenn aus einem Saulus in solchen Prozessen ein Paulus wird, so bleibt die Person, deren Verwandlung da geschieht, doch nach Geburtsdatum und Lebensgeschichte für die eigene und die fremde Erinnerung unverwechselbar dieser wiedererkennbare Mensch. Was sich auflöst, sind Teile unserer Ich-Struktur, sind Teilbereiche unserer lebens­geschichtlichen Identität, sind Teilkomplexe unserer Eigenschaften; derjenigen Eigenschaften zum Beispiel, die sich bei anders verlaufener Lebensgeschichte auch gänzlich anders hätten heranbilden können; der Eigenschaften also, die Musils >Mann ohne Eigenschaften< abzuwerfen erträumt.

Werfe ich alle meine lebensgeschichtlich vermittelten, also immer auch in Wechselbeziehungen zu anderen Menschen entstandenen Eigenschaften ab, was bleibt dann übrig?

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Die vorsprachlichen Lautäußerungen des Kleinkinds, die biologischen Grundlagen meines Subjekt-Seins vor der Ausbildung von Ichstrukturen; Zustände der frühesten Kindheit also, in denen mein Dasein im Verbundensein mit einem anderen Menschen, meiner Mutter, aufgehoben war. Sobald ich mich, und sei es noch so undeutlich, dieser frühen Zustände erinnere, sobald ich über frühe Erfahrungen zu reden versuche, bin ich unweigerlich schon wieder im Bereich meiner Eigenschaften: Sprechenkönnen und Gedächtnis sind Teilstrukturen meines Egos.

Zwar ist auch Sprachverzicht jedem Menschen möglich, etwa wenn – aus welchen Gründen immer – Spielarten von Kaspar-Häuser-Kulturen plötzlich Sitte werden; Trappisten-Orden mit ihrer Schweigsamkeitskultur sind ein Beispiel dafür. Unbestreitbar werden durch Sprachverzicht auch Fusionsmöglichkeiten erleichtert, deren Gold unter dem raschelnden Silberpapier des Redens oft erst gar nicht vermutet wird. Wer schweigt, verlernt deshalb aber noch nicht das Sprechen. Er lernt statt dessen etwas dazu. Zeitweise dem Sprechen zu entsagen um der vom Sprachmüll zugedeckten anderen Möglichkeiten willen, bleibt also eine sinnvolle Verhaltensoption zur Ausweitung unserer Freiheitsspielräume.

In welche Bezirke wir geraten, wenn wir die kulturell durch Sprachen im weitesten Sinne vermittelten Zonen unseres Selbst­verständnisses verlassen, bleibt eine Frage, auf die ich hier nur hindeute; das gesamte Problem der Grenzüberschreitung im Bereich unserer Gegenstands- und Wirklichkeitserfahrung, der möglichen temporären >Abschaffung der Wirklichkeit< (Musil) und der Begegnung des vom Ich erlösten Subjekts mit einer sprachlich nicht mehr erreichbaren Leere gehört zu diesem Fragenkreis.

Im Sozialcharakter korrespondieren unsere Ego-Strukturen also den Mustern der herrschenden Kultur. Sie sind nicht identisch mit ihren verbal proklamierten Wertorientierungen. Im Gegenteil: wäre Europa beispielsweise ein von seinen proklamierten christlich-humanitären Werten wirklich geprägter Kulturbereich, dann sähe unser Sozialcharakter sicher anders aus. Gandhi, der einmal gefragt wurde, was er – aus seiner hinduistischen Sicht – vom >christlichen Europa< halte, soll mit einem unseren Europäer­hochmut beschämenden Humor geantwortet haben: >Das wäre eine gute Idee.<

Unsere Pyramiden-Unkulturen haben im Laufe der Jahrtausende zur Ausbildung von Ego-Strukturen geführt, die monströsen Geweihbildungen gleichen. Man kann diese Geweihe anstaunen, sammeln, ausstellen und wissenschaftlich klassifizieren. Für unser Zusammenleben werden sie mehr und mehr zu einer Last und zu einem gigantischen Unfug.

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Es gibt Hirsche, jeder weiß es, die sich bei ihren Rangstreitereien derartig mit ihren zergabelten Aufbauten verkeilen, daß sie nicht mehr voneinander loskommen, mit umgerenkten Hälsen und herausquellenden Zungen zu Boden stürzen und grauenhaft verenden. Erinnern nicht unsere west-östlichen Systemrivalitäten an solche Konkurrenzkämpfe, bei denen die Geweihe, die weihevollen Aufbauten einer bis ins Aberwitzige verästelten Kultur über unseren Köpfen, sich tödlich ineinanderschrauben und uns einem grauenvollen Ende überantworten? Diese Geweihbildungen unserer hochgetriebenen Kultur, die sich mit immer gefährlicheren Mordwerkzeugen verbindet, mit dolchartigen Augensprossen und todbringenden Knochenspitzen, müssen wir sie nicht endlich abwerfen?

Nicht für Barbarei wird damit plädiert, sondern für eine neue, domistische Kultur mit Geweih. Dies bedeutet nicht etwa eine Absage an die Vielgestaltigkeit der individuellen Existenzformen und Beziehungsmuster. Es sind erst die vom Pyramiden-Unwesen befreiten Sozialstrukturen, in denen die kreative Abweichung von der Norm, die Querköpfigkeit und die Verrücktheiten des Einzelgänger- und Dissidententums ihre Spielräume finden. Nicht uniforme Gleichheit ist mit Gleichberechtigung gemeint, und der Anspruch auf Vereinzelung und Distanz zum Kollektiv, den Künstler, Propheten, Erfinder und >Irre< zu allen Zeiten erhoben haben, er wird erst in domistischen Kulturen wirklich anerkannt, weil hier auch keine Typendiktatur mehr praktiziert wird. Das heißt: auch die Gleichmacherei des Sozialcharakters, die im atavistisch-regressiven Gemeinschaftskult mancher Alternativgruppen herrscht und dort oft als Legitimationsideologie für eine heimliche neue Oligarchie mißbraucht wird, gibt es in domistischen Neuansätzen nicht mehr. Der Prüfstein domistischer Moral ist stets: wie lieblos oder liebevoll geht eine Gruppe mit ihren Außenseitern und Minderheiten um?

Der kreative Außenseiter ist es ja oft erst, der – etwa als Künstler – unser Bewußtsein erweitern hilft, indem er uns Lebens­möglichkeiten vor Augen stellt, auf die wir von uns aus vielleicht nie verfallen wären. Er erweitert damit unsere Wirklichkeit und das Netz der Verbindungen, die wir mit ihr und untereinander halten.

Die alte Einsicht von Aristoteles, die er selbst jedoch im Rahmen seiner pyramiden-getreuen Anthropologie nicht zu ihrer wahren Bedeutung entfalten konnte: daß nämlich in der Sprache und im Sprechen Menschen schon immer miteinander verbunden sind, diese Einsicht hat unter den zeitgenössischen Philosophen vor allem Jürgen Habermas mit seiner Konzeption vom herrschafts­freien Dialog wieder aufgenommen.

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 Das im dialogischen Geschehen und in jeder gelingenden kommunikativen Interaktion enthaltene Moment der wechselseitigen Zuwendung und des Verbundenseins wird aber bei ihm, soweit ich sehe, nirgends von der sozialen Dimension unserer Liebesfähigkeit her interpretiert. Dabei läßt sich das Gespräch zwischen gleichberechtigten Teilnehmern auch als Modell herrschafts­freien Sozialverhaltens erotologisch näher untersuchen.

Zwar: wo das Wort nicht zum Fleisch wird, dem Reden kein Tun korrespondiert, dort bleibt es folgenlos für die soziale Praxis, die nur zu einem geringen Teil aus sprachlicher Kommunikation besteht. Wo das dialogische Wort aber zum Fleisch wird wie in den gelebten Utopien, dort müssen wir mit den >Kontingenzen, die an der körperlichen und moralischen Verfassung des einzelnen unaufhebbar hängen<28, also mit Einsamkeit und Schuld, Krankheit und Tod nicht mehr >prinzipiell trostlos< leben, wie Habermas meint; mögen gelebte Utopien in seinen Augen auch >ein Rückmarsch zu partikularen Identitäten< nach Art von Indianerreservaten sein. Kann nicht gerade die kreative Regression auf solche bewußt als Stückwerk errichtete liebes­kommunistische Gemeinwesen die Erneuerung unserer Lebens­verhältnisse einleiten?

 

Fraternität und eine Herausforderung: der Kibbuz

 

In der zeitgenössischen Molekularbologie gibt es Forschungsprojekte, die auch für eine Theorie domistischer Neuansätze Vorstellungshilfen anbieten. Diese Forschungsarbeiten laufen darauf hinaus, in den Zellen lebender Organismen schlafende Potentiale zu entdecken, die unter bestimmten Bedingungen, etwa bei Bedrohung, aufgeweckt und aktiviert werden können. Sie besorgen die Rettung der lebenden Substanz; unter Umständen ist der Preis dafür deren Deformation; besser würde man vielleicht sagen: deren Formveränderung, denn der Begriff >Deformation< macht ja die bisher geltenden Verhältnisse zur Norm. Jedenfalls scheint es im Molekularbereich von Organismen so etwas wie SOS-Potentiale zu geben, die überraschende, lebensrettende Neuentwicklungen einleiten, wenn die Situation es verlangt.

Müssen wir nicht heute auch in den Sozialwissenschaften die Orientierung an Makrodimensionen, etwa an Schichten, Klassen, Institutionen, Normen- und Rollensystemen, ergänzen um eine Art Molekulardimension des Handelns kleiner Gruppen und einzelner Menschen, die – Enzymen oder >Botensubstanzen< vergleichbar – in winzigen Dosierungen weitreichende Wirkungen auf der Makroebene von Gesellschaften ausüben können?

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Es geht hier um meso-soziale Aspekte des gesellschaftlichen Stoffwechsels in unseren Pyramidensystemen und um den vielleicht lebensrettenden Einfluß, den kibbuzartige Gruppen und ähnliche domistische Neuansätze auf diesen uns alle krank machenden Stoffwechsel nehmen können. Es geht um die Erneuerung unseres Zusammenlebens aus dem Geist der Fraternität.

Theodor Fontäne benutzt den Ausdruck noch ganz selbstverständlich, z.B. in den >Wanderungen durch die Mark Brandenburg^ wo er >Dampfschiffheckereien< gegenüber Floßleuten auf der Oder beschreibt (mit ihren Bugwellen überschwemmen die Dampfer mutwillig die Flöße): >... Das weckt dann freilich Stimmungen, die der Vorstellung von einer wachsenden Fraternität des Menschengeschlechts völlig Hohn sprechen.. .<

Als fraternitär können wir jedes enge Verbundensein von Menschen bezeichnen, die sich als Brüder und Schwestern betrachten, ohne notwendigerweise biologisch verwandt zu sein, die sich also in freier (selbstgewählter) Bindung zu überschaubaren Solidar­gemeinschaften zusammenschließen, die im Prinzip jedem Menschen offenstehen.

Der Hinweis auf Überschaubarkeit und grundsätzliche Offenheit berücksichtigt die Erfahrung, daß optimale Größenordnungen für fraternitäre Gemeinwesen existieren, und daß jedes dieser Gemeinwesen bestimmte Regelungen für die Aufnahme neuer Mitglieder kennt. Das Moment der Herrschaftsfreiheit fehlt denjenigen religiös->fraternitären< Gruppen, die hierarchische Assoziations­muster nach dem Modell patri- oder matriarchalischer Verwandtschafts­organisation aufweisen.

Ihre herrschaftsfreie Föderation in einem globalen Netz selbstverwalteter Gemeinwesen ist die dem Prinzip der Fraternität korrespondierende und erst noch zu verwirklichende Form der Makrogesellschaft. ZuJn Verständnis von Fraternität, wie ich es hier nahelegen möchte, gehören zwei wesentliche Voraussetzungen. Zum einen die grundlegende Annahme, daß wir liebesfähig sind: Dieses Motivationspotential zielt auf Herstellung und Erhaltung >immer größerer Einheiten< also auf Bindung. Es ist zu seiner Aktualisierung an bestimmte Bedingungen geknüpft, und es kann sich in den verschiedenen Wertrichtungen konkretisieren, die ich hier in meiner >erotischen Farben­lehre< skizziere.

Zum anderen gehört dazu die Annahme, daß unsere Liebesfähigkeit geschichtlichen Charakter hat, also offen für Innovationen ist. Betont wird damit die empirisch belegbare und meist unausgeschöpft bleibende Möglichkeit des Lernens.

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 Die Ausbildung fraternitären Verhaltens ist wesentlich ein Lernprozeß. Zu seinen Bedingungen gehören vor allem Aneignungsmöglichkeiten in Gestalt real erfahrbarer domistischer Gemeinwesen, die Fraternität praktizieren.

Drei Ebenen lassen sich vielleicht bei der Charakterisierung von Fraternität unterscheiden: die Ebene des Individuums, die Ebene sozialer Beziehungen und die Ebene von Normen.

1. Auf der Bezugsebene des Individuums begegnet uns Fraternität als ein zielgerichtetes Verhalten, dessen Energiemoment wir als erotische Energie (im mehrfach erörterten, an Sigmund Freud anknüpfenden Sinn) auffassen können. Sein Richtungsmoment läßt sich als die besondere Gestalt oder Bedeutungs-Tönung verstehen, die diese erotische Energie im Bereich der angenommenen Wertdimensionen gewinnt. Diese Bedeutungs- oder Wertgestalt ergibt sich bei fraternitärem Verhalten vor allem aus der Identifikation mit >Brüdern und Schwestern< (soziale Wertdimension), der Fürsorge und gegenseitigen Hilfe (ökonomische Dimension, die auch gleichberechtigtes Teilen einschließt) sowie der Herrschaftsfreiheit (politische Dimension). Andere Wertdimensionen mögen jeweils mit hereinspielen; so haben z.B. das ästhetische und das vitale Moment mit großer Wahrscheinlichkeit in vielen ordensartigen Gemeinschaften (von spartanischen Kriegerverbänden über den Templer-Orden, Nonnen und Mönche verschiedener Denominationen bis zur Oneida-Kommunität oder zum Friedrichshol) >iraternitärem< Verhalten seine spezifische Tönung gegeben, und auch religiöse und theoretische Momente haben das jeweilige Selbstverständnis und die zugehörige Beziehungspraxis mitgefärbt und geprägt.

In fachwissenschaftlichen Begriffen ausgedrückt, wäre fraternitä-res Verhalten also eine spezifische Konkretion unserer Liebesfähigkeit, die sich psychologisch als erwerbbare Disposition zur Identifikation mit unseren >Brüdern und Schwestern<, zur Fürsorge, gegenseitigen Hilfe, gleichberechtigtem Teilen und herrschaftsfreien Beziehungen beschreiben ließe. In habitualisierter Form ist sie ein Eigenschafts-Syndrom des Sozialcharakters in fraternitären Gemeinwesen, Ergebnis also eines entsprechenden Sozialisations­prozesses im dafür vorauszusetzenden Aneignungsfeld.

Einfacher gesagt: Brüderlichkeit (und Schwesterlichkeit) ist erlernbar. Sie kann zu einer unserer neuen Eigenschaften werden, wenn wir uns auf eine Lebensform einlassen, die alle Seiten unserer Liebesfähigkeit zum Blühen bringt.

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2.
 Auf der Ebene sozialer Beziehungen und Strukturen läßt sich Fraternität als ein dritter Typus von Assoziation neben Verwandtschaft und Arbeitsteilung in domistischen Gemeinwesen verstehen. Es handelt sich um eine Institutionalisierung von nichtbiologischer Geschwisterschaft, um einen hierarchiefreien Verbund einander zugewandter Menschen, der den gesamten Lebens- und Arbeitszusammenhang (oder auch Teile davon) umfassen kann. Kennzeichen solcher fraternitären Gruppen oder Gemeinwesen sind:

Herrschaftsfreiheit, Entstehung in freier Übereinkunft, Gleichberechtigung aller Mitglieder, enges Verbundenheitsbewußtsein, grundsätzliche Offenheit für jedermann, Solidarität vergleichbaren Gruppen gegenüber (Föderationsbereitschaft), auch gegenüber der außersozialen Realität (z.B. der Natur). Es handelt sich also um die soziale Verkörperung von >Brüderlichkeit< im umfassenden Sinne. Auch auf der sozialen Ebene läßt sich ein energetischer Aspekt ausmachen: der fraternitäre Assoziations-Typ setzt psychische Energien frei. Er ist gewissermaßen ein soziales Fusionskraftwerk, in dem Liebeskräfte entstehen.

3. Auf der Bezugsebene von Normen steht die Fraternität auf einer Ebene mit Prinzipien wie Freiheit und Gleichheit und ist inhaltlich eine dem oben charakterisierten Verhaltensmuster bzw. den soeben skizzierten Gruppenprozessen und -Strukturen entsprechende Wertgestalt, die sich aus realen fraternitären Verhaltensweisen und Beziehungsstrukturen abstrahieren läßt. Sie kann als Verbindung von Teilmomenten (Wertdimensionen) des Eros dargestellt und verstanden werden und unterliegt historischem Wandel, ist also - wie die zugrunde liegende Wirklichkeit selbst – offen für Innovationen.

Von den Bedingungen für die Aktualisierung fraternitären Verhaltens, die eine eigene ausführliche Untersuchung wert wären, möchte ich hauptsächlich zwei nennen: Notsituationen und Aneignungsgelegenheiten.

Die erste, wenn auch für sich allein nicht hinreichende Bedingung scheint die Erfahrung von Bedrohung, Verfolgung, Unterdrückung oder Gefahr zu sein, also die Erfahrung von Notsituationen, die Angst oder zumindest Unbehagen auslösen. Der >fraternisierende< Effekt solcher Situationen läßt sich psychologisch als Regression gegenüber Belastungen (Streß) interpretieren. Wer sich bedrängt fühlt, sucht Auswege. Häufig wird in solchen Situationen zurückgegriffen auf ursprünglichere (>primitivere<) Verhaltensmuster. Die falsche, zur Bedrohung und Sackgasse gewordene Ordnung der Dinge und Verhältnisse wird dabei zurückgenommen oder abgeworfen.

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 So rückt man bei Gefahr enger zusammen, sucht Anlehnung bei anderen und so weiter. Zwar behindert die Pyramidenkrankheit, wie ich zu zeigen versucht habe, die Verwirklichung unserer Liebes­fähigkeit. In dem Maße, in dem die zerstörerische Gewalt der herrschenden Verhältnisse und damit auch der Leidensdruck zunimmt, wird unsere Liebesfähigkeit aber wie ein lebensrettendes SOS-Potential herausgefordert. Diejenigen, die einerseits unter den Pyramiden­verhältnissen am intensivsten leiden, andererseits noch nicht vollständig durch sie gelähmt sind, werden also vermutlich zuerst Auswege suchen.

Die Regression aber ist, als Rückgriff auf ursprünglichere Verhaltensmuster, gleichzeitig ein Teilmoment innovativer Prozesse: Erfahrene Not wirft uns nicht nur zurück, sie macht auch erfinderisch.

Soziale Innovationen, die nicht nur in kurzfristigen Feuerwerken euphorischer Gemeinschaftsstimmungen verpuffen, sind aber psychologisch in Lernprozessen verankert, und Lernvorgänge sind als Prozesse der Aneignung von Realität auf Vorbilder oder Modelle angewiesen. Das heißt: fraternitäres Verhalten muß bereits real erfahrbar sein, um reproduziert und eventuell weiter ausgebaut werden zu können. Eine zweite Bedingung für die Entstehung fraternitären Verhaltens ist also, daß es in Modellen herrschaftsfreien Zusammenlebens und -arbeitens beispielhaft vorgelebt wird. Fraternitäres Verhalten blieb bisher wohl auch deswegen oft bloßes Lippenbekenntnis, weil glaubwürdige Aneignungsgelegenheiten fehlten, zu wenig bekannt waren oder als zu wenig attraktiv erlebt wurden. Die domistischen Gemeinwesen und Einrichtungen, die authentische Erfahrungen mit Selbstbestimmung, Gleichberechtigung und Fraternität ermöglichen, sind solche Lerngelegenheiten. Mehr und mehr Menschen erscheinen sie als attraktiver Neuer Weg.

Jeder Lernprozeß setzt seinerseits ausreichende Motivation voraus: ich muß gute Gründe dafür haben, mich auf diesen Lernprozeß einzulassen; ich muß es wollen können. Freiheitsdurst als Beispiel: wie macht man jemanden durstig auf ein Getränk, das er noch gar nicht wirklich kennt? Man führt es ihm vor, man läßt es ihn probieren. Nur darüber zu reden, ist zu wenig; es muß auch sinnlich verstanden werden, warum Freiheit süß schmeckt, und daß der domistische Neuansatz mehr Lebensqualität bietet als die bestehende Misere.

Zur Herstellung neuen sozialen Gewebes, in dem es keinen Wiederholungszwang für Katastrophen mehr gibt, muß also ein vielgestaltiger und weitgestreuter Neubeginn auf meso-sozialer Ebene mit herrschaftsfreien Gemeinwesen und Alternativeinrichtungen unternommen werden.

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Aus der neueren Sozialpsychologie wissen wir, daß die Fähigkeiten hierfür zu einem Sozialcharakter gehören, der an bestimmte Entwicklungsbedingungen geknüpft ist — eben an den Aufbau oder die Existenz sozialer Systeme, wie die domistischen Lebensformen sie bereits mehr oder weniger ausgeprägt darstellen. Sie belegen aufs neue, daß Veränderungen unseres Bewußtseins, hier vor allem: unserer Motivation, von Veränderungen unseres >Seins<, also unserer sozialen Existenz­formen abhängen, und daß die Bedingungen dafür auch im lebensgeschichtlichen Zeitrahmen herstellbar sind. Eines der wichtigsten Beispiele in der neueren Geschichte ist dafür die Kibbuzbewegung, von der schon kurz die Rede war.29

Viele Leute hören heute weg, wenn von Israel und besonders, wenn vom Kibbuz gesprochen wird. Kritiker kreiden dem Kibbuz meist die araberfeindliche Politik des Staates Israel an, den die Kibbuzbewegung mit aufgebaut hat. Rudolf Bahro erwähnt zum Beispiel den Kibbuz nicht mit einem Wort in seinem bekannten Buch »Die Alternative«, in dem er die neue Gesellschaft mit genau den Merkmalen charakterisiert, die im Kibbuz seit mehr als drei Generationen verwirklicht sind. Den Parteisozialisten war der Kibbuz immer zu kleinbürgerlich. Für viele religiöse Gruppen ist er zu atheistisch-diesseitig. Den Grünen und der Friedens­bewegung ist der Kibbuz zu militant und zu wenig ökologisch orientiert, und den meisten Landkommunen ist er zu staatsfromm und zu wachstumsbegeistert; außerdem beschäftigt er Lohnarbeiter.

Das Image des Kibbuz ist übrigens auch in Israel selbst, besonders bei Jüngeren, ziemlich negativ: Der moralische Anspruch und die Illusion vom neuen Menschen, wie gesagt wird, nervt viele Leute dort, und nicht selten wird moniert, es ginge im Kibbuz auch recht gewöhnlich zu, man achte auf seinen persönlichen Vorteil, es gebe heimliche Hierarchien, die Familie und Außen­beziehungen spielten eine zunehmende Rolle, und Verkrustungen, gleichzeitig auch Auflösungs­prozesse kennzeichneten den Kibbuz.

Lohnt es sich überhaupt, die Diskussion über den Kibbuz noch einmal neu zu eröffnen? Worin besteht seine Bedeutung? Schon 1909 errichtete eine kleine Gruppe osteuropäischer Juden am See Genezareth die Siedlung Degania, aus der sich in den folgenden Jahren die Kibbuzbewegung entwickelte. Durch die äußeren Umstände bedingt (Sümpfe trockenlegen, Geldmangel, Araber-Überfälle) schlossen sich die Mitglieder gleich zu Beginn zu einer engen Gemeinschaft zusammen. Sie verzichteten auf privates Eigentum, nahmen alle Mahlzeiten gemeinsam ein und zogen auch die Kinder gemeinsam auf, denn die Frauen wurden bei der Feldarbeit gebraucht.

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 Aus diesen Anfängen entwickelte sich allmählich die Kibbuz-Lebensform. Das Wort bedeutet >Gruppe< oder >Gemeinschaft<, und mehrere Strömungen einer Philosophie der Gemeinschaft haben ursprünglich die Kibbuzbewegung beeinflußt: der religiöse Sozialismus Tolstojs, die deutsche Jugendbewegung mit ihrem romantischen Naturverständnis, der Zionismus und die >Religion der Arbeit< nach der nur körperliche Arbeit wahrhaft schöpferisch ist.

Alle Freuden und Leiden des menschlichen Daseins gibt es im Kibbuz natürlich auch, allerdings mit einigen wichtigen Ausnahmen: Niemand braucht sich Sorgen um den Arbeitsplatz zu machen, denn der Kibbuz ist so organisiert, daß Vollbeschäftigung garantiert ist – lebenslang. Niemand braucht sich Geldsorgen zu machen, denn innerhalb des Kibbuz gibt es überhaupt kein Geld: Jeder erhält, was er braucht, von der Gemeinschaft. Es gibt keine Einkommensunterschiede, weil es gar keine Einkommen gibt. Wir kennen solche Verhältnisse sonst innerhalb unserer Familie, und wie einen sehr großen Familienbetrieb können wir uns näherungsweise den Kibbuz auch vorstellen. Jede Arbeit gilt dort als gleichwertig: Traktorfahren, Kochen, Buchhaltung, Kinder betreuen. Die weniger beliebten Arbeiten, wie Dreckarbeiten in der Großküche, werden gerecht unter allen aufgeteilt; darunter auch die Leitungs- und Führungsaufgaben, nach denen sich keiner im Kibbuz drängt. Da sie keine materiellen Vorteile bringen, reißt sich niemand darum. Oft ist es sogar ein Problem, Leute für die Selbstverwaltungs­aufgaben zu finden.

Es gibt keine Grabenkämpfe zwischen Konkurrenten wie in unserer Wettbewerbsgesellschaft, wo jeder jeden auszustechen sucht. Trotzdem wird deswegen nicht etwa im Kibbuz der Leistungsanspruch aufgegeben. Die Auffassung ist ja weit verbreitet, daß jede Initiative verlorengeht und niemand mehr arbeiten will, wenn es keinen Wettbewerb mehr gibt und jeder die Anreize für seine Arbeit praktisch selbst bestimmt. Diese Auffassung ist offensichtlich falsch. Sie wird durch die jahrzehntelange Praxis des Kibbuz und auch durch eine Anzahl ähnlich aufgebauter Gemeinschaften außerhalb Israels widerlegt.

Ob die Lebensform des Kibbuz ohne weiteres übertragen werden kann in andere Gesellschaften, ist auch für viele Kibbuz-Anhänger zweifelhaft. Sie entstand ursprünglich aus einer sehr konkreten Notsituation, aus den Judenverfolgungen und der daraus erwachsenen zionistischen Erneuerungsbewegung. Immerhin hat sich aber inzwischen auch in anderen Ländern gezeigt, daß Versuche mit fraternitären neuen Lebensformen nicht nur unter den besonderen historischen Bedingungen Israels gelingen können.

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 In den USA und in Japan gibt es unterdessen sogar erste Föderationen kibbuzartiger Gemeinwesen, die den israelischen in manchen Hinsichten sehr ähnlich sind. Eine wichtige Voraussetzung für ihr Gelingen ist, daß die Mitglieder sich in hohem Maße mit dieser Form fraternitären Zusammenlebens identifizieren. Das bewußte Eintreten für diese Lebensform und ihre Grundwerte, zu denen Gemeinschafts­eigentum und völlige Gleichberechtigung aller Mitglieder gehören, diese Grundhaltung ist letztlich das tragende geistige Fundament des Kibbuz.

Ohne diese Orientierung an überpersönlichen Werten wäre ihr Gemeinschaftsexperiment längst gescheitert; davon sind alle Sprecher und Wortführer des Kibbuz überzeugt. Solche Werte waren es ja auch, die seinerzeit den Geist der Gründergruppen ausmachten. Es sind also keineswegs nur materielle Interessen, die im Zentrum der Kibbuzkultur stehen. Es ist ein ausgeprägter Gemeinschaftsgeist, der das Selbstverständnis des Kibbuz bestimmt, und seine Brüderlichkeitsmoral ist tief in biblisch-humanistischen Gerechtigkeitsidealen verwurzelt.

Wenn wir den Kibbuz als ein Experiment ansehen können, das – wie Martin Buber sagte – »nicht fehlgeschlagen ist«, warum hat der Kibbuz dann bisher außer bei einigen kommunitären Gruppen so wenig Resonanz über Israel hinaus bewirkt? Es sind wohl mehrere Gründe, die hier zusammentreffen. Zum einen hat die Geschichte der Leiden und Verfolgungen dem zionistischen Traum von einem eigenen Staat der Juden auch der Kibbuzbewegung ihren unverwechselbar jüdischen Charakter gegeben, der sich nicht ohne sehr bewußte Übersetzungsarbeit in andere Kulturen übertragen läßt. Daneben gibt es jedoch Aspekte des Kibbuz, die nicht auf die jüdische Leidensgeschichte zurückverweisen, sondern die das utopische Erbe der gesellschaftlichen Erneuerungs­bewegungen unserer gemeinsamen Geschichte verkörpern. Diese Besonderheiten des Kibbuz, die mit seiner Gerechtigkeitsmoral, seiner Gütergemeinschaft und mit seiner Solidaritätskultur zu tun haben, treffen heute bei vielen Menschen auf massive gefühlsmäßige Abwehr gegenüber allem, was auch nur von weitem an >Sozialismus< oder gar >Kommunismus< erinnert. Im Bewußtsein der meisten Menschen sind diese Begriffe bis heute verdüstert durch die in ihrem Namen unternommenen und grauenhaft fehlgeschlagenen Großversuche. Ausdrücke wie >Sozialismus< und >Kommunismus< sind daher außerhalb linker Subkulturen mit Ängsten und Beklemmungen besetzt, die auch dem Kibbuz gegenüber als innere Sperre wirken (bei vielen Linken bewirkt der antizionistische Affekt entsprechende Blockaden).

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Waren es aber nicht immer Minderheiten in unserer Geschichte, die einen Neuanfang gewagt haben? Angesichts unseres selbst­mörderischen Weltzustands werden heute von Minderheiten in vielen Ländern Rettungswege mit tiefreichend veränderten Lebensformen gebahnt. In der Grundidee stehen sie der Kibbuzgestalt meist sehr nahe. Meine These lautet daher: Der Kibbuz wird seine überzeugendste Verwirklichung erst in der nahen Zukunft finden.

Im Oktober 1981 hat ein Teil der Kibbuzbewegung mit einer internationalen Konferenz zum ersten Mal auch offiziell den Versuch zur Überschreitung ihrer bisherigen selbstverordneten Grenzen unternommen. Aus sechzehn Ländern Amerikas, Europas, Asiens und Australiens waren rund vierzig Teilnehmer zu einem Erfahrungsaustausch über neue Lebensformen nach Israel eingeladen. Alle Teilnehmer gehörten entweder einem kibbuzartigen Gemeinwesen an (wie zum Beispiel >Twin Oaks< in Virginia), oder sie waren Mitarbeiter an genossenschaftlichen Alternativprojekten. Mit dieser Initiative kündigt sich die Chance an, einen jüdischen Humanismus wiederzugewinnen, dessen Wurzeln weit in die Geschichte zurückreichen, bis nach Babylon; einen Humanismus, der eine weltweite Perspektive öffnet und den engen völkischen Horizont vielleicht überwinden kann. Es gibt im Kibbuz auch bereits international orientierte Zusammenarbeit mit nichtjüdischen Genossenschaftsexperimenten.

Und warum sollten nicht, etwa nach dem Vorbild der Schweiz, die verschiedenen ethnischen Gruppen eines Tages dort in einer Konföderation friedlich zusammenleben können? Dieser Konföderationsgedanke wird bisher auch in Israel selbst nur von einer Minderheit befürwortet. Sie halten die Bindung des Judentums und des Kibbuz an den völkischen Nationalstaat für ein Unglück. Die Überwindung der nationalstaatlichen Selbsteinmauerung betrachten sie als die einzig .verantwortbare Zukunftsperspektive. Utopie? Auch als der Kibbuz Vor knapp achtzig Jahren entstand und zuerst nur eine Vision in den Köpfen und Herzen junger Leute war, wurde dieser winzigen Minderheit prophezeit, daß etwas Derartiges »nie« gelingen könne. Gemeinschaftsbesitz und umfassende Mitbestimmung seien mit der menschlichen Natur nun einmal nicht vereinbar; sie müßte daher notwendig scheitern. Heute gibt es fast dreihundert Kibbuzim in Israel.

Die 1972 gegründete >Society for Middle East Confederation< setzt sich für eine solche zur Zeit noch utopisch anmutende Föderation ein. Sie soll aus einem palästinensischen Staat, aus dem Staat Israel und dem Königreich Jordanien bestehen.

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 Mitglieder dieser Gesellschaft sind Juden, Araber und Sympathisanten aus dem Ausland. Unter den internationalen Schirmherren sind Martin Niemöller und Yehudi Menuhin. Der Initiator der Society ist Joseph Abileah, der seine Position als die jüdische der frühen Christen beschreibt. Schon in Babylon, sagt er, hat das Judentum erneuernde Impulse aus den ostasiatischen Religionen aufgenommen: die Liebesmystik mit dem zugehörigen Brüderlichkeitsmotiv sowie die gesamt-menschheitliche, den Stammeshorizont überschreitende Orientierung. Der Zionismus-Nationalismus erscheint dieser schon damals entwickelten Haltung gegenüber als ein atavistischer Rückfall. Joseph Abileah gehört zur internationalen Friedens­bewegung und ist auch am >Neve-Schalom-ProjekK beteiligt, in dem Juden, Christen und Moslems zusammenarbeiten. Zur Zeit bauen die Mitarbeiter dieses Projekts bei Jerusalem ein Friedenszentrum auf, dessen Lebensform am Kibbuz orientiert ist. Ein französischer und ein deutscher Freundeskreis existieren schon bereits.

Der Kibbuz bleibt trotz allen Vorbehalten, die hauptsächlich mit seinen atavistisch-regressiven Aspekten zusammenhängen, eines der wichtigsten Beispiele dafür, daß ein gleichberechtigtes, selbstbestimmtes und solidarisches Zusammenleben nicht erst in einer fernen, klassenlosen Endphase der menschlichen Geschichte möglich ist, sondern schon heute und hier. Die Machbarkeit einer solchen utopischen Lebensform hat die jüdische Kibbuzbewegung bewiesen. Das bleibt ihr größtes historisches Verdienst.

Seiner ganzen Anlage nach gehört der Kibbuz eigentlich in die Opposition gegen Verfilzungen mit dem Staatsapparat. Die Begegnung mit den kommunitären Gruppen des Auslands kann dem Kibbuz behilflich sein, zu einer solchen produktiven Oppositionsrolle zurückzufinden. In Israel ist der Kibbuz heute noch eine dienstwillige Zelle des Staatsaufbaus. Eine genau entgegen­gesetzte Funktion haben – bewußt oder nicht – die meisten kommunitär-alternativen Gruppen außerhalb Israels: eine Rolle, die Herrschaftsstrukturen zersetzt und die etablierte Kultur produktiv in Frage stellt. Wenn der Kibbuz die in ihm angelegten humanitären Potentiale umfassend verwirklichen will, dann wird er ebenfalls eine solche Enzym- oder Sauerteig­funktion der produktiven Zersetzung in der eigenen Kultur anstreben müssen. Beim Araberproblem, bei der Demokratisierung und Humanisierung seiner Umgebungsgesellschaft hat er viel Gelegenheit dazu, und von nachdenklichen, moralisch sensiblen Kibbuzniks wird das inzwischen auch so gesehen.

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Die deutsche Sozialdemokratie hat in ihrer Geschichte den Genossenschaftsweg sehr unterschiedlich eingeschätzt. Im >Gothaer Einigungsprogramm< von 1875 (gegen das Karl Marx übrigens war) wurden noch >Produktivgenossenschaften< gefordert. Sie sollten schrittweise eine sozialistische Organisation der Arbeit entstehen lassen. Später wurde das Thema zurückgestellt. Auf dem Berliner Parteitag, 1892, erklärte sich die SPD sogar ausdrücklich gegen Genossenschaften. In Magdeburg, 1910, wurde die genossen­schaftliche Tätigkeit jedoch noch einmal als eine >wirksame Ergänzung des politischen und gewerkschaftlichen Kampfes für die Verbesserung der Lebensbedingungen...< angesehen. Es scheint so, als habe die SPD diesen dritten Weg neben der Partei- und der Gewerkschafts­arbeit beinahe vollständig aus den Augen verloren. Wie andere sozialistische Bewegungen auch, hat sie nach eher bürgerlich zu nennender Tradition in erster Linie auf die Machteroberung im Staat gesetzt, statt Selbst­verwaltungs- und Genossen­schafts­modelle praktisch zu erproben. Und warum wird in unseren gewerkschafts­eigenen Betrieben nicht längst der Versuch gemacht, >mehr Demokratie zu wagen<? Müßte heute nicht, auch dem Ostblocksozialismus gegenüber, endlich einmal vorgeführt werden, wie eine freie, genossenschaftliche Lebensordnung aussehen kann? Martin Buber hat einmal den >Mangel an Zielvorstellungen beim Werden der neuen sozialen Gestalt< beklagt, und er hat damit gemeint, es fehlen überzeugende inhaltliche Alternativen zu den vorherrschenden Lebensformen in Ost und West. In den jüdischen Gemein­schafts­siedlungen sah er vieles davon bereits verwirklicht, auch wenn ihm die zionistische Selbst­behinderung des Kibbuz schmerzlich bewußt war.

Auf der Weltkonferenz in Israel vom Oktober 1981 wurde vereinbart, die internationale Zusammenarbeit kommunitärer Gruppen auszubauen. In den jeweiligen Heimatländern soll darauf hingewirkt werden, daß genossenschaftliche Alternativ­bewegungen größere Anerkennung als bisher erlangen, daß Förderationen alternativer Gemeinwesen und Projekte gebildet werden, daß Förderkreise zur Unterstützung solcher Experimente entstehen, vor allem auch für Jugendliche, und daß ein internationales Informations­wesen aufgebaut wird, in dem sich kommunitäre Gruppen und Einrichtungen weltweit selbst darstellen können. An all diesen Vorhaben wird jetzt praktisch gearbeitet.

 

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Zum ästhetischen Aspekt des Eros

 

... und wenn das Reich der Finsternis mit Gewalt einbrechen will, so werfen wir die Feder unter den Tisch und gehen in Gottes Namen dahin, wo die Not am größten ist, und wir am nötigsten sind... Wenn's sein muß, so zerbrechen wir unsere unglücklichen Saitenspiele und tun, was die Künstler träumten.   Hölderlin, 1799

 

Die gelebten Utopien sind sinnlich erfahrbare Modelle eines freien, gleichberechtigten und solidarischen Zusammenlebens und lassen sich geradezu als >soziale Plastiken< (Joseph Beuys) auffassen. Wenn in ihnen >getan< wird, wovon >die Künstler träumten<, dann verschmelzen darin Leben und Kunst zeitweilig miteinander. Als >Stückwerk<, wie es im vorigen Abschnitt hieß, sind die gelebten Utopien zwar immer nur Teil des Ganzen unserer Lebensverhältnisse, führen aber doch beispielhaft in solchen Teilbereichen die neue Gestalt der Wirklichkeit leibhaftig vor, machen sie erfahrbar. Sie vergegenwärtigen also stellvertretend das neue Ganze, stellen seine Qualitäten dar und machen sie sichtbar. Dieses Vorführen, Vergegenwärtigen und Sichtbarmachen läßt sich als ein ästhetisches Moment der gelebten Utopien deuten (>aisthesis< heißt im Griechischen = Wahrnehmung).

Andersherum gesagt: Eros, das neue Verbindungen stiftende Energiepotential, wird unter ästhetischem Aspekt, indem es sich konkretisiert, für unsere Sinne wahrnehmbar; es nimmt sinnliche Qualität an. Die Utopie wird >Fleisch<, sie wird dem Ungläubigen Thomas vor Augen gestellt, er kann sich mit eigenen Ohren in ihr umhören, kann die neue Lebensqualität riechen, schmecken, ertasten. Sie ist sinnenfreundlich (Hieronymus Bosch hat sie so gemalt) und fordert auch unser ästhetisches Erleben heraus: sie >bezaubert< uns, macht uns staunen und erregt unser Wohlgefallen.

Viele Autoren haben dieses Wohlgefallen als einen >Vorgeschmack des Himmels< gedeutet, den Schönheit vermittelt, die ja - wie ich zu zeigen versucht habe - mit Zeitgestaltung und Zeitüberwindung in der Zeit einiges zu tun hat. Wahrscheinlich wird das intensive und besondere Wohlgefallen bei ästhetischem Erleben durch Fusionsvorgänge ausgelöst, durch eine Verschmelzung von sonst getrennten Bereichen. Die Aufhebung von Getrenntheit wird, wie wir bei Bosch gesehen haben, gern symbolisiert im Bild vom Paradies, jenem Zustand vor dem Sündenfall, als es das Böse noch nicht gab, als die Menschen geschwisterlich zusammenlebten, und als Sympathie und Zärtlichkeit ihre Beziehungen bestimmten. Und ist nicht ein paradiesisches Moment Teil allen ästhetischen Erlebens?

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Es wäre lohnend, diesem Motiv einmal bis in unsere Alltagsästhetik nachzugehen. Sind nicht beispielsweise im Bereich von Essen und Trinken die für jedermann am leichtesten zugänglichen ästhetischen Erfahrungen zu machen, die mit paradiesischem Wohlgefallen unmittelbar zusammenhängen? Sie mögen sich hier auf einer sehr ursprünglichen oder >primitiven< Stufe abspielen, haben aber zweifellos etwas mit jener Subjekt-Objekt-Verschmelzung zu tun, wie sie auch bei allen Versenkungsprozessen meditativer Art vorkommt, und das nicht etwa deswegen, weil beim Essen und Trinken eine buchstäbliche Einverleibung des Wahrgenommenen geschieht. Die Einverleibung beendet vielmehr gerade den Vorgang, um den es hier eigentlich geht, und den Baudelaire oder Dürckheim als eine >Vereinigung< mit dem Wahrgenommenen im Sinne einer Fusion von Subjekt und Objekt beschreiben. Der wahrgenommene Gegenstand (eine Speise, ein Getränk) verliert dabei seinen Gegenstandscharakter, das wahrnehmende Subjekt verliert oder öffnet vorübergehend seine Ego-Grenzen. Eine >größere Einheit< entsteht zeitweilig, ich und das Wahrgenommene werden >eins<, fusionieren. Wahrnehmung ist nicht länger gegenständlich, sondern sie wird >zuständlich<.30 In unserem Bewußtsein kommt es dabei zu charakteristischen Intensivierungen des normalen Erlebens und auch zu qualitativ veränderten Zuständen, die etwas mit Hochgefühlen, eben: mit dem erwähnten Vorgeschmack des Himmels zu tun haben.

Auch unser ästhetisches Erleben verweist uns also auf Fusionsprozesse, die uns in festliche Zustände versetzen und sich im Grenzfall zu einer als lustvoll erfahrenen Ich-Auflösung steigern. Sogar beim Schmecken und Riechen gibt es Anklänge daran, und wenn zur hilflosen Charakterisierung dieses Erlebnismoments nicht selten der >Himmel< bemüht wird, so spricht sich darin ein Gefühl dafür aus, daß von den Sinnen ein unmittelbarer Zugang zum >Übersinnlichen< führen könnte. Bestimmte Rhythmen, Klänge, Farben, geometrische Figuren: alle mit Wohlgefallen wahrgenommenen Ordnungen, >Form< im weitesten Sinne also wird als Zugang und Verbindung zu überzeitlicher Wirklichkeit in der Zeit erfahrbar.

Auch für den ästhetischen Zauber gilt das, den Menschen erfahren, die sich lieben: wenn sie sich anschauen, berühren, gegenseitig zuhören, wenn also ihre Sinne zärtlich miteinander ins Gespräch kommen und sie sich aufmerksam gegenseitig wahrnehmen.

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Viele Menschen sind allerdings in der bestehenden Gesellschaft so sehr von ihrem Leib entfremdet, daß ihnen solche dialogische Sinnlichkeit, die den anderen in seiner unverwechselbaren körperlichen Gestalt, eben: als dieses besondere, so nur einmal existierende Individuum meint, nur mühsam gelingt. Hier geht es, wohlgemerkt, nicht um das sexuelle Bedürfnis nach körperlicher Vereinigung (mit ihrem Orgasmuserlebnis), das sich als vitales Zwischenspiel einschieben kann oder auch nicht (ähnlich wie spirituelle oder Anklänge aus noch weiteren Erosbereichen hereinspielen können), sondern gemeint ist das Wohlgefallen an der individuellen Schönheit des Gegenübers.

Die Quelle der ästhetischen Faszination ist dabei also nicht sexueller Natur, wie das von manchen Freud-Epigonen31 angenommen wird, sondern umgekehrt: auch die sexuellen Erlebnisse haben teil an diesen viel umfassenderen, als >beseligend< erfahrenen Fusions­vorgängen, die sehr unterschiedliche Färbungen oder Bedeutungsrichtungen annehmen können: religiöse Verzückungs­erlebnisse (bei >Erleuchtungen< und mystischen Vereinigungen mit kosmischen Energieströmen), die Lust am Erkennen (Marx sprach von >Gehirnsinnlichkeit<), die Begeisterung und freudige Erregung bei Gemeinschaftserlebnissen und das ästhetische Wohlgefallen sind unterschiedliche Facetten unserer Glückserfahrungen, in denen uns die Gestalten des Eros gefühls­bewußt werden.

Eine mit Aristoteles an Erkenntnis-Funktionen überinteressierte Psychologie interpretiert noch das Fühlen nach dem Muster von Erkenntnis­vorgängen und sieht in der Gefühlsreaktion letzten Endes eine Art Stellungnehmen oder Urteilen. Für bestimmte Gefühle mit Signalcharakter mag das auch zutreffen,, etwa wenn Schmerzgefühle eine Warnung bedeuten. Aber wird man damit Gefühls­erlebnissen wie Faszination, ästhetischem Wohlgefallen oder Staunen gerecht?

Auch wo die Kunst in der Hegeltradition als »andere Art von Erkenntnis< (Adorno) interpretiert wird, als >Glanz des Wahren< oder als sinnliches Scheinen der Idee, dort wird die ästhetische Subjekt-Objekt-Beziehung im Grunde nach dem Muster der theoretischen aufgefaßt. Das eigentlich sinnliche Moment wird damit weggedrängt.

Die ästhetische Praxis aller Kulturen hat für die Kopulation von Lust und Geist immer eine Antenne gehabt. So hat bei vielen ethnischen Gruppen, etwa bei Waldindianern am Amazonas oder bei Sepik-Stämmen auf Papua-Neuguinea die Kunst die Aufgabe, zu den Geistern, also zur spirituellen Dimension der Wirklichkeit Verbindung herzustellen. Bei jedem Tauschhandel der brasilianischen Waldindianer werden beispielsweise zuvor durch Tanz und Musik Kontakte zu den Geistern gestiftet, auch zu denen des besuchten Orts.

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Eine Künstlerdelegation der besuchenden Gruppe geht vor Beginn des Handels in jedes Haus und bläst dort Beschwörungsmelodien. Außerdem findet ein Gemeinschaftstanz statt, mit einer Abordnung des besuchten Dorfs. So wird ein Geist guten Einvernehmens, eine – temporäre – größere Einheit hergestellt. Reste davon finden sich noch in den formelhaften Absichtserklärungen und Begrüßungs­ritualen bei Staatsbesuchen und feierlich besiegelten Vertrags­abschlüssen unserer eigenen Gesellschaft.

Wie aber, wenn ästhetisches Verhalten sich abspaltet vom realitäts-bezogenen Handeln? Etwa wenn in der Kunst symbolische Gestaltungen äußerer und innerer Wirklichkeit geschehen und solche Stellvertretungs- oder Ersatzhandlungen die Bezugs­wirklichkeit selbst unberührt lassen? Wenn also Welt- und Selbstgestaltung in einem Reich des ästhetischen Scheins stattfinden, das neben oder außerhalb der Wirklichkeit existiert; wenn die Ordnungen, die in diesem Sonderreich entstehen und erlebt werden, der Wirklichkeit selbst also vorenthalten werden? Gemeint ist hier nicht die etwas vereinfachende Kunst­psychologie, nach der Goethe den >Werther< schreibt, ihn im Buch Selbstmord durch Erschießen begehen läßt und so, in künstlerischer Ersatzhandlung, eigene Lebensprobleme auflöst und ins Reich des ästhetischen Scheins verschiebt.

Vielleicht wandern aber, abgesehen von den stofflich-inhaltlichen Stellvertretungsvorgängen, auch >Form<-Impulse ab in dieses ästhetische Reich, statt in der Lebensgestaltung verwirklicht zu werden: statt sein wirkliches Leben und Zusammenleben mit anderen Menschen frei zu ordnen, werden Wörter, Sätze, Klänge, Rhythmen und Bildelemente geordnet. Die Kunst kann so zum Ersatz für Formen gelebten Lebens werden.

Auch auf der Zuschauerseite gibt es diese Gefahr: in >ästhetischer Haltung< (Kierkegaard) bleiben die Welt- und Selbst­gestaltungs­impulse autistische Phantasietätigkeit; der Durchbruch zum realen Handeln unterbleibt. Wer überwiegend Zuschauer ist, läßt sich in dieser Rolle um wesentliche Dimensionen verkürzen, die gerade unsere konkrete Existenz ausmachen: beispiels­weise verkümmert dann das willensgeleitete, wirklichkeits­verändernde Handeln.

Ein sozialpsychologischer Aspekt der Kunst besteht darin, daß sie uns erlaubt, etwas >durch die Blume zu sagen< was in unverhüllter Gestalt für den Betrachter, Leser oder auch für den Künstler selbst ungenießbar oder nicht erträglich wäre, kann die künstlerische Form verdaulich machen. Das gilt von aller narrativen Theologie ebenso wie für die Einkleidung vieler unserer Erlebnisse und Einsichten in emotional tolerierbare Formen.

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Ohne diese Einkleidungen würden sie unser psychisches System sprengen. Die künstlerische Form hat in diesem Sinne auch eine Schutz- und Selbstschutzfunktion. So wäre zum Beispiel die unvermittelte Begegnung mit der Wirklichkeit, für die unsere Sprache Wörter wie >Das Göttliche< >Der letzte Seinsgrund< und ähnliche Prägungen bereithält, für die meisten Menschen eine panikerregende Erschütterung ihrer bisherigen Lebensform. Rilkes »Alle Engel sind schrecklich« verweist auf diesen Sachverhalt, vor dem wir uns schützen mit den beruhigend-bannenden Verharmlosungen unserer Rauschgold­vorstellungen.

Formerfindungen, wie sie sich in Ritualen, Gesetzen, Sozialstrukturen (zum Beispiel >Kirchen<), künstlerischen Gestaltungen und ähnlichen Gebilden verkörpern, lassen sich also als Einfriedungen oder Zähmungen der ursprünglichen Intensität deuten, mit der elementare Kräfte unseren seelischen Haushalt umzustürzen drohen. Auch Eros selbst hat etwas von dieser erschütternden Dynamik: wie das kosmische Getöse des reinen, intensiven Lichts, das wir meist nur ertragen, wenn es sich in seine Farben aufteilt...

Durch das Kultivieren der einzelnen Formprovinzen (der Spektralbereiche des Lichts) vermeiden wir die extremen Erschütt­erungen unseres Daseins, die wir erleiden müßten, wenn wir uns der allem zugrunde liegenden Energiewirklichkeit ungeschützt aussetzen würden. Das Problematische solcher Maßnahmen liegt auf der Hand: häufig dimensionieren wir die Schutzanlagen dermaßen festungsartig, daß sie nur noch der Abwehr dienen und nicht mehr der >Kanalisierung< der Energien, um die es hier geht. Im Bilde gesprochen: wer das Wasser so sehr fürchtet, daß er sich mit gewaltigen Dämmen und Deichen davon absperrt, der riegelt sich auch von den fruchtbar machenden und lebensspendenden Möglichkeiten des Wassers ab. Er verdorrt und verknöchert.

Die weitverbreitete Vorliebe für Liebesgeschichten (Filme oder Romane) hat psychologisch in dieser Abwehrstrategie vermutlich eine ihrer Wurzeln. Ihr Konsum und ihre Hervorbringung sind wahrscheinlich weniger Ersatzhandlungen als vielmehr Schutz­handlungen. Bei aller Sehnsucht nach Liebe, nach erfahrener und geschenkter Zuwendung, sind viele Liebes­geschichten eben auch eine Schutzvorrichtung zur Verhinderung von Liebe in der Lebenswirklichkeit des Lesers, Zuschauers und Autors. Die Liebe ist in unserer von der Pyramiden­krankheit tiefreichend geprägten Wirklichkeit, bei Lichte besehen, gar nicht zu gebrauchen. Sie stört nur, kehrt das unterste zuoberst, macht uns angst und bleibt daher besser eingesperrt in die schönen Schachteln unserer Träume.

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Nun muß die Kunst nicht abgespalten bleiben: ästhetisches Verhalten kann auch zum möglichen Übungsfeld der Gestaltung von Wirklichkeit werden. Der Scheincharakter wird für ein solches symbolisches Verhalten zwar stets so wesentlich bleiben, wie die Repräsentanz der Wirklichkeit im Bewußtsein qualitativ immer etwas anderes bleibt als die Wirklichkeit selbst.32 Können aber nicht ästhetische Praktiken auch darauf zielen, psychische Energien freizusetzen und überlegt auf Realitätsveränderungen zu richten? Es gibt seit jeher Künstler, die in ästhetischer Praxis auch eine Kraftquelle sehen, deren schöpferische Impulse alle Lebensbereiche durchdringen sollen. In der zeitgenössischen Kunstszene ist Joseph Beuys wohl der bekannteste Vertreter dieser Position.

 

  Von Bosch zu Beuys  

 

Mit seiner >Honigpumpe am Arbeitsplatz<33 will Joseph Beuys zeigen, daß uns allen an unseren Arbeitsplätzen etwas fehlt. Was könnte das sein? Da wir in unserem Berufsleben überall mit anderen Menschen zusammenarbeiten, können wir diese Frage, meint Beuys, nur gemeinsam mit anderen Menschen zu klären versuchen. Schon die bewußt in Gang gesetzte gemeinsame Suche nach dem, was uns fehlt, setzt Kräfte oder Energien frei, ein neuer Stoffwechsel kommt in Gang, der etwas Belebendes hat, etwas Aufbauendes und Nährendes: symbolisiert in dem Stoff, der vom Keller bis zum Dach und durch viele Räume des Gebäudes zirkuliert, in einem Röhrensystem, das Verbindungen herstellt und Kräfte verleiht...

Untersucht man genauer, meint Beuys, was uns in unserer Arbeitswelt hauptsächlich fehlt, so ist es für die meisten Menschen die Möglichkeit, sich selbst zu bestimmen, also Freiheit; es ist die Möglichkeit, wahrhaft schöpferisch zu sein. Die >Honigpumpe< ist also für Beuys – in gewisser Weise ähnlich Boschs Garten der Lüste – ein utopisches Gegenbild zur Wirklichkeit, ein Symbol dafür, wie unser Arbeitsleben eigentlich beschaffen sein sollte.

Beuys verbindet eine ganze Philosophie des Wirtschafts­lebens mit seiner symbolischen Aktion: nicht nur frei, auch brüderlich und gleich­berechtigt sollen wir zusammenarbeiten und -leben; erst dann entwickeln wir unsere wahren Wesenskräfte. Für Beuys steht ein Bild der künftigen Gesellschaft hinter seiner Aktion: in lebendiger Brüderlichkeit sollen wir eines Tages in einer die ganze Erde umgreifenden neuen Lebensform existieren.

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 >Honig< setzt dabei einen symbolischen Anfang – ist er doch ein Erzeugnis jener Lebewesen, die seit alters her mit ihrem Bienenstaat ein Sinnbild für soziale Ordnungen in der Natur sind.

Daß die Honigpumpe auf der >documenta<, also einer großen internationalen Kunstausstellung, der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, soll nach Beuys unsere Aufmerksamkeit darauf lenken, daß entscheidende Impulse für die Veränderung unseres Zusammenlebens aus der Kunst entspringen. Das geschieht jedoch nicht von selbst: Wer die >Honigpumpe am Arbeitsplatz< sehen wollte, stieß in der >documenta< gleich nebenan auf die >Freie Internationale Universität< eine unabhängige Bildungs­einrichtung, zu deren Gründern Joseph Beuys und Heinrich Böll gehören. Sie will eine Alternative zum staatlichen Bildungs­wesen sein, das nach ihren Erfahrungen die freie Entfaltung unserer Kreativität eher hindert als fördert. Die Freie Internationale Universität (FIU) ist ein Schritt in Richtung auf eine neue Gesellschaft: indem sie, offen für jedermann, nach den Ursachen von Fehlentwicklungen forscht und Ansatzpunkte für eine grundlegende Veränderung unserer Lebensverhältnisse erkundet. In poetischer Sprache: »Die Freie Internationale Universität nimmt den Gesang der Bienen wahr« (Beuys). Das Vermittlungs­problem ist hier also in das neue Kunstverständnis mit aufgenommen. Beuys spürt, daß die unmittelbare Begegnung mit zeitgenössischer Kunst (auch mit seinen eigenen Arbeiten und Projekten) häufig in die Irre führt. Diese Kunst ist kommentar­bedürftig. Die FIU will die unterirdischen Verbindungen zwischen Kunst und gesellschaftlicher Wirklichkeit herausarbeiten und bewußtmachen.

Der Künstler rückt, indem er Stoffe, Materialien und Elemente aus der unbelebten und der belebten Natur in ihren symbolischen Eigenschaften beim Wort nimmt und sie uns so vorführt, in die Nähe des Medizinmanns oder Schamanen, der noch magische Beziehungen zur Natur unterhält. Inhaltlich sind die Themen bei Beuys oft >Umhüllen<, >Beschützen<, >Heilen<. Er ist gleichzeitig fasziniert von allem Wandelbaren, Nicht-Festen; daher seine Vorliebe für Materialien, die das Offensein für Meta­morphosen ermöglichen. Folgerichtig engagiert sich Beuys auch politisch bei den Grünen. Es geht in seiner Kunst zurück ins Archaische, zu frühen Bewußtseins­zuständen, sowohl der Menschheit im ganzen als auch individuell: zurück in die Kindheit. Kreative und atavistische Regression mögen sich bei solchen Rückschritten gelegentlich schwer unterscheidbar durchdringen.

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Noch ein Wort zum Künstler Beuys und zu seiner Rolle in unserer Gesellschaft: Die öffentliche Zuordnung seiner gesellschaftserneuernden Vorschläge zum Kunstbetrieb läßt diese Vorschläge vielen Menschen als Seifenblasen künstlerischer Narrenfreiheit erscheinen. Damit werden sie im Grunde aus der Realität gerückt. Beuys selbst nimmt seine Vorschläge und Arbeiten zwar in einem Sinne ernst, der den Gegensatz von Kunst und Wirklichkeit hinter sich läßt. Im Bewußtsein vieler Zeitgenossen ist dieser Gegensatz jedoch noch voll erlebnisgültig. Die Gesellschaft als <soziale Plastik> — das ist der romantische und bisher nur in gelebten Utopien ansatzweise eingelöste Gedanke von der Überführung der Künstlerträume (Hölderlin) in die Wirklichkeit.

Die Verknüpfung der Zielsetzungen von Joseph Beuys mit der Kunstszene (so, wie diese Szene derzeit verfaßt ist) raubt seinem Ansatz einen Teil seiner Wirksamkeit, weil im Bewußtsein des Publikums der Gegensatz von Kunst und Leben weiterhin noch existiert. Und nicht nur im Bewußtsein der Menschen, sondern auch und zuerst in der bestehenden Gesellschaft selbst. Solange unser Berufsleben, unser Alltag, unsere Politik, unsere zwischenmenschlichen Beziehungen noch von den Gegensätzen und Getrenntheiten des Pyramidentums beherrscht sind, so lange kann das Publikum in seiner Mehrheit den Freiraum der Kunst nur als Gegenwelt zur täglich erfahrenen Misere auffassen. 

Die Freiheiten der Kunst und ihre Grenzüberschreitungen können in der gegebenen Gesellschaft von den meisten Menschen daher nur als >Illusion<, als Spinnerei oder Wahnsinn erfahren werden. Dies sind die Gestalten, die wirkliche Freiheit, Gleichberechtigung und Brüderlichkeit in den Köpfen der meisten Menschen zur Zeit noch annehmen. Solche Zusammenhänge werden bei Beuys zuwenig reflektiert, und er verwickelt sich daher in Widersprüche. Er macht es dem Kunstbetrieb zu leicht, ihn als Genie, als Star und künstlerischen Tugendbock zu handeln, und damit wird im Effekt (sicher nicht seiner subjektiv redlichen Absicht nach) die Trennung der Sphären eher befestigt als aufgehoben.

Führen dennoch Wege von der Kunst ins Leben? Wir haben gesehen: Unsere Kreativität wird in der bestehenden Pyramiden­gesellschaft behindert. Sie wird behindert, aber nicht völlig erstickt; sie sucht sich Auswege – zum Beispiel im Freiraum der Kunst. Man kann die Kunst, wie Sigmund Freud das tat, resignierend ganz und gar als eine Art Droge auffassen, die angenehme Träume macht, also als eine Flucht- und Ersatzwelt, die uns – zeitweise wenigstens – aus der alltäglichen Misere von Leiden, Einengung und Ohnmachts­erfahrung entführt.34 Man kann die Kunst aber auch als einen Vorschein von real möglichen Veränderungen deuten.

Die Kunst und die ästhetische Praxis im weitesten Sinne übernimmt dann eine Art Brückenfunktion als Vorstufe zu Begriffen und Denkvorgängen, zu Vorsätzen, Plänen und zielgerichteten Handlungen. Sie kann eine Brücke nicht nur zum Vorstellen und Denken, sondern auch zum Wollen sein. Bilder und Träume müssen nicht nur Luftschlösser und Fluchtwege aus der Wirklichkeit bleiben, sie können auch Vorstufen von Willens­handlungen werden. Der mögliche Beitrag der Kunst zur Willensbildung stünde damit neu zur Diskussion.

Die Kunst hat übrigens diesen Beitrag schon sehr früh einmal geleistet: als Jagdzauber und Bestandteil von Magie. Im Bild auf der Höhlenwand wurde stellvertretend der gejagte Auerochse >besiegt<, die Angst des Jägers vor dem wilden Tier wurde im Bilde gebannt, und jetzt konnte der frühgeschichtliche Jäger sich auf den realen Weg machen. Er war seelisch vorbereitet auf die Begegnung mit dem Auerochsen, und er erlegte ihn dann auch tatsächlich, nicht etwa nur in seiner Einbildung.

Vom Freudschen Gedanken, wonach die Kunst eine Art Ersatzhandlung ist, bleibt ein wichtiges Moment auch bei diesem anderen Ansatz erhalten: Im Bild ist Wirklichkeit repräsentiert; im Kunstwerk und in künstlerischem Tun geschieht auch eine Stell­vertretung von Wirklichkeit. Aber die Funktion wird hier anders aufgefaßt: Bei Freud tritt die Kunst an die Stelle der realen Zielhandlung; in diesem neueren Ansatz, der auf sehr alte Praktiken zurückgreift, bereitet die Kunst das reale Handeln selbst mit vor. Sie ist eine wirklich begehbare Brücke zum Ziel, nicht nur eine Seifenblase.

Von hier aus lassen sich auch die >magischen< Einschläge der Arbeiten von Joseph Beuys deuten: Es sind Versuche (ob sie immer gleich gelingen, ist eine andere Frage), reale Verhaltensweisen seelisch möglich zu machen, die bis dahin mit Angst und ähnlichen Blockierungen besetzt waren. Sie sind eine Art Rollenspiel und Manöverhandlung, die auf den Ernstfall in der Wirklichkeit mitvorbereiten. Ganz allgemein können Kunstwerke diese Brückenfunktion übernehmen: seelisch möglich zu machen, also unserem Bewußtsein zugänglich zu machen, was ihm bis dahin versperrt war. Die Kunst kann uns lehren, neu zu sehen, zu fühlen, zu denken und zu wollen. Sie lehrt uns sehen, sie lehrt uns, die Wirklichkeit neu zu erfassen. Wenn wir aber etwas neu zu sehen lernen, dann können wir uns auch neu verhalten, und wir können verändernd eingreifen in die Verhältnisse.

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