Zum politischen Aspekt des Eros
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Einer der Ausgangspunkte für die Überwindung des Pyramidensystems bleibt die Kritik der politischen Ökonomie, die aber nach den Erfahrungen mit >real existieren Sozialismus< ergänzt werden muß um eine Kritik unserer psychischen Ökonomie, bei der vor allem nach den Beschädigungen unserer Liebesfähigkeit gefragt und die Erneuerung dieser Fähigkeit hauptsächlich Neuansätzen auf meso-sozialer Ebene zugetraut wird.
Das bleibt das Ziel der Umgestaltung unserer gesellschaftlichen Verhältnisse im ganzen: zugunsten eines gelebten Humanismus, in dem es keine Unterdrückung und Ausbeutung mehr gibt, und in dem die alten Forderungen nach Égalité, Liberté und Fraternité existenziell eingelöst werden. Die neue herrschaftsfreie Lebensordnung läßt sich aber ihrer Natur nach nicht unmittelbar als gesamtgesellschaftliche Veränderung ansteuern, weil auf der Ebene makrosozialer Prozesse unmittelbare, globale Veränderungen nur möglich sind, wenn man >die Macht< hat, also Herrschaft ausübt (oder anstrebt) und sich nach Regeln politischen Handelns dabei verhält.
Politikwissenschaftler machen seit einiger Zeit darauf aufmerksam, daß sich heute politisch statt einer Staatenwelt eine komplexe Gesellschaftenwelt heranbildet, die von zunehmenden Interdependenzen (zum Beispiel wirtschaftlicher Art) charakterisiert ist. Diese Einsicht ist sicher zutreffend, und dennoch: was bedeutet sie für das politische Zeitgeschehen? Solche Interdependenzen gab es auch schon zu Beginn unseres Jahrhunderts. Trotzdem brach der Erste Weltkrieg aus. Die rationale Einsicht in reale gegenseitige Abhängigkeiten verhindert offenbar keineswegs den Ausbruch irrationaler Katastrophen. In Wirklichkeit bestimmen auch gar nicht rationale Einsicht und >Vernunft< das politische Verhalten der meisten Menschen. Sähe die Weltgeschichte sonst nicht anders aus.
Eine ähnliche Frage lautet: Wie konnten die Menschen jahrhundertelang gläubige Christen sein und gleichzeitig eine weltliche Herrschaftsordnung von der Art des Feudalismus mit seinen Raubzügen, Menschenquälereien und Ungerechtigkeiten hinnehmen? Eine Teilantwort darauf dürfte lauten, daß Fürsten, Könige und Kaiser als >von Gottes Gnaden< eingesetzt galten. Sie waren in der Regel auch, zumindest auf der Bühne des öffentlichen Schaugepränges, >fromme< Herrscher, die fleißig am Gottesdienst in der Kirche teilnahmen, und die gleichzeitig in ihren Kostümen und Auftritten Majestät verkörperten und anschaulich erfahrbar machten; ein Attribut, das – wie jeder wußte – eigentlich nur Gott zukam.
Wenn aber sogar Menschen diese Majestät repräsentieren konnten, mußte das nicht für die einfachen Seelen des durchschnittlichen Gläubigen fast ein ästhetischer Gottesbeweis sein, wie umgekehrt die reale Macht dieser Herrscher als von Gott gebilligt; ja: hergeleitet erscheinen mußte? Da außerdem in der feudalen Pyramide mit ihrer glanzvollen Spitze, der Majestät des Herrschers, politisch-militärische, ökonomische und kulturelle Mächtigkeit lange Zeit >eins< waren, konnten wohl Rivalitäten um die Besetzung der Positionen im Pyramidensystem entstehen und wurden ja auch ständig lebhaft ausgekämpft; die Pyramide selbst und das System ihrer Hierarchien überlebten aber die Generationen nahezu unbeschädigt. Sogar die bürgerlichen Revolutionen hat das Pyramidenprinzip recht gut überstanden, obwohl seine Verankerung in Tiefenschichten unserer Person in dem Augenblick gelockert wurde, in dem das Gottesgnadentum als Legitimation von Herrschaft seine Überzeugungskräfte einbüßte; realpolitisch gesprochen: in dem die Kirche ihren Einfluß auf die Seelen der Menschen verlor.
Allerdings sollten wir es uns hier auch nicht zu leicht machen: An die Stelle des alten Gottes sind neue Götter getreten, mit neuen Namen, für die eine ausgearbeitete Theologie noch gar nicht existiert. Indem wir versuchen, eine derartige Theologie für die zur Zeit noch als falsche Götter unbegriffenen Mächte zu entwerfen, kommen wir ihnen vielleicht am wirkungsvollsten bei.
Wahrscheinlich gehört das Entstehen einer solchen >Theologie< sogar mit zu den Ausgangsbedingungen für die Zerstörung der in ihr auf Begriffe gebrachten, praktizierten Religion. Lebendige Religionen werden durch Theologie, wie das Beispiel des Christentums bezeugt, sehr leicht ruiniert. Wenn man das Göttliche denkbar macht und so das wissenschaftliche, sprachlich-begriffliche Hantieren damit ermöglicht, kommen Zweifel, Auslegungsdifferenzen, die Entstehung von Schulrichtungen und Lagerbildung auf, kurz: das ganze Theologenunwesen mit Universitätsfakultären, Planstellenhierarchien für Gottesbeamte und Buchstapelei. Kann man sich Jesus als Theologen vorstellen?
Im innersten Herzen sind die meisten Menschen noch immer loyale Stützen des Pyramidensystems. Einer der Gründe dafür, daß eine Lebensordnung der Selbstbestimmung, Gleichberechtigung und Fraternität noch immer keine seelische Möglichkeit für viele Menschen ist, besteht vermutlich auch im Fehlen anschaulicher, also ästhetischer Evidenzbeweise zugunsten republikanischer Kultur.
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Wenn der Sozialist Francois Mitterrand als fernsehwirksames Ambiente für die weltpolitischen Beratungen von Delegierten westlicher Demokratien die Imponierkulisse des Versailler Herrschaftstheaters in Anspruch nimmt, äfft er im Grunde immer noch die vorrepublikanischen Lebensmuster nach. Hat republikanische Kultur dem Gefühl und dem Symbolbedürfnis der Menschen so wenige eigene überzeugende Formen zu bieten?
Immer wieder werden auch in den alten Demokratien die falschen Haltevorrichtungen im seelischen Haushalt ihrer Majoritäten neu verstärkt. Wenn die große Mehrheit der Engländer nach wie vor ihrem Königshaus anhängt und Zuneigung zollt, dann ist die britische Gesellschaft wahrscheinlich auf ähnliche Weise demokratisch, wie sie sich christlich nennt. Der Falklandkonflikt war zuletzt ein instruktives Lehrstück dafür. Von deutscher Republik, in der 1933 ein Hitler legal in Wahlen zur Macht kommen konnte, wollen wir lieber schamerfüllt schweigen.
Interdependenzen: gewiß. Und auch Hitler ist ohne Versailles nicht zu verstehen. Aber >Interdependenz< ist zunächst nur eine deskriptiv-systemtheoretische Kategorie. Über die Qualität der wechselseitigen Abhängigkeiten sagt sie nichts aus; selbst bei intimen Feindschaften gibt es bekanntlich >Interdependenz<. Erst eine qualitative Konkretion gibt diesem Begriff einen inhaltlich bestimmten Sinn. Interdependenz ließe sich dann als grundlegendes Verbundensein aller sozialen Gebilde auf unserer Erde verstehen. In anschauungsarmer Verstandessprache umschreibt der Begriff, was für das Herz >Brüderlichkeit< hieße. In sichtbar vorgelebten herrschaftsfreien Lebensordnungen kann sie Symbolkraft gewinnen und die alten pyramidentreuen Gefühlsbahnen stillegen zugunsten neuer Bewußtseinsmuster, für die es nur noch mit abnehmender Bedeutung eine Staatenwelt gibt, dafür aber komplexe, interdependente Netzstrukturen einer domistischen Kultur.
Mit domistischen Neuansätzen läßt sich sozusagen kein Staat machen. Ihre Praxis auf der makrosozialen Ebene, so wie diese Ebene heute noch vorherrschend politisch verfaßt ist, besteht in der Verweigerung, im Neinsagen und Protestieren. Gleichzeitig werden auf meso-sozialer Ebene herrschaftsfreie Alternativen zum Pyramidensystem entwickelt und erprobt. Nicht die >Politik< ist unser Schicksal (wie Napoleon, ein Herrschaftstyp par excellence, in seinem bekannten Ausspruch sagte), sondern unsere Lebensformen sind es, und diese Lebensformen umfassen weit mehr als die nur politisch bestimmbaren Wirklichkeitsbereiche.
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Selbst die politische Realität wird mit einer Verkürzung auf Probleme des Ergatterns, Kontrollierens und Ausdehnens von Herrschaft viel zu einseitig und eng verstanden. Als ob herrschaftsfreie politische Beziehungen und Strukturen zwischen und in domistischen Gemeinwesen, wie auch ihr Widerstand gegen das Pyramidentum in jeder Form, keinen politischen Charakter besäßen!
Für domistisches Politikverständnis mit seinen Selbstverwaltungspraktiken, herrschaftsfreien Führungsprozessen und dezentralen Organisationsformen (Föderationen) fügt alles Politische sich in einem ähnlichen Sinn weiterreichenden Zielperspektiven ein, wie sich für Clausewitz der Krieg und alles Militärische dem Primat des Politischen anzubequemen hatte (wobei dort der letzte Bezugspunkt von Politik, anders als bei domistischem Verständnis, das allem übergeordnete Interesse des Staates war).
Für domistisches Politikverständnis ist der Krieg schlechthin unerlaubt, und zwar auf einer Elementarebene der Moral, die uns auch den Kannibalismus, das Menschenopfer, die Kindesaussetzung, die Blutrache und ähnliche, dem Liebesgebot widerstreitende Handlungen verbietet. Für Clausewitz war der Krieg noch ein legitimes Instrument der Politik. Für uns ist er das nicht länger. Für Clausewitz war auch staatliche Herrschaftsausübung ein unbefragt-legitimes Wesenselement von Politik. Für domistische Neuansätze ist Politik in ihren pyramidenkranken Erscheinungsformen nicht mehr länger etwas unbefragt-schicksalhaft Hingenommenes.
Domistische Politik versucht ihren Lebensformen mit gewaltlosen Mitteln Resonanz und Respekt zu verschaffen. In ihrer Bündnispraxis ist sie stets friedensorientiert; sie beteiligt- sich daher auch am Widerstand gegen bestehende oder drohende Gewaltpolitik im inner- und zwischenstaatlichen Bereich. Den Kriegen und kriegsanalogen Handlungen des klassischen Politikverständnisses stellt domistische Politik ihre phantasiereich organisierten, neuartigen Friedenshandlungen entgegen, als gewaltlose Herausforderung der bestehenden Mächte, die in uns selbst ihre stärksten Bundesgenossen haben: unsere Ängste, unsere Willenslähmungen und unsere anderen zum Pyramidensyndrom gehörenden Charakterzüge.
Die neue Friedenskultur, auf die domistische Bewegungen hinarbeiten, braucht ebenfalls Vorkehrungen und Zurüstungen, wie sie bisher immer nur auf der Gegenseite: beim Krieg, getroffen und aufgewandt wurden. Der Gegenzustand zum Krieg ist bekanntlich nicht das, was wir uns angewöhnt haben, als bloße Abwesenheit von Krieg schon >Frieden< zu nennen.
Der Gegenzustand ist vielmehr durch eine Daseinsqualität charakterisiert, wie sie im hebräischen Wort >Schalom<
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oder im arabischen >Salaam< anklingt und in der ursprünglichen Bedeutung gleichzeitig Frieden, Heil, Gerechtigkeit und Glück umfaßt.
Ein derartiger Friedenszustand verlangt zu seiner Herstellung ähnlich große Anstrengungen wie die Vorbereitung moderner Kriege. Solange es diese Art von Frieden in der Wirklichkeit nur vereinzelt gibt, läßt er sich jedoch wenigstens probeweise und in begrenzten Aktionen, gleichsam manöverartig vorführen.
Solche Friedenshandlungen, wie sie von Gandhis und Martin Luther Kings gewaltlosen Widerstandsbewegungen bis hin zu den Greenpeace-Aktionen und Ostermärschen reichen, nehmen in vielen Ländern immer öfter die Gestalt gut vorbereiteter und realitätskundig geführter >Kampagnen< an, die meist in schon bestehenden domistischen Netzstrukturen und Gruppen ihre soziale Verankerung haben.
Ein Beispiel ist das schon erwähnte >Life Center< von MNS in Philadelphia. Von dort aus werden landesweit auch Trainingskurse für die Planung und Abwicklung gewaltloser Aktionen veranstaltet. Bei diesen Kursen, wie sie ähnlich inzwischen auch in deutschen Parallel-Einrichtungen stattfinden, wird mit Rollenspielen und anderen gruppendynamischen Techniken gearbeitet, um auf Ängste und allgemein: auf die zu erwartenden Erlebnisse, etwa bei Platzbesetzungen und beim gewaltlosen Verhalten gegenüber Polizei oder Militär vorzubereiten.
Die Wirksamkeit solcher Friedensaktionen ließe sich vermutlich noch steigern durch den Aufbau einer herrschaftsfrei strukturierten >Friedens-Wehr<, die sich auch bei der Vorbereitung und praktischen Erprobung einer domistischen Sicherheitspolitik nützlich machen könnte. Hier sind eigene Bürgerinitiativen vorstellbar, die auf ein gänzlich neues Sicherheitskonzept hinarbeiten und unsere bei diesem Problem auf Sehschlitze eingeengten Diskussionshorizonte erweitern würden. Beginnen läßt sich mit kleinen Gruppen von Freiwilligen, die den Anfang zum Aufbau einer Art domistischen Bürgerwehr für gewaltlosen Friedensschutz machen. Aufklärungsaktionen wären ihre ersten Vorhaben, und warum sollten nicht sympathisierende Journalisten die Probeläufe von Kampagnen dieser neuen Bürgerwehr beratend und kritisch begleiten? Das öffentliche Interesse daran wird wahrscheinlich nicht gering sein. Jedenfalls aber sind Sicherheits- und Friedenspolitik für uns alle zu lebenswichtig, als daß sie nur professionellen Politikern, Militärs und Rüstungsindustriellen (und ein paar Fachpublizisten) überlassen bleiben dürfen.
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Ein konkretes Beispiel hierzu: in C. F. von Weizsäckers Thesen über Abrüstungspolitik findet sich der Hinweis, daß eine der wichtigsten Vorbereitungen auf einen Ernstfall die Einrichtung dezentraler Notversorgungsmöglichkeiten auf lebenswichtigen Gebieten ist, wie Energie, Lebensmittelproduktion und -verteilung, Transportwesen, medizinische Versorgung, Gerichtsbarkeit, Informationswesen usw. Könnte nicht ein neuer, regional organisierter Zivilschutz ganze Alternativstrukturen vorbereiten, die im Krisenfall in der Lage wären, die Bevölkerung zeitweise mit allem Notwendigsten zu versorgen?
In Planspielen müßten wir anfangen, einmal genau durchzurechnen, wie sich eine dezentrale Ökonomie in unserer Region einrichten ließe. In solchen regionalen Friedensmanövern wird die grundsätzliche Möglichkeit einer Neuordnung unseres Zusammenlebens auf ähnliche Weise vorstellbar und probeweise gehandhabt, wie uns bei Luftschutzübungen und Militärmanövern die im Grunde total aberwitzige Möglichkeit eines neuen Krieges als vorstellbar aufgezwungen wird. Die Neuordnung kann in Feierabend- und Wochenendplanspielen, bis hin zur Bildung von Regionalräten als neuen Selbstverwaltungsstrukturen exemplarisch vorweggenommen werden. Wem all dies reichlich abenteuerlich und irreal vorkommt, den verweise ich auf den Zivilschutz in der Schweiz. Dort gibt es im Unterschied zur Bundesrepublik einen hochentwickelten Stand der Organisation und technischen Ausrüstung des Zivilschutzes.
Bei der domistischen Bürgerwehr geht es nun nicht um die traditionelle politische Landesverteidigung, sondern um Friedensverteidigung und -entwicklung. In militärischen Begriffen gesprochen, sind die weiblichen und männlichen Freiwilligen dieser Friedensschutzgruppen gewissermaßen Reservisten, die in. ihren Übungen die Rolle des Bürgers einer künftigen Gesellschaft schon innerhalb der bestehenden Verhältnisse proben. Auf den ersten Blick fallen einem hier auch Parallelen zur >Gesellschaft für Sport und Technik< und ähnlichen Einrichtungen in der DDR ein, die dort jedoch von der alles beherrschenden Parteihierarchie gesteuert werden. Daher sind sie nach Geist, Aufbau und Funktion etwas völlig anderes als die hier vorgeschlagene Neugründung. Den Friedensschutzgruppen geht es ja gerade darum, zur Entwicklung und Verbreitung einer domistischen Kultur beizutragen, die auch und besonders von den >sozialistischen< Pyramidengesellschaften verhindert wird.
Die qualitative Erneuerung unserer Lebensverhältnisse, wie sie sich in domistischen Bewegungen weltweit ankündigt, stellt unsere bisherigen Politikstrukturen grundlegend in Frage. Das Ende des Parteienstaats, ja: des Staats in seinen herkömmlichen Formen überhaupt wird damit eingeläutet.
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Wer den Menschen in allen lebenspraktischen Hinsichten vom Politischen oder vom Ökonomischen her definiert, hat damit zwar für unser Dasein notwendige, aber noch nicht die hinreichenden Bedingungen unserer menschlichen Existenz im Blick. Er reduziert uns auf ein >zoon politikon< oder einen >homo oeconomicus<. Beide Dimensionen repräsentieren nur Teilwirklichkeiten unseres Menschseins, dessen andere Spektralbereiche ausgeblendet bleiben, wenn wir unsere Fähigkeiten zum Eingehen von Bindungen und Allianzen nicht umfassender verstehen. Bestimmen wir uns selbst wirklichkeitsgerechter als >zoon erotikon<, so erhalten die politisch (und die ökonomisch) existenzbestimmenden Assoziationen ja durchaus ihren Platz im gesellschaftlichen Gewebe; nur wird dessen innerster Zusammenhalt nicht mehr allein den Herrschafts- und den Arbeitsprozessen überantwortet und zugetraut.
Die neuen Formen, in denen sich gesellschaftliches Leben nach domistischem Politikverständnis abspielen wird, lassen sich nicht im einzelnen voraussagen; sie werden aus der Erneuerungspraxis erwachsen. Ansätze dazu sind bereits in den Föderationen herrschaftsfreier Gemeinwesen in den USA zu erkennen, und auch die Kibbuz-Assoziationen haben hier jahrzehntelange Erfahrungen beizusteuern. Dezentrale, basisdemokratische Netzstrukturen, Rotationspraktiken bei der Besetzung von Führungspositionen, Aufhebung von Privilegien und andere in gelebten Utopien erprobte Selbstverwaltungsmomente werden dabei von Nutzen sein.
Solche domistischen (oder >alternativen<) Experimente sind Modelle einer neuen lebensfreundlichen Gesellschaft, wie etwa Erich Fromm sie in seinem Buch >Der moderne Mensch und seine Zukunft< skizziert hat. Sie stellen eine besondere Form von Bürgerinitiativen dar: ergänzend zur Willensbildung in den Parlamenten bezeugen sie die heute im Allgemeininteresse notwendige Erneuerung als machbar. Dieser Ansatz verlangt ein Umdenken in unserer Auffassung von der Gesellschaft und von den Möglichkeiten ihres Gestaltwandels. Das Revolutionsmodell der Barrikadenkämpfe ist tot. Dafür ist längst eine andere Revolution im Gange (ich spreche lieber von Innovation): eine sanfte Revolution auf Taubenfüßen. Viele Schreibtisch- oder Parteisozialisten haben es nur noch nicht richtig begriffen. Die innere Kompaßnadel unserer Wertorientierungen ändert zur Zeit auf der ganzen Welt ihre Richtung: hin zu einem einfacheren, dafür aber sinnerfüllteren Leben mit mehr Solidarität.
Diese sanfte Revolution geschieht als ein schrittweises Erneuern unserer Gesellschaft, nicht als politische Umwälzung nach dem Muster von 1789 oder 1917.
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Die domistischen Neuansätze müssen sich daher auch nicht in erster Linie gegen >den Staat< richten, wie ihnen das von manchen Anhängern abverlangt und von vielen Gegnern vorgeworfen wird. Dem Buchstaben nach verdankt der moderne Verfassungsstaat sich schließlich den gleichen aufklärerischen Traditionen wie die egalitär-libertär-fraternitäre Innovation. Zugespitzt gesagt: nicht der Staat und seine Verfassung müssen in erster Linie verändert werden, sondern die gesellschaftliche Wirklichkeit muß sich ändern: durch eine umfassende Demokratisierung aller pyramidengeschädigten Lebensbereiche.
Die Neuansätze verkörpern >Gesetz und Freiheit, ohne Gewalt<. Viel Staat im überlieferten Sinne ist daher mit ihnen nicht zu machen.
Den Ausdruck >Anarchismus< verwendet diese soziale Erneuerungsbewegung nur zurückhaltend, da er – wie so viele andere Begriffe – im Bewußtsein der meisten Menschen mit irreführenden Assoziationen belastet ist. Dennoch: als Kurmittel gegen die Pyramidenkrankheit steht ein neuer Anarchismus auf der Tagesordnung unserer Geschichte. Als >neu< stellt er sich dar, weil seine vielgestaltigen Erscheinungsformen >erotischen< Charakter in dem erweiterten Erossinn tragen, den ich in diesem Buch zu skizzieren versuche. Ich habe daher auch vorgeschlagen, diesen neuen Anarchismus mit einem bewußt neuartigen Ausdruck >Domismus< zu nennen.* Sein Herz besteht in einer umfassend erneuerten Friedenskultur, wie gelebte herrschaftsfreie Utopien sie uns vor Augen stellen.
Jede Innovation überschreitet Grenzen, begeht also Tabubrüche. Der domistische Neuansatz muß sich daher auf Einwände, Widerstände und Ängste gefaßt machen, auf die ich am Beispiel eines Schlüsselproblems eingehen möchte, das selbst tabubesetzt ist: das Problem der Führung. Die domistischen Einrichtungen verstehen sich als neue Kursweiser, die ausdrücklich keine politische Macht anstreben, sondern herrschaftsfreie Führungsangebote in einer Situation machen, die von zunehmender Willenslähmung bestimmt ist. In einer solchen Situation wird das Vertrauen auf die >Spontaneität der Massen< zu einer gefährlichen Illusion. Unsere Spontaneität kann in der bestehenden Pyramidengesellschaft zutiefst beschädigt werden, wie sich etwa im Jubel für Hitler oder beim Ruf nach Wiedereinführung der Todesstrafe in Krisenstimmungen zeigt.
* Hier noch einmal der bereits auf Seite 8 gegebene Hinweis: Das Wort leitet sich ab vom lateinischen >domus< (= Haus), dessen Bedeutungsumkreis Haus, Wohnung, Aufenthalt, Heimat und sogar auch Frieden umschließt. »Domi bellique< oder >militiae et domi< heißt >im Krieg und Frieden<.
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Historisch hat sich zudem Spontaneität auch auf der >richtigen< Seite in ihrer Wirksamkeit meist umgekehrt proportional zu ihrer Intensität verhalten (Beispiel: Bauernaufstände). Wenn solche Revolten dilettantisch geführt werden, schlägt das etablierte System nur allzu erfolgreich zurück. Die notorische Führungsschwäche von herrschaftsfreien Alternativen zur Pyramidengesellschaft ist bisher eines ihrer folgenschwersten Defizite. Wenn es uns nicht gelingt, herrschaftsfreie und trotzdem effiziente Führungsmodelle zu entwickeln, zum Beispiel in kreativer Weiterführung von Kibbuzansätzen, dann werden Juntamodelle oder die Apparatschiks und Bürokraten in Ost, West und Süd allen Neuansätzen hoffnungslos überlegen bleiben.
Für die Einleitung sozialer Erneuerungsprozesse und gerade auch für den Abbau von Hierarchien bringen nach historischer und sozialpsychologischer Erfahrung Angehörige von privilegierten oder zumindest teilprivilegierten Minderheitengruppen oft günstigere Voraussetzungen mit als Angehörige unterprivilegierter und daher willensgeschwächter Majoritäten.
Aufschrei der Kritiker: <Willst du etwa ein neues Elitekonzept propagieren? Du bist ein Volksfeind!>
Antwort: Ich kenne nichts Massenfeindlicheres als die im Namen des Volkes oder des Proletariats errichteten neuen Herrschaftsordnungen der sogenannten sozialistischen Länder. Allerdings kenne ich auch nichts Menschenfeindlicheres als die im Namen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit (oder gar des Christentums) herrschenden Kapital- und Verwaltungsgiganten der sogenannten freiheitlichen Demokratien.
Wir brauchen also tatsächlich eine Art von >Gegeneliten< (ich würde sie so nur nicht nennen), qualifizierte SOS-Gruppen, die sich als Anwälte einer neuen menschenwürdigen Ordnung verstehen und nicht Herrschaft, sondern Einfluß anstreben, etwa wie bei den >Science-for-the-People<-Gruppen in den USA und ähnlichen domistischen Bewegungen. Ihr Verbundnetz kann Ausgangspunkt für gesellschaftliche Erneuerungsprozesse sein, wenn sie in gut vorbereiteten und abgestimmten Kampagnen international zusammenwirken.
Der traditionsreiche Illusionismus anarchistischer Bewegungen hat hier einen seiner blindesten Flecken, und eine große, tabufreie Klärungsarbeit ist nötig, um neue Konzeptionen von Führung ohne pyramidenkranke Nebengeräusche zu entwerfen und in Praxis umzusetzen. Die neue Führung legitimiert sich durch herrschaftsfreie, egalitäre und fraternitäre Lebensformen.
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Bei der Aufhebung von Herrschaft erlangen beide: >Herr< und >Knecht< die Möglichkeit, aus den Verhaltenszwängen des Rollensystems auszusteigen, das ihnen Entfremdung aufnötigte und sie an der Verwirklichung ihrer Wesenskräfte hinderte. Die neuen klassenlosen (herrschaftsfreien) Rollensysteme der gelebten Utopien (etwa im Kibbuz oder in Twin Oaks) bezeugen mit ihrer Praxis die Realisierbarkeit dieser früher immer nur für einen Wunschtraum gehaltenen Lebensordnung. Selbstverständlich gibt es weiterhin funktionsteilige Arbeits-, Selbstverwaltungs- und andere Rollen in domistischen Gemeinwesen – von der Besucherbetreuerin über den Schatzmeister und die Kranführerin bis zum Chorleiter und der Apothekerin. Mit diesen Rollen ist aber niemand lebenslänglich verheiratet; manchmal wird in raschem Turnus gewechselt. Vor allem aber verleiht keine Rolle mehr ihrem zeitweiligen Inhaber irgendwelche Vorrechte.
Die Funktionsteilung sieht natürlich immer auch Planungs- und Koordinierungsaufgaben vor. Solche Leitungs- und Führungsfunktionen werden aber immer nur mit Zustimmung der am jeweiligen Vorhaben Beteiligten wahrgenommen, so daß niemand über andere gegen deren Willen verfügen kann.
Ein weiteres Problem, das sich mit dem Elitekomplex eng berührt, ist die Angst vor neuen Technokraten. Oft wird eingewandt, die domistischen Neuansätze enthielten zu viel Sozialtechnologie: als ließe sich durch gesellschaftsverändernde Planung der Mensch >gut< machen. Dahinter steckt ein sehr berechtigtes Mißtrauen gegenüber Planern und Experten. Betont wird dann häufig von solchen Kritikern das Moment der individuellen Verantwortung und der allein in ihr wurzelnden Möglichkeit einer >Metanoia< (einer letztlich nur durch >Gnade< zu erlangenden Umkehr und inneren Erneuerung). Die tiefsitzende Angst vor jeder Art von Funktionärs- und Sekretariatsherrschaft meldet sich also in solchen Einwänden zu Wort. Sie ist nur allzu begründet. Der Abbau von Herrschaft ist ja eines der Hauptziele der domistischen Vorhaben selbst.
Auf zweierlei ist jedoch hinzuweisen: Zum einen gibt es in der bestehenden Pyramidenwirklichkeit ein Übermaß an Manipulation und Verplanung nach Normen und Regeln sogenannter Sachzwänge. Die Rebellion dagegen und die allmähliche Befreiung davon macht selbstverständlich bewußte kooperative Anstrengungen nötig, und dazu gehört immer auch planvolles, durchdachtes Handeln.
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Es macht nicht den Menschen >gut<, aber es stellt Bedingungen für das Freisetzen unterdrückter Möglichkeiten, zum Beispiel unserer Liebesfähigkeit, her.
Zum anderen: gerade das Sich-selbst-Entwerfen und -Herstellen als bewußte Selbsterziehung und -hervorbringung, die nur im Verein mit anderen gelingen kann, bewußt-willentliches Handeln also gegenüber bloßem Getrieben-Werden oder Marionetten-Sein, macht unser Wesen aus. Wenn wir – in biblischer Symbolsprache – >nach dem Bilde Gottes< geschaffen wurden, dann muß unsere wesentliche Eigenschaft diese Kreativität selbst sein. Sicher eine grenzbewußte Kreativität, die Endlichkeit, Tod, Leiden und Schranken mit >Gelassenheit< im Blick behält, wenn sie ihre Entwürfe macht; die aber gerade auch durch diese Grenzerfahrungen herausgefordert wird.
In manchen Alternativgruppen gibt es gegenüber dem domistischen Entwurf sozialer und kultureller Erneuerung eine der eben erwähnten Besorgnis ähnliche Furcht, die ich die >Angst vor zu großen Schuhen< nennen möchte. Auch sie ist vielfach berechtigt, wenn realistische Selbsteinschätzung dahintersteht. Ich meine aber, daß wir hier zwei grundlegend verschiedene Ebenen unterscheiden können:
Die Ebene unserer Zielvorstellungen, unsere >Vision< eines neuen Lebens, und die Ebene unserer konkreten Projekte, an denen wir tagtäglich arbeiten. Wenn die beiden Ebenen verwechselt werden, so als ob wir mit unserem Dritte-Welt-Laden, Frauenhaus, Kindertheater oder Genossenschaftsbetrieb gleich die zur Zeit noch übermächtigen Pyramidenverhältnisse im ganzen ins Wanken bringen müßten, dann kommt bei einem solchen falschen Anspruch leicht totale Entmutigung und Selbstlähmung heraus. Nun gibt es Warner vor zu großen Schuhen inzwischen in großer Zahl. Sie weisen mit Recht darauf hin, daß nicht die Experten für die Basis denken sollen, >small beautiful< ist und so weiter. Das alles bleibt richtig; dennoch sollten wir aufpassen, daß unsere Liebe zum Kleinen nicht kleinmütig und zur kleinkarierten Harmlosigkeit wird, mit >angepaßten< Technologien in einem falschen Sinn, der ungemein bequem und praktisch für die herrschenden Verhältnisse ist und ihnen als grünes Feigenblatt dienen kann. Auch hier also ist vielleicht die Erinnerung an mittlere (meso-soziale) Bezugshorizonte und überregionale Netzstrukturen hilfreich, wie >Habitat< oder >Plenty< von der >Farm< sie mit ihren internationalen Projekten darstellen.
Gegen solche Strategien wird manchmal eingewendet, sie enthielten die Gefahr eines neuen Zentralismus, und wenn Vernetzungen sich als sinnvoll erwiesen, dann sorgten die bestehenden Gruppen schon selbst dafür.
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Aus meinen eigenen Kontakterfahrungen kann ich das leider nicht bestätigen: sehr viele Gruppen in verschiedenen Ländern, die ganz ähnliche Ziele verfolgen, wußten und wissen nichts voneinander!
Von Skeptikern wird gelegentlich auch der gegenteilige Einwand der >zu kleinen Schuhe< erhoben: Kleine kibbuzartige Gemeinwesen könnten nicht die Probleme der modernen Weltgesellschaft lösen. Eine industrielle Massenproduktion, wie wir sie für das Überleben von rund vier Milliarden Menschen auf der Erde brauchen, setze politischökonomische Großstrukturen voraus. Dahinter steckt dann meist das Klischee, herrschaftsfreie Gemeinwesen könnten nur als Gartenbau- und allenfalls Handwerksbetriebe ökonomisch überleben. Die Beispiele der Hutterer mit ihren technologisch hochentwickelten Agrarkommunen, Koinonia, die Bruderhof-Dörfer und auch die Kibbuz-Bewegung mit ihren Industriebetrieben belegen das Gegenteil. Sie sind aber offensichtlich zu wenig bekannt. Im übrigen ist gegen diesen Einwand zu sagen, daß jede Veränderung >irgendwo<, in einem konkreten Teilbereich ansetzen muß, und wenn die Erneuerung auf Überwindung von Pyramidenstrukturen zielt, dann kann dies immer nur im Kleinen beginnen. Die domistische Innovation baut aus zahllosen kleinen Zellen neues soziales Gewebe auf, das nach und nach den Gesamtkörper der Gesellschaft umstrukturieren kann.
»Alle Gewalt geht vom Volke aus. Aber wohin geht sie?« (Brecht)
»Das Volk ist derjenige Teil des Staates, der nicht weiß, was er will.« (Hegel)Ein bekannter Wortführer der antiautoritären Jugendbewegung, Reiner Langhans, sagte vor einiger Zeit in einem öffentlichen Gespräch: >Wir waren ja eigentlich gar nicht antiautoritär; wir haben nur in unserer Gesellschaft nirgends die richtigen Autoritäten gefunden.< In diesem Bereich von Führung und anerkennbarer Autorität werden, so vermute ich, in den kommenden Jahren tiefreichende kulturelle Innovationen geschehen, die unserem unentwickelten Willen zum aufrechten Gang verhelfen, zur Selbstbestimmung und zum Widerstand gegen die gefälschte Autorität der herrschenden Mächte.
Die Tabus, die auf Führung und Autorität liegen, sind bei uns in Deutschland besonders berechtigt und daher so schwer beiseite zu schieben. Einer der Hauptgründe dafür ist, daß Führung meist mit Herrschaft verwechselt wird und auch überwiegend in dieser Verbindung auftritt.
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Das Wort <Führer> ist seit 1933 fast unbenutzbar in der deutschen Sprache, und gegen die Einsicht, daß Führung ein lebensnotwendiger Regulationsprozeß in jedem sozialen Geschehen ist, gibt es gerade bei denjenigen, die Hierarchien aller Art für ein Kernübel unseres Zusammenlebens halten, einen tiefsitzenden Widerwillen.
In zwei Sackgassen sind Erneuerungsbewegungen allzu oft hineingetappt: entweder die Fähigkeit >der Massen< zur Selbstbestimmung wurde überschätzt, oder die Führungskader der gesellschaftlichen Veränderung entpuppten sich sehr bald als neue herrschende Kasten. Beide Fehlentwicklungen möchte ich kurz erörtern: Sehr eindrucksvoll geht für mich aus Ossip Flechtheims kritischer Rückschau noch einmal hervor, wie sehr die großen und die kleinen Sozialismuspropheten seit Marx an Realismusdefiziten litten.35 Regelmäßig haben sie die >gesamtgesellschaftliche< Situation und ihr demokratisches Potential falsch eingeschätzt. Sogar noch die kluge Rosa Luxemburg vertraute allzu optimistisch auf die >Massen<, denen im Denken vieler Linker offenbar die Rolle des neuen Tugendbocks (nach dem >guten Wildem Rousseaus) zugewiesen wird. Gegenüber dieser Überschätzung des >Proletariats< ist es weit ehrlicher (und hierauf beruht ja das relative Recht von Lenins Kaderpartei-Konzept), die Beschädigungen, Lähmungen und Schwächungen der Entrechteten und Unterdrückten von vornherein einzukalkulieren.
Ihrem egalitären Credo nach möchten allerdings viele Intellektuelle >nur ja nicht< aus ihrer tatsächlichen Kompetenz, was analytisches Urteil, Formulierungsfähigkeit, Sachverstand und Überblick anbetrifft, irgendwelche Führungsansprüche ableiten. Hinter dieser Bescheidenheit steckt häufig eine merkwürdige Selbstverdunkelung, die im Effekt der Verantwortung ausweicht und dann meist die Szene Apparat-Typen überläßt, die nicht die geringsten Skrupel haben, Führungspositionen zu besetzen und zur Herrschaft zu mißbrauchen. Vielfach sind an der Zurückhaltung nichtautoritärer Linker vermutlich Projektionen mitbeteiligt, in die auch eine Überidentifikation mit den Unterdrückten hereinspielt (aus einem Schuldbewußtsein, wie es gerade Privilegierte oft entwickeln), wobei dann die Eigenschaften des zum Tugendbock gemachten Arbeiters im Sinne positiver Vorurteile verfälscht und verklärt werden. Derartige Realitätsverluste nützen letzten Endes nur der Befestigung von Pyramidenstrukturen - sei es der neuen Herrschaft von Apparatschiks, sei es der alten des bestehenden Systems.
Solange die meisten Menschen wirkliche Demokratie nur vom Hörensagen kennen, sind entwickelte Qualifikationen für die Selbst- und Mitbestimmung kaum zu erwarten, und aus diesem Grunde wird zu ihrer Ausbildung Führung gebraucht.
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In diesem Punkt hatte Lenin fraglos recht. Er hatte weiterhin bei Marx gelernt, daß der >Weltgeist< ohne soziale Verkörperung bloße Kopfgeburten zeitigt. Nur hatte Lenin (wie schon Marx) die hegelsche Überprivilegierung von ferner gattungsgeschichtlicher Zukunft übernommen, und die Verkörperung; des Weltgeists in einer politischen Kaderpartei und >Avantgarde< zur Eroberung von Herrschaft läßt vom Geist der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit nichts mehr übrig. Mit Kronstadt spätestens begann das Auschwitz dieser Vernichtung.
Die tödliche Infektion an der Pyramidenkrankheit bedeutete das Scheitern dieses Ansatzes, an dem aber dennoch ein Wahrheitsmoment gültig bleibt: eben das Moment der Verkörperung, der Inkarnation. Das Wort muß Fleisch, die Theorie zur Praxis werden, der Geist! in der Materie wohnen, das neue Bewußtsein im veränderten Sein – sonst bleiben sie fremd füreinander, auf immer getrennt, und Herrschaft, >Diktatur des Proletariats< (repräsentiert durch die allmächtige Partei), macht jeden praktischen Humanismus unmöglich. Erst wo Herrschaft durch tätigen Eros abgelöst wird und die Verkörperung des neuen Geists in domistischen Gemeinwesen und Einrichtungen geschieht, wird herrschaftsfreie Führung möglich: in Gestalt von Schrittmachern zur neuen Gesellschaft. Der Weg dorthin führt nicht über politische Parteien oder auch Gewerkschaften, die immer noch als Instrumente zur Erlangung von Macht viele bürgerliche Intellektuelle auf der Linken hypnotisieren.
Die domistische Bewegung wird sich nur als wirkliche Erneuerung unserer Lebensverhältnisse erweisen und behaupten können und dann auch die zu ihr passende politische Gestalt finden, wenn sie auf jedem ihrer Wegabschnitte und im Alltagsverhalten die neue Lebensqualität schon überzeugend verkörpert, zu der herrschaftsfreie Beziehungen und gegenseitige Achtung im Gegensatz zu Über- und Unterordnung oder Machtstreben gehören. Ihre Führungsangebote sind nicht politischer Natur, sondern umfassend-sozialkultureller Art. Ihr Ziel ist nicht die Revolution, sondern die Innovation. Sie stürzen nicht das bestehende Erdreich um, sondern sie schieben sich – wie eine neue Pflanze – in die bestehenden Verhältnisse hinein, verwurzeln sich in ihnen, nähren sich aus ihren Substanzen und verwirklichen eine neue Gestalt des Lebens.
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Horst Gizycki bei www.detopia.de