DAS APOKALYPTISCHE VORSPIEL
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Nach den wirren, entscheidungslosen Jahren, die dem letzten großen Weltkrieg* gefolgt waren, gingen auf einmal wieder Massentod und Vernichtung um. Ein neuer Krieg raste um den Erdball. Wie und warum er gekommen war, wußte im Grunde genommen niemand. Die mißtrauisch gewordenen Völker ergingen sich in dunklen Mutmaßungen, und die Regierungen verbreiteten plausibel klingende Lügen.
*d-2021: gemeint ist der 2. Weltkrieg
Das erstaunlichste war nur, daß die Menschenmassen kaum erschraken und in bestimmten Ländern sogar so etwas wie eine jähe, flüchtige Erleichterung nach einem dumpfen Alpdruck empfanden. Aller Wahrscheinlichkeit nach war ihnen das, was sie in den letzten trüben Jahren als den schüchternen Anfang irgendeines Friedens erlebt hatten, noch gar nicht als das Ende, sondern nur als eine Unterbrechung des Krieges erschienen. Das vorher Durchlebte geisterte noch düster und traumhaft in ihrem benommenen Gefühl.
Im wilden Getümmel der Geschehnisse jedoch wurde sehr bald überhaupt nichts mehr bestimmbar, denn dieser neue Losbruch war kein Menschenkrieg mehr. Die Elemente schienen auf die Erde niedergebrochen zu sein, und wie im Handumdrehen setzten sie die Armeen außer Aktion. Es war, als flüchteten die Menschen vor ihren eigenen Werken und verkröchen sich vor deren Furiengewalt. Schon nach kurzer Zeit wußte niemand mehr, wer gegen wen kämpfte, und wenngleich noch immer von irgendwoher Stimmen durch den verpesteten Äther drangen und den Radiohörern das Vorhandensein einzelner Regierungen oder eines Rates der »Vereinten Nationen« vortäuschten - rasch wurde all dies unwirklich.
Jede Ordnung zerstäubte gleichsam. Die Erinnerungen an das Vorher versanken. Ursache und Zeit schienen verweht und zerblasen, und nur die Wirkung war überall dieselbe: Auf belebte Seehäfen und blühende Millionenstädte an den Küsten der Weltmeere fielen fast lautlos übergrelle Riesenblitze vom Himmel herab. Die erschreckten Menschenmassen wurden unruhig und jagten nach allen Seiten.
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Ein seltsam verhaltenes, unterirdisches Grollen lief unter ihren Füßen, und schon brachen die Häuser krachend auseinander und begruben alles. Die Erde barst, und Tausende fielen in ihre breiten, tiefen Rinnen. Die von Panik ergriffenen Massen erreichten das Meerufer und stürzten sich, alles überrennend, in die kochendheißen Fluten. Im Brodeln der erhitzten Wellen schwammen unzählige verendete, weißbauchige Fische aller Größen. Flatternde Möwen erstarrten in der sengenden Luft und fielen wie verrußte Trauben mit den emporgeschleuderten, zischend platzenden Menschenleichen auf die stürmische Wasserfläche herab. Gespenstisch trieb das schaurige Gemeng ins Ungewisse. Das unterirdische Grollen brach plötzlich in ein peitschendes Krachen, und wie ein Fanal des kommenden Weltuntergangs warf eine riesige Feuerwolke Stadt und Land und Meer weitum ins hohe Nichts des Himmels und regnete als sengender Staub wieder hernieder. Erst nach langer Zeit verglommen die fressenden Flammen. Staub und verkohltes Geriesel, soweit das Auge reichte. Häuser und Gärten, Wälder und Wiesen, Menschen und Tiere waren weggeätzt. Ein giftiger Dunst stand über der Stille. Eine nackte Wüste lag leblos da.
Und im Innern vieler Lander war es nicht anders. Wie eine unaufhaltsame Flut flohen die Menschenscharen überall ins Nirgendwo. Sie flohen ohne Hoffnung, in fassungsloser Verzweiflung. Sie flohen, soweit das überhaupt noch möglich war, nicht nur aus dem Umkreis der zu Staub gewordenen Städte und Industriereviere; sie flohen auch, weil außer den weißen Blitzen der Atombomben und der Raketenstreuer, die das schleichende Gift tückischer Bakterien über die Landschaften säten, plötzlich beißende Kältewellen daherwehten, die in wenigen Minuten alles bis zur tödlichen Starrheit gefrieren ließen.
Sie flohen aus Flecken und Dörfern, aus scheinbar noch geschützten Winkeln und aus jeder Art von Seßhaftigkeit, und sie flohen, obgleich sie dunkel witterten, daß überall das gleiche Verderben auf sie lauerte.
Und alles riß so ein trauriger Heerbann mit und an sich:
Autos und stehengelassene Lastwagen, die noch eine Weile liefen und dann mit Pferden bespannt wurden, zufällig aufgelesene leichte Feldkanonen, vollbepackte Fuhrwerke aller Art, Fahrräder, Kinderwagen und Handkarren.
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Wie ein Heuschreckenschwarm fiel er manchmal über eine noch fahrende Eisenbahn, Ein blutiges, erbarmungsloses Gefecht entwickelte sich. Endlich preßten sich die Menschenknäuel in die Waggons, warfen Tote und Verwundete über die Böschung, kletterten auf die Wagendächer und hängten sich an die Trittbretter, Der überladene Zug keuchte noch eine Strecke weiter, bis zur nächsten Zerstörung des Schienenstrangs. Die Räder knirschten sägend in die aufgewühlte Erde. Die scheppernd aufeinanderstoßenden Waggons stockten, hoben sich aus dem Geleise und kippten um. Die Daruntergeratenen schrien und klagten gräßlich, aber die von den Dächern waren aufs freie Feld gesprungen, die andern krochen aus den eingeschlagenen Fenstern und Türen, und niemand kümmerte sich um die Zugrundegehenden.
Weiter, weiter wälzte sich der immer wieder zusammenrinnende Haufe. Nur der Gewitzte, der robust Gesunde und Starke überstand und blieb obenauf, doch alles floß mit der strömenden Flut. Frauen in Pelzmänteln und barfüßige, ausgemergelte Mütter, zerlumpte Halbwüchsige mit gefährlichen Gesichtern, halbnackte Elendsgestalten und bestiefelte Männer in zusammengewürfelten Uniformen, Menschen gab es in diesen verwilderten Rudeln, behangen mit allen technischen Hilfsmitteln, die ihnen für ein solches Dasein wichtig schienen: mit Repetiergewehren und Pistolen letzter Präzision, mit Patronengurten und Handgranaten, mit Feldstechern und Fotoapparaten, mit umgehängten schmalen Radios und Gasmasken in den Gürteln.
Menschen, mit abgefrorenen Fingern und Nasen oder mit Brandwunden übersät, zogen mit, Menschen mit vergifteten Lungen, die pfeifend keuchten; andere wieder hatten Gesichter und Hände wie mit Grünspan überzogen. Hautfetzen hingen ihnen herunter. Sie rochen faulig, ihre Glieder schrumpften zusehends. »Freundchen, weg mit Schaden!« sagte der Hintermann und schoß ihnen ins Genick, Sie gaben keinen Laut von sich. Nicht ein Tropfen Blut rann aus der Wunde. Sie brachen in sich zusammen, als wären ihre Glieder längst verwest, und schmolzen im Nu hin wie ein unkenntliches, matschiges Häuflein. Die Tausende trampelten darüberhin...
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Wohin zogen sie eigentlich? Ein Ziel gab es nicht mehr. Alles blieb dem Zufall und dem augenblicklichen Glück überlassen. Unversehens gerieten die Wandernden in radioaktive Strichweiten und starben wie die Fliegen. Sie tranken Wasser aus vorüberfließenden Bachen, bekamen quälendes Erbrechen, wanden sich veitstanzgleich und gingen ein wie schauerlich verrenkte Tiere. Von irgendwoher zogen ihnen Schwaden von süßlichem Leichengestank entgegen. Eilends schwenkten sie in eine andere Richtung ab. Auf Sichtweite tauchte eine halbzerstörte Stadt auf. Seltsam flimmerten ihre Ruinen. Kein aufsteigender Rauch, kein fernes Geräusch - nichts lebte. Einige hoben den Feldstecher vor die Augen und sahen zerbröckelte, eisüberzogene Häuser mit merkwürdig verzogenen, geborstenen Wänden. Die Fensterscheiben waren gesprungen. Auf dem Damm waren die Geleise hochgebogen und frostweiß.
"Verwintert!« brummte irgendein Ausschauender und warnte. Doch in stumpfer Hoffnung auf endliches Unterkommen trabte der ganze Zug rascher vorwärts. Nach und nach wurde der Boden steinhart.
»Verflucht, ist das eine Kälte!« knurrten einige. Auf der dick bereiften, glitschigen Straße standen Autos mit reglosen Menschen darin. Ein Bauernfuhrwerk war da. Der Bauer hockte steif auf dem Bock, die Zügel in den klammen Händen, und seine Barthaare sahen aus wie dünne, stahlblau glänzende, verkrümmte Nadeln. Das Pferd an der Deichsel hatte den Vorderfuß zum Schritt gekrümmt, aber es rührte sich nicht.
»Was ist das?« fragten die Vordersten staunend und hielten an. Unbeweglich standen Menschen da, noch in der Geste der Unterhaltung, Kinder, mitten im Lauf erstarrt, alles täuschend lebendig, aber stumm und festgebannt wie die Szenerie eines Panoptikums, auf welche die ewige Sonne unberührt herniederstrahlte. Nur da und dort war eine Figur umgefallen und zerbrochen. Wie Scherben lagen die vereisten Körperteile auf dem Pflaster.
»Zurück! Zurück!« schrien die Vordersten entsetzt, denn der Frost hatte sich schon in sie verbissen. Von blinder Furcht gepackt, jagte der ganze Haufe von dannen.
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Wer nicht mitkam, blieb liegen und war verloren. Erst nach langem Laufen war wieder warmer Tag, und aufatmend wischte sich jeder den rinnenden Schweiß aus dem Gesicht. So zogen sie durch Wüste und Wildnis, durch Tod und Verderben, diese Heere der neuen Völkerwanderung, wie langsam krabbelnde, dichte, dunkle Herden, unterbrochen vom regellosen Troß der Fahrzeuge. Gestank und Dunst, Staubwolken und Rabenschwärme, Leichen und wieder Leichen kennzeichneten ihren Weg. Und wohin sie auch stießen, überall glich eine Gegend der anderen an Traurigkeit. Manchmal surrten Flugzeuge über ihnen. Der riesige Schwarm floß auseinander, alles warf sich zu Boden, doch sie schossen nicht auf sie herab. Behutsam wälzten sich die Liegenden herum und starrten nach oben. Die silbernen Vögel zogen dünne Rauchfäden am Himmelsgewölbe, und im Blau konnten sie entziffern: »Südlich ziehen! Norden Gefahr!«
"Hm, die Armee!" raunten die Nomaden einander zu. »Wahrscheinlich hocken sie dort und wollen uns los haben!« Dennoch folgten sie dem Rat, denn die da und dort noch intakt gebliebenen kleineren und größeren Heeresteile, die man - ganz gleichgültig, wem sie sich zuzählten - kurzerhand als »Armee« bezeichnete, schienen die einzigen jämmerlichen Überbleibsel einer gewesenen Ordnung zu sein. Sie hatten sich meist in unwegsame Gebirge zurückgezogen, verfügten teilweise noch über ansehnliche Vorräte und notwendiges Rüstzeug und hielten eiserne Disziplin. Wenn auch abgeschnitten und längst aus jeder kriegsmäßigen Aktion gedrängt, kamen sie sich noch als Beauftragte irgendeiner Staatsmacht vor, bis sie merkten, daß von alldem nichts mehr existierte, bis jede Funkverbindung abriß oder sich gänzlich verwirrte und keine ausgesandten Flieger mehr etwas Derartiges entdecken konnten. Sich selber überlassen, machten sich diese Kontingente schließlich selbständig.
»Unsere Welt ist endgültig zur Wüste geworden«, schreibt ein einsichtiger Chronist jener Zeiten.
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"Zu einer Wüste, die zwar durch die Technik und Forschung völlig erschlossen ist, aber dennoch auf lange, lange Zeit eine Wüste bleiben wird. In dieser Wüste gibt es noch einige wenige Oasen, das heißt halbwegs verschonte Gegenden und Städte, deren verhältnismäßige Ordnung nur deshalb erhalten wird, weil dorthin verlagerte Armeeteile sie schützen. So wichtig diese brauchbaren Stützpunkte sind, so tröstlich das Vorhandensein solcher Oasen ist, sie bilden dennoch eine nicht zu unterschätzende Gefahr.
Obgleich die Truppen strenge Maßnahmen ergriffen haben, um den unaufhaltsamen Zustrom der heimatlos gewordenen, entwurzelten Massen in diese Landstriche zu unterbinden - der traurige Strom ist nicht aufzuhalten. Es kommt unablässig zu kriegerischen Überfällen, ja zu regelrechten Schlachten der nomadisierenden Haufen mit den Truppen. Die Reibungen wollen kein Ende nehmen. Eine gewaltsam erzwungene Übervölkerung - wie sie manchenorts zu beobachten ist - bedeutet den sicheren Ruin der betreffenden Städte und Gegenden, und da bei verschiedenen Armeeteilen eine zunehmende Desorganisation und Erschöpfung einzutreten beginnt, scheint auch hier der Untergang vorbestimmt.«
Zunächst also wehrten sich die Armeen erbarmungslos gegen jedes Eindringen fremder Haufen in ihre Gebiete. Ohne viel Federlesens mähten ihre Maschinengewehre die herannahenden Menschenmauern der Nomaden nieder, und wenn über die Leichenberge immer neue Legionen flossen, traten die Tanks in Tätigkeit und walzten alles zu Brei. Zum Schluß rollten die monströsen, fahrbaren Krematorien über die Walstatt, und ein erstickender Gestank durchzog tagelang die Luft.
»Nur nicht sich mit der Armee einlassen!« sagten die Nomaden und wanderten und wanderten. Hunderttausende, Millionen wanderten seit den ersten Kriegstagen so. Sie wanderten im riesenweiten Asien, im einstigen Sowjetrußland und in großen Teilen Nord- und Südamerikas, am schaurigsten aber durchzogen diese Elendsheere das ausgebrannte Europa, um das ja in der Hauptsache der neue Krieg ausgebrochen war.
Soldaten aller einstigen Heere, Menschen aller gewesenen Völker, amerikanische, englische, russische und französische Deserteure oder ehemalige Besatzungsbeamte, Neger aus New York und den Südstaaten, Finnen, Polen,
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Tschechen, Juden aus allen Windrichtungen, Italiener und Deutsche, Schweden, Norweger, Dänen, Holländer, Belgier, Spanier und Balkanesen - alles hatte sich zu einer unergründlich wilden Masse vermengt.
Jeder fühlte sich als einzelner ausgelöscht, hatte alles urtümlich Menschliche verloren und war dem dahintreibenden Strom auf Gedeih und Verderb verhaftet. Aus unzähligen kleineren und größeren Gruppen setzte sich eine derartige Herde zusammen, die sich mitunter giftig befehdeten. Die Sprachen hatten sich in ein kaum verständliches Gemisch von ursprünglichen Bezeichnungen und neu dazugekommenen verwandelt, die Lebensart eines jeden hatte die Färbung der Fremde angenommen, Handgriffe und frühere Gewohnheiten waren von der dauernden Not des Augenblicks umgeformt, und der nackte Selbsterhaltungstrieb hatte Freundschaft, Liebe und Familie ins Zufällige geschoben.
Es gab nichts mehr von ehedem. Nur eines hatte noch Bedeutung: Etliche hoben den Kopf, schnupperten in die Luft und glaubten zu wissen, daß es von dieser oder jener Himmelsrichtung her »nach Fressalien rieche«. Und dann rochen es alle, und über den ganzen Haufen kam auf einmal eine gierige Spannung. Kein Wort fiel mehr. Dämmer breitete sich aus, und stockfinster wurde es, doch irgendwo in der brauenden Schwärze glomm gelbes Licht. Sie verschnellerten ihren Marsch immer mehr, immer mehr, und strömten darauf zu. Vorposten schwärmten aus - ach ja, und dann war es nur ein Krematorium der Armee, das finster wie ein ungeschlachtes Tier im Dunkel erkennbar wurde, oder ein verlassenes Feuer, das langsam verglomm.
»Nichts!... Wieder nichts!« brummten die Erschöpften. Viele sanken um und überließen sich stumm dem Absterben. Ein Weib krächzte schrill auf, rannte in wilden Sprüngen auf das noch schwach glimmende Feuer zu und warf ihr Kind hinein: »Da! Da, fressen wir's! Da!« Die hungerweiten Augen ringsum glotzten ohne Erregung. Das Kind plärrte entsetzt, tappte hilflos und linkisch aus der aufstäubenden Asche und lief laut weinend zwischen die Füße einer dichten Gruppe. Das schreiende, wahnsinnig gewordene Weib schlug um sich.
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»Verrückte Kuh!« stieß einer hervor und hieb die Schreiende nieder. Sie fiel in gestreckter Länge hin, raufte sich die Haare und fletschte die Zähne. Ihr ausgezehrtes Gesicht verzerrte sich, und kreischend lachte sie: »Ja!... Ja, schlag nur! Schlagt mich tot! Schlagt alle! Schlagt!« Da trat ihr einer ins Gesicht. Die Knochen krachten. Nur die Umstehenden schauten gleichgültig hin. Im Dunkel stand der Haufen, und alle schauten leer ins Leere.
»Droben am Meer soll's noch massenhaft Fische geben ... Man kann hinkommen«, sagte einer, aber niemand gab acht. Die Wüsten gaben nichts mehr her, und der Hunger wurde immer furchtbarer. Längst hatten die Nomaden ihr weniges Vieh aufgefressen, sie fraßen Pferde und Hunde, fraßen Mäuse und Ratten, zupften sich gegenseitig die Läuse vom Kopf und zerkauten sie, fraßen Würmer und Wurzeln oder Baumrinde und überfielen andere Haufen. Endlich schlachteten sie auch Menschen und verzehrten sie. Der Mensch versank ins Bodenlose und wurde Wolf unter Wölfen.
Zuweilen aber glich so eine trostlose Schar einem riesigen Pilgerzug, der nach gräßlicher Heimsuchung einem fernen, unbekannten Gnadenort zuströmte, denn es konnte vorkommen, daß die Gruppen in wirrem Durcheinander die Lieder ihrer ehemaligen Heimat anstimmten. Diejenigen, die am lebhaftesten klangen, überwogen dann und wann, und zuletzt stieg ein seltsames Lautgemenge in die kranke Luft.
Von Lenin und Stalin, von Wolga und Don und den unendlichen Steppen sangen die Russen, zwischenhinein floß der Sang von »Lili Marleen« oder das »sound off! one, two / once more! three, four ...« der Amerikaner.
Ein keckes sizilianisches Fischerlied übertönte die vollen Bässe eines Negerspirituals und ging dann in altenglischen Weisen unter. Träume von Paris und der sonnigen Provence, von der friedlichen Weite Hollands, von Belgiens reichen Städten, von den freundlichen Dörfern Böhmens, den Fjorden des Nordens, von den lieblichen Seen und Wäldern der Alpen, vom Rhein und vom Schwarzwald wehten aus dem Lautmeer, aber je länger die Irrfahrt dauerte, um so mehr schrumpften auch diese Eigentümlichkeiten zusammen, denn wo kein Stein mehr auf dem anderen liegt, kein Baum mehr schattet, kein Acker mehr trägt und jede Nähe und Ferne wüstenleer entgegengähnt - was soll da der Mensch? Sinnlos treibt es ihn weiter. Es gab überhaupt keine Heimat mehr. Noch nicht eimal eine Zuflucht. Das war das Ende.
Die Stimmen verebbten. Die Nacht sank herab. Stumpf legten sich die Tausende auf die Erde, und es war, als verschlucke sie das barmherzige Dunkel...
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Oskar Maria Graf (1959) Die Erben des Untergangs - Roman einer Zukunft