NACHWORT
von Erhard Eppler (1985)
I.
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Wenn wir ein Buch aus der Hand legen, tun wir gut daran, unsere Eindrücke zu sichten und zu ordnen. Dies ist bei Oskar Maria Grafs Buch >Die Erben des Untergangs< nicht eben einfach.
Da zittert noch Abscheu und Erschütterung nach von den kaum überbietbaren Grausamkeiten, mit denen Graf unsere Nerven auf die Probe stellt, zu Beginn, als im Chaos der Katastrophe die entfesselten Menschentiere sich gegenseitig umbringen, weil jedes auf Kosten des andern überleben will, aber auch - und dies ist noch schwerer zu ertragen - noch in jener neuen Welt danach, bis hin zu jener schauerlichen Exekution, bei der »Friedensrichter« Douraine und seine Kumpane den wimmernden Lehrer Trummstedt und den intriganten Opportunisten Lucker zusammenschießen, weil das Gesetz es so will, daß der verurteilende Richter auch als Henker zu fungieren habe.
Wir versuchen uns noch einmal in die Überlebenden hineinzuversetzen, die, wenn sie lustig werden, mit »grölenden Männerbässen« und den »kräftigen, hellen Stimmen der Weiber« jenes ebenso banale wie unmenschliche »Nomadenlied« aus der schlimmen Zeit singen, ohne daran zu denken, »daß dies einmal ihre grauenhafte Wirklichkeit gewesen war«:
Die letzte Maus ist aufgefressen, wir schnür'n den Riemen eng,
Es war so wunderschön gewesen, jetzt ist es aus - peng - peng!Ihr meine liebsten Kameraden, könnt ihr es wohl erraten?
Schaut, wie es geht, der ist so fett - peng - peng!Ach, meine liebsten Kameraden, jetzt winkt ein feiner Braten!
Das Biest ist weg, geht nicht vom Fleck - peng - peng!II.
Wenn dies die Wirklichkeit des Untergangs war, wie sieht die neue Wirklichkeit aus? Sie laßt sich schon deshalb nicht auf einen simplen Nenner bringen, weil Graf sie - wohl eher bewußt als aus Unvermögen - in verschiedenen Stilen vor uns entstehen läßt: einmal im Stil des nüchternen Berichts, dann in dem der beflügelnden Vision, immer wieder auch in dem des Heimatromans.
Zur Erinnerung ein Zusammenprallen der Stile:
»Nie jedoch durfte der Student die Grunduniversität auf dem Kontinent besuchen, in welchem sich sein Gouvernement befand. Europäer und Asiaten mußten nach nord- und südamerikanischen Gebieten, nach Afrika und Australien - und umgekehrt. Reise- und Unterrichtskosten wurden von den Gemeinden getragen. Die Universität verpflegte und beherbergte die Studenten ...«
Und wenige Zeilen weiter:
»Kein Wunder, daß sich die Jugend ganz anders auswuchs, als die älteren Leute es auch nur ahnen konnten ... Greiner kratzte sich und furchte die Stirn flüchtig, als ihm das durch das Hirn schoß. Seine Gretel, weiß der Teufel, die war bäuerlich geblieben und wollte nichts vom Studieren wissen...«
Wollte Graf uns deutlich machen, daß menschliche Verhaltensweisen - hier ging es um Vater und Tochter - auch in einer grundlegend veränderten Welt sich gleich bleiben - vorerst zumindest? Dabei kann Graf Provinzialismen durchaus selbst aufs Korn nehmen. Da schildert er mit einer fast schon ärgerlichen Breite den Pomp einer Bestattungsfeier für ein Mitglied jenes »Rates«, der nun die Welt regiert: Aufbahrung, Totenwache, Trauerzug. Hinter dem Totenwagen geht - vor aller Prominenz - »die vergrämte, in sich hineinweinende Haushälterin«.
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Am nächsten Morgen hören wir ein anderes Ratsmitglied bei der Zeitungslektüre knurren: »Widerwärtig sentimental! Genant provinziell!« Und er trifft damit die Gefühle manches Lesers, dem spätestens jetzt klar wird: Der Autor selbst hält durchaus Distanz zu dem, was uns provinziell erscheint.
Vielleicht lassen wir auch die Gestalten des Romans noch einmal an uns vorbeiziehen. Sie haben Profil, eben jener Bürgermeister Greiner und seine natürlich-kernige Tochter, der milde Quäker Barry oder die katzenhaft-schöne (polnische) Agentin Vera Schilliza, der jüdische Techniker aus Odessa - warum muß übrigens nur er an seiner Sprache erkennbar sein? -, die rechtlich-biedere Schweizerin Gertrud Rechlin oder auch der gütig-tolerante Greis, den wir als Haupt der übriggebliebenen Katholiken kennenlernen. Sie alle gewinnen Kontur. Aber sie ändern sich kaum, sie entwickeln sich wenig in den 30 Jahren, die der Roman umspannt, sehen wir einmal ab von jenem jungen Iwan von den »Stillen«, der an der Seite der fröhlich-kecken Gretel neue Dimensionen von Leben kennenlernt.
Gehen wir fehl in der Annahme, daß es Graf auf Grundformen menschlichen Lebens, auf Grundtypen ankam, in denen sich das Menschliche immer entfaltet hat und auch künftig entfalten wird?
III.
Das Entscheidende bleibt: Da gibt es trotz allem eine neue Welt nach dem Untergang der alten, nachdem New York, San Francisco, Buenos Aires, Leningrad, London im Meer versunken, weite Teile der Erde wüst und leer geworden sind. Es gibt Erben, ja es gibt ein Erbe, es gibt Menschen, die den Mut haben, einfach da neu anzufangen, wo das Chaos sie hinverschlagen hat, Hütten zu bauen, Getreide anzubauen, Bäume zu pflanzen.
Da gibt es einen Rat, zusammengesetzt aus Durchschnittsmenschen, die zufällig als handlungsfähige Gruppe übriggeblieben waren und nun hinter den gemeinsamen Beschlüssen so zurücktreten, daß sie fast anonym bleiben. Da wird die Erde in 1500 etwa gleich große Ratsgebiete aufgeteilt, Verwaltungsbezirke, in denen sich allenfalls harmloser Lokalpatriotismus entfalten kann.
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Die alten Nationen sind durcheinandergewirbelt und untergegangen, sie bringen ihr Erbe in eine Gesellschaft ein, die sich nicht mehr nach Nationen gliedert. Die Menschen siedeln in »Agrostädten« von überschaubarer Größe, wählen ihre Behörden und Richter, zahlen ihre Steuern und verhandeln mit »denen da oben« fast von gleich zu gleich. Aber das Alte lehnt sich auf gegen das Neue. Nationalisten proben den Aufstand.
Millionen sterben an künstlich erzeugten Seuchen. Die Rebellen setzen sich nicht durch. Denn, so tritt der Autor mit seiner Meinung auf die Bühne des Geschehens:
»Dort althergebrachte nationale Ideen, Gewalt, Krieg und Terror - was unter den Nachwirkungen des Krieges und der Katastrophe noch beklemmender wirkte - hier der kühne Versuch, mit Hilfe aller Errungenschaften der Forschung und Technik auf behutsame Weise eine völlig neue Gesellschaftsform herbeizuführen.«
Natürlich ist die neue Gesellschaftsform sozialistisch. Schon während jenes - dritten - Weltkrieges hatten die Staaten »gezwungenermaßen die gesamte Wirtschaft übernommen«. Es bedarf also keiner Revolution mehr. Und so können sich die Produktivkräfte ungehindert entfalten. Kaum sind die Menschen wieder an die Arbeit gegangen, da schaffen sie technische Wunderwerke:
»Hochfrequenzstraßen, auf denen motorlose Autobusse mit nie gekannter Schnelligkeit liefen, verbanden sie (die Agro-städte) miteinander. Straßen und Eisenbahnlinien erschlossen die abgelegensten Winkel. Serienweise aus schwimmendem Glas hergestellte Schiffe durchquerten die Ozeane... Mit Atomenergie betriebene Flugzeuge..., die imstande waren, in knapp sieben Stunden den Erdball zu umkreisen, durchzogen die Lüfte...«
Kein Zweifel, Oskar Maria Graf hatte noch einen Glauben an die Technik, der vielen heute abhanden gekommen ist. Da schreibt ein junger Tiefbauingenieur, der in Libyen die Wüste kultiviert, einen Brief, den der »stolze Vater überall herumzeigt«:
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»Ein wahres Paradies ist aus der Wüste geworden. Alle meine Kollegen sind rein besoffen von unseren Erfolgen ... Da hat der zweite Chef der Qualifikanten-Leitung, Ingenieur Schlemmer, ein sehr lustiger, feiner Kerl, eine Rede gehalten. >Früher<, hat er gesagt, >haben die Menschen sich sowas wie Götter erfunden, weil sie ihre Kraft noch nicht kannten. Wir haben diese Götter längst überflügelt und ihre vermeintlichen Wunder realisiert. Mensch, forschende Wissenschaft und Technik sind zu einer Einheit geworden, beherrschen die Zeit und bauen die Zukunft. Diese Einheit kennt keine Hindernisse mehr<...«
Graf setzt relativierend hinzu, daß gleichzeitig Hunderttausende von Rebellen in Asien in eine unsichtbare Todesmauer liefen. Das ist die andere Seite der glänzenden Medaille. Und trotzdem, einiges von Grafs Hoffnungen schwingt mit in dem Brief des Jungen.
Natürlich war Graf kein Ökologe. Das gab es in den Vierziger- und Fünfzigerjahren nur in wenigen skurrilen Exemplaren. Die Natur ist für ihn unerschöpflich, unzerstörbar, sie siegt, wo immer der Mensch sie freisetzt und nutzt. Alles läßt sie jedoch nicht mit sich machen. In Peacetown, der neuen Hauptstadt, war alles kahl:
»Eine Stadt aus Stein und Asphalt. Die temperierten Straßen und Plätze hatten sich nicht bewährt. Kühlende Kälte im Sommer und Wärme im Winter vertrugen die Bäume und Anlagen nicht. Alles starb ab. Die Natur ließ sich nicht vergewaltigen«.
IV.
Und der Mensch? Hatte die Katastrophe des Atomkrieges ihn geläutert? Die Antwort ist zwiespältig, wie so vieles in diesem Buch. Aber vielleicht liegt gerade in dieser Zwiespältigkeit Grafs Realismus. Gertrud Rechlin, die mütterliche, nüchterne Schweizerin im Rat der Erdregierung, sagt ihren Kollegen:
»Sie glauben, die Menschen hätten sich jetzt endlich gründlich geändert oder, wie man so schön sagt, die Katastrophe hat sie geläutert. Leider stimmt das nach meinem Dafürhalten ganz und gar nicht. Man erkennt sie jetzt nur leichter. Die einen sind offene Tiere, die andern versteckte.«
Diese Einschätzung trifft fast alles, was sich in der neuen
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Welt abspielt, zwischen Rat und Generälen, zwischen Geheimdienst und Rebellen, auch zwischen den neu aufkommenden Parteien. Nein, die Menschen nach der Katastrophe sind nicht anders als vorher. Beinahe alle. Auf dieses Beinahe kommt es an. Denn es gibt Ausnahmen, und zwar solche, die schließlich wirken, anstecken, neue Hoffnung schaffen.
Da ist einmal der neue Katholizismus, der sich so ganz anders darstellt, als ihn der bayerische Autor Graf in Erinnerung hat. Er hatte sich
»tiefgreifend gewandelt und das eng Kirchliche, das betont Dogmatische verloren. Im Gegensatz zur Vergangenheit wählten jetzt die Gläubigen den Papst, die Bischöfe und Priester unmittelbar aus ihrer Mitte«.
Die meisten von den paar Millionen Katholiken, die sich vor allem in Südamerika wieder gesammelt hatten, waren »sehr aufgeschlossene, tief tolerante, tätig wirkende Christen geworden. Gott wohnte nach ihrer Auffassung in allem Lebendigen und vor allem im Menschen«.
Man geht wohl nicht fehl, wenn man in diesem Wunsch-Katholizismus Grafs eigene religiöse Vorstellungen zu erkennen meint. Aber nicht darauf kommt es an. Der alte weise Papst, der sich auf die Zucht von Getreidesorten nicht weniger gut versteht als auf behutsame Seelsorge, wird so etwas wie ein Wegweiser in die Zukunft. Auf des Papstes Bitte hin verschwindet die Mauer tödlicher Strahlen um das rebellische Asien. »Den äußeren Weg«, sagt der weise Alte gegen Schluß,
»ist die Menschheit fast bis zu Ende gegangen, bis ans Ziel. Aber die Menschen? Haben sie sich dadurch verändert? Nein! Etwas stimmt da nicht. Der Weg muß nicht der rechte gewesen sein. Vielleicht ist auch das Ziel nur ein Trugschluß. Der wahre Weg geht nach innen, in uns hinein.«
Als der Inder Ganvavitta einwirft, die Vernunft müsse doch siegen, entgegnet der Papst: »Siegen? Siegen darf niemand mehr. Da gibt's immer wieder Sieger und Besiegte ... Friede sei mit Euch, heißt Christi Wort. Ist's denn so unmöglich, so schwer, das zu begreifen?«
Ganvavitta bemerkt zu Recht: »Das ist die Idee der Stillen.«
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Diese Stillen sind in der Tat die andere Gruppe, die Hoffnung verkörpert. Menschen, die sich in keine Auseinandersetzung einlassen, die schweigen, wann immer man sie in einen Streit ziehen will. Sie haben keine Lehre, weil Worte den Sinn verfälschen. Sie reden nicht, sie lehren nicht, sie tun das Gute.
»Nicht durch ein klares Statut oder ein kompliziertes Dogma wurde ihre seltsame Bruderschaft zusammengehalten, nein, nur dieser eine, erkenntnisgeladene Grundsatz führte die Gleichgesinnten zusammen: >Es gibt im Leben der Menschen nichts Gutes und nichts Schlechtes. Stelle dich gegen nichts und widerstehe niemandem, denn sonst wirfst du dich zum Richter auf und machst dich schuldig. Ertrage, was an dich herankommt, denn es ist dir zweifellos auferlegte«
Wollte man nach den Ahnen dieses christlichen Pazifismus suchen, so lägen sie vielleicht im alten Rußland. Der Obmann der Stillen trägt einen russischen Namen, und auch der Mann, der die tüchtige Gretel in die Gemeinschaft der Stillen einführt, heißt Iwan. Der Leidende, der sich dem Kampf um Macht und Geld entzieht, der still seine Arbeit tut, der niemanden richtet, aber eben auch nicht Partei ergreift, als neues Leitbild, als Retter?
Jedenfalls sind es die Stillen und die Katholiken, die sich anbieten, das neuerdings zerstörte Asien wieder aufzubauen. Sie sind die Hoffnungsträger in einer technisch perfekten, politisch einigermaßen geordneten und menschlich unterentwickelten Welt.
V.
Vieles von dem, was Graf in die Zeit nach der atomaren Katastrophe verlegt, haben wir ohne diese Katastrophe erfahren. Graf träumt von der Raumfahrt. Wir haben - ganze zehn Jahre, nachdem Graf 1959 das Vorwort zur überarbeiteten Ausgabe seines Buches schrieb - den ersten Menschen auf dem Mond beobachten können. Wir haben zwar keine atomgetriebenen Flugzeuge, aber atomgetriebene Unterseeboote, gespickt mit Atomraketen. Unsere Flugzeuge fliegen so schnell wie die in Grafs neuer Welt. Aber geht davon Hoffnung aus? Technisch sind wir in manchem weiter, als Grafs Phantasie reichen konnte.
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Und doch: Wüsten werden nicht kultiviert, sie dehnen sich rapide aus, weil bettelarme, hungernde Menschen die letzten Bäume und Büsche abhacken, damit sie ihren Hirsebrei kochen können. Es gibt neue politische Zusammenschlüsse, aber sie richten sich gegeneinander, und sie rüsten auch gegeneinander. Andere brechen auseinander. Nationalismus in seiner krudesten, ganz und gar barbarischen Form wird wieder modern. Arme Länder wissen nicht mehr, wie sie ihre gewaltigen Schulden verzinsen sollen. So fordert der Hunger Opfer, als gäbe es die moderne Technik nicht.
Vielleicht erkennen wir im Spiegel der Grafschen Vision deutlicher als sonst: Unsere Zeit trägt Merkmale einer Vorkriegszeit, wir leben mit vielen grausamen Kriegen und gewöhnen uns daran.
Grafs Roman ist, wie er selbst beteuert, keine »effektvoll-geistreiche Utopie«, weder eine positive noch eine negative. Daher sollte man Grafs >Erben des Untergangs« auch nicht mit Orwells >1984< vergleichen. Man täte beiden Autoren Unrecht.
Aber eine nüchterne, kalkulierbare Voraussage ist Grafs Roman auch nicht. Nicht nur seine Erfahrungen und Überlegungen, auch sein Lebenswille, seine Hoffnungen und Sehnsüchte sind in diesen Roman eingegangen. Vielleicht ist Graf im Laufe seines realistischen Vorausdenkens an einen Punkt gekommen, wo die Frage unausweichlich wurde: Und was dann, wenn es immer so weitergeht, wie es eben ging, wo immer Menschen zusammenleben sollten? Wenn die Entfremdung des Menschen das letzte Wort sein soll? Wenn immer nur die Schauspieler wechseln, aber kaum die Rollen und schon gar nicht das Spiel? Wenn Sieger und Besiegte wechseln, aber die Kräfte bleiben, die zum Kriege drängen?
Da reicht offenbar nicht der Hinweis auf die Abschaffung der Nationen, des Kapitalismus, der Grenzen. So läßt Graf noch ein anderes Zeichen für das Utopia des Friedens aufleuchten, eben jene Stillen und ihre Geistesverwandten, die - nun eben doch geläuterten - Katholiken.
Was Graf am Ende des Zweiten Weltkriegs schrieb, ist kein utopischer Roman, aber er muß gespürt haben: Sobald nicht mehr die Erben des Untergangs, sondern die Erben der Erben das Thema sind, die Kinder des Iwan und der Gretel, könnte und müßte der utopische Roman beginnen.
Die Welt jener Stillen, die allein durch ihr Sein und ihr Tun andere in ihren Bann ziehen, das wäre das Utopia der Friedfertigen. In dieser Welt würde die Frage, die bei Graf ein kleiner Junge seinem Vater stellt: »Was ist das, ein Feind, Vater?« wohl wirklich beantwortet: »Das ist ein Mensch!« Und das Kind dieses Jungen würde die Frage nicht mehr stellen.
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