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Epilog 

Noch eine unbequeme Wahrheit

 

»Merkwürdig ist die Achtlosigkeit und Geringschätzung, mit der die Menschen ihre irdische Umwelt behandeln,
während sie sich bereits anschicken, den Weltraum zu erobern.«   Yves Coppens (1985) 

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1-   Pale Blue Dot    2-

Ein halbes Jahrhundert ist es her, dass der Astronaut William Anders den blauen Planeten, unsere Erde, hinter dem Mond aufgehen sah und aufnahm - »Earthrise«, die Erde aus dem Weltall betrachtet. Sie wirkte zerbrechlich mit ihrer sehr zarten, schützenden Hülle der Atmosphäre. Die NASA-Fotographie symbolisierte das Umweltbewusstsein einer Generation, ließ sie doch viele Menschen erstmals erkennen, dass die Erde verwundbar ist und dass wir sie besser behandeln müssen, als wir es bisher getan haben.(993)

Jahrzehnte später, am 14. Februar 1990, machte die Raumsonde »Voyager 1« aus einer Entfernung von sechs Milliarden Kilometern eine andere Aufnahme von unserer Erde als einem winzigen Planeten in der Milchstraße. Das Foto trägt den Titel »Pale Blue Dot« - und der blassblaue Punkt mahnt uns, vielleicht sogar mehr noch als »Earthrise«, alles daranzusetzen, diesen Planeten zu bewahren und zu pflegen. Er ist unsere Heimat; so unwahr­scheinlich dies ist. 

  wikipedia  Yves_Coppens  1934-2022    wikipedia  Pale_Blue_Dot    wikipedia  Earthrise     wikipedia  William_Anders *1933

Gleichwohl drängt sich der Eindruck auf, dass geradezu ein Wettstreit darüber entbrannt ist, weitere bewohnbare Welten zu finden. Die eine Fraktion von Astronomen sucht mit Milliardenaufwand mittels Raumsonden wie »Galileo« oder »Juice« beispielsweise auf den zahllosen Monden unserer Nachbarplaneten wie des Ringplaneten Saturn oder des Gasriesen Jupiter nach Spuren von Wasser in unserem Sonnensystem. Die andere Fraktion strebt gleich nach extrasolaren Planeten. Gemeinsam ist beiden die Vorstellung, dass es irgendwo da draußen - in mehr oder weniger unmittelbarer Nachbarschaft zur Erde - eine zweite Evolution geben könnte, die nochmalige unabhängige Entstehung von Leben. Damit wird zugleich die Illusion genährt, der Kosmos sei lebensfreundlich und bewohnbar.

Doch genau das Gegenteil trifft zu. Die Entstehung von Leben ist keineswegs der Regelfall, sondern eben eine glückliche Ausnahme. Überhaupt sind die Umweltbedingungen da draußen, egal ob auf Mond, Mars, Merkur oder anderswo im Weltall, ausgesprochen schwierig; für Leben an sich und den Menschen ganz besonders. »Space is not cooperative«, so einer der Protagonisten im Kinofilm Der Marsianer. Oder anders ausgedrückt: Wir können von Glück sagen, dass wir im richtigen Teil des Sonnensystems existieren.


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Der Astrophysiker Stephen Hawking brachte es - auch wenn wir der bei ihm offenbar tief verwurzelten Fortschrittsgläubigkeit und seiner utopischen Vision keineswegs folgen wollen - einmal auf den Punkt: »In ein paar hundert Jahren werden wir vielleicht Kolonien inmitten der Sterne gründen, aber im Moment haben wir nur einen Planeten. Wir müssen zusammenarbeiten, um ihn zu schützen.«(994)

Weil es so oft vergessen wird: Wir haben tatsächlich nur diesen einen Planeten. Und er wird sicher auch für Äonen, gar für immer, der einzige bleiben, den wir haben.

Dennoch zieht viele Menschen die Frage nach weiteren erdähnlichen Planeten und damit außerirdischem Leben derart in den Bann, dass dabei gänzlich verdrängt wird, worum es wirklich geht. Denn weder hängt der Himmel voller Erden, noch wissen wir bis heute sicher von extrasolarem Leben, also solchem außerhalb unseres Sonnensystems. Vor allem anglo-amerikanische Geophysiker gehen indes recht großzügig mit Darstellungen von der Entdeckung erdähnlicher Exoplaneten und einer vermeintlich »zweiten Erde« um. Dabei ist die Existenz von Leben auf den Exoplaneten reine Spekulation.

Die Suche nach einer zweiten Erde hat so richtig Fahrt aufgenommen, als sich vor zwei Jahrzehnten erstmals tatsächlich ein Planet außerhalb unseres Sonnensystems nachweisen ließ, der um einen Stern ähnlich unserer Sonne kreist.

Schon in der Antike hatten Gelehrte vermutet, dass wir nicht allein sind und es jenseits der Erde Leben gibt. Die unglaubliche, weil ketzerische Behauptung, die Erde sei nicht einzigartig und es gebe tausend mal tausend, ja unendlich viele belebte Welten im Kosmos, äußerte im 16. Jahrhundert zuerst der Forscher und Philosoph Giordano Bruno; unter anderem wegen dieser Aussage wurde er 1600 mitten in Rom auf dem Scheiterhaufen verbrannt.(995)   https://de.wikipedia.org/wiki/Giordano_Bruno

Erst im Jahr 1995 gelang mit »51 Pegasi b« der Nachweis eines extrasolaren, außerhalb unseres Sonnensystems kreisenden Planeten. Seitdem mehren sich die Stimmen, dass es allein in unserer Milchstraße viele belebte Welten geben könne. Doch selbst wenn dem so wäre, auf einem dieser Exoplaneten tatsächlich Leben existierte und sich dessen Spuren finden ließen - beides ändert nichts an der Tatsache, dass davon keine Lösung für irdische Probleme zu erwarten ist. Leben auf einem anderen Planeten wird unser Überleben hier auf Erden nicht sichern; nicht auf absehbare Zeit, nicht in diesem und vermutlich auch nicht in den kommenden Jahrhunderten. Der Faszination für die Suche nach einer zweiten Erde tut diese sichere Erkenntnis keinerlei Abbruch - bei Astrophysikern, die der Suche nach erdähnlichen Planeten berufsmäßig nachgehen, genauso wenig erstaunlich wie bei all denen, die mit dem Blick ins Weltall wohl zugleich die Augen von allzu irdischen Fakten abwenden.


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Vor allem seit das NASA-Weltraumteleskop »Kepler« seine Arbeit aufgenommen hat, mehren sich die immer wieder gern aufgegriffenen Meldungen von Planeten in der bewohnbaren Zone eines anderen Sterns; oft genug geradezu euphorisch begrüßt, als wäre damit schon mehr gewonnen als eine weitere astronomische Detailerkenntnis. Seit dem Start im März 2009 spürte »Kepler« kontinuierlich Tausende von Planeten bei anderen Sternen auf; bis August 2017 waren es insgesamt 3640 solcher Exoplaneten in 2730 verschiedenen Sonnensystemen. Sie sind mithin im Kosmos keine Seltenheit, so dass die Entdeckung eines weiteren eigentlich nicht jedes Mal von Neuem für Schlagzeilen sorgen sollte. Und doch sind solche Funde immer wieder eine Meldung wert: Hallo Nachbar, oder: Noch ein Cousin der Erde. Dabei sind nur rund zwanzig dieser Planeten überhaupt erdähnlich und in einer sogenannten habitablen Zone, nicht zu nah und nicht zu weit vom Zentralgestirn entfernt.

US-Astronomen meldeten beispielsweise Ende 2011 den unserer Erde angeblich ähnlichen, indes deutlich größeren Planeten mit der Katalognummer »Kepler-22b«. Dank einer Oberflächentemperatur von milden 22 Grad Celsius wäre Wasser dort flüssig, eine der Voraussetzungen für Leben, wie wir es kennen.996 Kleiner Schönheitsfehler dabei, dass sich auf diesem Exoplaneten gar kein Wasser nachweisen ließ und erst recht kein Leben. Als er entdeckt wurde, stand noch nicht einmal fest, ob es sich um einen Gesteinsplaneten wie die Erde handelt und ob »Kepler-22b« flüssig oder gasförmig ist. Ebenso offen blieben diese an sich entscheidenden Fragen, als japanische Astronomen im September 2013 eine sogenannte »Supererde« mit der Katalognummer »Gliese 1214b« entdeckten, die »nur« rund 40 Lichtjahre von der Erde entfernt eine Sonne im Sternbild Schlangenträger umkreist.997 Als Supererden bezeichnen Astronomen solche Exoplaneten, die größer als unsere Erde, aber kleiner als die kleinen Gasplaneten Uranus und Neptun sind. Auch im Fall von »Gliese 1214b« vermuten sie eine wasser- oder wolkenreiche Atmosphäre. Aber das Leben bleibt auch dort Fehlanzeige.

Nicht viel besser sind bislang die Befunde für drei große Planeten, die erdähnlich ihre Bahn um den Zwergstern »Gliese 667C« ziehen (er besitzt nur etwa ein Drittel der Masse unserer Sonne). Dieses im Juni 2013 entdeckte Sonnensystem ist insofern ungewöhnlich, als sich von sechs (oder gar sieben?) Planeten gleich drei dieser Supererden als felsige Körper mit der mehrfachen Masse unserer Erde in lebensfreundlicher Entfernung zu ihrer Sonne bewegen - also just dort, wo Wasser an der Oberfläche in flüssiger Form möglich ist.


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Auch hier können Astrophysiker bisher nur freies Wasser und Leben vermuten; wirklich nachweisen können sie es nicht. Zugleich streichen die Meldungen über das neu entdeckte Planetensystem heraus, dass es sich - diesmal sogar »nur« 22 Lichtjahre entfernt - um die uns offenbar am nächsten liegende lebensfreundliche Welt außerhalb unseres eigenen Sonnensystems handelt.(998)

Noch so eine extragalaktische Welt entdeckten Planetenjäger im April 2014 im Sternbild Schwan, allerdings knapp 500 Lichtjahre entfernt. »Kepler-186f« ist sehr wahrscheinlich ein felsiger, kein gasförmiger Planet; in habitablem Abstand zu seiner Sonne, so dass es auch hier flüssiges Wasser geben könnte. Einmal mehr bleibt indes die Frage offen, ob dieser Planet überhaupt eine schützende Atmosphäre hat, die das fragliche Wasser halten kann, wie dies unserer Erde gelungen ist.999 Keine zwei Monate später tickerte die nächste Meldung herein. Als »Kepler-10c« katalogisiert, umkreist eine Mega-Erde mit siebzehnmal so viel Masse wie unser eigener Planet eine Sonne im Sternbild Drache. Das Besondere hier: Trotz ihrer Masse ist diese Erde vermutlich ebenfalls ein Gesteinsplanet und nicht, wie schon aufgrund seiner Größe anzunehmen wäre, ein Gasplanet.(1000)

Im Sommer 2015 dann meldeten Astronomen »Kepler-452b«: einen wahrscheinlich ebenfalls fels- und nicht gasförmigen, etwas größeren Cousin der Erde, schlappe 1400 Lichtjahre von uns entfernt. Aber in habitabler Entfernungzu seinem Mutterstern, der mit sechs Milliarden Jahren sogar noch einmal anderthalb Milliarden älter ist als unsere Sonne.1001 Damit hätte dort, so betonen die Berichte, die Entstehung von Leben noch mehr Zeit gehabt als auf unserer Erde.

Ob dem so ist und ob sich Leben dort vielleicht wie auf der Erde in Gestalt von Viren und Bakterien organisiert hätte oder gar als »höhere« Lebewesen - all dies bleibt reine Spekulation, solange sich Leben nicht einmal nachweisen lässt. Einfach hinfliegen und nachschauen ist wildes Wunschdenken und liegt auf unabsehbare Zeit außerhalb jeder vernünftigerweise vorstellbaren Möglichkeit für Raumschiffe oder Forschungs­sonden. Selbst der uns nächstgelegene erdähnliche Exoplanet »Proxima b« im Sternensystem Alpha Centauri, der 2016 als vermeintlich zweite Erde Schlagzeilen machte, ist mehr als vier Lichtjahre von der Erde entfernt.

Um dorthin zu gelangen, würden wir theoretisch - weil neben zahllosen anderen Problemen die keineswegs unwichtige Frage des Antriebs


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nicht einmal ansatzweise gelöst ist - selbst mit den schnellsten verfügbaren Raketenantrieben 20.000 bis 30.000 Jahre benötigen; allein für den Hinflug.

Nach einer jüngsten Studie haben zwei französische Forscher die Flugzeit mit »nur« 6300 Jahren deutlich kürzer berechnet - und dass es für die Reise mindestens 49 Paare an Bord eines Raumschiffes gehen müsste. Dies sei die Voraussetzung dafür, dass eine genetisch gesunde Bevölkerung nicht nur die Reise überdauert, falls die Menschheit eines Tages ein Raumschiff zum nächsten bekannten Exoplaneten »Proxima Centauri b« jenseits unseres Sonnensystems schicken will. Allerdings blieben Unsicherheiten, so der Bericht weiter, etwa wie sich die kosmische Strahlung auf die Besatzung auswirkt.

Als ob das das einzige Problem wäre. Bereits derart weit auseinanderlaufende Berechnungen zeigen, wie hypothetisch solch ein Unternehmen ist.1002

Und dennoch erfuhr auch der bisher letzte Fund wieder mediale Aufmerksamkeit, als im Juli 2016 mit dem Weltraumteleskop »Hubble« zwei weitere, vermeintlich vielversprechende Planeten im Sternbild Trappist untersucht wurden. Sie liegen allerdings nicht »nur« vier, sondern 40 Lichtjahre jenseits unserer Welt.'003 Die Reisedauer bei heutiger Technik betrüge absurde 200.000 Jahre. Um die tatsächliche Dimension und zugleich Absurdität solcher Überlegungen deutlich zu machen: Gingen wir eine ähnlich lange Zeitspanne zurück, begegneten wir einem nackten, aufrecht gehenden Menschenwesen, das wir heute Homo sapiens nennen - und das sich gerade anschickte, den afrikanischen Kontinent gen Norden zu verlassen, um die Erde zu besiedeln.

Die Reihe ließe sich fortsetzen. Forscher schätzen, dass es immerhin 200 Milliarden Sterne in unserer Milchstraße gibt, von denen etwa ein Fünftel unserer Sonne ähneln; daraus schließen sie auf rund zehn Milliarden potenziell lebensfreundliche Planeten allein in unserer Heimatgalaxie. Es werden sich mithin weitere erdähnliche Planeten bei einem Stern entdecken lassen, irgendwo im Weltall und Lichtjahre entfernt. Für die kommenden Jahre plant die NASA den Start neuer Weltraumteleskope, die den Astronomen dann sogar dank neuer Technik einen Blick in die Atmosphäre erdähnlicher Planeten bei anderen sonnenähnlichen Sternen erlauben sollen.

Vor allem die US-Raumfahrtbehörde ruft bei jeder Gelegenheit »Heureka«; und Medienmacher springen immer wieder darauf an.


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Mit jeder neuen Meldung über den Fund eines weiteren entfernten Nachbarn der Erde verschaffen sie so der Suche nach extraterrestrischem Leben neuen Auftrieb. Der NASA, die diese in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder schürte, darf man dabei durchaus eigene Interessen unterstellen. Mit anderen Forschungseinrichtungen ringt auch sie um mediale Aufmerksamkeit als Mittel zur Sicherung zukünftiger Fördergelder. Neben medizin­ischer Forschung ist kaum etwas derart teuer und aufwendig wie Raumfahrt und die damit eng verbundene Astrophysik.

Dass die daran beteiligten Wissenschaftler und ihre Institutionen auf sich und ihre Mission aufmerksam machen, ist verständlich und unbestritten ihr gutes Recht. Doch geraten gerade denen, die es mit an sich unbegreiflichen Dimensionen von Raum und Zeit zu tun haben, die Verhältnismäßigkeit und Größenordnung oft genug aus dem Blick - von der Sinnhaftigkeit dieser Suche ganz zu schweigen. Als im Jahr 2011 das Space-Shuttle-Programm eingestellt wurde, erntete die NASA heftige Kritik; dabei war diese Entscheidung überfällig. Nicht nur wegen der Rückschläge und technischen Probleme, die die Kosten immer mehr außer Kontrolle geraten ließen. Derzeit können die Amerikaner nur noch per Anhalter durch die Galaxis reisen.

Wir hätten dies zum Anlass nehmen sollen, die bemannte Raumfahrt gründlich zu überdenken, von der - trotz anderslautender vollmundiger Erklärungen - keine großen Sprünge für die Menschheit zu erwarten sind. Eine Evaluierung des wissenschaftlichen Nutzens ist mehr als überfällig, zumal nun aus privaten Quellen Milliardensummen in die Raumfahrt investiert werden. Doch Menschen zum Mond oder gar zum Mars zu schicken (Reisezeit pro Strecke wenigstens sechs Monate) ist nicht mehr begründbar angesichts der Möglichkeiten ferngesteuerter Sonden. Wichtiger aber noch: Das Geld fehlt auf der Erde, wo es viel dringender bei der Bekämpfung etwa von Klimafolgen, Seuchen und Sozialnöten eingesetzt werden könnte - und vor allem dabei, das drohende Artensterben zu verhindern. »Solange der Mensch im Ozean der irdischen Probleme zu ertrinken droht, muss der Himmel leider warten.«1004

 

2-  Das Artensterben ist der neue Klimawandel    ^^^^

 

Wer sich auf diese Weise, per Weltraumabenteuer, und sei es auch vorläufig nur in seiner Fantasie oder per gemeinschaftlich finanzierter Wissenschaft, von dieser Welt verabschieden möchte, der ist auch auf der Flucht vor der Verantwortung, die wir für unseren Planeten und seine Biota haben - sicher und für alle absehbaren Zeiten den einzigen, den wir haben.


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Doch während wir mit immer ausgereifteren Instrumenten und Messverfahren nach Leben in anderen Sternensystemen fahnden und nach Wasser auf anderen Planeten, vernichten wir das Leben auf unserem eigenen, als ob wir noch einen weiteren hätten. Unter Milliardenaufwand suchen wir mittels Weltraumteleskopen nach potenziellen Signalen intelligenten Lebens - ohne wirklich verstanden zu haben, dass eine Evolution anderswo gänzlich anders verlaufen wäre und dass es mithin nichts wirklich Vergleichbares zu unserer Zivilisation und zum Menschen geben kann. Evolution ist einmalig - und wir sind es auch. Hören wir also endlich auf damit, da draußen nach etwas vergleichbar Entwickeltem zu suchen.

Es ist unwahrscheinlich genug, dass es uns - Homo sapiens - überhaupt gibt, wenn wir uns der Millionen Jahre glücklich verlaufender Evolution erinnern. Evolution ist der ursächliche Prozess, der zu allen Zeiten die jeweilige biologische Vielfalt, die Biodiversität an Arten und Artengemeinschaften, hervorgebracht hat. Wir kennen zu unterschiedlichen Zeiten recht verschiedene, nie allerdings gänzlich andere und neue Lebewelten. Ist eine untergegangen, sind in erdgeschichtlicher Vergangenheit stets neue aus den Überlebenden der vorangegangenen Epochen entstanden. Solche glücklich Überlebenden hat es zu allen Zeiten gegeben. Wir selbst, mehr noch unsere Ahnen vor Äonen von Jahren, zählen dazu.

Und insofern kommt die Evolution eigentlich auch nie an ein Ende. Wenn wir hier vom Ende der Evolution sprechen und vor ihm warnen, meinen wir wie gesagt, dass die Evolution jener Lebewelt beendet wird, die wir gegenwärtig haben - das Leben in der Form, wie wir es bisher kennen. Es sollte dabei nur mehr ein schwacher Trost sein, dass die Evolution neue, andere Wege finden wird, wenn sie mit uns fertig ist; dass sie dann aus den Resten und Ruinen des Lebens auf der Erde wieder Neues hervorbringen wird. Wir haben gesehen, dass schöpferische Krisen nichts Ungewöhnliches in der Erdgeschichte sind. Homo sapiens - das ist für die Erde, wenn es schlimm kommt, wie eine Erkrankung; aber das geht vorbei, so oder so.

Die Evolution ist einmalig, wir aber gefährden deren Ergebnis und damit zusehends auch uns selbst. Seit »Earthrise« hat sich der Zustand unseres Planeten nicht wirklich verbessert. Was wir tun, ist »ein Angriff der Gegen­wart auf die übrige Zeit«.1005 Ganze Lebensräume werden zerstört, die Umwelt wird verschmutzt, die Ressourcen werden geplündert und Tausende und Hunderttausende von Tier- und Pflanzenarten sterben aus.


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Derweil verschwenden wir munter Milliardenbeträge für sinnlose Weltraumabenteuer.

Vor allem aber wird die Biodiversitätskrise immer noch nachrangig behandelt; derzeit dreht sich alles um Klimawandel. Dabei geht es beim allgegenwärtigen Artenschwund um eine weitere unbequeme Wahrheit, ein weiteres großes Problem globalen Ausmaßes - angefangen unmittelbar vor der eigenen Haustür, im eigenen Garten und in unserer Kulturlandschaft, wo derzeit die Bestände etwa vieler Vogelarten oder die Biomasse heimischer Insekten verschwinden; bis hin zu den tropischen Regenwäldern und Riffen, den weiten Savannenlandschaften und den Meeren, wo die Verluste der Biota inzwischen ebenfalls bedrohlich sind.

Die Auswirkungen eines allgemeinen Artenverlustes aber dürfen wir nicht unterschätzen; sie sind von enormer ökologischer Brisanz und erheblicher gesell­schaftlicher Sprengkraft.

Das Artensterben, so die These hier, ist der neue Klimawandel.

Der Verlust der Biodiversität, das drohende Ende der Evolution, ist die wahre Krise des 21. Jahrhunderts. Doch der Schutz der Natur hat politisch längst noch nicht den gleichen Stellenwert wie das Klima; wobei immer deutlicher wird, wie eng die Biosphäre mit der Geosphäre und dem Klimasystem der Erde verknüpft ist. Während indes der Klimawandel, der nun buchstäblich die ganze Welt bewegt, endlich zum zentralen Thema geworden ist, muss die »Defaunation« des Anthropozäns, die Entleerung der Tierwelt in der Menschenzeit, erst noch in den Köpfen der Menschen ankommen. »Die hohe Priorität für die Klimakrise darf nicht dazu führen, dass der Schutz der Lebensräume aus dem Blick gerät.«1006

Bereits im Jahr 1896 hatte der schwedische Chemiker Svante Arrhenius auf den Zusammenhang zwischen der Emission von Gasen und einer Klimaerwärmung hingewiesen. Doch erst ein volles Jahrhundert später ist der Klimawandel als Problem erkannt worden, ohne dass lange Wesentliches geschehen wäre, ihn zu stoppen - eine fatale Entwicklung und frustrierende Erkenntnis. Denn noch einmal hundert Jahre haben wir Erdlinge weder beim Klimawandel noch beim Artensterben zum Gegensteuern. Das Zeitfenster schließt sich in beiden Fällen in den unmittelbar bevorstehenden wenigen Jahren und Jahrzehnten.

Immerhin: Nach langen Debatten ist der Klimawandel heute in aller Munde, die Klimaleugner dagegen sind weitgehend verstummt, die Faktenbasis mittlerweile ebenso überwältigend wie beängstigend; vor allem kann es inzwischen jeder selbst sehen.


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Aber wir vernachlässigen über den Klimaschutz, so wichtig er unbestritten ist, derzeit in erschreckendem Maße den Artenschutz. Dabei dürfen wir nicht ignorieren, dass die Natur durch massiven Artenschwund mitten in einem noch viel bedeutenderen Wandel steckt; dass das Sterben der Arten die Ökosysteme gefährdet, von denen auch unser Leben abhängt. Zwar ist der Klimawandel zur universellen Erklärung für alles gemacht worden, was sich verändert. Doch ein genauer Blick lohnt sich, wenn es auch um andere Ursachen und Verursachungen des Wandels unserer Welt geht.

Die Zeichen des Klimawandels sind mittlerweile unübersehbar: steigende Oberflächentemperaturen an Land und in den Ozeanen, steigender Meeresspiegel und Überschwemmungen oder Starkregen und Dürre etwa. Die Indizien sind vielfältig, und wir alle sind betroffen - auf die eine oder andere Art und Weise. Was dagegen fehlt, sind ebenso deutlich sichtbare und unverkennbare Zeichen des heraufziehenden Artensterbens. Die Insektenreste auf der Windschutzscheibe bei sommerlichen Autofahrten, die keiner vermisst, sind es jedenfalls nicht allein; und der zunehmend stumme Frühling wird kaum bemerkt. Noch sterben die Arten allzu leise, werden die Sterberegister der Natur nur sehr langsam länger.

Andererseits macht der Blick auf den Umgang des Menschen mit dem Klimawandel mitunter auch Hoffnung. Da ist das international verabredete FCKW-Verbot der 1980er Jahre, seitdem schrumpft das Ozonloch. Da ist das Erneuerbare-Energie-Gesetz Ende der 1990er Jahre, das von anderen Ländern in ähnlicher Weise übernommen wurde. Da sind andere gesetzliche Regelungen zum Schutz des Klimas. Sie kommen zwar mit sträflicher Langsamkeit, aber es gibt sie. Die Mahnungen der Wissenschaft haben etwas bewirkt, haben in der globalen Gemeinschaft Prozesse in Gang gesetzt und zeigen, dass der Mensch in der ganz großen Gruppe ein gemeinsames Ziel erreichen kann. »Together we stand, divided we fall«, wie es in einem Song von Pink Floyd heißt.

Doch nicht nur den Klimawandel in dem für die Erdsysteme erträglichen Maße zu begrenzen ist ein globales Zukunftsprojekt. Auch die gegenwärtige und zukünftig drohende Vernichtung der Arten ist ein globales Phänomen und gewaltiges Problem, das die gemeinsame Aufmerksamkeit der ganzen Welt braucht. Noch sind seine Auswirkungen eher regional und lokal begrenzt sichtbar, weshalb man seine politische Relevanz kaum wahrnimmt. Zudem waren, um den Vergleich mit dem Klimawandel noch weiter zu bemühen, bei diesem die Zielscheibe und der Verursacher schnell klar: die Nutzung fossiler Brennstoffe zurückzufahren und die übermächtige Ölabhängigkeit durch Alternativen abzulösen. Das Artensterben dagegen bietet allenfalls ein diffuses Ziel, wenngleich mit der missbräuchlich betriebenen industriellen Landwirtschaft weltweit einer der Hauptverursacher benannt ist. Indes verfügt auch die Landwirtschaft über eine starke Lobby, das zeigt etwa die fehlgeleitete EU-Agrarpolitik seit Jahrzehnten, die jegliche Veränderungen in Richtung Naturerhalt und Artenschutz verhindert hat. Ohne die desaströsen Fehlentwicklungen bei Land- und Forstwirtschaft sowie Fischerei seit Beginn des Anthropozäns würden wir nicht über ein sechstes Massensterben auf diesem Planeten reden müssen.

Womit wir bei einer weiteren Gemeinsamkeit des Artensterbens mit dem Klimawandel sind. Bei beiden gibt es die beharrlichen Leugner. Da werden die Boten als Überbringer der schlechten Nachricht oft genug beschimpft, weil man die Botschaft nicht hören will. Auch dadurch braucht es viel zu lange für ein Umschwenken der Weltgemeinschaft, weg vom bisherigen schädlichen Wirtschaften.

Und auch wenn es in beiden Fällen keine einfache und schnelle technische Lösung aus dem Technologiefundus des globalen Nordens gibt - beim Klimawandel werden Sonnen- und Windenergie als Alternativen diskutiert, und es zeichnen sich abermals Maßnahmen der Ingenieurs­kunst im Bereich der Mobilität ab. Am Ende ist es das ökonomische Argument, das am stärksten gegen den schädlichen Klimawandel wirkt.

Doch wir können uns schlicht und ergreifend nicht nur den Klimawandel und seine Folgen nicht leisten. Noch weitaus weniger können wir uns das allgemeine Artensterben auf der Erde leisten.

Auch wenn es auf den ersten Blick so aussehen mag, als fehlte das ökonomische Argument beim Artensterben, weil uns der Verlust von Fledermäusen und Vögeln und Faltern scheinbar nichts kostet. Es wäre der größte Irrtum des Menschen. Denn die Biodiversitätskrise kostet uns unser Überleben.

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#

Ende des Endes der Evolution

 

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