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3   Die Subsistenzperspektive    

 

"Die Autonomie über das eigene Leben wiederherstellen" 

 

  wikipedia  Subsistenz    wikipedia  Suffizienz     wikipedia  Autarkie     wikipedia  Maria_Mies *1931 Pfalz bis 2023 (92)

 

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  Ein Gespräch mit der Ökofeministin Maria Mies       Grober-1998

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Maria Mies ist Soziologin und Ethnologin. In zahlreichen Büchern und Vorträgen hat sie seit den 70er Jahren die Theorie und Praxis des Ökofeminismus mit begründet. Den intensiven Einfluß dieser Ideen hatte ich auf einigen Stationen meiner Reise zu den alternativen Projekten gespürt.

Geboren und aufgewachsen ist Maria Mies in einem Eifeldörfchen nahe der belgischen Grenze. Während der 60er Jahre hat sie in Indien gelebt und als Dozentin gearbeitet. "Think globally, act locally" ist ihr seitdem in Fleisch und Blut übergegangen. 1968 kehrte sie nach Deutschland zurück und engagierte sich in der Frauenbewegung und in Dritte-Welt-Initiativen. Als Hochschullehrerin hat sie in Den Haag und in Köln gelehrt und geforscht. Heute arbeitet Maria Mies als freie Publizistin und ist mit dem in Bielefeld ansässigen Institut für Theorie und Praxis der Subsistenz verbunden.

Befreiung von Patriarchat und Konsum, Gerechtigkeit zwischen Nord und Süd, Rückbindung an Mutter Erde und an bäuerliche Lebensformen gehören im Denken dieser Gruppe eng zusammen. Es waren diese kühnen Ankoppelungen, die mich neugierig gemacht hatten.

Als ich Maria Mies im Sommer in Köln besuchte, war sie gerade von einem Landaufenthalt aus ihrem Heimatdorf in die Großstadt zurückgekehrt. Gläser mit selbst eingemachtem Himbeergelee standen auf dem Tisch gleich neben den Druckfahnen ihres neuen Buches, das sie zusammen mit ihrer Freundin und Kollegin Veronika Bennholdt geschrieben hatte. Unter dem Titel <Eine Kuh für Hillary> ist in dem Buch ihr Schlüsselkonzept weiter ausgearbeitet: die Subsistenz­perspektive.


Seit etwa 20 Jahren suchen Sie, eingebunden in ein kleines, aber weltweit verknüpftes Netzwerk von Ökofeministinnen, theoretisch und praktisch nach neuen, gangbaren Wegen zur Befreiung vom Patriarchat. Ihr Schlüsselbegriff "Subsistenz" klingt zunächst abstrakt. Ist dieser theoretische Ansatz von Ihren biographischen Erfahrungen, zum Beispiel Ihrer Kindheit auf dem Land, mit befruchtet worden?

Diese Geschichte von meiner Mutter und der Sau, die ich am Anfang unseres Buches erzähle, faßt das für meinen Begriff sehr schön zusammen: Es war 1945, kurz vor Ende des Krieges, im Winter. Fünf meiner Brüder waren irgendwo an der Front, und niemand wußte, wann und ob sie nach Hause kommen würden. Es muß im Februar gewesen sein. Man sah, daß alles zusammenbrach. Überall kamen nur noch verhungerte, verlauste, verdreckte Soldaten zurück. 

Meine Mutter kochte jeden Tag einen großen Topf Pellkartoffeln und einen Topf Milchsuppe, und wir hatten immer diese Soldaten mit am Tisch. Und dann hatten wir eine Sau. Das war die Arbeit der Frauen, Ferkel aufzuziehen. Die Sau mußte zum Eber gebracht werden. Wir hatten aber keinen Eber in unserem Dorf. Also fuhr meine Mutter ins Nachbardorf und brachte ihre Sau zu dem Eber. Die Nachbarin sagte: "Bist du verrückt, schlachte doch dein Schwein. Du siehst doch, hier geht alles zu Ende. Was soll der Quatsch da." Da erwiderte meine Mutter, ich hab' lang' darüber nachgedacht, wie sie das gesagt hat: "Das Leben muß weitergehen." Vielleicht sagte sie auch: Das Leben soll weitergehen. Sie hat jedenfalls nicht gesagt, das Leben geht schon weiter. 

Oder wie eine Christin sagen würde: Der Herr wird schon sorgen. Das war nicht ihre Haltung, sondern: Das Leben soll weitergehen. Und dazu mußte sie etwas tun, nämlich ihre Sau zum Eber bringen. Gut, das machte sie dann, und im Mai etwa hatte sie zwölf schöne Ferkel. Aber kein Mensch hat mehr eine Sau zum Eber gebracht oder gesät. Alle haben nur wie das Kaninchen vor der Schlange auf das Ende des Krieges geschaut, auf die große Katastrophe. Und dann hat meine Mutter gesagt, so, jetzt wird' ich diese Ferkel gegen Schuhe und Hosen und Jacken eintauschen. Das Geld hatte keinen Wert mehr, und als meine Brüder, einer nach dem anderen, zurückkamen, da tauschte sie diese Ferkel gegen die Sachen ein, die sie für ihre Söhne brauchte. Und dann ging das Leben weiter. 

Das ist die Subsistenzperspektive. Nicht einfach: Das Leben geht schon weiter, sondern etwas tun, damit es weitergeht. Das, was meine Mutter gemacht hat, das haben fast alle Frauen nach Kriegen immer wieder gemacht. Sie haben dafür gesorgt, daß das Leben weitergeht. Deshalb ist diese Geschichte für mich so eine Symbolgeschichte, in der alles das drin ist, was ich unter der Subsistenzperspektive verstehe.

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Das Leben auf dem Lande, besonders in der Zeit, von der Sie erzählen, stelle ich mir eng, hart und bedrückend vor. Ihre Erinnerung hat offensichtlich andere Seiten und Momente dieser Lebensweise gespeichert?

Ich bin, wie gesagt, auf dem Lande aufgewachsen, als siebtes von zwölf Kindern auf einem kleinen Bauernhof mit zwölf Hektar Land. Wir haben alle arbeiten müssen, aber wir haben dieses Leben niemals als armselig oder arm empfunden. Wenn ich das heute jemandem sage, daß ich so aufgewachsen bin, dann denken alle: um Gottes willen. Wie schrecklich! Aber wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, dann denke ich immer nur, das war ein tolles, freies Leben. Natürlich mußten wir arbeiten, aber diese Arbeit gehörte mit dazu. Die Lust und die Last waren Teil dieses Lebens und ließen sich nicht voneinander trennen. Und ich glaube, das ist etwas, das mich bis auf den heutigen Tag inspiriert, was ich in der Subsistenzperspektive wiederzufinden hoffe: nämlich daß die Last und die Lust untrennbar miteinander verbunden sind. In der modernen Industriegesellschaft hat man das getrennt, eigentlich schon vor einigen Jahrhunderten. Die Lust soll erst nach der Last kommen. Die Arbeit und der Genuß aber gehören zusammen. Genau diese Synthese empfinde ich auch als das Ziel eines gelungenen Lebens.

Diese Formen von bäuerlicher Subsistenzökonomie sind in den letzten 50 Jahren hierzulande fast völlig ausgerottet worden. Die gutbezahlte, auch zeitlich geregelte, scheinbar abgesicherte Existenz des Lohnarbeiters war für die junge Generation auf dem Land enorm attraktiv. Nun wird die Lohnarbeit knapp, und das hat verheerende Folgen.

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Das Schlimmste sind diese Ohnmachtsgefühle und dieser Defätismus der betroffenen Menschen angesichts der heutigen Krise. Mit der Lohnarbeit ist plötzlich alles aus. Die Menschen können nicht mehr darüber hinaus denken. Weil die Hegemonie der Lohnarbeit jegliches Nachdenken über eine andere Wirtschaft und Gesellschaft so zerstört hat, daß die Menschen glauben, das Leben ist dann am Ende, wenn sie ihre Arbeitskraft nicht mehr verkaufen können. Also das ist doch absurd, so etwas. Das ist das Schlimmste, was da passiert ist. Die Selbstentmachtung, die damit einhergeht, daß wir glauben, nicht mehr leben zu können, wenn wir unsere Arbeitskraft nicht mehr verkaufen können. Es wird auch nicht mehr gefragt, was mit dieser Lohnarbeit produziert wird. Das ist total egal. Deshalb auch die fortgesetzte Waffenherstellung auf der Welt und diese neuen Kriegsvorbereitungen. Das kommt alles daher, daß wir keine Perspektive haben, die über diese Lohnarbeit hinausgeht. Und deshalb halte ich die Frage einer Alternative zum herrschenden System, eine Alternative, die wir die Subsistenzperspektive nennen, für ein hochpolitisches Thema. Wir machen das überhaupt nicht aus Nostalgie, sondern weil wir der Meinung sind, daß der nächste Krieg vorprogrammiert ist, wenn wir nicht über diese Hegemonie der Lohnarbeit hinauskommen.

Wie soll das gehen?

Es geht beim Kapital darum, alles, was da ist, alles autonome Leben in Waren zu verwandeln, in ein Warenverhältnis zu bringen. Leben gegen Ware, Ware gegen Geld. Und dann müssen diejenigen, die so ihres Lebens, ihrer autonomen Lebensproduktion enteignet worden sind, sehen, daß sie wenigstens etwas von dem Geld abbekommen. Darum geht dann der ganze Kampf. Wir geben unsere Lebenskraft hin und haben nachher nur einen Rest, ein bißchen Geld. Wir haben immer gesagt: Das Geld nützt uns nichts. Der Prozeß Leben gegen Geld ist nicht umkehrbar. Aus Geld entsteht kein neues Leben. Leben entsteht nur aus Leben. Wir müssen sehen, daß wir unser Leben wieder in die Hände kriegen. Und das ist die Subsistenz. Also: Wir müssen wieder eine Kuh haben oder eine Sau oder ein bißchen Land oder ein bißchen Garten. 

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Wir müssen unseren Körper intakt erhalten und lebendige Beziehungen zu anderen schaffen, um gemeinsam unser Leben zu produzieren. Das muß wieder zusammenkommen. Was im Grunde dem Kapital entgegensteht, ist die Subsistenz. Darum führt das Kapital seit mehr als 200 Jahren einen Krieg gegen die Subsistenz.

Sie und Ihre Bielefelder Kolleginnen, Veronika Bennholdt-Thomsen und Claudia Werlhof, haben alle lange in der Dritten Welt gelebt, in Indien, Mexiko, Südamerika, und über Entwicklungsprobleme geforscht. Inwieweit hat das Ihren Blick geschärft?

Wir haben zunächst sehr viel genauer hingeschaut, wo dieser Krieg gegen die Subsistenz geführt wird. Der wurde zuerst natürlich viel schärfer und härter in der Dritten Welt geführt. Der Weltbankpräsident McNamara hat einmal sehr deutlich ausgedrückt, was das Ziel eigentlich ist: "to draw peasants away from subsistence and into commercial production", also aus den Bauern irgendwelche Marktproduzenten zu machen, die nicht für sich selber sorgen, sondern für den Markt. Und das geht ungebrochen weiter. Jetzt wird unser Körper, ein letzter Rest von Natur, mit dem wir noch gewissermaßen subsistent umgegangen sind, zum Beispiel durch Gen-Technik zerlegt in seine Teile, die dann auch verkauft und patentiert werden, also mit Haut und Haaren wird der letzte Rest von Autonomie über unser Leben verkauft. Autonomie über das eigene Lehen ist für mich nur ein anderer Ausdruck für Subsistenz.

Kommen wir auf diesen, ich sagte anfangs, sehr abstrakten Begriff Subsistenz zu sprechen. Warum haben Sie ihn trotzdem in das Zentrum Ihres Ansatzes gestellt?

Zunächst haben wir diesen Begriff gewählt, um die marxistische Arbeitswertlehre und den herrschenden Arbeitsbegriff aus feministischer Sicht zu kritisieren. Denn dort kommt Frauenarbeit als Hausarbeit genausowenig vor wie die Arbeit der Subsistenzbauern, die Subsistenzarbeit der Mehrheit der Weltbevölkerung und schon gar nicht die "Arbeit" oder die Produktion der Natur. 

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Etwas später haben wir diesen Begriff auch benutzt, um unsere Vorstellungen von einer anderen, frauen-, natur- und menschenfreundlichen Wirtschaft und Gesellschaft deutlich zu machen. Mit dem Begriff der Subsistenz drücken wir einmal die Absage an alle kolonisierten Verhältnisse aus, zum anderen aber auch die Feier des sich selbst regenerierenden, schöpferischen, autonomen Lebens, von dem wir ein bewußter Teil sind.

Um das auszudrücken, halten Sie an einem ziemlich abstrakten Begriff fest?

Wir haben auch sehr lange darüber nachgedacht. Gibt es ein deutsches Wort, das ausdrückt, was wir mit Subsistenz meinen? Es gibt keins. "Selbstversorgung" ist viel zu eng und auch viel zu ökonomistisch, während Subsistenz einen ganz neuen Horizont aufreißt und sehr viel umfassender ist. Das Wort drückt all das aus, was wir von einer anderen Gesellschafts­orientierung erwarten, nämlich Freiheit, Glück, Selbst­bestimmung innerhalb des "Reiches der Notwendigkeit". 

Also nicht irgendwo in einem Jenseits, sondern hier auf der Erde. Damit drücken wir auch aus, daß wir weiterhin Materialistinnen sind und nicht Idealistinnen. Es stimmt, der Begriff ist sperrig. Die Leute müssen fragen, sie müssen sich Gedanken machen. Alle reden jetzt von Nachhaltigkeit. Kein Mensch denkt mehr darüber nach, was das bedeutet. Wir wollen verhindern, daß "Subsistenz" so ein Plastikwort wird, das nichts mehr besagt. Wer sich darauf einläßt, muß sich selbst ein bißchen in Bewegung setzen. Zweitens: Subsistenz ist kein rein anthropozentrischer Begriff. Er drückt unsere Kontinuität mit der Natur aus, mit den Tieren, mit anderen Wesen. Das ist eine ganz bewußte Hinwendung zu den materiellen Grundlagen, an denen wir festhalten wollen. Obwohl das bei uns ja alles abgewertet ist. Subsistenz gilt doch als das absolut Letzte. Das ist ja "nur" überleben. Aber genau das Gegenteil wollen wir damit ausdrücken. Daß das Glück oder die Freiheit nicht jenseits der Subsistenz kommen, sondern innerhalb dieses alltäglichen Sich-um-sein-eigenes-Leben-Kümmerns, um das Essen, um das Wohnen, das Miteinandersein und so weiter. 

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Der Subsistenzgedanke geht davon aus, daß das Glück nicht jenseits des "Reiches der Notwendigkeit" zu finden ist. Und es wird auch nicht befördert durch immer weniger Arbeit, was in unserer modernen Welt heißt durch immer mehr Maschinen und Technologie. So kommt das Glück letzten Endes nie. Das erleben wir heute. Das Glück soll sozusagen von dieser warenproduzierenden Industrie geliefert werden, durch noch mehr Konsumgüter. Aber es kommt nicht auf diese Weise. Es kann nur kommen, indem wir uns wieder auf die Subsistenz, auf die schöpferische Kooperation mit der Natur und anderen Menschen, konzentrieren. Außerdem zerstören wir bei dieser Jagd zur Überwindung des "Reiches der Notwendigkeit" die ökologischen Grundlagen, von denen alles Leben, auch unseres, abhängt. Und schließlich halten wir an dem Begriff fest, weil er ein international verständlicher Begriff ist. Die Subsistenzperspektive ist keine provinzielle Sicht. Wir sehen nicht nur unser kleines Dorf oder unser kleines Deutschland hier, sondern wir schauen immer auf die gesamte Welt. Wir haben uns auch nie nur auf die Frauenbewegung hier beschränkt, sondern halten an einem feministischen Internationalismus fest.

Sie haben "Subsistenz" bisher aus mehreren Perspektiven beleuchtet. Wie würden Sie den Begriff definieren?

Was ich 1983 geschrieben habe, gilt auch heute noch:

"Subsistenzproduktion oder Lebensproduktion umfaßt alle Arbeit, die bei der Herstellung und Erhaltung des unmittelbaren Lebens verausgabt wird und auch nur diesen Zweck hat. Damit steht der Begriff der Subsistenzproduktion im Gegensatz zur Waren- und Mehrwertproduktion. Bei der Subsistenzproduktion ist das Ziel: Leben. Bei der Warenproduktion ist das Ziel: Geld, das immer mehr Geld produziert, oder auch die Akkumulation von Kapital. Leben fällt gewissermaßen nur als Nebeneffekt an. Es ist typisch für das kapitalistische Industriesystem, daß es alles, was es möglichst kostenlos ausbeuten will, zur Natur und zur Naturressource erklärt. Dazu gehört die Hausarbeit der Frauen genauso wie die Arbeit der Kleinbauern in den Ländern der Dritten Welt. Aber auch die Produktivität der gesamten Natur." 

Eine weitere Begriffsbestimmung stammt von Erika Märke. 

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Sie hat versucht, den Begriff von der Philosophie her zu entwickeln. Sie sagt: Was heißt Subsistenz? Nach einem philosophischen Wörterbuch heißt das: die Eigenschaft der Selbständigkeit, des Durch-sich-selbst-Existierens. Märke nennt dann folgende Charakteristika: Eigenständigkeit im Sinne einer Nichtabhängigkeit oder Autonomie, Selbstgenügsamkeit im Sinne eines Nichtexpansionismus und drittens ein Aus-sich-selbst-Bestand-Haben im Sinne der Bewahrung kultureller Identität. Für unseren positiven Subsistenzbegriff sind alle diese Begriffsbestimmungen auch maßgeblich. Vor allen Dingen wenn es darum geht, eine neue gesellschaftliche Perspektive zu entwickeln, dann brauchen wir diese Merkmale. Subsistenz bedeutet eine Absage an jede Art von Kolonialismus, an Expansionismus und eben auch an Abhängigkeit. Wenn wir wirklich ernst machen wollen mit Autonomie und Selbständigkeit, dann bleibt eigentlich nichts anderes übrig. Der Lohnarbeiter kann nie unabhängig sein.

Subsistenzperspektive heißt aber nicht: zurück aufs Land.

In unserem Buch gibt es ein Kapitel, das heißt: Subsistenz in der Stadt. Normalerweise wird Subsistenz mit dem Land verbunden. Klar, das Land ist zentral, denn unsere Nahrung kommt aus der Erde. Aber das heißt keineswegs, daß wir in der Stadt irgendwo in der Luft leben. Wir leben auch dort immer noch in der Natur. Es ist wesentlich, daß das erkannt wird in den Städten. Weil gerade da die Menschen leben, die, was ihre Nahrung betrifft, fast alle abhängig sind von der Warenproduktion und vom Warenmarkt. Die Umkehr, die müßte meiner Meinung nach auch in den Städten passieren. Deshalb müssen wir sehen, daß die Subsistenz in der Stadt nicht nur notwendig ist, sondern bereits stattfindet.

Gibt es Beispiele, Projekte, die schon im Sinne dieser Subsistenzperspektive arbeiten?

Vor kurzem war ein Japaner hier in Köln, Tetsuo Akemine. Er hat mit anderen zusammen, die sich die "wilden Bauern" nennen, mitten in Tokio Landwirtschaft angefangen. Zunächst auf Reisland, das eigentlich schon Bauland ist. Die

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"wilden Bauern" haben die Erlaubnis, darauf Gemüse und Getreide anzubauen und Vieh zu halten, solange dort nicht gebaut wird. Zehn Jahre existiert das Projekt schon, und die machen das nicht, weil sie gerne gärtnern. Es ist nicht so eine Schrebergärtnerei, sondern sie haben eine ganz bewußte politische Zielsetzung: die Wiederherstellung der Subsistenz. Sie sagen, Städte wie Tokio sind nicht zu erhalten. Unser ganzes Land Japan, das inzwischen fast 100 Prozent seiner Nahrung importieren muß, ist nicht sustainable, kann also auf die Dauer nicht existieren, ohne daß es sich abhängig macht. Wenn wir nur noch Autos und Computer produzieren, diese exportieren und dann die Nahrung von irgendwo importieren müssen, dann wird es irgendwann Krieg geben. Also müssen wir die Nahrung selbst herstellen. Inzwischen gibt es auch eine ganze Reihe von jungen Leuten mit Hochschulausbildung in Tokio, die wieder aufs Land gehen und Subsistenzlandwirtschaft betreiben. Es gibt offensichtlich eine Bewegung von Menschen, die in diesen Megastädten keine Perspektive mehr sehen. Denn eines ist klar: Das Leben ist auch für diejenigen, die eine gute Ausbildung haben, ziemlich unmöglich geworden: Streß, enge Wohnungen, permanenter Zeitdruck. Dagegen fängt eine langsame Rebellion an. Wie die weitergeht, weiß ich nicht. Jedenfalls zeigt das Beispiel aus Japan, daß die Subsistenzperspektive gerade von Menschen in der Stadt angestrebt wird.

Sind Frauen eher bereit, diesen Weg zu gehen?

Es gibt die Story dieser deindustrialisierten Städte in den USA. Chicago, Detroit vor allen Dingen, Philadelphia, New York und andere. Detroit war ja weitestgehend eine Stadt von General Motors, und General Motors ist irgendwann abgezogen, und die Stadt verkam in kürzester Zeit. Daraufhin haben Frauen angefangen, eine ganz neue urban-gardening-Bewegung zu schaffen. Die nennen sich sogar the gardening angels. Es waren meistens schwarze Frauen aus dem Süden, die zur Zeit des Booms nach Detroit gekommen waren, weil General Motors Arbeiter brauchte. Nun liegen die Werke still, und die Stadt ist total kaputt. Nur noch Drogen, Gewalt, Ruinen, verbrannte Häuser überall. Der Staat weiß nicht mehr, was er damit machen soll. 

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Industrie will sich dort nicht ansiedeln. Sie hatten sogar einen schwarzen Bürgermeister in Detroit, der hat auch nichts mehr bewegen können. Die Stadt war am Ende. Bis ein paar Frauen kamen und sagten, Moment mal, wo Unkraut wächst, da kann ja auch noch was anderes wachsen, und angefangen haben, Gärten anzulegen. Und zwar kommunale Gärten. Nicht private Schrebergärten, sondern Kommunen, die gemeinsam gärtnern. Das ist eine hochinteressante Bewegung, find' ich. In diesem versauten Gelände haben sie die Erde geheilt, haben die lebensnotwendige Nahrung selbst produziert und haben wieder neue Gemeinschaften, communities, geschaffen, die miteinander diese Gärten machen. Das ist das, was ich unter wirklicher Subsistenzperspektive verstehe: die Heilung der Erde, die Herstellung der Nahrung und die Heilung der Gesellschaft. Daß wieder nachbarschaftliche, kommunale, nichtegoistische Gesellschaftsstrukturen entstehen. Das Land ist nicht Privatbesitz. Es wird von allen genutzt. Das können wir auch eine neue Allmende nennen. Das heißt ja nicht, daß man keine Arbeit mehr für Lohn macht. Aber diese totale Abhängigkeit von Lohnarbeit und vom Staat, das ist es, wogegen die Leute sich richten. Und das finde ich eine wirklich revolutionäre Perspektive.

Subsistenz knüpft also an uralte Formen von Austausch, gegenseitiger Hilfe in Familien, Nachbarschaften und so weiter an. Sind das die Keimformen, auf die Sie hoffen?

Ja, und sie entstehen auch wieder, ähnlich wie in Tokio oder in den USA. Zum Beispiel diese Frauen, die den ersten Kölner Frauen-Kartoffelacker angelegt haben. Als die im Frühling 1997 die Sache mit der Landwirtschaft in Tokio hörten, sagten sie: "Das machen wir in Köln auch." Sobald sie anfingen zu wirken, kamen alle möglichen Leute und wollten ihnen was geben, wollten ihnen helfen. Das heißt, diese gegenseitige Hilfe, die entsteht dann wieder, wenn so etwas wie eine Subsistenzorientierung in Gang kommt. Und das Tolle ist: Die Leute genießen das, die wollen ja großzügig sein. Auch das ist eine Lust, die wir nicht mehr kennen, weil wir uns ja alles kaufen können. Aber daß gegenseitige Hilfe nicht nur eine Notmaßnahme ist, sondern ein Genuß, können die Leute erst

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wieder durch eine Subsistenzorientierung entdecken. Und das geschieht dann auch. Man müßte dies nur wirklich als neue Perspektive sehen, als eine Chance und nicht nur als eine vorübergehende Notmaßnahme, wie zum Beispiel jetzt bei der Hochwasserkatastrophe an der Oder, nach der sich dann jeder wieder in sein eigenes Loch zurückzieht und denkt, naja, jetzt verlassen wir uns wieder auf den Markt anstatt aufeinander.

Das fängt damit an, daß man Sachen aus dem Garten einmacht und austauscht und verschenkt? 

Ja eben, genau das. Jetzt war ich in der Eifel und habe Himbeeren gesammelt, und zwar wilde. Es gibt nichts Besseres als Gelee aus wilden Himbeeren. Das werde ich auch verschenken. Dieses Verschenken hat eine ganz besondere Qualität. Das Produkt enthält meine Arbeit, meine Beziehungen zu einem bestimmten Ort, die Kultur eines Ortes und so weiter. Die Dinge, die wir dann genießen, enthalten sehr viel mehr an Beziehungen und geben uns deshalb auch sehr viel mehr Genuß als das, was wir uns nur kaufen und wozu wir überhaupt keine Beziehung mehr haben. Alle Menschen genießen diese selbsthergestellten Lebensmittel, weil sie Beziehungen symbolisieren und aktivieren, auf eine ganz einfache Art und Weise. Wahrscheinlich hängt die Unersättlichkeit unserer Gesellschaft damit zusammen, daß die Waren nur getötete, ausgebeutete und unsichtbar gemachte Beziehungen enthalten. Wir werden nie satt, nicht weil wir nicht genug Lebensmittel haben oder zu wenig besitzen, sondern weil da irgendeine Sehnsucht nach konkreten Orten und Menschen ungestillt bleibt, weil da permanenter Mangel ist. Der Kapitalismus ist der Vater des Mangels, nicht die Natur. Das Problem ist doch eher der Überfluß. Subsistenzproduzentinnen haben immer zuviel, und sie müssen es weggeben. Das muß man den Leuten klarmachen. Sobald Menschen anfangen, in irgendeiner Form, egal ob in der Stadt oder auf dem Land, auf diese Art und Weise an das Leben heranzugehen, die wir Subsistenzperspektive nennen, dann werden sie erfahren: Es ist genug da. Es ist sogar überall zuviel da. Die Menschen teilen gerne.

Subsistenz ist also erst mal ein neues Denken?

Ja. Es ist vor allen Dingen ein anderer Blick auf die Wirklichkeit. Wir reden daher nicht von Subsistenz­ökonomie, sondern von Subsistenzperspektive. Obwohl dazu natürlich auch eine Ökonomie gehört, aber es geht eben nicht nur darum. Und wir reden nicht von einem Modell. Man fragt uns immer wieder: Was ist euer Modell? Wir haben keins. Es ist eine andere Sicht auf die Wirklichkeit, und zwar eine Sicht von unten. Deshalb beginnt unser Buch auch mit Bangladesh und den Dorffrauen dort. 

Wenn man von unten auf diese Welt schaut, fragt man sofort: Was und wieviel brauchen wir alle, und zwar nicht, um gerade zu überleben, sondern um glücklich zu leben? Was ist ein gutes Leben? Wie ist auf einem begrenzten Planeten ein gutes Leben für alle möglich? Und wenn man sich das klar macht, daß ein gutes Leben für alle möglich sein muß, dann können unser verschwenderischer Lebensstil und unsere natur- und menschenfeindliche Wirtschaft nicht mehr das Modell für ein "gutes Leben" sein. 

Dann müssen ganz andere Verhältnisse geschaffen werden, im Großen wie im Kleinen. Das betrifft die Wirtschaft, die Gesellschaft, Mann-Frau-Beziehungen, Mensch-Natur-Beziehungen. Und ich glaube, daß viele Menschen sich nach anderen Verhältnissen sehnen, in denen sie ihre Lebendigkeit, ihre Kreativität und die Fülle des Lebens wieder erfahren können. Ursprünglich wollten wir als Titel für unser Buch wählen: "Es lebe die Fülle des Lebens! Die Subsistenzperspektive."

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