Start      Weiter

2  Kommune hinter Fachwerk: Niederkaufungen

Grober-1998

31-51

Nach und nach treffen die Leute aus allen Himmelsrichtungen ein. Die Bank vor dem Tagungshaus füllt sich an diesem späten Freitagnachmittag mit abgestellten Rucksäcken und Reisetaschen. Die meisten Seminarteilnehmer sind zum ersten Mal hier. Sabine, alleinerziehende Mutter mit zwei Kindern, ist aus dem Aachener Raum angereist. Ebenso wie Ricarda, eine ältere Fabrikarbeiterin aus Triptis/Thüringen, die mit demselben Bus vom Bahnhof Kassel-Wilhelmshöhe gekommen ist, hatte sie durch eine Fernsehsendung von der Kommune erfahren. 

Dirk, ein wortkarger 23jähriger Autonomer, hat den Weg mit dem Fahrrad von Göttingen durch den Kauffunger Wald genommen. In seiner Szene ist Nieder­kaufungen schon seit langem eine feste Größe. Verena und Marcus laden einen Kinderwagen und zwei kleine Kinder aus ihrem klapprigen Kadett. Die beiden sind 50 Kilometer von hier, im thüringischen Mühlhausen, daheim. Marcus studiert Jura in Jena und hat sich auf Sozialrecht spezialisiert. Wenn er fertig ist, erzählt Verena später in der Vorstellungsrunde, will sie ihren ungeliebten Bürojob schmeißen, und sie wollen zusammen mit ein paar anderen Leuten ein Projekt anfangen.

Birgit, eine gelernte Sozialarbeiterin, die diese Kommune mit aufgebaut hat und von Anfang an hier lebt, leitet das Seminar, zusammen mit Jona, der erst seit einem halben Jahr hier ist. Auf Birgits Strichliste stehen 20 Namen. "Anders leben, anders arbeiten". So heißt das Thema, das uns an diesem kühlen und regnerischen Juni-Wochenende zusammengebracht hat. Die Kommune Niederkaufungen stellt sich vor: das Modell eines selbstverwalteten, kollektiv wirtschaftenden, sich ökonomisch selbst tragenden, kleinen Gemeinwesens.

Das Tagungshaus ist der stattlichste Bau auf dem Gelände. Ein dreistöckiges Fachwerkhaus auf steinernem Sockel, das die Kommunarden vor ein paar Jahren nach baubiologischen Gesichtspunkten selbst renoviert haben. Trotzdem: Die Mehrbettzimmer für 27 Gäste, die vier Gruppenräume, Büro und Teeküche haben etwas vom Charme einer alten Jugendherberge. Durch die Mansardenfenster überblickt man die Umgebung aus der Vogel­perspektive.

Die Kommune ist mitten im Dorf angesiedelt: krumme Gassen mit Kopfsteinpflaster, ansehnliche Fachwerkgehöfte mit Ställen und Scheunen und Sitzbänken vor den Haustüren. Das Sträßchen überquert einen Flußlauf und mündet in einen Weg, der steil bergauf in einen Eichenwald führt. Dahinter erstreckt sich eine Hochebene mit Ackern und Wiesen. Von dort oben geht der Blick über das Fuldatal zur Wilhelmshöhe und nach Osten bis zum Bergrücken des Hohen Meißner. Die ländliche Idylle ist gestört. Der Lärm von Autofluten dringt herauf. Die vielbefahrene Hauptstraße im Ort ist Zubringer zur B 7 und zu diversen Autobahnauffahrten. Kaufungen hat sich in den letzten Jahrzehnten zu einem Industriedorf und zu einer Schlafstätte für Pendler gewandelt. Die Innenstadt von Kassel ist mit dem Auto in einer guten Viertelstunde zu erreichen.

In dieser Umgebung existiert seit zwölf Jahren auf rund 10.000 Quadratmetern mit etwa 70 Bewohnern, ihren Wohnräumen, Werkstätten, Ladenlokalen die Kommune Niederkaufungen.

Ein Lattenzaun und drei schlanke, hochgewachsene Pappeln grenzen das Anwesen zur Dorfstraße hin ah. Vorn neben der Eingangstür an der Straße ist in einem Fachwerkhaus ein kleiner Laden untergebracht. "Hofverkauf" steht auf dem Schild. Dienstags und freitags wird hier frisches Gemüse aus eigenem ökologischem Anbau verkauft. An dieses alte Bauernhaus, ein Relikt des ursprünglichen Hofes, eckt ein langgestreckter, viergeschossiger Bau, der an einen Wohnblock aus einer Arbeitersiedlung der 60er Jahre erinnert. Seine graue Fassade ist erst an wenigen Stellen begrünt. Dieser Trakt war einmal ein Wohnheim für Gastarbeiter, Fließbandarbeiter des VW-Werkes in der nahegelegenen Retortenstadt Baunatal. Heute dient er als Wohnbereich der Kommune. Dahinter stehen mehrere Gebäude mit den Werkstätten. Einige Wände sind ganz mit Holz verkleidet. 

32


An ein paar Stellen liegt, sorgfältig abgedeckt, Brennholz aufgestapelt. Auf dem Vorderhof sind Fahrräder auf Ständern aufgebockt. Leute überqueren mit Schubkarren oder Werkzeug in der Hand den Hof. Sie sind bunter gekleidet und haben mitunter längere Haare als die Leute aus dem Dorf. Die Türen stehen offen. Das Grün wuchert frei. Autoanhänger stehen herum und leere Fässer, ein Bauwagen, ein Tipi aus Weidengeflecht. Ein paar Kinder schwammen gerade mit Wonne in einer knietiefen Pfütze, die ihnen ein Wolkenbruch im Sand unter dem Klettergerüst beschert hat. Hier ist mehr Leben als auf den Höfen in der Nachbarschaft. Es ist nicht ganz so aufgeräumt, aber keineswegs ungepflegt oder vernachlässigt.
Ein israelischer Kibbuz-Experte, der seit 1991 regelmäßig Niederkaufungen besucht, so höre ich beiläufig von Jona, habe zu Hause von seinen Eindrücken berichtet: Die krisengeschüttelten, orientierungslos gewordenen Kibbuz-Siedlungen könnten von dieser Kommune lernen ...

"Kommune". Wenn man nicht gerade den trockenen verwaltungsrechtlichen Begriff für ein Gemeinwesen auf unterer Ebene im Kopf hat, dann beschwört das Wort exotische Bilder aus den 60er Jahren herauf: Kommune II. 1967 in Berlin. Das berühmt gewordene Foto: ein Dutzend splitternackte Langhaarige beiderlei Geschlechts, mit erhobenen Händen, die Gesichter zur Wand gekehrt. Ultimative Provokation der Spießergesellschaft, exhibitionistische Propaganda der Tat für freie Liebe und ein Leben ohne Arbeit. Das andere Bild, genauso provokativ: Massen in uniformen blauen Anzügen und gelben Strohhüten bewässern riesige Reisfelder und studieren nach der Arbeit die Worte des Vorsitzenden Mao Tse-tung. Dem Volke dienen! Volkskommune. China 1967. Es waren wilde Extreme, die sich unter dem Reizwort "Kommune" damals zusammendenken ließen. Es stand für die Sehnsucht nach Gemeinschaft, Gleichheit und Gerechtigkeit - und auf der anderen Seite für die extreme Angst vor dem Verlust von Würde, Persönlichkeit, privatem Glück.

Im Tagungshaus sind auf einer Schautafel die "Grundsätze" dieser Kommune aufgeschrieben: "Konsens, gemeinsame Ökonomie, Abbau von Hierarchie und geschlechtsspezifischen Machtstrukturen, gemeinsame Verantwortung füreinander, linkes Politikverständnis, ökologische und sozialverträgliche Arbeitsbereiche."

33


Pflichtlektüre für die Seminarteilnehmer war das Grundsatzpapier von 1983. Beim Blättern fühle ich mich lebhaft in die geistige Atmosphäre der 70er und frühen 80er Jahre zurückversetzt. In unzähligen Seminaren und Projektgruppen an den linken Unis entstand damals ein spezifisches Theoriegemisch, das sich von den Marxismus-Leninismus-Pflichtfach-Veranstaltungen an den DDR-Hochschulen erheblich unterschied.

Semesterlang wurde auch im Westen marxistische politische Ökonomie gepaukt. Parallel aber las man die Schriften des linken Freud-Schülers Wilhelm Reich, der die patriarchalisch strukturierte Kleinfamilie als die herrschaftsstabilisierende Zelle des autoritären Staates brandmarkte. Dazu kamen die Analysen über die Ausbeutung des Südens und die Ressourcenverschwendung im reichen Norden. Und nicht zuletzt war man fasziniert von der Strategie, die Che Guevara und andere Theoretiker des "Trikont" propagiert hatten: befreite Gebiete schaffen, als "Focus" und Operationsbasis für die Eroberung der politischen Macht.

Die Kommune ist eine Kopfgeburt. Aus einem weitverzweigten theoretischen Wurzelwerk wuchs ihre Ideenbasis: auf kleinem Raum die Abschaffung des Kapitalismus vorwegnehmen. "Jede/r nach ihren/seinen Fähigkeiten, jedem/r nach seinen/ihren Bedürfnissen." Das Grundsatzpapier von 1983 zitiert in dieser feminisierten Fassung die Formel, mit der Marx in der "Kritik des Gothaer Programms" die Ökonomie "in einer höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft" beschrieben hatte. Die Produktionsmittel sollten allen Produzenten gemeinsam gehören. Statt hierarchischer Macht- und Herrschaftsverhältnisse in den Betrieben und der formalen Demokratie des bürgerlichen Staates eine auf Könnens beruhende Basisdemokratie ausprobieren. Die Kleinfamilie durch die Vergesellschaftung der Hausarbeit und durch solidarische Wohngruppen überwinden. Sich dabei Schritt für Schritt vom mitgebrachten geschlechtsspezifischen Rollenverhalten befreien. Ökologie ist in dieser "Ideenbasis" noch ein Fremdwort. Darunter verstand man erst mal nur ein anderes, sparsameres Modell von Ressourcenmanagement.

34


Zentral bei der Gründung von Niederkaufungen war der Gedanke der Autonomie. Eine in konzentrischen Kreisen angelegte Subsistenzwirtschaft sollte eine möglichst weitreichende Unabhängigkeit vom Arbeitsmarkt und von der Staatsknete ermöglichen. Heute beschreibt man dieses Konzept so: "Wir wollen hier so viele Menschen werden, daß wir in wesentlichen Bereichen menschlicher Grundbedürfnisse - Ernährung, Gesundheit, Wohnung, Bildung - tätig sein können."

Bloße Kopfgeburten? Ele gehörte zu der Kerngruppe, die 1983 das Grundsatzpapier verfaßt hat. Heute ist sie Mitte 40 und nach einer zweijährigen "Aus-Zeit", in der sie allein in Kassel gewohnt hat, gerade wieder eingestiegen. Sie arbeitet nach wie vor außerhalb, drei Tage pro Woche, in ihrem erlernten Beruf als Psychologin in einer Rehaklinik ziemlich weit weg. Wenn Ele von damals erzählt, bringt sie auch "Bauch" und "Herz" ins Spiel.

Sie stammt aus einer Kleinstadt in der Nähe von Oldenburg. Die enge, sterbenslangweilige Provinz und das autoritäre Elternhaus, eine Unternehmerfamilie, wo der Vater der absolute Chef war, weckten eine starke Sehnsucht nach Solidarität, nach Gleichberechtigung, nach verantwortlichem Umgang miteinander, nach gegenseitiger Stützung. Erste tastende Versuche um 1968, den Traum zu leben: freiwillige Arbeit in Jugend-Workcamps, Sprachunterricht für Gastarbeiterkinder. "Für mich war klar, sobald ich Abitur hab', geh' ich irgendwo an eine linke Uni. Und das hab' ich dann auch gemacht. Und das war Marburg."

In den 70er Jahren Pädagogik zu studieren war ein Witz. Das war ganz locker nebenher zu machen. Spannender war die Szene, dieser bunte Haufen von naiven und kreativen Leuten, das entstehende Netz von WGs und Kneipen, Buchläden und Projektgruppen, das alternative Milieu der alten Universitätsstadt Marburg. "Da hab' ich ganz viel aufgesogen, oft nur ganz wenig kapiert, aber es genossen, dabei zu sein. Seiher war ich gar nicht sehr aktiv, sondern hab' mich tragen lassen, immer mal so geguckt und mich im Umfeld rumgetrieben, eher lustvoll gelebt und privat ganz viel für mich gemacht."

Es war die Zeit, als in Marburg wie überall jeder und jede, die was auf sich hielt, den Plan für ein alternatives Projekt in der Tasche hatte. Freundschaften und Liebesbeziehungen

35


überlappten sich mit politischen Zusammenhängen. Gemeinsam leben und arbeiten. Das Geld zusammenschmeißen. Mal für ein Gesundheitsprojekt, Arztpraxis kombiniert mit Sozialarbeit. Mal für ein Tagungshaus und Kommunikationszentrum. Alles ist schnell gescheitert. Ele begann ein neues Studium: Psychologie. Das war der Zeitpunkt, sich neu zu orientieren und sich stärker einzumischen: undogmatische Gruppen, Anti-AKW-Arbeit, Umweltladen, Startbahn West, enge Verquickung zum AStA.

1980 hörte Ele, da sei jemand, der was Größeres im Kopf habe. Der habe schon Connections zu einem Bio-Bauernhof im Hamburger Raum aufgebaut und wolle irgendwie ein tolles Projekt machen. Geh doch mal hin. Ele kam mit diesem Bernd ins Gespräch. Leute stießen dazu. Zu zehnt fuhren sie von Marburg aus zu diesem Hof, und wenig später bildete sich eine Gruppe.

Es war überfällig, die verschiedenen Stränge zusammenzuführen: diese alte Sehnsucht nach einem Gruppenzusammenhang mit der Lust auf ein Experiment, das wegweisend sein könnte. Bernds Idee war, daß man gleich mit einem Riesenprojekt anfangen müsse. Ein Projekt, das vom Landbau über Hausbau und Energiegewinnung bis hin zur Bildung alle menschlichen Grundbedürfnisse befriedigen könne. Ein Projekt also, bei dem alles ineinandergreife, das auf autonome Kreisläufe und Nachhaltigkeit angelegt sei. Es müsse am Rande eines Ballungsgebietes angesiedelt sein, nicht irgendwo in der Pampa, und gleich einen Faktor in der Umgebung darstellen. Also nicht krautern und krebsen, und am Ende würde jeder private Konflikt zwischen zwei Leuten den ganzen Laden auseinanderfliegen lassen. Ein großes Experiment sollte es sein, das andere anregen würde, ähnliche Sachen anzufangen, sich die Erfahrungen zunutze zu machen. Die Aufbruchstimmung der friedens- und umweltbewegten frühen 80er Jahre.

Es dauerte noch Jahre des Werbens um Leute - 100 sollten es sein - und des Suchens nach einem Standort. Die Marburger Gruppe, überwiegend Frauen, ging nach Hamburg, besorgte sich Jobs. Große Treffen mit teilweise 300 Leuten fanden statt. Dann die Rückschläge. Manchmal schien man schon ein traumhaftes Objekt, irgendein altes Fabrikgelände oder eine Domäne, sicher zu haben. Dann kamen die Absa-

36


gen. Leute sprangen ab. Die Gruppe wurde kleiner. Auch Ele zog sich für eine Weile zurück, ging wieder nach Marburg, um ihr Diplom zu machen. Pfingsten 86 - das war die Zeit nach Tschernobyl - schien alles gescheitert zu sein. Da hatte keiner mehr Kraft.
"Ja, und dann kam Niederkaufungen. Und das war eher ein Zufall. Jemand erzählte, einer aus seiner Wohngemeinschaft habe in der Nähe von Kassel einen Hof geerbt." Ein sehr kleiner Teil der ursprünglichen Gruppe beschloß zu kaufen. Zu Weihnachten 1986 zogen die ersten in die neue Kommune Niederkaufungen.

"Ich heiße Jona und jongliere ... Ich heiße Birgit und boxe gern ... Ich bin die Urte und bin unternehmungslustig ..." Die Vorstellungsrunde im Tagungshaus, die so locker mit dem Namen-Merkspiel angefangen hat, ändert allmählich ihren Charakter. Die Beiträge werden wortreicher. Elemente eines speak bitterness meeting in einer Selbsthilfegruppe kommen ins Spiel, wenn einzelne ihr Herz ausschütten. Kein Zweifel: Hier sind keine Aktivisten beisammen, die neue Impulse für ihre politische Arbeit suchen, sondern überwiegend Leute, die ein tiefes Unbehagen an ihrer Lebensweise verspüren. Denen es an ihren Arbeitsplätzen oder in ihrer Arbeitslosigkeit mies geht. Die an ihren zwischenmenschlichen Beziehungen leiden. Die überfordert sind und auf der Suche nach neuen, rettenden Ufern: nach der emotionalen Nestwärme und materiellen Sicherheit einer stabilen Gemeinschaft.

Birgit erzählt von den äußeren Strukturen, die sich die Kommune gegeben hat.

"Es ist so, daß wir alle in Wohngruppen leben", sagt sie. Es gibt zehn WGs unter dem Dach der Kommune. Sie sind verschieden groß, von zwei bis etwa zwölf Personen. Jede Wohngruppe hat ihren zusammenhängenden, relativ abgeschlossenen Bereich. Man wohnt eng beieinander, auch wenn jede Person, auch jedes Kind, dort ein eigenes Zimmer hat. Daneben gibt es kleinere Gemeinschaftsräume, einen Aufenthaltsraum, meist mit einer kleinen Teeküche, und das Bad. Manche WGs machen gemeinsame Wohngruppenabende. Andere sagen, wir haben halt unsere Zimmer da. Mehr nicht. Es gibt innerhalb der Wohngruppen Paare mit oder ohne Kinder, Singles, auch eine Männer-WG und zwei Frauen-WGs.

37


Ein Grundsatz aber ist geblieben: "Wenn so eine Kleinfamilie ankäme, Papa, Mama, Kind, und für sich wohnen wollte, nee, das sind wir nicht", sagt Birgit.

Der öffentliche Raum ist groß und gut strukturiert: Hof, Garten, Räume für die kollektivierte Hausarbeit, zum Beispiel die Waschküche, und vor allem das Gemeinschaftszentrum mit der Großküche und dem Speise- und Plenumsraum.

Das Arbeitsleben ist so organisiert: Etwa ein Fünftel der Kommunarden hat Jobs außerhalb der Kommune, geht also einer Lohnarbeit nach. Die anderen sind in einem Arbeitsbereich innerhalb der Kommune tätig.

Produkte für das ganze Spektrum menschlicher Grundbedürfnisse mit eigenen Kräften zu erzeugen, sich einerseits selbst damit zu versorgen und sie gleichzeitig zu vermarkten - das war eine der zentralen Ideen bei der Gründung gewesen. Das Konzept ist mit erstaunlicher Konsequenz und Energie betrieben worden. Es ist aufgegangen. Die Kommune hat im Laufe ihrer zwölfjährigen Existenz systematisch einen Verbund von Arbeitsbereichen aufgebaut. Nach außen erscheint er als ein kleines Konglomerat von eigenverantwortlich agierenden Handwerks- und Dienstleistungsbetrieben, die von der Ernährung, Kleidung und Energieversorgung bis zum Wohnungsbau, von der Kinderbetreuung über die Erwachsenenbildung bis hin zur Altenpflege tatsächlich viele Produkte und Dienstleistungen von hoher Qualität anbieten.
Der Gemüsebau auf Feldern in der Nähe, ein anerkannter Bioland-Betrieb, versorgt nach dem Motto "biologisch, regional, saisonal" die eigene Großküche, den Hofladen und einen Marktstand in Kassel mit frischem Gemüse und Obst. Durch die Tierhaltung auf dem neuerworbenen Hof soll die Palette der selbsterzeugten Lebensmittel um Fleisch- und Milchprodukte ergänzt werden.

Die Näh- und Lederwerkstatt produziert Westen, Hosen, Kinderbekleidung, Taschen und Rucksäcke aus Leder. Sie verfügt über eine Werkstatt und eine kleine Boutique an der Hauptstraße.

Mehrere Kollektive sind im Baubereich tätig: Die "Komm-Bau" bietet Wärmedämmung von Gebäuden und Innenausbau an und installiert Regenwassersammelanlagen. Die Bauschlosserei produziert neben den üblichen bautypischen

38


Produkten auch Fahrradabstellanlagen. Die Schreinerei baut unter anderem Möbel aus Vollholz mit biologischer Oberflächenbehandlung. Das Planungsbüro ist auf Planung und Beratung in Sachen Niedrigenergiehäuser und Altbausanierung spezialisiert. Die erst kürzlich gegründete Satz- und Druckwerkstatt stellt Druckerzeugnisse aller Art her, von der Visitenkarte bis hin zum Layout eines Bildbandes. Die "Komm-Rat" ist eine Projektberatung für Lebensgemeinschaften und Alternativbetriebe, die sich zum Beispiel intensiv mit den Fragen einer betrieblichen Altersvorsorge befaßt. Der "Verein für Ökologie, Gesundheit und Bildung" schließlich betreibt die Kindertagesstätte "Wühlmäuse" und das Tagungshaus. Eine weitere Projektgruppe arbeitet am Aufbau eines Kurzzeitpflegeheims für alte Menschen.
Unser Rundgang über das Gelände beginnt am nächsten Morgen in der Waschküche. Der Raum ist etwa fünf Meter lang, drei Meter breit und ziemlich niedrig. Nicht größer als eine Waschküche im Keller eines Einfamilienhauses. Zwei Miele-Waschmaschinen stehen an der Wand. Dahinter sind drei Wasserkräne installiert. Daneben ein Regal mit einem großen Sortiment von Öko-Waschmitteln.

Die beiden Waschmaschinen laufen fast den ganzen Tag, bis in die Nacht hinein, wie in einem Waschsalon. An der gegenüberliegenden Wand stehen sechs Waschkörbe in einem Regal. Ein Schild mit dem Hinweis: "Hier bitte die Körbe mit schmutziger Wäsche hinstellen — fertig zum Einschmeißen." In jedem Korb liegt ein rotes Pappschild mit einer Anweisung: "Buntwäsche ohne Vorwäsche 45 Grad", "Feinwäsche 30 Grad" etc. Birgit, mit der ich den Rundgang mache, erklärt das System: "Du packst deine schmutzige Wäsche — oder die von zwei, drei Leuten oder den Sammelkorb deiner ganzen Wohngruppe — in solch einen Wäschekorb und stellst ihn mit einem Anweisungsschild hinten auf das Brett. Wenn die Maschine gerade steht, nimmst du die gewaschene Wäsche heraus. Dann holst du den Korb, der vorn als erster steht, wirfst die Wäsche aus diesem Korb ein und startest die Maschine nach der Anweisung auf dem Schild. Der Korb, den du gebracht hast, rückt dadurch eine Stelle weiter nach vorn. So macht das jeder und jede hier. Es sei denn, du findest, daß ein

39


Korb nicht gut genug gefüllt ist. "Dann", sagt Birgit, "legst du einen Zettel drauf: zu wenig, ökologisch daneben, such dir noch ein paar, mit denen du das auffüllen kannst."

Die gemeinsame Ökonomie in Niederkaufungen fängt bei der Hausarbeit an. Das System funktioniert: Die beiden Waschmaschinen reichen für die schmutzige Wäsche der ganzen Kommune. Das System wäre übertragbar: Ein mehrgeschossiges Mietshaus, eine ganze Reihenhaus-Zeile oder eine kleine Siedlung könnten damit leben.

Strom und Heizwärme für die Kommune werden in einem eigenen Blockheizkraftwerk zumindest teilweise selbst erzeugt. Bei unserem Rundgang kommen wir daran vorbei. Es wirkt wie eine etwas überdimensionierte Heizungsanlage eines Einfamilienhauses. Im Winter produziert das BHKW mit der Heizwärme zusammen relativ viel Strom und kann einen Teil davon ans Netz abgeben. Im Sommer, wenn wenig Wärme gebraucht wird, muß die Kommune Strom dazukaufen. Im Jahresmittel deckt sich die Stromerzeugung in etwa mit dem Stromverbrauch.

Die Wasserkräne der Waschküche sind speziell markiert und an ein gesondertes Leitungsnetz angeschlossen. In Niederkaufungen hält man Trinkwasser für zu kostbar. Zum Waschen und für die Toilettenspülung nimmt man Regenwasser, das sich in zwei Zisternen im Erdreich hinter dem Haus gesammelt hat.
Die Regenwassersammelanlage ist selbstgebaut. Das Regenwasser fließt von den Dächern herunter über die Dachrinnen und durch Fallrohre in zwei Tanks. Der eine faßt 16.000 Liter, der andere 25.000 Liter. Mit kleinen Pumpen wird das Wasser von dort aus zur Waschküche und zu den Toiletten hochgedrückt. Das macht viel aus: Um die 20.000 Liter Regenwasser werden von der Kommune im Monat verbraucht. Im Sommer mehr, im Winter weniger. Das heißt, daß diese Menge Trinkwasser gespart wird.

"Die Kunst ist die Trennung von Schmutz und Wasser, also die Filterung", sagt Rolf, der Schlosser. Damals gab es nichts, was man ruhigen Gewissens einbauen konnte. Man mußte auf irgendein System aus den 50er Jahren zurückgreifen, das gerade gut genug war, um die Regentonne im Garten zu füllen. 

40


Meistens war die Reinigung des Filters ein Problem. Damals kam der Gedanke: Komm, wir machen selbst was. Aus Polyäthylen haben wir in langen Versuchen einen Rohrfilter gebaut, der sich leicht in bestehende große Rohre hineinschieben läßt. Das Rohr liegt geneigt und hat ein Mikrogewebe aus Edelstahl und direkt darunter ein Netz aus Aluminium. Das bewirkt, daß der Dreck oben auf dem Mikrogewebe liegenbleibt, und das gesäuberte Regenwasser fließt einfach in den Tank. Der Dreck auf dem Filtergewebe wird vom nächsten Regen in die Kanalisation gespült. Es gibt also keine Verstopfung dieses Filters. Er reinigt sich selbst.

Die Anlage hat sich im Langzeit-Härtetest in der Praxis bewährt. Bei der "Komm-Bau" gehört seitdem die Regenwasser-Sammelanlage mit den selbstkonstruierten Filtern zur Produktpalette. Man kann sie den Kunden in Betrieb vorführen.

Gemeinsame Ökonomie: Das ist hier der Zwang und der Hang zum Sparen, vor allem zum sparsamen Umgang mit den Ressourcen. Eine Effizienzrevolution im Alltag zwingt zur Kreativität. Beim Brainstorming aller 70 Köpfe und dem anschließenden hartnäckigen Tüfteln der Spezialisten finden sich die neuen Lösungen für die neuen Probleme. Wo ein Transfer in den normalen Alltag möglich ist, werden die neuen Produkte und Verfahren nach außen vermarktet. Die Gewinne fließen in die gemeinsame Kasse.

Vor dem Eingang zur Schlosserei ist eine Fahrradabstellanlage montiert, die ich in dieser Art noch nicht gesehen habe. Es ist eine einfache Konstruktion, im wesentlichen eine schräge Rinne, in der das Vorderrad steht, und ein Haken, der den Rahmen des Fahrrads festhält. Die Anlage ist ein Demonstrationsobjekt für Kunden der Werkstatt. Sie wird hier produziert, und sie wurde in der Kommune entwickelt.

"Es war wie bei vielen Dingen", sagt Rolf. "Wir sind alle fahrradfahrende Leute." Und als solche kannten sie den Ärger mit den üblichen Fahrradständern. Ein Kunde aus Kassel hatte eine Voridee mitgebracht. Ob wir da nicht was machen könnten. Also haben sie angefangen zu tüfteln.

Mittlerweile sagen immer mehr Kunden, das ist eigentlich das Beste, was es gibt. Das Simpelste und das Beste. Die Tüftler aus Niederkaufungen haben inzwischen einen Gebrauchsmusterschutz. 

41


Der Markt ist zwar schwierig, aber allmählich steigt das Interesse an diesen Fahrradabstellanlagen. In Kassel steht eine am Bahnhof nicht weit von der "Himmelsstürmer"-Skulptur. Auch an der neuen Max-Schmeling-Halle, einer großen Sportarena in Berlin, kann man neuerdings sein Fahrrad in einer Anlage aus Niederkaufungen parken.

"Wir sind zu sechst bei der ›Komm-Bau‹", erklärt Rolf. "Die Hauptsache ist der Stahlbau an sich. Treppen und Geländer für Häuser. Der Fahrradständer ist ein weiteres Produkt in der Palette."

Als ich darauf hinweise, daß Stahl nicht gerade ein sehr ökologisches Material ist, antwortet er: "Wir arbeiten nun mal in Stahl, aber wenn wir so einen Fahrradständer entwickeln, haben wir ein Auge darauf, daß wir möglichst wenig Material benötigen. Stahl ist bestimmt ein Werkstoff, der auch unökologisch ist und aus fernen Ländern herantransportiert wird und bei dem auch viele Gifte anfallen. Aber im Moment ist er wohl aus unserem Leben nicht wegzudenken. Wichtig ist, daß man sparsam damit umgeht."

Mich interessiert, wie es mit der vielbeschworenen Arbeit ohne Chefs und Hierarchie steht.

"Einen Geschäftsführer gibt es bei uns auch, den muß es geben, und wir haben uns darauf verständigt, daß der rotiert. Das war uns wichtig, um Verantwortlichkeiten zu verteilen. Ansonsten versuchen wir, daß möglichst abwechselnd Leute Aufträge eigenständig abwickeln. Es gibt bei uns einen Meister, aber der ist nicht dafür zuständig, Kundengespräche zu führen, das Produkt vorzubesprechen und dann zu sagen: So, und nun macht mal. Bei uns sieht das eher so aus, daß wir Kundenanfragen gemeinsam besprechen und dann entscheiden, wer zu dem Kunden hingeht. Dann führt derjenige die Verhandlungen und begleitet das Projekt bis zur Rechnungsstellung. Das heißt also, er sieht zu, daß der Auftrag an Land kommt, und bestellt dann die nötigen Sachen und bespricht alles weitere mit den Kollegen. Die arbeiten dann auch mit, aber nur eine Person weiß eigentlich immer genau, wie das Produkt letztlich aussehen soll, und behält den Ablauf im Blick. Das ist natürlich schön, bei Problemen einfach fragen zu können: Sag mal, wie würdest du das lösen. Ich denke, daß wir dadurch auch für unsere Verhältnisse kostengünstig arbeiten, weil nachher, meistens jedenfalls, ein sehr gutes Produkt dabei herauskommt, so daß wir auch viele zufriedene Kunden haben."

42


Die Kita der Kommune ist ein Dienstleistungsbetrieb. Zur Zeit ist nur noch ein Kommune-Kind hier. Alle anderen kommen aus dem Ort oder aus der Nähe. Aber, erklärt Barbara, eine der Kindergärtnerinnen, so wie diese Kita aufgebaut ist, ist sie eigentlich nur denkbar in dem Konstrukt Kommune. Das fängt bei der Aufteilung und Einrichtung der Räume an. Die Küche ist so konzipiert, daß auch die Kinder darin wirtschaften können. Dann gibt es den Bastelraum, wo in einem Wandregal verschiedene Materialien lagern, die in einer Bauecke verarbeitet werden können. Dann gibt es einen Bewegungsraum. Die Pädagogik hier legt einen Schwerpunkt auf die Gruppenmotorik und die sensorische Integration. "Sprache baut sich über Bewegung auf", sagt Barbara. Und deswegen sei es wichtig, daß die Kinder sich kontinuierlich bewegen und zwischen Anspannung und Entspannung selbst wählen können. Der große Raum bietet auch die Möglichkeit, aus Decken, Kartons und großen Röhren Höhlen zu bauen, in die man sich zurückziehen kann. Es gibt ein Trampolin, Gymnastikbälle, Seile zum Klettern und Schaukeln. Und dann hat die Kita einen Schlafraum für die Kinder unter drei Jahren.

Barbara ist seit fünf Jahren in Niederkaufungen. Zu Hause, in Augsburg, hat sie eine klassische Erzieherinnenausbildung absolviert, hat dann auch in dem Beruf gearbeitet und ist dabei "brachial gescheitert". Hier könne sie ganz anders arbeiten. Sie hätten in der integrativen Gruppe drei Kinder, die, so Barbara, "anders gesund" seien, und außerdem auch Kinder unter drei Jahren. Und vor allem stünde über ihrer Arbeit ein besonderes Menschenbild. Barbara nimmt als Beispiel die Integration von körperlich behinderten Kindern. "Zu uns können Kinder kommen, die haben nur ein Bein oder sitzen im Rollstuhl. Uns ist es scheißegal, ob jemand laufen kann oder blind ist oder taub. Wir finden es total spannend, solche Menschen kennenzulernen, von denen auch was mitzubekommen und von denen zu lernen, wie sie mit ihrem Anderssein umgehen. Und natürlich vermitteln wir: Menschen sind unterschiedlich, und das fängt bei den Kindern an. 

43


Nicht nur die erwachsenen Menschen haben den Kindern was zu vermitteln, sondern ich als erwachsene Person bekomme wahnsinnig viel von den Kindern. Ein Geben und Nehmen. Und das verstehe ich unter Pädagogik. Wir sind im Team schon unterschiedlich. Aber ich denke, da sind wir uns alle einig, daß wir das Kind von vornherein als Persönlichkeit sehen - und uns als Persönlichkeiten einbringen."
Es ist hier eine andere Art, den Kindern zu begegnen und sich auf die Welt der Kinder einzulassen, möglich. Und man legt Wert darauf, den Kindern die Natur nahezubringen.
"Wir sind viel draußen und versuchen, den Kindern schon zu vermitteln, wo zum Beispiel das Essen herkommt. Ich war mit unseren Kindern oft schon auf dem Acker oder am Fluß oder auf den Erdbeerfeldern, und da haben wir die Pflanzen definiert, auch was ausgebuddelt, Salat geerntet, den wir seither gewaschen und gegessen haben. Zu unserem neuen Hof sind wir auch hingewandert und haben unsere Kühe besucht und versorgt, und das ist mir total wichtig. Mein Ansatz ist ja: Wir sind ein Ganzes mit der Natur."

Das Konzept ist erfolgreich. Die Warteliste ist lang. Nicht nur Eltern aus dem grünalternativen Milieu schicken ihre Kinder hierhin, sondern auch die Tochter des Ortspolizisten und das Kind vom Bauernhof nebenan sind hier.

Auf unserem Rundgang haben wir auch die legendäre gemeinsame Kasse von Niederkaufungen gesehen. Ein schlichter Kasten auf einem Tisch im Büro. Früher hat die Kasse im Gemeinschaftsraum ihren Platz gehabt. Als ein paarmal auf mysteriöse Weise Geld daraus verschwand, hat das Plenum beschlossen, sie ins Büro zu stellen. Dort steht sie nun, immer noch für jeden hier unbeschränkt zugänglich.
Natürlich ist die gemeinsame Kasse von Niederkaufungen nicht mehr nur der eiserne Kasten im Büro, sondern ein finanztechnisch ausgeklügelter Geldpool.

Der Lohn, den Rolf in der kommuneeigenen "Komm-Bau" monatlich bekommt, fließt hier hinein. Ebenso das Gehalt, das Ele in der Rehaklinik verdient, die Gewinne des Hofladens, wenn er denn welche macht, das Geldgeschenk der Eltern zu Weihnachten und die Erbschaft von der reichen, alten Tante.

44


Die Faustregel: Ein Drittel erwirtschaften die Arbeitsbereiche, ein Drittel verdienen die Leute, die außerhalb ihren Arbeitsplatz haben, ein Drittel kommt über öffentliche Förderung von gemeinnützigen Aktivitäten hinein. Die Streuung der Geldquellen sichert eine gewisse ökonomische Stabilität. Hinzu kommt der Besitz an Boden und an Werkzeug und Maschinen, also an Produktionsmitteln zur Selbstversorgung.

Wer in die Kommune eintritt, bringt sein gesamtes Vermögen ein. Von den Ersparnissen bis zum eigenen Auto. In einem Ausstiegsvertrag wird geregelt, was man davon zurückbekommt, wenn man die Kommune wieder verläßt. Im Prinzip besitzt jeder von nun an wie alle anderen auch nicht mehr als die persönlichen Utensilien. Aber jeder wird Teilhaber an der ganzen Fülle von Dingen und Einrichtungen, die die Kommune aufgebaut hat. Jeder kann darüber verfügen. Man arbeitet für die Kommune. Man wohnt, ißt und trinkt umsonst. Jeder kann sich aus der Bedürfniskasse uneingeschränkt bedienen. Man geht ins Büro, nimmt das Geld aus der Kasse und schreibt auf, was man entnommen hat. Nur Ausgaben über 200 Mark müssen auf dem Plenum angekündigt werden. Die ungleiche Bewertung der Arbeit ist durch einen Willenskraftakt aufgehoben. Gib, was du kannst - nimm, was du brauchst. So einfach ist das. Oder?

Ein heikles Thema, erzählt Ele, die Psychologin, sei die Debatte über wahre und falsche Bedürfnisse und Ersatzbefriedigungen. Aber das bewege sich alles im Rahmen. Sie habe an sich selbst beobachtet, der Wunsch, Frustration durch Konsum zu kompensieren, lasse nach. Noch immer kann der Plan einer Flugreise nach Neuseeland die heftigsten Kontroversen entflammen. Die Macken seien nicht weg, aber die Tendenz sei abnehmend. Andererseits nehme der Spielraum zu und die Erkenntnis, daß wir uns nicht alle über einen Kamm scheren lassen können. Der Lernprozeß sei eher, zu seinen Bedürfnissen zu stehen. Und festzustellen, sie sind doch eigentlich in Ordnung.

Trotzdem: Das "Sommerloch" in der Kasse, verursacht vor allem durch die Finanzierung der Urlaubsreisen, ist ein immer wiederkehrendes Problem. Und insgesamt steigen die Ausgaben.

45


Die Besserverdienenden, erzählt Ele, die sicherlich zu dieser Gruppe gehört, hätten selten Probleme damit, daß ihre Arbeit mehr Geld einbringe als die anderer Kommunarden. Probleme haben eher die, die weniger zur gemeinsamen Ökonomie beitragen können als der Durchschnitt. Dennoch gibt es in den Arbeitskollektiven immer wieder Kritik an einzelnen, von denen man meint, sie könnten mehr und länger arbeiten. 

Und es gibt eine starke soziale Kontrolle über das Konsumverhalten. Das, sagt Ele, sei ganz normal. Ein Beispiel: Du sitzt mal Zeitung lesend um elf Uhr im Gemeinschaftszentrum und frühstückst und erwischst dich dabei, wie du ein schlechtes Gewissen kriegst: Was die jetzt wohl von mir denken? Diesen Mechanismus haben die meisten Kommunarden verinnerlicht. Und sie haben ja recht: Mindestens ein oder zwei von den 50, die dich da sitzen sehen, sind auch empört. Und dieses Mißtrauen ist natürlich da, weil wirklich nicht alle gleich viel arbeiten.

Die Schere im Kopf, das ist eigentlich das heikle Thema: Du bist ständig mit der eigenen Kontrolle beschäftigt. Und das stört das emotionale Wohlbefinden bei der gemeinsamen Ökonomie. Aber, wie hat Rolf, der Schlosser, gesagt: Ich finde, daß das im allgemeinen ziemlich gut klappt.

Das Gemeinschaftszentrum ist eine große, lichte Halle, die durch hohe Fenster und gläserne Türen mit dem Küchenbereich verbunden ist. Am Eingang stehen die Pinnwand und ein Zeitungsständer mit einem breiten Sortiment linksalternativer Zeitungen und Zeitschriften. Eine abgeteilte Sitzgruppe ist die Leseecke. Auf der anderen Seite ist eine Sitzgruppe mit Couch und Sesseln eingerichtet, die offensichtlich den Kindern vorbehalten ist. In der Mitte des Raumes steht eine Theke für das Essen. Etwa zehn Tische sind locker um das Büffet gruppiert. Sechs bis acht Leute sitzen beim Mittagessen an jedem Tisch, Erwachsene mit Kindern, Kinder unter sich. Auf jedem Tisch steht ein Strauß Feldblumen. Es gibt Bratkartoffeln, in dünne Scheiben geschnitten, mediterran gewürzt, dazu grüne Bohnen und grünen Salat. An manchen Tischen wird geblödelt, anderswo werden Probleme aus den Arbeitsbereichen gewälzt. Ein bißchen entspannte Mensa-Atmosphäre. Gekocht wird von einer festen Küchengruppe, die überwiegend aus Männern besteht. Der Spüldienst wechselt täglich. Vier Leute arbeiten routiniert und zügig Hand in Hand. 

46


47


Rio Reiser und Mercedes Sosa dröhnen aus den Boxen an dem Mittag, als ich dabei bin. Nach einer guten halben Stunde sind Abwasch und Ausfegen der Halle bewältigt. Sonnabends gibt's einen festen Termin für alle: Großreinemachen der Gemeinschaftsräume.

Nach dem Spülen zeigt mir Birgit die Pinnwand, das kommunikative Nervenzentrum dieses kleinen Gemeinwesens. Es besteht aus einem ausgeklügelten System von papierbedeckten Flächen, Fächern, Kästen und Tüten. Alles dient der gegenseitigen Information, der Meinungsforschung und Willensbildung. Ziel ist der Konsens.

"Konsens bilden", schreibt die amerikanische Ökoaktivistin Stephanie Mills, "ist im Grunde eine höchst radikale spirituelle Übung. Selbst in Gruppen mit einem vorgegebenen gemeinsamen Interesse erfordert und erzeugt sie bei jedem einzelnen eine neue Art von Selbstverständnis. Dieser Weg der Entscheidungsfindung beruht auf der Überzeugung, daß jede beteiligte Person ein Stück der Wahrheit habe, jeder anderen absolut gleichgestellt sei und ihr mit dem gehörigen Respekt zuzuhören sei ... Das Ziel ist, daß eine Gruppe absolut Gleichberechtigter durch einen sorgfältigen, respektvollen, offenen und achtsamen Diskussionsprozeß zu der an diesem Zeitpunkt bestmöglichen Entscheidung kommt. Konsensbildung entwickelt einen machtvollen Geist der Gemeinschaft in einer Gruppe, die Werte und Ziele teilt. Sie braucht Zeit - wie jede andere gute Arbeit. Die Ergebnisse sind dann angemessen und haltbar. Seine Ideen von seinem Ego loszulösen, in der Gewißheit, daß in dem Prozeß der Konsensbildung nichts verlorengeht, macht so etwas wie Erleuchtung möglich."*

Man kann bei dem Wort Konsens aber auch assoziieren: Einheitsbrei, Herrschaft der trägen Masse, kleinster gemeinsamer Nenner.

Herzstück der Konsensfindung ist das Plenum, die wöchentliche Vollversammlung. "Wir haben jeden Dienstagabend Plenum", sagt Birgit. "Wir treffen uns zur Zeit um halb acht." Etwa 40 Personen nehmen durchschnittlich teil. Vorschläge für die Tagesordnung kann jeder in den Tagen vorher auf einen speziellen Zettel an die Pinnwand heften und damit öffentlich machen. 

* aus: Howard Rheingold (ed.): The Millenium ...

48


Die Plenumsleitung sammelt sie und gestaltet daraus den Ablauf. Dieses Amt wechselt wöchentlich. Jede und jeder kommt reihum dran. Die Gesprächsleitung ist ein Stück Macht, die sich nicht in wenigen Händen verfestigen soll. Das Plenum beginnt mit Mitteilungen und Informationen aus den einzelnen Bereichen, über die kurz gesprochen wird. Alles Wichtige wird zur Vorbereitung von Entscheidungen in Kleingruppen delegiert. "Es wird so gut wie nie eine Entscheidung gefällt an dem Tag, an dem der Vorschlag eingebracht wird", sagt Birgit. Ein Schutz gegen rhetorisch begabte Vielredner und dominante Persönlichkeiten. Dann kommt der zweite Teil des Abends: Entscheidungen. Nun werden die Entscheidungen der Kleingruppen vorgelesen. Diese haben sich über eine längere Zeit, in der Regel drei Wochen, mit einem Thema befaßt. Das Protokoll ihrer Diskussionen und ihre Entscheidung haben sie am Brett ausgehängt. Jeder hatte Bedenkzeit und die Möglichkeit, in die Diskussion der Kleingruppe einzugreifen. Wenn beim Verlesen der Entscheidung kein Einspruch mehr kommt, ist sie Konsens, also für die Gesamtkommune verbindlich. Nach der Pause löst sich das Plenum in Kleingruppen auf. Jeder hat ein Thema gewählt, das ihm besonders wichtig ist. Aber über das Info-System und über das Plenum kann er gleichzeitig die Meinungsbildungsprozesse zu anderen Themen in den parallel arbeitenden Kleingruppen verfolgen und beeinflussen. Auch dies ist ein Mittel, um die Entstehung von Machtstrukturen zu verhindern und die Einbeziehung aller in den Aufbau eines tragfähigen Konsenses zu ermöglichen.

"Es funktioniert schließlich", sagt Birgit nach einem Moment des Zögerns. "Wir haben im Alltag auf allen Ebenen ganz viele Berührungspunkte. Und was entschieden wird, hat Auswirkungen auf deinen Alltag. Du kannst dich nicht zurückziehen und sagen, laß die mal machen. Von daher ist der Prozeß der Entscheidungsfindung schon ein ganz anderer."

Birgit nennt ein Beispiel aus der jüngsten Zeit. Die Kommune hat einen Hof gekauft, um Viehzucht betreiben zu können. Dazu war eine lange Konsensfindung nötig. Da gab's Leute, die skeptisch waren. Hängt man sich damit nicht einen zu schweren Klotz ans Bein? Da gab's welche, die sagten, es sei im Rahmen des Gesamtkonzepts fundamental wichtig, diesen Hof zu haben.

49/50


 Am Schluß wurde der Hof gekauft. Die Gegner sagten: Gut, wenn euch das so wichtig ist und ihr das Vertrauen habt, daß wir das zusammen hinkriegen, dann ist es auch für mich o.k. Die Verfechter des Hofes räumten dafür die Möglichkeit ein, nach einer festen Frist Bilanz zu ziehen. "Also gucken wir mal, wie das in zwei Jahren aussieht. Das Ding kann man schließlich auch wieder verkaufen. Und letztendlich tragen wir diesen Hof jetzt alle."

Das Hauptproblem, das Birgit sieht: Immer weniger Kommunardinnen wüßten bei den Entscheidungen genau, worum es gehe.

"Ab einer bestimmten Größe ist keine direkte Ansprache mehr möglich. Kein Kennenlernen der Meinung des anderen, weil es zu wenig Rückmeldung gibt. Und da sind wir an manchen Stellen dabei, zu gucken, wie wir das verändern können."

Auch Ele, Mitbegründerin des Projekts, frage ich nach ihren Erfahrungen mit dem Konsensprinzip. "Es ist einfach verdammt schwer, bei dem Vielen, was täglich von 50 Leuten auf 50 Leute einströmt unter diesen ja wirklich komplizierten und komplexen Bedingungen, die wir uns freiwillig gegeben haben." Ihr Beispiel war die Entscheidung über die Neuaufnahme von Kommunarden: 

"Eine Gruppe, die was aufbaut, ist erst mal sehr solidarisch, auf der anderen Seite aber auch sehr moralisch. Eine Durchhaltegruppe mit einer Wahnsinns-Arbeitsmoral. Alles was mal ein bißchen anders ist, ist gleich eine Bedrohung. Die anderen, die dazukommen, bringen noch mal ganz wichtige Aspekte ein, sind aber vielleicht nicht so sparsam oder bringen einfach auch mehr Lebenslust rein. Und dann knallt's immer wieder. Die Leute, die noch da sind aus den ersten Jahren, halten alte Werte hoch und haben mehr Schwierigkeiten als andere, auch Sachen zuzulassen, die erst mal nicht ins eigene Konzept und ins eigene Denken passen. Da ist die Angst, ausgenutzt zu werden. Die Angst, daß das, was ich mit diesem Projekt will, inhaltlich von den Neuen gar nicht gestützt wird, daß sich das ganze Projekt dadurch verändert oder sogar ausein­anderbricht."

Was Ele in den zwei Jahren Aus-Zeit gelernt hat, war eine neue innere Ruhe, eine neue Balance zwischen Ich, Du und Wir. Die innere Grübelstruktur, das ständige Gefühl der Verantwortung für die Gruppe, die Utopie von der Gruppe zu stark zu verinnerlichen, kann auf die Dauer krank machen, bis hin zu psychosomatischen und allergischen Krankheiten. Sie hat gelernt, sich besser abzugrenzen: "Mit Abgrenzen meine ich nicht, mich gegenüber der Gruppe zu behaupten, sondern im Endeffekt mir selbst gegenüber. Also zu dem stehen, was ich gern machen möchte." Ele hat gelernt, toleranter zu sein, viel mehr zuzulassen, das Neue nicht gleich als Bedrohung zu sehen.

Der obligatorische Abschluß eines Seminars ist die Lob-und-Kritik-Runde nach dem gemeinsamen Mittagessen. Ricarda ist nicht mehr da. Sie ist schon nach dem Frühstück abgereist. Die Zugverbindung sei schlecht, und sie müsse morgen wieder früh am Arbeitsplatz sein. Von den anderen kommen überwiegend positive Rückmeldungen: Es gefällt mir. Das ist so vielschichtig. Die Arbeitsbereiche funktionieren. Es ist keine Sekte. "Ganz nett", sagt Dirk. Aber in seinem Register scheint das schon ein hohes Kompliment zu sein, denn er erkundigt sich - als erster - nach den nächsten Schritten auf dem Weg zur Aufnahme in die Kommune.

50-51

 #

 

 

www.detopia.de     ^^^^