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Zum ökonomischen Aspekt des Eros

 

 

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Erich Kästner (unter anderem Autor des Buchs <Das doppelte Lottchen>, in dem die Zwillingskinder erreichen, daß ihre getrennten Eltern wieder zueinander finden) erzählt in seinem vor allem für Erwachsene geschriebenen <Fabian> diese Episode:

»Auf dem Tisch standen Blumen. Ein Brief lag daneben. Er öffnete ihn. Ein Zwanzigmarkschein fiel heraus und ein Zettel. <Wenig mit Liebe, Deine Mutter>, war daraufgeschrieben. In der unteren Ecke war noch etwas zu lesen. <Iß das Schnitzel zuerst. Die Wurst hält sich in dem Pergamentpapier mehrere Tage.> Er steckte den Zwanzigmarkschein ein. Jetzt saß die Mutter im Zug, und bald mußte sie den anderen Zwanzigmarkschein finden, den er ihr in die Handtasche gelegt hatte. Mathematisch gesehen, war das Ergebnis gleich Null. Denn nun besaßen beide dieselbe Summe wie vorher. Aber gute Taten lassen sich nicht stornieren. Die moralische Gleichung verläuft anders als die arithmetische.«36) 

Karl Marx schreibt einmal an entlegener Stelle, nachdem er zunächst überlegt, "gesetzt, wir hätten als Menschen produziert und nicht (wie es heute noch der Fall ist) als Herren und Sklaven":

»...Jeder von uns hätte in seiner Produktion sich selbst und den anderen bejaht.« 

Damit entstünde eine Situation, schreibt Marx weiter, in der ich das Bewußtsein hätte, 

»... für dich der Mittler zwischen dir und der Gattung gewesen zu sein, also von dir selbst als eine Ergänzung deines eigenen Wesens und als ein notwendiger Teil deiner Selbst gewußt und empfunden zu werden, also sowohl in deinem Denken wie in deiner Liebe mich bestätigt zu wissen... unsere Produktionen wären ebenso viele Spiegel, woraus unser Wesen sich entgegenleuchtete. Dies Verhältnis wird dabei wechselseitig; von deiner Seite geschehe, was von meiner geschieht ...«37) 

*

Unsere Liebesfähigkeit verweist uns auf ein Energiepotential, das in sozialen Fusionsprozessen freigesetzt werden kann und eine umfassende Ökonomie produktiver Kräfte begründet. Diese Kräfte befähigen uns zu gegenseitiger Hilfe bei der Verwirklichung unseres Wesens. Da sich inzwischen in alle Lebensbereiche >Äquivalenz<-Vorstellungen eingedrängt haben, nach denen alles grundsätzlich meßbar und ineinander umrechenbar ist, lassen sich vermutlich sogar quantifizierende Aussagen über diese Kräfte machen. 

Solche Aussagen treffen hier zwar ebensowenig das Wesentliche, wie physikalische Frequenzangaben die Erlebnis­qualität einer Farbe auszudrücken imstande sind. Äquivalenz-Vorstellungen können aber als Hilfsmittel einer Überlegung dienen, die uns zu guter Letzt die in Vergessenheit geratene Grundlage oder >Bedingung der Möglichkeit von Tauschvorgängen selbst wiederzuentdecken erlaubt und die Gegenstände einer nicht zu Ende geführten Kritik der politischen Ökonomie als abgesprengte Bruchstücke einer viel umfassenderen Wirklichkeit aufzufassen nahelegt.


Beispielsweise wäre die Lebenszeit, die jemand freiwillig opfert, ein möglicher Ausgangspunkt für quantifizierende Aussagen in diesem Bereich, und >Werke< wären ihre Konkretion: Hilfs-Werke, Friedens-Werke, auch Bau-Werke, Erziehungs-Werke, Kunst-Werke und letzten Endes (der Möglichkeit nach) sämtliche >Werke< im Sinne von Gütern und Dienstleistungen überhaupt. In einer erst noch zu entwerfenden >Kritik der psychischen Okonomie<, die voraussichtlich auf eine sozialpsychologisch fundierte, neu ansetzende Willenslehre hinauslaufen wird, wäre dies im einzelnen zu entfalten.

In jedem Tauschakt, eigentlich aber in jedem Kommunikationsprozeß, bei allem Mitteilen (sowohl bei der bloßen Informations­übermittlung, als auch und gerade beim Mit-Teilen von Gütern und Dienstleistungen) steckt ja auch ein Moment der Zuwendung, des Hergebens und Schenkens. Die vorherrschende Ökonomie hält sich bei diesen Vorgängen einseitig an den Aspekt des Habenwollens, dessen Symmetrie dann (angeblich) den Tauschvorgang konstituiert. Dies ist aber ein grundlegend unsere Verhaltensmöglichkeiten verstümmelnder Ansatz: das Hergeben, ohne nach einem Gegengeschenk zu fragen, das freiwillige Opfer von Zeit und Energie für andere Menschen, das abgebende Teilen der eigenen »Besitztümer« von ererbtem Vermögen bis zu Begabungen, Kenntnissen, Fertigkeiten, diese schenkende Grundhaltung der Hingabe ist ein wesentliches Kennzeichen des ökonomischen Stoffwechsels in Alternativprojekten, die sich an >Fraternite< orientieren.

Auch im normalen Alltagsverhalten geschieht übrigens ein solcher, zum etablierten ökonomischen Betrieb gegenläufiger Energiefluß ständig: die fürsorgliche Zuwendung von Eltern zu ihren Kindern ist ein Beispiel dafür. Aber auch Großkatastrophen wie Kriege sind nur möglich, wenn die Bereitschaft zur Hingabe, sogar des eigenen Lebens, in die falschen Kanäle gelenkt wird. Und lassen sich nicht zahllose Menschen widerspruchslos ausbeuten, >geben< also mehr hin, als sie von denjenigen zurückerhalten, die an den Schalthebeln der Produktionsanlagen sitzen?

Zugestanden: das geschieht nicht eigentlich freiwillig; genauer gesagt: ein wirklich zur Selbstbestimmung fähiger Wille kann sich unter den gegebenen (historisch entstandenen) Pyramidenverhältnissen bei den meisten Menschen gar nicht erst voll entwickeln. Aber wird nicht auch in den Produktions- und Absatzschlachten der konkurrierenden ökonomischen Giganten die Bereitschaft zur Hingabe der eigenen Wesenskräfte bei unzähligen Arbeitern und Angestellten fortlaufend in die falschen Kanäle gelenkt?

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Ohne diese ständig mißbrauchte Hingabe würde der gesamte komplizierte Apparat unserer Industrie­wirtschaft vermutlich nicht einmal vierundzwanzig Stunden lang in Gang bleiben. Arbeitsteilung und die Bereitschaft, sich in der dadurch erzwungenen Zersplitterung (Dissoziation) immer wieder mit anderen zu verbinden und mit ihnen zusammenzuarbeiten (Assoziation), eine letztlich also – wenn auch sich selbst verborgene – erotische Dynamik spielt hier auf der meso-sozialen Ebene ständig in das ökonomische Geschehen hinein.

Die vorherrschenden ökonomischen Denkweisen haben übrigens die hier angedeutete Perspektive so vollständig überlagert, daß sogar in vielen Alternativgruppen von >Selbstausbeutung< gesprochen wird, wenn freiwillige Opfer an Zeit und Energie für ökonomische Gemeinschaftsvorhaben aufgebracht werden. Ich halte es für angemessener, statt dessen lieber Versuche zur Entwicklung einer umfassender ansetzenden ökonomischen Theorie und Praxis zu unternehmen.

 

Der Marx-Kästner-Effekt in der Begriffssprache von Seminarsozialisten: Der Ansatz der domistischen Innovation verwandelt die fast alle Lebensbereiche der bestehenden Makrogesellschaft in Mitleidenschaft ziehende >Tauschabstraktion< in kreativer Regression zurück in Tauschkonkretion: in den neuen Gemeinwesen und Einrichtungen widmen wir uns gegenseitig unsere reale, nicht übertragbare Lebenszeit. Im Schoß der bestehenden Gesellschaft, heißt das, sind die Prozesse der sozialen Innovation längst in Gang gekommen. Sie leiten die Erneuerung und Wiederbelebung von abgedrängten Teilmomenten sogar des Tauschprinzips ein, das meiner Meinung nach zu einer >Subsumtion< fast aller Lebensverhältnisse unter die polit-ökonomische Maschinerie des Kapitals nur zu zwingen war, weil und insoweit sich das Sozialprinzip >Herrschaft< in dieser geschichtlich immer riesenhafter angewachsenen Maschine verkörpern konnte.

In den beiden für unser Zusammenleben wichtigsten >Assoziations-bereichen< Arbeitsteilung und Verwandtschaft haben Hierarchisierun-gen erst jene Subsumtion ermöglicht. Herrschaft ist aber keine Naturkonstante: Es gibt (und gab) in unserer Geschichte immer auch herrschaftsfreie Formen des Zusammenlebens, in denen die Tauschabstraktion weitgehend aufgehoben ist zugunsten einer neuen Konkretion der Beziehungen. Im Kontext solcher herrschaftsfreien Re-Konkretion kann Tausch – >jenseits< (oder auch >diesseits<) von Warenproduktion – die Gestalt von gegenseitiger Hilfe annehmen, etwa im ökonomischen Binnenverkehr domistischer Netze.

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Politisch-ökonomisch manifestiert sich dieser Gestaltwandel der Reziprozität als Aufhebung von Fremdbestimmung (Freiheit) und Abbau aller Privilegien (Gleichheit); sein soziales Grundgesetz heißt <fraternite>!

 

Wenn ich hier die unterdrückte Dimension der Hingabe und der gegenseitigen Hilfe in Erinnerung rufe, so plädiere ich damit nicht für eine vollständige Auflösung aller ökonomischen Vorgänge in Schenken und Betteln. Selbstverständlich bleibt es sinnvoll, wenn Alternativbetriebe Vereinbarungen über den Austausch von Gütern und Dienstleistungen treuen und deren Werte auch berechnen. Das Geld muß also nicht abgeschafft werden; dazu ist es ein viel zu praktisches Verrechnungshilfsmittel. Aber es kann daran gehindert werden, zur Kapitalakkumulation und zur damit möglich werdenden Herrschaftsausübung zu dienen: indem Kapital in seinen Funktionen grundlegend verändert und notfalls in seiner bisherigen Form aufgehoben wird. Angewandt auf kollektive Kapitalansammlung würde das letztlich bedeuten, daß auch kein Gemeinwesen mehr >reich< werden kann. Der Gegenwert aller Güter und Dienstleistungen jedenfalls, die über ein verabredetes und gemeinsam verantwortetes Maß hinaus produziert werden, kann zur Gründung weiterer Gemeinwesen und zur Vermehrung ihrer Entwicklungsprojekte genutzt werden. Die Zweiggründungen amerikanischer Kooperativen wie Twin Oaks oder Farm sowie die Hilfswerke >Plenty<, Netzwerk-Fonds usw. sind dafür zeitgenössische Beispiele.

Solche domistischen Neuansätze werden inzwischen auch bereits im etablierten Wirtschaftsbetrieb aufmerksam -beachtet. Das heißt: sie werden künftig mit mehr Widerstand rechnen müssen als bisher. Gleichzeitig rücken sie damit aber auch bei mehr und mehr Menschen als vorstellbare Alternativen zur existierenden Ökonomie ins Bewußtsein.

 

Vermutlich werden auch theoretisch interessierte Realpolitiker wie Helmut Schmidt schon bald Neugier für den Paradigmenwechsel des ökonomischen Denkens aufbringen, der sich in domistischen Entwicklungen ankündigt. In einem Gesprächskreis, der vor einer Reihe von Jahren in den USA zusammentraf, forderte Helmut Schmidt noch eine >international class of economists<, die – kontinuierlicher als die alle paar Jahre neuzuwählenden Politiker das können – den Problemen der Weltökonomie auf der Spur bleiben und Lösungsvorschläge erarbeiten sollte, bei denen auch grundlegende Strukturfragen des Weltsystems einbezogen werden müßten.

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Es fehle, meinte Schmidt damals, ein neuer Keynes, der für die gegenwärtigen und zukünftigen ökonomischen Interdependenzen der Weltwirtschaft krisenvermeidende theoretische Konzepte bereitstellte. Regierungen seien häufig in ihren Handlungsspielräumen viel zu sehr eingeengt; durch nie verläßlich kalkulierbare veränderte Situationen (z.B. durch die Vielzahl der Wahlen in den parlamentarischen Systemen der verbündeten Staaten) seien sie an kontinuierlicher Planung und Steuerung gehindert.

Muß dieses Moment der Unberechenbarkeit makrosozialer Prozesse aber nicht als grundsätzliche Offenheit einbezogen werden in jedes theoretische Konzept weltwirtschaftlicher Systeme? Und ist die Unberechenbarkeit komplexer historischer Prozesse nicht ein Hinweis auf die ständig mithereinspielende Kreativität aller am ökonomischen Geschehen beteiligten Subjekte mit ihren mehr als nur ökonomischen Interessen, Einstellungen und Verhaltensweisen? Wer lebendige Menschen zum berechenbaren homo oeconomicus machen möchte, läßt der nicht ganze Wirklichkeitsdimensionen außer acht. und betätigt der sich zuletzt nicht ungewollt als Verhinderer von Geschichte.

Offene theoretische Konzepte (die keineswegs einen totalen Verzicht auf sinnvolles Planen bedeuten) gehen davon aus, daß ökonomische Prozesse sich nicht ohne gefährlichen Realitätsverlust als ein isolierter, kontextloser Wirklichkeitsbereich behandeln lassen. Für eine in komplexen Interdependenzen denkende Logik sind ökonomische Vorgänge stets nur Teilprozesse umfassenderer Geschehnisse, und auch schon der vorherrschende Begriff des Ökonomischen selbst erweist sich als zu eng, wenn er nicht im Sinne eines gesellschaftlichen Energiestoffwechsels verstanden wird, dessen mit den bisher entwickelten Methoden meßbare Variablen nur einen Teilausschnitt der Gesamtdynamik darstellen, mit der wir es hier zu tun haben. Dieser Kernbezirk unseres Lebens darf dem modernen Klerus der Religion des Habens, den Technokraten des Geld- und Bankwesens und ihren Hausastrologen, nicht widerstandslos überlassen bleiben. Da hatten Marx und seine Anhänger völlig recht.

Den bereits vollständig im Horizont des vorherrschenden Ökonomieverständnisses befangenen >Realisten< unseres Wirtschaftslebens wird die Einbeziehung außerökonomischer Faktoren in die Prozeßanalysen (>ökonomisch< hier im engeren, heute noch vorherrschenden Sinne verstanden) am ehesten plausibel erscheinen, wenn diese Faktoren etwa als sozialpsychologisch erforschbare Variablen eingeführt werden.

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Die Motivation von Menschen und ihr Ausbildungsstand, die etwa für die Kampfkraft einer Streitmacht wichtiger sein können als ihre in DM berechenbare Ausrüstung mit Waffen, hat, auf die Frage nach der Überlebenskraft einer Wirtschaft übertragen, folgende Bedeutung: Motivation und Ausbildung (zum Beispiel von Willenskompetenz, aber auch von instrumentellen Fähigkeiten), Einstellungen und Wertorientierungen (welchen Zielen dient der ganze Wirtschaftsprozeß eigentlich?) müssen in einer offenen, die Komplexität unserer Lebensverhältnisse berücksichtigenden Theorie mindestens ebenso ernst genommen werden wie die klassischen Variablen (etwa Bruttosozialprodukt, Beschäftigtenzahl, Produktivität, Inflationsrate, Zahlungsbilanz, Zinsniveau usw. usw.).

Schmidts Forderung einer >internationalen Klasse von Ökonomen<, die (wie Platons Philosophen?) kontinuierlich, also nicht gestört durch Wahlrücksichten und wechselnde parteipolitische Konstellationen, pflichttreu für das Gemeinwohl arbeitet, ist im Rahmen der bestehenden Verhältnisse illusionär und bestenfalls reaktionär, weil sie eine Art absolutistischer Kabinettspolitik ohne parlamentarisches Dazwischenreden, eine Art Expertokratie fern vom Parteiengezänk als wünschenswert hinstellt. Schmidt fühlt aber wahrscheinlich ganz richtig, daß der Parlamentsbetrieb in den bestehenden >Demokratien< sehr viel Augenwischerei enthält und zutiefst unehrlich ist. Die wirklichen Herrschaftsverhältnisse in unseren industriellen Pyramidensystemen werden ja durch die Wahl- und Parlamentsrituale keineswegs in Frage gestellt, sondern nur undeutlich gemacht. Erst ein konsequenter Abbau aller Pyramidenstrukturen und die schrittweise Verwirklichung domistischer Lebensformen wird auch den Energie­stoffwechsel in unseren Gesellschaften grundlegend erneuern.

 

Die neue domistische Produktionsweise ist nicht schon dann verwirklicht, wenn ihre Betriebe nur genossenschaftlich verfaßt sind. In diesem Sinne haben auch die hocheffizienten >Coops< in den USA oder in Europa, wenn sie sich widerspruchslos in die bestehende kapitalistische Wirtschaftsordnung einfügen und Genossenschaftsstrukturen lediglich instrumentell des größeren ökonomischen Erfolgs wegen einführen, eher eine systemverstärkende Bedeutung – ähnlich dem Kibbuz, der in seiner derzeitigen Gestalt in den zionistischen Staat eingebunden ist, ökonomisch sehr erfolgreich arbeitet, aber die weiterreichenden Ziele einer Schalom-Kultur ohne ethnische Diskriminierungen vorerst zurückgestellt oder ganz aus den Augen verloren hat.

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Erst wenn genossenschaftliche Neuansätze enzymartig, also wie ein Sauerteig auf den umfassenden Abbau von Pyramidenstrukturen hinzuwirken versuchen, wenn sie also auf die Überwindung des Systems der kapitalistischen Warenproduktion und auf die Überwindung der etatistischen Termitenbauten sogenannter sozialistischer Staaten hinarbeiten, verwirklichen sie domistische Ziele.

Daß sehr viele Menschen mit den bestehenden Systemstrukturen in dem Maße einverstanden sind, daß sie jedenfalls keine nennenswerten Anstrengungen aufbringen, um diese Strukturen grundlegend zu verändern, dieser Tatbestand, den jede Meinungsumfrage, jedes Wahlergebnis und Hunderte von empirischen Untersuchungen der >fest-stellenden< Sozial­wissenschaften belegen, verweist nur erneut auf die mehrfach in diesem Buch erörterte Willensbeschädigung, die Pyramiden­systeme uns zufügen. Auch mit dem patriarchalischen Gutsherrensystem, in dem für die Leibeigenen väterlich gesorgt wurde, waren die meisten Menschen seinerzeit jahrhundertelang einverstanden und hingen sogar mit liebender Verehrung an ihren >Herrschaften<.

Menschliches Zusammenleben ist nicht von Ewigkeit her oder durch unsere Erbanlagen auf pyramidenbeflissene Geldwirtschaft mit zugehörigen Rechtsstrukturen festgelegt. Die >Warenproduktion< mit ihrer Gebrauchswert/Tauschwert-Aufspaltung ist eine historische Möglichkeit des Wirtschaftens, die zur Zeit vorherrscht und als zählebige Tradition unsere Begabung zur Geschichte (und damit: zur Kreativität) behindert. Sie beruht auf Raub, Piraterie, Ausplünderung und Unterdrückung, also auf destruktiven Grundmustern des Verhaltens. Diese Grundmuster sind im Laufe der Geschichte zu Herrschaftsapparaten globaler Größen­ordnung mit unvorstellbarer Machtkonzentration ausgeartet.

Das Grundmuster einer ganz anderen Ökonomie, die der Logik des >Marx-Kästner-Effekts< folgt und sich bereits in zahlreichen domistischen Neuansätzen verkörpert, leuchtete unlängst für kurze Zeit und weithin sichtbar auf, als ins hungernde Polen holländische (und andere) Lastwagenkonvois mit Lebensmitteln rollten: eine wahre Friedensarmada, die generalstabsmäßig organisiert war und die überlieferten ökonomischen Verhaltensmuster einfach über den Haufen warf. Einige Herzschläge lang setzte da die etablierte Ordnung der Dinge aus, und Hieronymus Boschs Geschwisterrepublik, in der die Menschen alles miteinander teilen und sich Geschenke machen, war vorübergehend Wirklichkeit. Beispiele für eine solche Hingabewirtschaft habe ich schon erwähnt.

So hat die Farm in Tennessee (S. 91 f.) 1974 ein gemeinnütziges Hilfswerk, <Plenty>, aufgebaut.

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>Plenty< soll beitragen zur Verbesserung der Lebensbedingungen verarmter und benachteiligter Menschen, und zwar vor allem in elementaren Lebensbereichen. Während der letzten Jahre haben Plenty-Freiwillige an Hilfsaktionen in Guatemala, Mexiko, Bangladesh, den USA und Kanada mitgewirkt. Die Farm bietet auch Ausbildungskurse an, übernimmt die Unterhaltskosten für ausländische Teilnehmer und trägt oft auch die Reisekosten. Dieses Programm leistet einen praktischen alternativen Beitrag zum Technologietransfer in Länder der Dritten Welt. Im Rahmen einer Soforthilfe nach der Erdbeben­katastrophe von 1976 in Guatemala war die Farm am Bau von zehn Schulen und mehreren hundert Häusern dort beteiligt.

Auch die bereits in den vierziger Jahren gegründete christliche Kommunität >Kolnonia Partners<, deren rund achtzig Mitglieder in Georgia eine florierende Non-Profit-Ökonomie aufgebaut haben, beteiligt sich an Entwicklungshilfeprojekten, unter anderem in Zaire. Die Finanzierung geschieht mit Hilfe eines Humanity Funds. Der Gründer der Kommunität, Clarence Jordan, hatte gesagt, >was die Besitzlosen in erster Linie brauchen, ist nicht Wohltätigkeit, sondern Kapital. Und was die Reichen brauchen – zu ihrem eigenen wie zum Heil der Armen – ist eine vernünftige, gerechte und menschenwürdige Form der Hergabe ihres Überflusses.< Das Geld für den Fonds stammt also aus Stiftungen und aus zinslos zur Verfügung gestellten Darlehen.

In San Francisco wurde 1977 die >New School for Democratic Management eröffnet, die vor allem für Leitungsaufgaben in alternativen Unternehmen qualifizieren soll. >Was wir dabei versuchen< sagt David Olson, einer der Gründer, >ist, Methoden zu finden, mit denen diese Unternehmen in einer kapitalistischen Gesellschaft so geführt werden, daß sie über den Kapitalismus hinausweisen.< Die New School ist übrigens keineswegs gegen das Erwirtschaften von Gewinn. Jeder Betrieb soll seinen Mitarbeitern ein angemessenes Einkommen garantieren und auch zu neuen Investitionen imstande sein. Die soziale und die ökologische Produktivität wird jedoch von der New School mindestens ebenso ernst genommen. Wachstum und Effizienz werden nicht mehr einfach als wertvoll in sich selbst anerkannt.

Die kleinen und mittleren Betriebe der amerikanischen Alternativbewegung, die mit der Schule bereits zusammengarbeitet haben, bilden ein stetig sich entwickelndes Netz. Es entsteht da in Ansätzen eine völlig neuartige, basisdemokratische Wirtschafts­struktur, die jedoch nur überlebensfähig sein wird, wenn sie mit ökonomischem Sachverstand arbeitet.

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Zahllose, nur gut gemeinte Alternativversuche sind am Mangel solchen Sachverstands immer wieder gescheitert. Guter Wille und grüne Gesinnung allein genügen eben nicht; handfestes Können, auch etwa in juristischen und kaufmännischen Fragen, gehört dazu.

Mitgetragen wird die New School von einer Foundation, die außerdem das journalistisch vorbildlich gemachte Magazin >Mother Jones< herausbringt, benannt nach einer bekannten amerikanischen Sozialistin, die in zahlreichen politischen Widerstands­bewegungen mitgewirkt hat. Die Abonnenten des Magazins sind gleichzeitig Mitglieder der Foundation. Innerhalb eines Jahres schrieben sich rund 150.000 Mitglieder ein. Dieser ungewöhnliche Erfolg eines kritischen Magazins in den USA ist ein weiteres Indiz für die allmählich zunehmende Bedeutung der domistischen Bewegung in Amerika.

In Neuseeland wurde schon vor rund dreißig Jahren eine unabhängige Alternativeinrichtung gegründet, die sich den Namen CORSO gab und ähnlich wie unser in Berlin entstandenes >Netzwerk Selbsthilfe< arbeitet. Auch Kirchen- und Gewerkschafts­gruppen sowie etwa dreitausend individuelle Mitglieder gehören CORSO an. Das Geld kommt aus Spenden und Öffentlichkeits­kampagnen. Bevorzugt werden Kleinprojekte gefördert. Im CORSO-Jahresbericht, der jeweils Rechenschaft über die Vergabe von mehreren hunderttausend Dollar )gibt, wird unter den Bedingungen für Förderung genannt: >Ein Projekt (muß die Ursachen der Armut beheben helfen, Eigeninitiative am Ort des Projekts fördern, zu ökonomischer Unabhängigkeit und Selbständigkeit führen.<

CORSO ist also ähnlich wie MNS in den USA eine Bürgerinitiative zur gesellschaftlichen Veränderung mit friedlichen Mitteln. Die Gruppe sieht einen Hauptgrund für die gegenwärtige Weltkrise in der ungerechten Verteilung von Reichtum und Macht. Um das zu ändern, werden Kleinprojekte auf vielen Pazifikinseln unterstützt, die schrittweise zu selbst­bestimmten Lebensverhältnissen führen können.38

Gute Absichten allein verbürgen noch keinen Erfolg; das zeigen auch viele atavistisch-regressive Projekte der deutschen Alternativ­szene, die bis auf wenige Ausnahmen von domistischen Experimenten in anderen Ländern so gut wie keine Kenntnisse haben und mit diesem Erfahrungsmangel unwissentlich eine sehr deutsche Tradition der Weltblindheit fortführen. Vor allem die Berliner Szene mit ihren provinziellen historisch-politischen Sonderbedingungen taugt wohl nur sehr begrenzt zum Maßstab einer generellen Einschätzung domistischer Neuansätze.39

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Bildlich gesprochen, erinnern viele Berliner Netzwerkprojekte an die Hüpfversuche Otto Lilienthais (oder des Schneiders von Ulm), mit denen damals die Geschichte des Fliegens begann. Nur gibt es eben inzwischen auch bereits Alternativprojekte auf dem Niveau von Rettungshubschraubern und Düsenflugzeugen. Die Gruppen, die sich in Zeitschriften wie >Mother Jones< oder >Communities< selbst darstellen, teilen die bei atavistisch-regressiven Projekten weitverbreiteten Berührungsängste gegenüber der Technik nicht, sondern machen sie i| sich im Sinne domistischer Zielvorstellungen ökologiebewußt zunutze, i Auch der Bau der Arche Noah muß damals, im Zeichen des Regenbogens, ein technisches Meisterstück gewesen sein. Eine Neubewertung des Ingenieurs steht also in domistischen Gruppen bevor, vielleicht mit Leonardo da Vinci als einem ihrer guten Geister, der bekanntlich seine Erfindung des Unterseeboots nicht veröffentlicht hat, weil er ihren Mißbrauch befürchtete.

Einen weiteren ökonomischen Aspekt des Eros (oder eher vielleicht erotischen Aspekt von Ökonomie) möchte ich abschließend noch erwähnen: Arbeit wird in gelebten Utopien meistens so organisiert, daß sie >mit Lust und Liebe< getan werden kann. Das fängt bei der Gestaltung der äußeren Arbeitsbedingungen an und reicht bis zur Zusammensetzung der Arbeitsgruppen. In solchen domistischen Gemeinwesen oder Betrieben fallen ja entfremdende Bedingungen des Arbeitens weg: es gibt keine Ausbeutung, denn alle verfügen gemeinsam über die Produktionsmittel; die Arbeit ist selbstbestimmt (selbstverwaltet), sie wird als sinnvoll erfahren und läßt Freude und kreative Selbstverwirklichung im Zusammenspiel mit anderen nicht nur zu, sondern macht sie zu einem wesentlichen Bestandteil ihres Ablaufs. Selbst langweilige und unbeliebte Arbeiten werden bekanntlich gern getan, wenn man sie in attraktiver Gesellschaft erledigt, sich dabei unterhält und alle möglichen Annehmlichkeiten (etwa Musikhören, Klimatisierung usw.) damit verbindet. Sie kann so, wie ich das selbst beispielsweise in Twin Oaks, in Koinonia, auf der »Farm« in Tennessee, im Kibbuz und im >Bruderhof< mit seiner Spielzeugfabrik (bei New York) erfahren habe, manchmal geradezu festlichen Charakter annehmen.

Eine umfassende Humanisierung der Arbeit ist also in solchen Gemeinwesen möglich und trägt ganz wesentlich zu deren höherer Lebensqualität bei. Nicht zuletzt liegt das auch an der konsequenten Gebrauchswert-Orientierung dieser neuen Ökonomie, die auf unsere wirklichen Bedürfnisse zielt und nicht hauptsächlich auf das Tauschwertinteresse des Kapitals. In kreativer Regression bahnt sich auch auf diesem Gebiet eine Rückkehr zu Qualitätsmaßstäben menschlichen Könnens an, die einiges mit erneuerter >Liebe< zum hergestellten Produkt, zu seinen Materialien und zu seiner zünftigen Bearbeitung zu tun hat.

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Zum vitalen Aspekt des Eros

 

 

Unsere Liebesfähigkeit ist ein Energiepotential, dessen vitaler Anteil am erotischen Farbenspektrum ausspricht, daß wir lebendige Wesen aus Fleisch und Blut sind, die auch dem Reich der Natur zugehören. Und wenn es bei allem erotischen Tun und Erleiden darum geht, Verbindungen herzustellen zwischen dem Getrennten und Unterschiedenen, so gehört zum vitalen Aspekt des Eros zuerst und der Hauptsache nach die Polarität der Geschlechter und die sexuelle Verbindung von Mann und Frau. Von diesem Thema handelt offen oder verhüllt ein großer Teil der Weltliteratur; ich möchte daher hier nur wenige Anmerkungen machen. Bei aller Bedeutung für unser Leben und bei aller Faszination, die in uns die Geschlechtsunterschiede beim Liebeserlebnis entfachen können: sie sind nicht die einzigen biologisch bedingten Unterschiede zwischen Menschen.

Es gibt Unterschiede des Alters (Kind-Jugendlicher-Erwachsener), aber auch der natürlichen Ausstattung sonst, zu der die äußere Erscheinung ebenso gehört, wie Talente (Goethe sprach von >angeborenen Verdiensten<, Vitalitätsgrade (z.B. auch Gesundheit-Krankheit) oder Temperamente dazurechnen. Sofern sie sich als >Gegensätze< oder Besonderheiten suchen, anziehen und verbinden, zählen alle diese Unterschiede in unseren natürlichen Eigenschaften zum vitalen Erosaspekt, und die heterosexuelle Attraktion ist gewissermaßen nur seine populärste Spielart.

Ist aber nicht auch die Liebe zum Schwachen und Hilfsbedürftigen, symbolisiert im neugeborenen Kind, ein Stück >Natur< in uns? Bei vielen Menschen ist diese Zuwendung ein intensives Bedürfnis, Schutz und Unterstützung zu geben. Noch im instinktanalogen Ansprechen unserer Wahrnehmung auf das >Kindchenschema< (Lorenz/Tinbergen) ist ein für jeden zugängliches Teilmoment dieses Erosaspekts erfahrbar. Im Mythos vom göttlichen Kind (etwa der christlichen Weihnachtsgeschichte) fusionieren vitale und religiöse Erosfacetten: die liebende Verbindung zum Kind und gleichzeitig – im Kinde – zum Göttlichen ist darin verkörpert.

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Vielleicht gelingt von solchen Ansätzen her eine neue Einschätzung der vitalen Dimension des Eros im ganzen, so daß dann auch die in der biblischen Tradition überwiegend tabuisierte Sexualität ihre Bedeutung als gleichberechtigte Farbe oder Wertfacette der Liebe zurückerhielte und entdämonisiert würde. Nur als abgespaltene und unterdrückte Teildynamik wird sie ja zerstörerisch; im >Verein< mit den anderen Momenten des Eros aber ist sie eine der mächtigsten Komponenten der Zuwendung und der Kraft zur Verbindung mit anderen Menschen. Die Liebe zum hilfsbedürftigen Kind wäre dann ebenso ein Weg zur >ganzen Liebe< wie die Geschlechtsliebe und alle anderen Gestalten des Eros.

In der bestehenden Pyramidengesellschaft mit ihren Getrenntheiten können Neuverbindungen allerdings nicht einfach durch vorsätzliches Wollen hergestellt werden. Solche Vorsätze mobilisieren vielmehr sofort Ängste und Widerstände, denn wir alle sind in der Pyramiden-(Un)kultur aufgewachsen und können erst in tiefreichenden Lernprozessen allmählich unsere Liebesfähigkeit umfassend neu beleben. Die Vorbedingung dafür sind neue domistische Lebensformen.

Bei aller scheinbaren Lockerung von Sexualtabus blockieren die nach wie vor bestehenden Herrschafts­strukturen in unserer Gesellschaft die Entwicklung einer erotischen Kultur namentlich im Bereich ihrer vitalen Aspekte. Sie ist übrigens sogar im Kibbuz, in Twin Oaks und erst recht bei vielen religiösen Gemeinwesen unentwickelt geblieben. Ihre Erneuerung ist bis heute ein uneingelöstes Versprechen.

Die biblische Sündenfallgeschichte verweist ja, nebenbei gesagt, nicht nur auf eine Tabuisierung der Geschlechtlichkeit, sondern auch der >Gehirnsinnlichkeit<, also des Erkennens. Im Grunde ist damit die Kreativität im ganzen mit Angst besetzt worden: im kreatürlichen Fortpflanzungssinn und im geistigen Sinn autonomen schöpferischen Denkens.

Mit einer unvermittelten Freisetzung der lange unterdrückt gewesenen und daher deformierten Sexualität ist wenig gewonnen. Daß die genitale Erotik das Herzstück aller Liebe und Vorbild für jede Glückserfahrung sei, diese auf Spekulationen Sigmund Freuds zurückgehende Annahme hat sich inzwischen als irrig erwiesen. In besonders überzeugender Form hat Erich Fromm in seinem Buch >Die Kunst des Liebens< diesen Irrtum aufgeklärt. Jeder weiß vermutlich überdies aus der Alltagserfahrung, daß wir die größte Intimität und Nähe mit einem geliebten Menschen eher in der vollständigen Offenheit des dialogischen Gesprächs erleben als beim Orgasmus. Sexuelle Kontakte lassen im Gegenteil viele Leute sehr unbekannt miteinander und können sogar eine Form des Distanzhaltens sein, ganz ähnlich wie manches >Theoretisieren<.

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Die Einbeziehung des vitalen Aspekts in eine übergreifende, vielfarbige Gestalt des Eros scheint mir am ehesten noch bei den Oneida-Leuten und neuerdings in der Friedrichshof-Kommune gelungen zu sein; in künstlerischer Vergegenwärtigung hat Hieronymus Bosch sie uns in seinem >Garten der Lüste< vor Augen gestellt. Dort ist ein geschwisterliches Verhältnis der Menschen untereinander und zu allem Lebendigen, ein Ja zur Natur in uns und außer uns das Grundgesetz. Um eine Welt ohne Naturzerstörung geht es dort, wie domistische Kultur, zu der auch ökologische Achtsamkeit gehört, sie wiederherstellen möchte.

Klärungsbedürftig ist dabei jedoch, welche Art von ökologischem Gleichgewicht wir eigentlich meinen. Zu allen >Kreisläufen<, in die wir einbezogen sind, gehört nun einmal Historizität. Schon die frühgeschicht­lichen Mammutjäger haben ihre Proteinressourcen bekanntlich durch Raubbau erschöpft und Artenvernichtung praktiziert. Es bleibt uns also nicht erspart, auf dem historischen Stand unserer jeweiligen Naturerkenntnis darüber nachzudenken, wie wir unsere Lebensverhältnisse in >ökologischer< Verantwortung einrichten wollen. Die Weisheit der Natur ist mehrdeutig und daher auslegungsbedürftig: sie läßt darwinistische Verhältnisse zu, die dem Stärkeren und Gesünderen das (Überlebens-)Recht zusprechen, und sie ermöglicht ebenso dem biologischen Mängelwesen Mensch eine vorher nie dagewesene Vermehrung schwächlicher Individuen, die dem Überlebens­kampf nur mit Hilfe einer hochgezüchteten Technik-Kultur gewachsen sind.

Warum irgendeine Kreislauflogik nicht das >Ausmerzen< ganzer Menschengruppen zugunsten einer sich selbst als Herrenrasse bestimmenden Minderheit zulassen sollte, ist aus ökologischen Gesichtspunkten allein nicht einsichtig zu machen, es sei denn, man bezieht umfassende Solidaritätsgebote gegenüber biologisch Benachteiligten von Anfang an mit ein. Daß in unserer Geschichte mit den Schwächeren in der Regel ganz anders umgesprungen wird, als die Liebesmystik etwa in Hieronymus Boschs Geschwisterrepublik dies nahelegt, dafür zeugen die Herrenrassenkonzepte aller Epochen, zuletzt die des deutschen Blut-und-Boden-Kults der nationalsozialistischen Ära. Für alles >Natürliche< hegte dieser Biologismus eine dermaßen atavistisch-regressive Vorliebe (bis hin zum Vegetariertum Hitlers), daß Grüne Bewegungen gut daran tun, ihr Naturverständnis und ihre übrigen Wertorientierungen unmißverständlich deutlich zu machen.

Die natürliche Ungerechtigkeit zwischen Menschen, etwa in der Ausstattung mit <angeborenen Verdiensten> kann nur durch eine von uns selbst hergestellte Gerechtigkeitskultur ausgeglichen werden.

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Ein Großteil der Probleme unseres Zusammenlebens entspringt aus der Tatsache, daß die faktisch herrschende (nicht die proklamierte) Kultur unserer Pyramidengesellschaften der Logik natürlicher Ungleichheiten folgt und beispielsweise höhere Begabungen, größere Durchsetzungsfähigkeit, Vitalität und ähnliche Eigenschaften, deren Varianz in hohem Maße durch Erbfaktoren bedingt ist, höher bewertet und entsprechend mit höherem Einkommen, Ansehen und so weiter belohnt als geringere Ausprägungsgrade der gleichen Eigenschaften.

Erst in einer Kultur, die verschieden gearteten Menschen uneingeschränkte Gleichwertigkeit zugesteht und diese Haltung auch in die Alltagspraxis umsetzt, können Unterschiede nicht länger als Schwächen oder Benachteiligungen beurteilt und erlebt werden. In Gemeinwesen wie Twin Oaks werden daher besondere Talente einzelner Mitglieder nicht mehr hauptsächlich ihren Besitzern zugerechnet, sowenig wie eine Quelle, die jemand entdeckt, ihm als privates Eigentum gehört. Domistische Gruppen versuchen geduldig und liebevoll (auch gegen Rückschläge natürlich) diesen neuen Umgang mit der Natur in uns einzuüben: Wer mehr tragen kann als andere, weil er größer, kräftiger und robuster ist, von dem wird erwartet, das zu tun, ohne sich darauf viel einzubilden oder Vorteile für sich daraus zu ziehen.

Nicht nur unsere Talente und unsere Liebesfähigkeit haben natürliche Grundlagen. Auch die Gegenspieler des Eros haben im Vitalbereich eine Dimension ihrer Wirklichkeit, und ähnlich wie die Farbakkorde des Erotischen nehmen die Mixturen der Destruktivität historisch wechselnde Gestalten an. Hieronymus Boschs Reich der Gewalt, der Herrschaft und des Todes, der rechte Flügel des Triptychons, hat seine eigenen Verschränkungen von Geschichtlichkeit und Biologie.

Die Drachen, Höllenhunde und reißenden Ungeheuer, die nach mythischer Erinnerung von Herkules- und Ritter-Georgs-Typen scheinbar ein für allemal gezähmt oder unschädlich gemacht wurden, sind in die inneren Landschaften unserer Lebenssysteme mit neuer Gestalt eingewandert und führen dort weiterhin ein beinahe ungehindertes Räuber-, Würger- und Mörderleben. Es sind aber nicht einfach persönliche Aggressionen, privater Blutrausch und handgreiflich-buchstäblicher Kannibalismus, die uns seelisch zu Naturzerstörung, Atomtod und organisiertem Menschenmord disponieren.

Zu derartig wilden und vitalen Regungen sind die meisten Menschen in unseren Angestellten- und Beamtenkulturen längst nicht mehr fähig. Nicht einmal unsere Soldaten sind es, und es war eine schon zu Nietzsches Zeit überholte, puerile Altphilologenphantasie, im Krieg eine Art dionysisches Fest zu sehen.

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Es ist aber auch ein Fehlschluß zu meinen, der Zerstörungsgewalt einer Wasserstoffbombe müsse auf der Seite des Bomberpiloten und des Pentagon- oder Kreml-Beamten, der ihren Einsatz veranlaßt, eine dieser Gewalt korrespondierende Wut und Zerstörungslust entsprechen. Im industrialisierten Krieg der Supermächte wird nicht eine Aggressivität abreagiert, wie sie allenfalls in Uganda oder El Salvador im blutigen Spiel ist, wenn noch persönlich Hand angelegt und mit Messern und Bajonetten sadistisch zugestoßen wird.

Die neuen Ungeheuer des militärisch-industriellen Mächtesystems haben längst nicht mehr die anschauliche Prägnanz eines schnaubenden Drachen oder feuerspeienden Höllenhunds, denen siegreiche Helden entgegentreten könnten. Eher sind es mikroskopisch-winzige, tödlich giftige Viren (Carlo Schmids >Virus der Macht<), die sich in unseren Hirnzellen und Nerven­bahnen eingenistet haben und unseren Organismus lähmen, erblinden und stumpf werden lassen: es ist die zeitgenössische Form der Pyramidenkrankheit, die – kombiniert mit unserem überentwickelten Stand technischer Effizienz – Holocaust-Katastrophen von unvorstellbaren Ausmaßen ermöglicht. Ihr Ablauf entgleitet in der letalen Zivilisation jeder Kontrolle; besondere Grenzen des Wachstums werden da deutlich: Grenzen der Steuerbarkeit und Verantwortbarkeit von einmal in Gang geratenen, alles niedermachenden Bewegungen solcher >Megamaschinen< (Günter Anders). Die forsche Rede von der Verantwortungsethik des Politikers wird da zur gefährlich-lächerlichen Selbstüberschätzung, wie Tolstoi sie schon in >Krieg und Frieden< bündig bloßgestellt hat. Wenn aber die Megamaschine keine wirkliche Kontrolle mehr erlaubt, müssen wir sie dann nicht anzuhalten versuchen, abstellen und demontieren?  Wir allem müssen wir uns daran beteiligen, die seelischen Voraus­setzungen dafür herzustellen, damit diese Umkehr überhaupt gewollt werden kann.

Eine Vorbedingung dafür ist, die neuen Gestalten der alten Ungeheuer sichtbar zu machen, sie bewußt zu machen, um beherzt-besonnen mit ihnen umgehen zu können. So gehört auch >Chthonisches<, Wildes, Ekstatisches nach wie vor zum vitalen Erosaspekt – nur sind seine Erscheinungsformen, ebenso wie auf der Seite des destruktiven Potentials, häufig nicht mehr mit anschaulicher Prägnanz erfahrbar. Radioaktiver Müll, dessen tödliches Wirken unser unbewaffnetes Auge nicht wahrnimmt, wird von vielen Ureinwohnern der damit verseuchten Südsee-Atolle nicht als lebensgefährlich anerkannt: diese Gefahr ist anschaulich nicht unmittelbar evident, und so werden – mit verheerenden Folgen für die Gesundheit der Betroffenen – oft alle Warnungen davor in den Wind geschlagen.

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Und bleiben nicht umgekehrt viele Menschen blind für die erregenden Botschaften, die gelebte Utopien uns mit ihrer im Zeichen des Regenbogens erneuerten Naturverbundenheit übermitteln? Alles Natürliche, Animalische, Fleischliche wurde, wir erinnern uns an den Noah des Aufbruchs, damals zunächst einbezogen in das Bündnis von Himmel und Erde, und die kreative Regression, die sich vom Pyramidentum der Patriarchentradition befreit, kehrt zurück zu dieser Verbindung von Trieb und Geist.

Auch die Endlichkeit und Verweslichkeit: die Zeitunterworfenheit aller vitalen Prozesse wird damit zu einer Bedingung höchster Erlebnisintensität. Gibt es eine umstürzendere Erfahrung als die Einsicht, daß unserem Dasein das sichere Ende mit auf den Weg gegeben ist? Kein Gott in seiner Ewigkeit, kein säureunempfindliches Material in seiner stumpfsinnigen Dauerhaftigkeit besitzt dieses ungeheure Können – um den Preis des Todes. Daß ein Gott nicht sterben kann, wäre also eine Einschränkung seiner Vollkommenheit: die Erfahrung tiefster Verzweiflung wie auch das ekstatische Erlebnis ihres Gegenzustands sind ihm eben deswegen versperrt; sie gehören zum Leben.

Keine Erotik also ohne das Bewußtsein der Todesverfallenheit alles Lebendigen. Wer die Leibhaftigkeit unseres Daseins und unserer Liebe feiert, wird ihre intensivste Leuchtkraft erst auf dem Hintergrund dieses Endlichkeits­bewußtseins erfahren.

 

Für biblisches Wirklichkeitsverständnis war die Natur und namentlich die Sexualität vorwiegend >des Teufels<. Die neuen Ökobewegungen greifen dagegen kreativ zurück auf ein vor- und außerbiblisches Naturverständnis. Baals-Kulte mögen eine frühe Gestalt solcher Naturmystik gewesen sein. Auch was wir als Tanz ums Goldene Kalb zu verabscheuen gelernt haben, war ja Teil eines Fruchtbarkeitskults, in dem sich die geschwisterliche Naturfreundschaft von Menschen ausdrückte, die Geist- und Triebwelt noch nicht zerstückelt hatten. Der goldene Sonnenstier war für Moses ein Greuel – wohl in Erinnerung an seine Kindheit mit ihren ägyptischen Gottheiten. Damals hat die patriarchalische Triebunterdrückung, die in der Natur, im Weiblichen, in den Sinnen etwas Minderwertiges und den männlichen Geist Irritierendes sah, einen folgenschweren Sieg errungen.

Die neuen domistischen Wertorientierungen zielen auf Lebensformen ohne Naturunterdrückung mit umfassender Solidarität im Geiste des Hieronymus Bosch.

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Nicht Triebleben und Sinnlichkeit werden in der neuen Haltung abgewertet; geächtet werden dagegen Gewalt und Herrschafts­anmaßung, Duckmäusertum und gebückter Gang. Eine Theologie der Fragezeichen rückt an die Stelle der Theologie von Ausrufungszeichen. So lassen sich viele Fragen zu den Geboten stellen, die Moses damals vom Sinai mitbrachte; nur wenige dieser Fragen rufe ich hier in Erinnerung. Schon der Alleinvertretungs­anspruch für das Göttliche ist ja nicht eben dialogfreundlich. Und zeugt das Bilderverbot nicht von beunruhigender Kunst- und Sinnenfeindschaft?

Wahrscheinlich wäre in der Geschichte weniger gemordet worden, wenn man statt dessen Pyramidentum und monologische Triebverdrängung geächtet hätte. Moses selbst hat, wie man weiß, noch in Ägypten einen Aufseher wegen dessen Schikanen gegenüber den jüdischen Bauarbeitern erschlagen; was waren für diese Aktion eigentlich die tieferen Gründe? Und noch ein Letztes: am Eigentum wird bei Moses nur kritisiert, daß man >Lust< darauf bekommen könnte, wenn man es nicht selbst hat. Daß es zur Wurzel für zerstörerische Entwicklungen wird, sobald es Macht über andere verschafft, dieser naheliegende Gedanke taucht damals trotz der ägyptischen Erfahrungen nicht auf. Muß man nicht das spätere biblische Liebesgebot gegen diese Mosesdiktate in Schutz nehmen?

 

Das eigentliche Gegenprinzip zu Moses verkörpert erst Jesus. Daß auch er >Angst< macht, die Seelen seiner Zeitgenossen ganz kreatürlich ängstigen muß (»Fürchtet euch nicht«, bitten die Engel bei der Ankündigung seiner Geburt!), ist psychologisch unvermeidlich. Er muß die Trennung, das Loslassen von liebgewordenen, eingefleischten Gewohnheiten und Haltevorrichtungen zumuten. Wie läßt sich dieses Dilemma lösen: die alte pyramidenkranke Welt und ihre Ordnungen erzeugen immer wieder Leiden, Schmerzen, Grauen. Die neue Lebensform verursacht, während sie entsteht, als Geburtsschmerz gleichsam, ebenfalls zunächst Leiden. Auch sie muß >zerstören<: die falschen Bindungen an Götzen, Idole und Pyramidenarchitektur. Dieses Zerstören muß jedoch nicht brutal, grauenerregend und lieblos geschehen; im Gegenteil: es kann eine sanfte Chirurgie sein, die sogar wohltätige Anästhesien mitverwenden darf, und die jedenfalls mosaischen Terror und vermeidbares Leiden auch wirklich vermeidet. Zum Beispiel: Die Mutter von Jesus — mußte so hart mit ihr verfahren werden? War das nicht ein Rückfall in Moses-Unarten?

Sind solche Verhaltensweisen nicht puristische Akte, die vor allem bei sehr jungen Leuten Beifall finden (und Jesus war selbst kaum dreißig, als er wie ein junger Dutschke durch Jerusalem zog und gegen das damalige Establishment eiferte). Halten wir sie also seiner Jugendlichkeit zugute, die für Anästhesien meist wenig Sinn hat und Härte, sogar Schmerz will, ausdrücklich auch für sich selbst. Ja: das Opfer kann zu den vitalen Erosaspekten gehören, denn wo Opferrauch aufsteigt, muß es da nicht auch heilige Nasenlöcher geben, denen sein Geruch Wohlgefallen bereitet? (Auch wer das buchstäbliche rituelle Opfern ablehnt, wie Jesus das getan hat, kann doch auf einer geistigeren Ebene liebende Hingabe vollbringen, die sich für unser Gefühl immer an ein Du wendet.)

155-156

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  Überblick 

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Ich möchte die sieben hier unterschiedenen Eros-Aspekte noch einmal in Erinnerung rufen:

Wie ich zu zeigen versucht habe, sind verschiedenartige Ausprägungen und Verknüpfungen von Eros-Aspekten möglich.* 

Neuartige und weitreichende Fusionen können hier gelingen, wenn die Bedingungen dafür in domistischen Sozialstrukturen und ihren Vorformen geschaffen werden.

Unsere Beteiligung am Ausbau domistischer Neuansätze kann verschieden abgestufte Grade annehmen. Sie reichen von den intensivsten Formen der Beteiligung, dem vollständigen Engagement für eine gelebte Utopie, über eine ganze Skala bis hin zum Sympathisantenstatus. Jemand, der nur diesen geringeren Grad der Beteiligung aufbringen kann, mag mit seinem Herzen ganz bei der neuen Sache sein; seine Lebensumstände, etwa in Beruf und Familie, erlauben ihm aber vielleicht nur, von Zeit zu Zeit Geld in die Projektkasse zu stecken; er kann auch Abonnent einer domistischen Zeitschrift sein oder jede Woche Milch und Eier bei einer Agrarkooperative abnehmen; eventuell nimmt er auch gelegentlich wochenendweise am Leben des neuen Gemeinwesens teil.

In amerikanischen Gemeinschaftssiedlungen habe ich immer wieder Menschen getroffen, die sogar für Monate Urlaub von ihrer normalen Existenz genommen hatten, um das andere Leben zu erkunden. Oft blieben sie dann für immer. Aber auch wer nicht gleich (auf Zeit oder gänzlich) in eine neue Lebensform überwechselt, kann sich doch als Förderer bei domistischen Projekten nützlich machen. Wege dazu findet er heute überall.

Die abgestuften Formen der Beteiligung, von denen ich gesprochen habe, bieten noch einen weiteren Vorteil: wenn die domistischen Einrichtungen sich als neues soziales Gewebe im Schoß der alten Gesellschaft einnisten sollen (und anders können sie gar nicht zum Leben kommen), dann brauchen sie schützende und nährende Zuwendung auch aus dem bestehenden System, mit dem das Neue ja zunächst durch zahllose Austauschprozesse elementar verbunden ist.

Wenn man will (und wenn man für historisch-legendäre Parallelen etwas übrig hat), kann man in der Rolle von Joseph in Ägypten, wie die biblische Jakobs­geschichte sie darstellt, ein Muster für diese heikle Bündnislogik sehen: Joseph war nicht ohne Einfluß im <System>; er konnte handfest Hilfestellung bei der Ansiedlung seiner Brüder in Unterägypten geben, lebte aber mit seiner Familie und seinen Freunden selbst nicht dort auf dem Lande, sondern in der ägyptischen Metropole, wo er sogar Regierungsberater (und zeitweise Minister) war. Er spielte also die Rolle des Förderers, Entwicklungs­helfers und Verbindungs­manns zum System, war Anwalt, Dolmetscher und Vermittler zwischen dem Alten und dem Neuen.

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Ende 

 

*  Falls jemand den Wunsch nach der Operationalisierung dieser Überlegungen äußern sollte, würde ich ihm vorschlagen, sich unsere Liebesfähigkeit faktorenanalytisch im Sinne etwa der Faktorentheorien Guilfords, Eysencks oder Cattells zur >Intelligenz< oder >Persönlichkeit< zurechtzulegen. Ein an Quantifizierung interessierter Psychologe wird wohl auch mühelos entsprechende Testbatterien ersinnen. Einem solchen Psychologen würde ich allerdings wünschen, daß die bei seiner Testentwicklung mitspielenden >Probanden< die gemessene Fähigkeit ihm, dem Psychologen selbst gegenüber betätigen, um ihn von seinem Wissenschaftsverständnis zu heilen: durch viel fürsorgliche Zärtlichkeit und Zuwendung; er wird sie brauchen!

 

 

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