5.3. Bewertungsprozesse
suizidaler Handlungen
in der Nationalen Volksarmee
5.3.1 Zum Umgang mit Selbsttötungen
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Selbsttötungen von NVA-Angehörigen wurden in den internen Berichten an die Armeeführung in der Regel nicht kommentiert. Als Ende der 1950er Jahre die Selbsttötungsrate in der NVA erhöhte Werte annahm, reagierte eine Kommission des Verteidigungsministeriums mit normativen Äußerungen:
»Die tiefgründigen Ursachen sind darin zu sehen, daß
sich die an Selbstmorden und Versuchen beteiligten Armeeangehörigen über ihre Rolle und Stellung in unserer Gesellschaftsordnung nicht bewußt sind;
bei diesen Menschen nicht genügend die Perspektive über ihr Leben im sozialistischen Staat vorhanden ist;
die betreffenden Armeeangehörigen nicht erkannt haben, daß es im Leben nicht solche Schwierigkeiten geben kann, die nicht mit Hilfe der sozialistischen Gesellschaftsordnung überwunden werden können.«85
In einer Diplomarbeit eines Kriminalisten, der sich mit Selbsttötungen in der NVA befasste, hieß es im Jahr 1968: »Derartige Handlungen sind der sozialistischen Gesellschaft wesensfremd.«86 Dass dieses ideologische Urteil zumeist unausgesprochen den Umgang mit Selbsttötungen in der NVA prägte, zeigte sich auch in konkreten Reaktionen auf Selbsttötungen.
So hatte die Armee im Fall von Unteroffizieren und Offizieren über die Art und Weise der Beerdigung zu entscheiden. Hier floss ein letztes Werturteil über den Suizidenten ein, und es fiel oft negativ aus. Bei den Grenztruppen beispielsweise setzten im Jahr 1988 zwei Offiziere ihrem Leben mit der Dienstpistole ein Ende, beide aus persönlichen Gründen. In beiden Fällen wurde eine »Beisetzung ohne militärische Ehren« angeordnet.87
Hatte sich ein Armeeangehöriger das Leben genommen, konnten seine Angehörigen, wenn die Selbsttötungshandlung als Dienstbeschädigung gewertet wurde, Versorgungsansprüche geltend machen. Auch hier legte die NVA eine vergleichsweise harte Haltung an den Tag. Während die »Diensttauglichkeits- und Eignungsordnung« der NVA von 1971 noch eingeräumt hatte: »In Ausnahmefällen ist ein psychopathologischer Suicid/Suicidversuch als Diensterkrankung anzuerkennen, wenn ein Behandlungsversäumnis oder eine Verletzung der Aufsichtspflicht als maßgeblich für das Zustandekommen des Suicids/Suicidversuches anzuerkennen ist«, legte die »Begutachtungsordnung« von 1987 definitiv fest: »Eine Anerkennung als Diensterkrankung ist bei Suiziden/Suizidversuchen ausgeschlossen.«88
85) BA-MA Freiburg, DVW 1, 55503, Bl. 154.
86) Kurt Melzer, Die kriminalistische Untersuchung von Selbsttötungen im Bereich der NVA, Diplomarbeit Berlin 1968, S. 3.
87) BA-MA Freiburg, GT-Ü-006205, Bl. 56, 85.85) BA-MA Freiburg, DVW 1, 55503, Bl. 154.
86) Kurt Melzer, Die kriminalistische Untersuchung von Selbsttötungen im Bereich der NVA, Diplomarbeit Berlin 1968, S. 3.
87) BA-MA Freiburg, GT-Ü-006205, Bl. 56, 85.
Bei der deutschen Wehrmacht wurde, wie der Münchener Psychiater Karl Weiler konstatierte, »die Selbsttötung eines nicht geisteskranken Soldaten als eine Art Fahnenflucht gewertet, eine Auffassung, die auch in der Versorgungsgesetzgebung zum Ausdruck kam, nach der ein solcher vorsätzlich vom Beschädigten selbst herbeigeführter Körperschaden nicht als Dienstbeschädigung anzusehen war«.89
In der NVA wurde der Fahnenfluchtgedanke abgelöst durch die (insbesondere von Militärpsychiater Gestewitz vertretene) Auffassung, dass suizidale Handlungen keine dienstlichen Ursachen haben und vielmehr fast immer Folge einer psychopathologischen Fehlentwicklung sind.90
5.3.2 Zum Umgang mit Suizidversuchen von NVA-Angehörigen
Die von Anfang der 1960er Jahre bis zum Anfang der 1970er Jahre auf das Anderthalbfache gestiegene Zahl der registrierten suizidalen Handlungen in der NVA — im Fünf-Jahres-Zeitraum 1961 bis 1965 wurden durchschnittlich 110 derartige Vorkommnisse verzeichnet, im Zeitraum 1972 bis 1976 waren es 170 — stellte die Militärärzte immer häufiger vor das Problem, nach der Rettung und medizinischen Behandlung über das weitere Schicksal eines Patienten, der mit einer Tablettenvergiftung oder einem aufgeschnittenen Unterarm eingeliefert wurde, entscheiden zu müssen.
In der hierfür grundlegenden »Diensttauglichkeits- und Eignungsordnung« der NVA hieß es in der Version von 1971, dass »psychopathologisch zu wertende Suizidversuche« als Zeichen der Untauglichkeit zum Wehrdienst zu werten seien; wurde jedoch festgestellt, dass dem Suizid keine psychische Krankheit zugrunde lag, musste der Soldat weiterdienen.
In der neuen Fassung der Diensttauglichkeitsordnung von 1987 wurden die Kriterien ausdifferenziert: »Final angelegte und psycho-pathologische Suizidversuche sowie fortbestehende Suizidgefährdung« sollten eine dauernde Untauglichkeit nach sich ziehen; »appellativ-demonstrative sowie kurzschlüssige Suizidversuche ohne fortbestehende Suizidgefährdung« waren hingegen als diensttauglich zu bewerten.91
88) Vgl. BA-MA Freiburg, VA-01, 5630, Bl. 247 sowie DVW 1, 44052, Bl. 111.
89) Karl Weiler, Zur Frage des Zusammenhanges von Selbsttötungen mit Körperschäden, in: Medizinische Monatsschrift 1 (1947), S. 27-32, zit. 28. Allerdings gab es infolge der Möglichkeit, Sondergründe geltend zu machen, eine recht differenzierte Begutachtungspraxis bei der Wehrmacht. Vgl. z.B. Angelika Ebbinghaus, Soldatenselbstmord im Urteil des Psychiaters Bürger-Prinz, in: Angelika Ebbinghaus/Karsten Linne (Hg.), Kein abgeschlossenes Kapitel: Hamburg im »Dritten Reich«, Hamburg 1997, S. 487-531, hier 498-516; Baumann, Vom Recht, S. 360-368.
90) Vgl. Gestewitz, Erkennung, S. 135.
91) Vgl. BA-MA Freiburg, VA-01, 5630, Bl. 247 sowie DVW 1, 44052, Bl. 164.
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Praktisch bedeutete das, wie der Militärpsychiater Gestewitz von seiner Tätigkeit im Armeelazarett Bad Saarow berichtete, dass von den Patienten, die nach Suizidversuchen behandelt wurden, 58,5 bzw. 72,5 Prozent als diensttauglich eingestuft wurden. Lediglich 14 bzw. 22,5 Prozent sollten aus der Armee entlassen werden, der Rest wurde für »vorübergehend dienstuntauglich« erklärt.92
Das war eine relativ strenge Vorgehensweise. In der Bundeswehr hatten suizidale Handlungen häufiger eine Ausmusterung zur Folge. Zwar lagen die Ausmusterungsquoten auf den ersten Blick in ähnlicher Größenordnung, so wurden 1976/77 ca. 26 Prozent und 1980/ 81 knapp 21 Prozent der Bundeswehrangehörigen nach Suizidversuch entlassen. Gleichzeitig warteten aber jeweils weitere 26,5 bzw. 33,4 Prozent noch auf die Entscheidung über den Antrag auf Entlassung.93
Nicht immer klar von suizidalen Handlungen zu unterscheiden sind die Versuche von Soldaten, durch absichtliche Selbstbeschädigungen dem Armeedienst in der NVA zu entkommen. Zum Beispiel wurden im Ausbildungsjahr 1972/73 neben den 181 suizidalen Handlungen auch zahlreiche »vorsätzliche Selbstbeschädigungen« (allein bei den Landstreitkräften der NVA meldeten die Militärmediziner 49 Fälle) registriert.94
Um die Selbstbeschädigungen zu bekämpfen, forderte das Kollegium am 15. Juni 1978, eine Regelung zum Nachdienen bei Dienstausfällen durch »eigene vorsätzliche Körperverletzungen« zu erarbeiten. Eine dementsprechende Dienstvorschrift ist in den archivierten NVA-Unterlagen jedoch nicht überliefert.
Generell wurden Suizidversuche als solche bei Soldaten nicht disziplinarisch bestraft. Zu Maßregelungen kam es jedoch, wenn der Suizidversuch als demonstrative Widerstandshandlung durchgeführt oder auch nur angedroht wurde. So schrieb ein gerade einberufener Soldat im Mai 1971 in einer handschriftlichen Erklärung, die er kurz vor der Vereidigung beim Kommandeur einreichte: »Da ich die Welt hauptsächlich durch Gefühle erfasse und diese sich gegen jegliche Gewalt durch Menschen sowie Maschinen wenden, deshalb nehme ich nie eine Waffe in die Hand.« Der 19-Jährige hatte sich im März 1971 für ein Theologiestudium beworben, um dem Wehrdienst zu entgehen. Nun, »in die Armee gepreßt«, wollte er »Sand im Getriebe der Diktaturmaschine« sein. In einem Postskriptum fügte der Soldat seiner Erklärung hinzu: »Seit meiner Zugehörigkeit zur NVA erwog ich des öfteren Selbstmordabsichten, da ich mit dem Leben nicht mehr fertig werde.« Als Sofortmaßnahme wurde vom MfS eine Arreststrafe wegen Befehlsverweigerung vorgeschlagen.95
92) Vgl. Gestewitz, Erkennung, S. 47, 117.
93) Klaus-Jürgen Preuschoff, Bestandsaufnahme: Selbstmorde und Selbstmordversuche in der Bundeswehr, in: ders. (Hg.), Selbstmordverhütung in der Bundeswehr, Regensburg 1989, S. 25-64, Zahlenangaben S. 39f.
94) Operative Militärmedizinalstatistische Berichterstattung, in: BA-MA Freiburg, VA-01, 34986, n. pag.
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Gegen einen Wehrdienstleistenden bei der Bereitschaftspolizei, der sich demonstrativ eine Schnittwunde am Arm beigebracht hatte, um den Vorgesetzten nach Auseinandersetzungen um die Ausführung von Befehlen zu zeigen, dass er sich ihrem militärischen Zwang nicht beugen würde, wurde im Februar 1983 ein Ermittlungsverfahren wegen »Wehrdienstentziehung« eingeleitet.96
In einem anderen Fall bewahrte die Psychiatrie-Einweisung einen 20-jährigen Soldaten, der sich bei der NVA »seiner Würde und Individualität beraubt« fühlte, vor einer Bestrafung. Er hatte die Gleichmacherei durch die Uniformen als befremdend und die Befehle als »Machtdemonstration der Vorgesetzten« empfunden, zudem hatte er einen Befehl, den er für Schikane hielt, nicht ausgeführt. Nach einem dadurch ausgelösten Streit, in dessen Verlauf er beinahe aus dem Fenster gesprungen wäre, wurde der Soldat in die Psychiatrie eingewiesen, wo ihm die Diagnose »akute psychische Fehlreaktion« auf eine plötzliche situative Einengung gestellt wurde. Diese psychopathologische Deutung bahnte den Weg zur Entlassung aus der NVA.97
Bei Berufssoldaten, Unteroffizieren und Offizieren hingegen galt bereits ein Suizidversuch als Disziplinarvergehen.98 Wurde die Tat öffentlich bekannt, traf den Betroffenen oft zusätzlich noch der Vorwurf der Schädigung des Ansehens der bewaffneten Organe. Da das Gros der NVA-Führungskräfte Mitglied der SED war, lösten suizidale Handlungen neben den dienstlichen Disziplinarverfahren zusätzlich noch »Parteierziehungsmaßnahmen« aus. »Ein Genosse hat nicht das Recht, sich zu suizidieren. Sein Leben gehört der Partei!«99 — so lautete sinngemäß der Vorwurf, mit dem eine Parteikontrollkommission den Kabarettschriftsteller Manfred Bartz konfrontierte, der während seines Armeedienstes bei der Marine einen Suizidversuch begangen hatte.
Ein Unteroffizier auf Zeit, der vor den Drangsalierungen seiner Zimmerkollegen buchstäblich davongelaufen war und sich vier Tage in einem Keller versteckte, um nach eigener Aussage »lieber zu verhungern, als zur Dienststelle zurückzukehren«, wurde wegen seiner Handlungsweise im Mai 1986 aus der SED ausgeschlossen. Gleichzeitig wurde er zum Soldaten degradiert.100)
95) BStU, MfS, AS 288/74, Bd. 5, Bl. 461-463.
96) Vgl. BStU, MfS, HA VII, Nr. 315, Bl. 270, 277.
97) Vgl. Susanne Altstadt/Henning Beau, Zum Erscheinungsbild suizidalen Denkens, Diss. Halle 1992, S. 46.
98) Eine militärstaatsanwaltliche Untersuchung war nur bei Offizieren vorgeschrieben, wurde aber teilweise auch bei Soldaten eingeleitet. So wies der Militärjurist Oberstleutnant Lohde im Jahr 1985 auf Fälle hin, »in denen ohne erkennbare Gründe umfangreiche Untersuchungen geführt wurden«. S. Lohde, Zum Umfang der militärstaatsanwaltschaftlichen Aufklärungspflicht bei Suiziden und versuchten Suiziden, in: Militärjustiz (1985) 2, S. 21-24, zit. 23.
99) Gilbert Furian, Mehl aus Mielkes Mühlen, Berlin 1991, S. 258.
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Ein Oberstleutnant der NVA, der im März 1980 einen Suizidversuch unternahm, wobei er sich mit einer Schere Verletzungen beibrachte, die nicht lebensgefährlich waren, wurde »disziplinar mit einem >strengen Verweis< und parteilich mit einer >strengen Rüge< bestraft«.101 Zwei Monate später unternahm er einen weiteren Suizidversuch; dieser zog die Entlassung aus der Armee nach sich. Dabei spielte auch die Tatsache eine Rolle, dass er schwerer Alkoholiker war.
In der Bundeswehr hingegen scheint es vergleichbare Fälle nicht gegeben zu haben. So konstatierte der Wehrpsychiater Kalbitzer im Jahr 1983, dass »Wehrstrafverfahren wegen suizidaler bzw. pseudosuizidaler Handlungen praktisch unbekannt geblieben« seien.102 Die »Wehrdisziplinarordnung« der Bundeswehr legte fest, dass ernst gemeinte Suizidversuche keine Dienstvergehen darstellten. »Auch eine durch Selbstmordversuch herbeigeführte Beeinträchtigung der Dienstfähigkeit«, hieß es in der Version des Jahres 1979, »muß disziplinarisch außer Betracht bleiben.«103
Es kam jedoch auch in der Nationalen Volksarmee nicht nach jedem Suizidversuch zur Maßregelung, vielmehr wurde das Vorkommnis zumeist im Kontext des Gesamtverhaltens bewertet. Ein Leutnant, der wegen Schwierigkeiten sowohl in seiner Ehe und als auch im Dienst im Oktober 1981 versucht hatte, sich das Leben zu nehmen, wurde nicht bestraft und nach seiner Genesung lediglich, entsprechend seinem Wunsch, in eine neu aufgestellte Kompanie versetzt, »weitere masznahmen laufen nicht«, stellte ein Fernschreiben des MfS fest.104
5.4 Selbsttötungen an den Schulen der DDR als politisch-moralische Herausforderung
Die sprunghaft gestiegene Häufigkeit von Schülersuiziden in der DDR nach dem Mauerbau (vgl. Abschnitt 2.6) wurde in der DDR nicht als Gesamtphänomen erkannt und behandelt; allerdings kam es in mehreren Einzelfällen zu intensiven Aktivitäten des SED-Parteiapparates. So schaltete sich im Jahr 1962 die SED-Bezirksleitung Potsdam ein, nachdem es Beschwerden über
100) BStU, MfS, HA I, Nr. 11172, Bl. 1-6.
101) BStU, MfS, HA I, Nr. 4590, Bl. 170.
102) C.H. Kalbitzer, Der »Suizidversuch« und seine wehrstrafrechtliche Zuordnung aus wehrpsychiatrischer Sicht, in: Wehrmedizinische Wochenschrift 27 (1983) 1, S. 7-13, zit. 12.
103) Klaus Dau, Wehrdisziplinarordnung, München 1979, S. 102.
104) BStU, MfS, HA I, Nr. 25, Bl. 339f.
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