Teil 1
Ursachen und Häufigkeit von Selbsttötungen in der SBZ / DDR
1. Selbsttötung als Gegenstand wissenschaftlicher Forschung
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Herausbildung und Gebrauch der in der deutschen Alltagssprache synonym verwendbaren Begriffe Freitod, Selbstmord, Selbsttötung und Suizid standen jeweils in enger Beziehung zu bestimmten Deutungskonzepten des Todes durch eigene Hand. »Selbstmord« transportiert in seiner Wortgestalt noch die moralische Verurteilung von Selbsttötungen durch die christliche Kirche als Todsünde, während der Begriff des »Freitodes« in bewusster Antithese dazu geprägt wurde und im Zusammenhang mit einer philosophischen Überbetonung des Freiheitsaspektes suizidalen Handelns entstand.
Das im 17. Jahrhundert erfundene neulateinische Wort »Suizid« ist spätestens seit den 1970er Jahren eng mit dem medizinischen Bereich verbunden, während dessen deutsche Übersetzung »Selbsttötung« vor allem im juristischen Bereich in Gebrauch ist; der letzte Begriff wird wegen seiner sachlich-neutralen Form auch in der vorliegenden Arbeit favorisiert.
So nahe die Umgangssprache bestimmten wissenschaftlichen Konzepten kommt, so fern sind die in Presse, Rundfunk und Fernsehen anzutreffenden Erklärungen und Wertungen suizidaler Handlungen oft den Ergebnissen wissenschaftlicher Selbsttötungsforschung. Während Psychiater und Psychologen davon ausgehen, dass bei normalen Persönlichkeiten Schicksalsschläge allein keinen Suizid auslösen, sondern erst dann, wenn damit eine krankhafte psychische Entwicklung verknüpft ist, dominiert in der Öffentlichkeit ein additives Stressmodell, das Selbsttötungen aus einer Kumulation negativer Lebensereignisse erklärt, die jemanden »in den Selbstmord treiben«. Aber auch zwischen den verschiedenen Richtungen der Selbsttötungsforschung bestehen gravierende Unterschiede in der Herangehensweise, die eine Verständigung erschweren.
Während Ärzte in der täglichen Praxis mit einzelnen Hilfsbedürftigen konfrontiert werden und das Suizidproblem vor allem als ein akutes und individuelles wahrnehmen, überblicken Soziologen größere Populationen und längere Zeiträume. Gemeinsam ist beiden, dass die Suizidhandlung als Effekt von Wahrscheinlichkeiten und Risikofaktoren erscheint, was als dritte Perspektive die Frage nach dem Freiheitsaspekt von Selbsttötungen aufwirft.
Will man suizidales Verhalten in seiner vielschichtigen Bedingtheit verstehen, entsteht nahezu zwangsläufig die Forderung nach interdisziplinärer Forschung. Deshalb steht am Beginn dieser Untersuchung ein Überblick über wichtige Ergebnisse der modernen Selbsttötungsforschung.
1.1 Selbstmord und Gesellschaft
Die Makro-Soziologie des Selbstmords, als deren Begründer der französische Soziologe Emile Durkheim (»Le Suicide«, 1897) gilt, stellt die Häufigkeit von Selbsttötungen in den Mittelpunkt. Durkheim blendete die Frage, warum sich einzelne Menschen das Leben nehmen, völlig aus; stattdessen arbeitete er soziale Parameter heraus, die für Unterschiede der Selbsttötungshäufigkeit verantwortlich gemacht werden können: den Grad an sozialer Integration und die soziale Reglementierung. In Durkheims strukturalistischer Perspektive bestimmten allein diese die Höhe der Selbsttötungsrate. Während die Suizidgefährdung bei moderaten Werten von sozialer Integration bzw. Reglementierung minimal war, stieg sie bei extremer Intensität eines der beiden Faktoren.1)
Durkheims Untersuchung entstand in einer besonderen historischen Situation — im Verlauf des 19. Jahrhunderts stiegen die registrierten Selbsttötungsraten in Westeuropa stetig an. Der Soziologe erklärte den Anstieg vor allem als Folge der Individualisierung (Desintegration) im Zuge des Zivilisationsprozesses. Durkheim stellte fest, dass nicht alle Menschen in gleichem Maße empfindlich sind für soziale Veränderungen. Er wies nach, dass vor allem eine intakte Familienstruktur und eine feste religiöse Einbindung das Suizidrisiko vermindern und im Fall eines kritischen Lebensereignisses oder einer pessimistischen Zukunftsperspektive die Realisierung von Suizidgedanken verhindern können.2)
Durkheims These gilt in modernisierter Form bis heute, wobei man statt von Familie oder Religion allgemein von »sozialen Netzwerken« spricht, welche imstande sind, belastende Lebensereignisse »abzupuffern«. Soziologen in der Tradition Durkheims, vor allem im angloamerikanischen Sprachraum, haben im 20. Jahrhundert versucht, die suizidhemmende Kraft sozialer Beziehungen genauer zu spezifizieren, um sie messen zu können.
Das stellte sich als schwierig heraus, da bei sozialen Netzwerken keineswegs automatisch »aus den Merkmalen Größe, Dichte und Komplexität direkt auf das Unterstützungspotential geschlossen« werden kann; das tatsächliche Ausmaß an sozialer Unterstützung ist nicht allein aus formalen Parametern ermittelbar: »Es ist jeweils genau zu untersuchen, welche Teile des sozialen Kontakt- und Beziehungsnetzwerkes einer Person wirklich als <Unterstützungs>-Netzwerk bezeichnet werden können und welche anderen Teile eventuell nichtunterstützend oder sogar belastend sein können.«3)
1) War die normierende Funktion der Gesellschaft beeinträchtigt, sprach Durkheim von »anomischen Selbstmorden«. Lagen mangelhafte zwischenmenschliche bzw. religiöse Bindungen vor, bezeichnete Durkheim diese als »egoistische Selbstmorde«.
Eher vormodernen Gesellschaften ordnete Durkheim die »altruistischen Selbstmorde« zu, die sich in Folge einer sehr engen Bindung der Individuen an die Gesellschaft, etwa zur Wiederherstellung der Familienehre oder als Selbstopferung, ereignen. Schließlich gab es noch einen vierten, von Durkheim nur in einer Fußnote erwähnten »fatalistischen Selbstmordtyp«, der auf eine zu starke gesellschaftliche Reglementierung zurückzuführen ist. Vgl. Emile Durkheim, Der Selbstmord, Frankfurt/M. 1973, (frz. EA 1897).2) Umstritten ist bis heute der dritte Faktor, der zur Senkung der Selbsttötungsraten beiträgt: Krieg. Vgl. Jean Baechler, Tod durch eigene Hand, Frankfurt/M. u.a. 1981, S. 237-242.
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Bis in die jüngere Vergangenheit fortgesetzt hat sich auch jener diskursive Topos, der seit Durkheim und seinen Zeitgenossen dominierte: die selektive Wahrnehmung von Anstiegen der Selbsttötungsrate, die als »Maß sozialer Pathologie« angesehen und zur Kritik eines als »dekadent« wahrgenommenen Zivilisationsprozesses instrumentalisiert wurde.4)
Demgegenüber hat das seit zwei Jahrzehnten in vielen westlichen Industrieländern beobachtete Absinken der Selbsttötungsraten dazu geführt, dass langfristige Wellenbewegungen diskutiert wurden, so von dem Soziologen Oliver Bieri und dem Historiker Reinhard Bobach.5
Beide stellten fest, dass der Verlauf der Selbsttötungsraten in Westeuropa, den USA und Australien zeitlich mit Konjunkturzyklen bzw. Lebenszyklen bestimmter Gesellschaftsmodelle korrelierbar ist. Obwohl sich daraus keine direkten Aussagen zur Kausalität ableiten lassen, ist die parallele Entwicklung von ökonomischen Parametern und Suizidhäufigkeit doch bemerkenswert und eröffnet neue Forschungsperspektiven.
Bisher ist zum Beispiel ungeklärt, in welchem Maße die Schwankungen der Selbsttötungsraten Ausdruck eines spezifischen Suizidrisikos bestimmter Geburtsjahrgänge (Kohorten) sind. Eine Kohortenanalyse in der Schweiz kam zu dem Ergebnis, dass »das kohortenspezifische Suizidrisiko sich nicht während des Lebenslaufs sukzessive aufbaut, sondern bereits früh — also in der Kindheit oder beim Eintritt ins Erwachsenenalter — festgelegt wird«.6) Das heißt, bestimmte Generationen prägten eine größere Suizidanfälligkeit aus, lange bevor die Individuen, bei jeweils individuellen Anlässen, die Selbsttötung ausführten (die stets aus einem Zusammenspiel von äußerem Leidensdruck und innerer Suiziddisposition resultierte).7)
Die Dynamik der Schwankungen der Selbsttötungsraten hat neben diesen langfristigen Effekten auch kurzfristige Aspekte, die Durkheim als Folge plötzlicher gesellschaftlicher Regellosigkeit (Anomie), beispielsweise in Zeiten ökonomischer Umbrüche, erklärte. Auch diese Erklärung findet bis heute Anwendung, beispielsweise hinsichtlich der gestiegenen Selbsttötungsraten in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion in den 1990er Jahren.8)
3) Vgl. Klaus Hurreimann, Sozialisation und Gesundheit, Weinheim-München 1988, S. 110-114, zit. 113; Rainer Welz, Soziale Unterstützung und die Struktur des sozialen Netzes bei Suizidenten, in: Suizidprophylaxe 13 (1986) 4, S. 281-294.
4) Unberücksichtigt blieb bei Durkheim, dass sich allein durch die Zunahme der durchschnittlichen Lebenserwartung die Selbsttötungsraten erheblich erhöht hatten; insofern erscheint die Krisenstimmung des 19. Jahrhunderts zumindest teilweise Folge eines statistischen Artefakts zu sein.
5) Vgl. Reinhard Bobach, Der Selbstmord als Gegenstand historischer Forschung, Regensburg 2004; Oliver Bieri, Suizid und sozialer Wandel in der westlichen Gesellschaft, Zürich 2005.
6) Vladeta Adjacic-Gross, Suizid, sozialer Wandel und die Gegenwart der Zukunft, Bern u.a. 1999, S. 117.
7) Dieses Ergebnis ist auch deshalb bemerkenswert, weil es mit medizinischen Studien, nach denen suizidales Verhalten (übrigens im Unterschied zu depressivem Verhalten) weniger von konkreten Lebensschwierigkeiten als vielmehr von Stressbedingungen des familiären Klimas abhängt, kompatibel ist. Vgl. Armin Schmidtke, Verhaltenstheoretisches Erklärungsmodell suizidalen Verhaltens, Regensburg 1988, S. 559.
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Ein Vorwurf, der Durkheim oft gemacht wurde, betraf dessen relativ unkritisches Arbeiten mit Selbsttötungsstatistiken. In der Tat hat Durkheim die Prozesse der statistischen Erfassung selbst nicht problematisiert und sich auch wenig Gedanken um die Dunkelziffer gemacht. Daraus jedoch in einem Anflug von fundamentalem Skeptizismus die Brauchbarkeit von Statistiken zu verwerfen, hieße wichtige Erkenntnismöglichkeiten zu verschenken. Zwar ist bei jedem Vergleich von Selbsttötungsraten der Modus der Erfassung zu beachten, und es ist eine nicht unbeträchtliche Dunkelziffer zu veranschlagen. Andererseits legen aber bestimmte Eigenschaften der Selbsttötungsraten wie die langfristige Konstanz von Höhe, Geschlechterverhältnis und Motivstruktur den Schluss nahe, dass gravierende Veränderungen bei konstanten Erfassungsbedingungen durchaus eine Folge gesellschaftlicher Prozesse sein können.
Insofern können gut recherchierte Selbsttötungsraten einerseits als Indikatoren für die existenzielle Intensität gesellschaftlicher Entwicklungen und Krisen gelten, andererseits können sie als »Prüfsteine« für zeitgenössische Ideen und Erwartungen eingesetzt werden.
1.2 Suizid als Krankheitssymptom
Während die Makro-Soziologie in der Tradition Durkheims in »Selbstmördern« vor allem Opfer von Störungen der sozialen Beziehungen sieht (ohne darauf auf der individuellen Ebene genauer einzugehen), behandelt die medizinische Suizidforschung Suizidenten als »anbrüchige« Persönlichkeiten, deren psychische Labilität als Ursache suizidaler Handlungen herausgestellt wird.
Die im 19. Jahrhundert von dem französischen Psychiater Jean Etienne Dominique Esquirol formulierte und damals weithin akzeptierte These, nahezu alle Selbsttötungen müssten als Symptom einer psychischen Erkrankung angesehen werden, wurde allerdings im Verlauf des 20. Jahrhunderts relativiert und in eine Vielfalt von Erklärungsansätzen aufgelöst. Besonders einfluss- und folgenreich war die psychoanalytische Spekulation von Sigmund Freud, der Selbsttötungen von Neurotikern als Lösung eines Aggressionskonfliktes interpretierte. Nach Freud richten Suizidenten im Zuge einer Aggressionsumkehr einen initialen Mordimpuls schließlich (im Wortsinn von »Selbst-Mord«) gegen die eigene Person.
8) Vgl. Elizabeth Brainerd, Economic reform and mortality in the former Soviet Union. A study of the suicide epidemic in the 1990s, Bonn 2001.
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An die Psychoanalyse anknüpfend, formulierte der Wiener Psychiater Erwin Ringel, ein Pionier der internationalen Bewegung zur Suizidprävention, Anfang der 1950er Jahre die einflussreiche These, Suizide seien Resultate krankhafter psychischer Fehlentwicklungen. Das von Ringel beschriebene »präsuizidale Syndrom« (Einengung, Aggressionshemmung und suizidale Phantasien) diente vor allem dazu, den psychischen Zustand im Vorfeld des Suizids zu beschreiben, um Suizidalität wie eine somatische Krankheit diagnostizierbar und behandelbar zu machen.9
Der Ulmer Psychotherapeut Heinz Henseler, der sich ebenfalls auf Freud bezog, fokussierte dagegen stärker auf die Herkunft der Suizidgefahr, die er in gestörten Mutter-Kind-Beziehungen in der frühen Kindheit und einer daraus resultierenden »narzisstischen Persönlichkeitsstörung« ausmachte.10 Der fundamentale Einfluss der Kindheit auf spätere suizidale Verhaltensweisen, den Henseler auf der individuellen Ebene bei Suizidpatienten herausgearbeitet hatte, wurde auch in zahlreichen statistischen Erhebungen bestätigt.
Gestörte familiäre Verhältnisse und unvollständige Familien wurden in weltweiten Erhebungen bei etwa 40 bis 60 Prozent der Suizidenten festgestellt.11) Das damit verknüpfte Schlagwort »broken home« erwies sich zwar insgesamt (ebenso wie die »narzisstische Störung«) als zu unspezifisch zur Erklärung suizidaler Verhaltensweisen, da »eine sog. <broken-home-Familie> ein typisches Charakteristikum für die meisten normabweichenden Verhaltensweisen sein könnte«.12 Nichtsdestotrotz spielten kindliche Todeserfahrungen durch Verlust eines Elternteils als Risikofaktor für suizidales Handeln eine wichtige Rolle. So fand zum Beispiel eine Untersuchung in Karl-Marx-Stadt unter den Suizidtoten einen Anteil von Waisenkindern von 14,1 Prozent, während deren Anteil an der DDR-Bevölkerung nur durchschnittlich 3,2 Prozent betrug.13)
Gestörte Familienstrukturen führen zwar keineswegs kausal zum Suizid, aber sie können den Nährboden für suizidale Entwicklungen bilden. Wichtig ist dabei die Art und Weise des familiären Umgangs mit Verlusterfahrungen, wobei die Tabuisierung eher unheilvolle Wirkungen entfaltet. In den letzten Jahrzehnten hat der familientherapeutische Ansatz verschiedene Varianten familiärer Pathologie herausgearbeitet. So vollstrecken manche Suizidenten mit ihrer Handlung einen unbewussten Todeswunsch von Familienangehörigen.14)
9) Vgl. Ringel, Selbstmord.
10) Heinz Henseler, Narzißtische Krisen, Reinbek b. Hamburg 2000, S. 56.
11) Vgl. Herbert Ernst Colla-Müller, Suizidales Verhalten von Jugendlichen, in: Suizidprophylaxe 9 (1982) 3, S. 118-146, hier 140.
12) Vgl. Manfred Kiemann, Zur frühkindlichen Erfahrung suizidaler Patienten, Frankfurt/M. 1983, S. 66-77, zit. 66.
13) Vgl. Ehrig Lange/Christine Garten, Eltern-, Mutter- oder Vaterverlust in der Kindheit und suizidales Verhalten im Erwachsenenalter, in: Psychiatrie, Psychologie und medizinische Psychologie 41 (1989) 4, S. 218-223.
14) Vgl. Eckhard Sperling, Das therapeutische Gespräch mit Suicidalen, in: ders./Jürgen Jahnke (Hg.), Zwischen Apathie und Protest, Bd. 1, Bern u.a. 1974, S. 160-166, hier 164.
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Ein weiterer wichtiger Aspekt wurde mit dem Begriff »erlernte Hilflosigkeit«15) bezeichnet; im Kontext dieses psychologischen Konzeptes werden suizidale Handlungen als Auswirkung schwerer Gewalterfahrungen in der Kindheit (und einer dadurch erzeugten Tendenz zur Selbstbestrafung) oder der Vorbildwirkung einer suizidalen Mutter (als Rückgriff auf eine vertraute Form der Konfliktbewältigung) beschrieben.16)
Angesichts der Menge und Vielgestalt von Untersuchungen kann als wissenschaftlich gesicherte Tatsache gelten, dass eine Disposition (d.h. eine partielle Determination) für depressive Reaktionen, Verzweiflungstaten und Todeswünsche oft durch Störungen der elementaren menschlichen Beziehungen in frühen Phasen der Individualentwicklung, in Kindheit und Jugend entsteht.
Darüber hinaus hat die psychiatrisch-psychologische Suizidforschung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine ganze Reihe von Erklärungsansätzen entwickelt, die erkennen lassen, dass es sich bei Selbsttötungen um ein vielschichtiges, nicht auf einen Nenner zu bringendes Phänomen handelt.
Nach 1950 dominierte in der stark von Erwin Ringel beeinflussten medizinischen Suizidforschung zunächst ein Kontinuitätsmodell suizidaler Verhaltensweisen. Ringel hatte Phänomene wie Suizidgedanken, Suizidankündigung, nicht ernsthaften Suizidversuch und finalen Suizid als unterschiedliche Intensitäten einer »Erkrankung des Lebenswillens« interpretiert, die es dann therapeutisch zu heilen galt.17)
In den letzten Dekaden des 20. Jahrhunderts kam es dann aber zu einer Ausdifferenzierung der Theorien über suizidales Verhalten. So wurde festgestellt, dass »verschiedene stabile Subgruppierungen ermittelbar sind, die sich hinsichtlich verschiedener biographischer Variablen und Variablen, die mit dem suizidalen Verhalten kovariieren, signifikant unterscheiden«.18)
Vor allem wurde in der medizinischen Suizidforschung zunehmend zwischen den durch eine starke Todesabsicht gekennzeichneten Suiziden und den sogenannten »parasuizidalen Handlungen« unterschieden; bei Letzteren handelte es sich um ambivalente Handlungen mit begrenzter Todesabsicht (wie Suiziddrohungen oder demonstrative Suizidversuche). Schon in den frühen 1960er Jahren hatte der Suizidforscher Erwin Stengel auf statistisch nachweisbare Unterschiede zwischen der Population der Suizidversuchspatienten und der Population der an Suizid Verstorbenen hingewiesen.19)
15) Vgl. Martin Hautzinger, Depressive Reaktionen aus psychologischer Sicht, in: ders./Nikolaus Hoffmann (Hg.), Depression und Umwelt, Salzburg 1979, S. 15-94, hier 38-46.
16) Vgl. Kiemann, Frühkindliche Erfahrung, S. 45.
17) In der Praxis standen jedoch denjenigen, die ihren Suizidversuch längere Zeit erwogen und ihn, mehr oder weniger direkt, auch den Mitmenschen ankündigten (ihr Anteil betrug je nach Untersuchung zwischen 30 und 60 Prozent), auch sehr viele »Lebensmüde« gegenüber, die dies nicht taten, und spontan handelten. Vgl. Gernot Sonneck/Martin Schjerve, Die Krankheitsthese des Suizides, in: Walter T. Haesler/Jörg Schuh (Hg.), Der Selbstmord/Le Suicide, Grüsch 1986, S. 39-52.
18) Vgl. Armin Schmidtke, Suizidologie — von der Domain- zur Doctrinforschung?, in: Suizidprophylaxe 15 (1988), S. 87-106, zit. 97.
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Um das Jahr 1970 wurden Modelle diskutiert, die (entsprechend unterschiedlicher Anteile von Appell-, Flucht- oder Autoaggressionstendenzen) parasuizidale Gesten und parasuizidale Pausen von vorwiegend autoaggressiven Suizidversuchen unterschieden.20 Parasuizidales Verhalten wurde zudem auch als Extremform menschlicher Kommunikation beschrieben.21 Psychologen wiesen dabei auch auf die oft aktive Rolle des Suizidenten innerhalb einer suizidalen Konfliktpartnerschaft hin.22
Mit der Ausdifferenzierung der Suizidforschung kamen psychosoziale Aspekte und verhaltenstheoretische Modelle verstärkt in den Blick.23 Erwin Ringel selbst relativierte seine apodiktische Aussage, dass alle Suizidanten entweder Psychotiker oder Neurotiker seien; er räumte ein, dass auch Suizide von Menschen vorkommen würden, die nicht neurotisch gestört seien.24
Aber auch hinsichtlich der psychisch Kranken im engeren Sinne (mit denen sich Ringel nicht befasst hatte) wurde deutlich, dass Suizide von Psychiatrie-Patienten zumeist ganz »normale« Ursachen (Hoffungslosigkeit, Beziehungsverlust, Verzweiflung, sozialer Abstieg) hatten, während direkt durch die psychische Krankheit verursachte Selbsttötungen (beispielsweise infolge »imperativer Stimmen«) seltene Ausnahmen darstellten.25 Die relativ hohe Selbsttötungsrate psychisch Kranker erklärt sich daraus, »daß die Psychose lebensgeschichtlichen Ereignissen erst jenes Gewicht verleiht bzw. die Toleranz seelischen Belastungen gegenüber so herabsetzt, daß sich nur mehr der Ausweg des Selbstmordes anzubieten scheint.«26
19) Vgl. Erwin Stengel, Selbstmord und Selbstmordversuch, in: Hans W. Gruhle u.a. (Hg.), Psychiatrie der Gegenwart, Bd. III, Berlin u.a. 1961, S. 51-74.
20) Vgl. Karl-Joachim Linden, Der Suizidversuch. Versuch einer Situationsanalyse, Stuttgart 1969; Wilhelm Feuerlein, Selbstmordversuch oder parasuicidale Handlung, in: Nervenarzt 42(1971)3, S. 127-130.
21) Parasuizidale Handlungen sind in ihrem Kern paradox, weil sie Tod und Weiterleben zugleich anstreben, sie haben, neben der zweifellos vorhandenen Verzweiflung, auch eine strategische Komponente und sind daher stark auf die Mitmenschen bezogen. Die derart handeln, wollen noch etwas vom Leben, sie wollen nicht wirklich den Tod, sie wollen in den meisten Fällen nur dieses Leben nicht mehr. Vgl. Gerd Wiendieck, Zur appellativen Funktion des Suizid-Versuchs — eine sozialpsychologische Studie, Diss. Köln 1972, S. 53-56.
22) Vgl. F. Balck/C. Reimer, Warum Partnerkonflikte zum Suizid führen können, in: Psycho 8(1982)2, S. 92-96.
23) Vgl. das Editorial von Hermann Pohlmeier in: Münchener medizinische Wochenschrift 122 (1980) 18, S. 665-681 (Themenheft Selbstmord), hier 665.
24) Einen Versuch, soziale Einflussgrößen zu integrieren, unternahm zum Beispiel der Psychiater Klaus Böhme, indem er eine Differenzierung des neurotisch-psychologischen Krankheitsbegriffes in »narzisstische Störungen« und »depressive Störungen« vorschlug. Mit dem ersten Begriff sollte das Scheitern an der Unmöglichkeit, das idealisierte Bild von sich selbst zu realisieren, benannt werden, der zweite Begriff sollte das Leiden am Verlust einer Bezugsperson bezeichnen. Vgl. Klaus Böhme, Krankheit zum Tode? Suizidalität ist auch ein Krankheitssymptom, in: Michael Haller (Hg.), Freiwillig sterben — freiwillig?, Reinbekb. Hamburg 1986, S. 163-178, hier 176.
25) Vgl. Asmus Finzen, Der Patientensuizid, Bonn 1988, S. 36.
26) Sonneck/Schjerve, Krankheitsthese des Suizides, S. 49.
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Anderseits wurden seit den 1980er Jahren, nicht zuletzt auch wegen der Unspezifität der psychiatrisch-psychologischen Erklärungsansätze, physiologische und genetische Faktoren wieder verstärkt diskutiert. Bei der Auswertung von Zwillingsstudien und Untersuchungen zur Suizidneigung von adoptierten Kindern war schon seit längerem vermutet worden, dass auch genetische Faktoren für eine Disposition zum Suizid mit verantwortlich sein könnten.
Neurobiologische Untersuchungen fanden bei Suizidenten häufig Veränderungen des Hirnstoffwechsels, die zu der These führten, dass mangelhafte Verfügbarkeit des Neurotransmitters Serotonin (dessen Mangel mit Verhaltensweisen wie Impulsivität und Risikoverhalten verbunden ist) suizidale Handlungen begünstigt.27 Eine genetische Disposition zum Suizid hieße aber »auf keinen Fall, dass dieser unvermeidlich ist. Es heißt nur, dass bei sich häufenden Belastungen oder in einer verheerenden akuten Stresssituation der Selbstmord eher zur Option werden kann.«28
Als wichtigster Ertrag der medizinischen Suizidforschung erscheint bis heute die Kenntlichmachung von Risikofaktoren: Menschen sind überdurchschnittlich suizidgefährdet, wenn sie an einer psychischen Krankheit (Schizophrenie, Depression) leiden, wenn sie von Alkohol, Drogen oder Medikamenten abhängig sind, wenn sie alt und körperlich schwer krank sind. Ein hohes Suizidrisiko haben zudem Patienten mit vorhergehenden Suizidversuchen.29
Komplementär zur Selbsttötungshäufigkeit, die im Zentrum der makrosoziologischen Forschung steht, interessiert sich die medizinische Suizidforschung vor allem für die individuelle Suizidwahrscheinlichkeit. Es gab sogar das Vorhaben, das Zusammenspiel verschiedener Risikofaktoren in Testverfahren zu erfassen, zu quantifizieren und daraus Prognosen zur Suizidgefährdung konkreter Patienten abzuleiten. Das ehrgeizige und vor allem Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre betriebene Projekt blieb jedoch weit hinter den Erwartungen zurück. Ein quantifizierendes Modell zur Abschätzung des Suizidrisikos, das der Schweizer Psychiater Walter Pöldinger entwickelt hatte, erwies sich als wenig praktikabel.30
Weitgehend wirkungslos blieb auch die Behandlung von Suizidpatienten mit Psychopharmaka. »Die Zahl der Suizide hat in der psychopharmakologischen Ära nicht abgenommen«, musste ein Psychiatrie-Lehrbuch im Jahr 1987 konstatieren.31)
27) Vgl. T(homas) Bronisch / J(ürgen) Brunner, Neurobiologie, in: Thomas Bronisch u.a. (Hg.), Suizidalität, Stuttgart 2002, S.25-47
28) Kay Redfield Jamison, Wenn es dunkel wird. Zum Verständnis des Selbstmordes, Berlin 2000, S. 191. Vgl. ebd., S. 166-168.
29) Vgl. H. J. Bochnik, Verzweiflung, in: Randzonen menschlichen Verhaltens. Beiträge zur Psychiatrie und Neurologie. Festschrift zum fünfundsechzigsten Geburtstag von Prof. Dr. Hans Bürger-Prinz, Hamburg, Stuttgart 1962, S. 201-227; Barbara Schneider, Risikofaktoren für Suizid, Regensburg 2003.
30) Vgl. Werner Pöldinger, Die Abschätzung der Suizidalität, Bern-Stuttgart 1968; kritisch dazu Asmus Finzen, Leiter des psychiatrischen Krankenhauses Wunstorf/Niedersachsen: »Versuche, Risikofragenbögen zur Identifizierung besonders gefährdeter Patienten zu erstellen, sind durchweg gescheitert.« In: Finzen, Patientensuizid, S. 35.
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Erfolgsmeldungen über medikamentöse Heilung Suizidgefährdeter, wie sie etwa der West-Berliner Psychiater Klaus Thomas publizierte, erwiesen sich langfristig als trügerisch.32 Eine Langzeitstudie von 1993 bestätigte, dass in ganz Europa weder der verstärkte Einsatz psychotherapeutischer Methoden noch die Entwicklung einer Vielzahl von Psychopharmaka einen nachweisbaren Effekt auf die Häufigkeit von Selbsttötungen hatte.33 Offenbar kamen die Psychiater selten über »konfliktzudeckende oder symptomatische Therapie« hinaus.34 Lediglich das klassische Antidepressivum Lithium konnte bei Patienten das Suizidrisiko absenken. Demgegenüber bestand der Effekt der neu entwickelten Psychopharmaka lediglich darin, das (in vielen Regionen seit Jahrhunderten nachweisbare) Maximum der Suizide im Frühling abzudämpfen.35
Der Beitrag der medizinischen Suizidforschung zum Verständnis suizidalen Verhaltens besteht somit vor allem darin, dass nach der individuellen Disposition gefragt wird. Dadurch wird erklärbar, wieso in der gleichen Situation ein Menschen Suizid begeht, ein anderer hingegen nicht, wodurch ein besseres Verständnis konkreter Einzelfälle möglich und das oberflächliche Klischee eines durch äußere Umstände in den Tod getriebenen Suizidenten relativiert wird.
1.3 Suizidale Handlung als Problemlöseverhalten
Jenseits der funktionalistisch ausgerichteten medizinischen Suizidforschung und der strukturalistischen Makro-Soziologie bleibt ein unverstandener Rest: Eine Selbsttötung, so sehr sie durch äußere oder innere Zwangslagen bedingt sein mag, stellt schließlich eine menschliche Handlung dar, die nicht vollständig kalkulierbar ist. Seelische Schmerzen sind nicht messbar, die subjektiven Zukunftsperspektiven stimmen selten mit den objektiven Möglichkeiten überein. Der menschliche Wille, im Begriff des »Freitods« unzulässig verabsolutiert, vereitelt als Zufallsfaktor alle Prognosen, weil die entscheidende Sinnperspektive des Individuums mit statistischen Methoden nicht erfassbar ist.36
Zudem gerät der aktive, intentionale Aspekt suizidalen Handelns, wenn man das Individuum nur als Opfer von Situation oder Disposition ansieht, sehr leicht aus dem Blickfeld. Deshalb gab es in den letzten Jahrzehnten verstärkt Anstrengungen, Theorien zu entwickeln, die »auch die spezifische Problematik des einzelnen suizidgefährdeten Menschen verstehen helfen«.37
31) Gerd Huber, Psychiatrie. Systematischer Lehrtext für Studenten und Ärzte, Stuttgart-New York 1987, S. 179.
32) Vgl. Klaus Thomas, Handbuch der Selbstmordverhütung, Stuttgart 1964, S. 90f.
33) Vgl. Carlo La Vecchia et al., Trends in suicide mortality in Europe, 1955-1989, in: Soziale Präventivmedizin 38 (1993), S. 379
34) Bernhard Bron, Suizidale Entwicklungen bei jungen Menschen in der heutigen Zeit, in: Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 27 (1978), S. 15-21, zit. 20.
35) Vgl. Jamison, Verständnis des Selbstmordes, S. 202.
36) Colla-Müller, Suizidales Verhalten von Jugendlichen, S. 122.
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Um auch den Einfluss des Individuums auf die Situation zu erfassen, forderte zum Beispiel Richard Lazarus im Kontext seines transaktionalen Stressmodells, statt einer Verabsolutierung von äußerer Situation oder innerer Disposition die jeweiligen Interaktionsprozesse zwischen Individuum und Situation zu beschreiben.38 Nach Lazarus entsteht Stress, wenn ein Individuum seine subjektiven Gestaltungsmöglichkeiten gegenüber einer mit einem Anforderungscharakter versehenen Situation als gefährdet ansieht. Das wiederum wird nicht nur durch Faktoren bestimmt, die das Suizidrisiko erhöhen, sondern auch durch Möglichkeiten des Individuums, äußere Einflüsse abzupuffern.
Mehrere verhaltenstheoretische Ansätze setzten deshalb bei den Perzeptionen und Kognitionen des Individuums an.39 Die Soziologin Christa Lindner-Braun beispielsweise kennzeichnete suizidale Handlungen als einerseits durch »Kausalprinzipien«, wie die Fähigkeit zur Verknüpfung von Verlust- und Misserfolgserfahrungen mit Schuldzuschreibungen an die eigene Person, andererseits durch »Moralprinzipien« wie Anspruchsniveaupräferenzen bestimmt.40 In ihrem Modell wurden zudem auch das Vorhandensein geeigneter Suizidmittel und die Verfügbarkeit alternativer Handlungsmöglichkeiten (wie Flucht, Suchtverhalten oder Aggression) als Einflussfaktoren auf die Realisierung suizidaler Intentionen berücksichtigt.
Während jedoch bei Lindner-Braun suizidales Handeln auf das Vermeiden erwarteter Misserfolge verengt wurde, fächerte der französische Soziologe Jean Baechler die Vielfalt der möglichen Ziele und Absichten auf. In Baechlers Typologie stand der aktive Aspekt der Selbsttötung im Mittelpunkt; suizidale Handlungen wurden vor allem als Versuche beschrieben, ein bestimmtes Problem zu lösen. Das Spektrum der Formen dieses Problemlöseverhaltens reicht nach Baechler von Flucht, Aggression, Appell, Rache, Erpressung über Selbstopferung bis zu Risikoverhalten.41
Aber auch den Freiheitsaspekt suizidalen Handelns sollte man nicht verabsolutieren, denn durch die instrumentale Perspektive wiederum nur ein Teilaspekt erhellt, der die Ergebnisse der medizinischen und soziologischen Selbsttötungsforschung ergänzt, nicht in Frage stellt, da äußere, oft auch unbewusste Aspekte eine suizidale Reaktion zwar nicht vollständig determinieren, aber doch stark beeinflussen.
37) Schmidtke, Verhaltenstheoretisches Erklärungsmodell, S. 1.
38) Vgl. Richard Lazarus, Psychological Stress and the Coping Process, New York u.a. 1966. Eine prinzipiell ähnliche Herangehensweise leitete Kulawik aus der marxistischen Dialektik ab. Vgl. Helmut Kulawik, Zur Psychopathologie der Suizidalität, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 29 (1977) 5, S. 257-265.
39) Vgl. Manfred Amelang, Sozial abweichendes Verhalten, Berlin u.a. 1986, S. 344-409, hier 370-374.
40) Vgl. Christa Lindner-Braun, Soziologie des Selbstmords, Opladen 1990.
41) Vgl. Baechler, Tod, S. 59-64.
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1.4 Selbsttötung als Gegenstand der Geschichtswissenschaft
Suizidales Handeln, das als Ergebnis einer »Erkrankung des Lebenswillens«, als Produkt sozialer Ursachen oder als Resultat einer individuellen menschlichen Entscheidung beschrieben werden kann, hat zudem auch eine historische Komponente, deren Erforschung lange Zeit fast ausschließlich den Sozialwissenschaften vorbehalten blieb und erst in neuester Vergangenheit von Historikern als Forschungsfeld entdeckt wurde.
Nachdem die Schule der »Annales« in den 1960er Jahren den Umgang mit elementaren Gegebenheiten der menschlichen Existenz zum Forschungsgegenstand erhoben hatte, wurde auch der Umgang mit Sterben und Tod, im Anschluss an bahnbrechende Arbeiten wie die von Phillippe Aries,42 etablierter Bestandteil des Themenspektrums sozial- und kulturhistorischer Forschung.
Erst mit einiger zeitlicher Verzögerung ging die historische Wissenschaft daran, durch regional und zeitlich differenzierende kulturwissenschaftliche Untersuchungen auch dem Phänomen Selbsttötung ein »konkrethistorisches Gesicht« zu geben. In den 1980er Jahren begann im angloamerikanischen ebenso wie im deutschen Sprachraum eine »Phase der kulturgeschichtlichen Ausdifferenzierung und der auf die Abbildung von Diskursen konzentrierten Forschung«.43
In der Tradition der »Annales« publizierte Georges Minois Mitte der 1990er Jahre eine »Geschichte des Selbstmords«, die sich auf historische, juristische und literarische Quellen stützte und deren Schwerpunkt in England und Frankreich in der Zeit vom 16. bis zum 18. Jahrhundert lag.44 Spurensuche bezüglich suizidaler Handlungen im Mittelalter und in der frühen Neuzeit betrieb ein von Gabriela Signori herausgegebener Sammelband.45 Markus Schär ging der Frage nach, inwiefern der Calvinismus Zwinglis in Zürich, der Sündenbewusstsein und Triebunterdrückung gefördert hatte, auch das Ansteigen der Selbsttötungsrate bis 1800 (bei gleichzeitigem Absinken der Mordrate) mit verursacht haben könnte.46
42) Vgl. Phillippe Aries, Geschichte des Todes, Darmstadt 1996 (dt. EA München-Wien 1980).
43) Wie Reinhard Bobach herausgestellt hat, vollführte das Thema Selbsttötung in den letzten Jahrhunderten eine »Wanderung« durch verschiedene Wissenschaftsdisziplinen, wo es (wie z.B. um 1900 in der Soziologie) vorübergehend von größerer Bedeutung war; in den letzten Jahrzehnten ist es in der Kultur- und Geschichtswissenschaft »angekommen«. Vgl. Bobach, Selbstmord, S. 25 f.
44) Vgl. George Minois, Geschichte des Selbstmords, Düsseldorf 1996.
45) Vgl. Gabriela Signori (Hg.), Trauer, Verzweiflung und Anfechtung. Selbstmord und Selbstmordversuche in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gesellschaften, Tübingen 1994.
46) Vgl. Markus Schär, Seelennöte der Untertanen. Selbstmord, Melancholie und Religion im Alten Zürich, 1500-1800, Zürich 1985.
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Diese These blieb nicht unwidersprochen.47 Für das ebenfalls protestantische Schleswig-Holstein rekonstruierte Vera Lind aus geistes- und ideengeschichtlicher Sicht die Diskussionen um Bewertung und Erklärung von Selbsttötungen zur Zeit der Aufklärung.48 Ursula Baumann stellte den gesellschaftlichen Bedeutungswandel von Selbsttötungen in Deutschland für 1800 bis 1950 anhand ausgewählter Problemkomplexe wie der Beerdigungs- und Obduktionspraxis sowie durch kritische Rekonstruktion verschiedener medizinischer, juristischer und kulturkritischer Diskurse dar.49
Die vorliegende Arbeit knüpft an die durch diese Arbeiten konstituierte Forschungsrichtung an, indem sie ebenfalls das Selbsttötungsgeschehen durch eine Kombination von Einzelfallschilderungen (Mikroebene), Rekonstruktion von Diskursen und kritische Sichtung statistischen Zahlenmaterials (Makroebene) analysiert und beschreibt.50
Für viele der kulturgeschichtlichen Darstellungen zu Suizidalität in früheren Jahrhunderten stellte das Fehlen verlässlicher und in statistisch relevanter Menge vorhandener Quellen ein großes Problem dar. Daher blieb oft unsicher, ob es sich bei den geschilderten Einzelfällen um zeittypische Ereignisse gehandelt hatte, von allgemeinen Quantifizierungen ganz zu schweigen. So zweifelte Vera Lind, ob es angesichts der unzuverlässigen Erfassungsbedingungen überhaupt möglich sei, Aussagen über die Entwicklung der Selbsttötungshäufigkeit vor 1800 zu treffen.51
Dieses Problem hat die vorliegende Untersuchung nicht. Im Unterschied zu den angeführten Studien konnte auf wesentlich mehr Einzelfälle (mehrere tausend) und auf ein ungleich besser abgesichertes Zahlenmaterial zurückgegriffen werden, so dass differenzierte Untersuchungen des Selbsttötungsgeschehens in der DDR möglich sind.
47) Vgl. Andreas Bahr, Zur Einführung: Selbsttötung und (Geschichts-)Wissenschaft, in: Andreas Bähr/Hans Medick (Hg.), Sterben von eigener Hand. Selbsttötung als kulturelle Praxis, Köln u.a. 2005, S.1-19, hier 9f.
Vgl. auch ders., Der Richter im Ich, Göttingen 2002.
48) Vgl. Vera Lind, Selbstmord in der frühen Neuzeit. Diskurs, Lebenswelt und kultureller Wandel am Beispiel der Herzogtümer Schleswig und Holstein, Göttingen 1999.
49) Vgl. Ursula Baumann, Vom Recht auf den eigenen Tod, Köln u.a. 2001.
50) Mikroebene heißt hier: Der unmittelbare Umgang mit konkreten Einzelfällen. Makroebene heißt: Behandlung und Thematisierung von Selbsttötungen als Massenerscheinung.
51) Vgl. Lind, Selbstmord, S. 283.
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