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6  "Ein Baum, der fällt, macht mehr Krach als ein Wald, der wächst."

Ein Gespräch mit Hans-Peter Dürr über Evolution und Nachhaltigkeit

 Dürr auf detopia     Ökozentrum Werratal

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In Berlin habe ich Hans-Peter Dürr als Redner erlebt. Es war auf der <Sustainable-City>-Tagung im Februar '97. Er sprach über seine Reflexionen und Erfahrungen mit sustainability, einen Begriff, den er mit "ökologischer Nachhaltigkeit" übersetzt. 

Dürr ist ein mitreißender, warmherziger Redner, der seine Überzeugungskraft und seine plastischen Sprachbilder aus einem ungemein reichen Vorrat an Wissen und Lebenserfahrung schöpft.

Hans-Peter Dürr, Jahrgang 1929, hat eine glänzende wissenschaftliche Karriere als Kernphysiker gemacht. Mitte der 50er Jahre war er in Berkeley in Kalifornien Doktorand von Edward Teller, der gerade die Wasserstoffbombe konstruiert hatte. Die Kernenergie, so die euphorische Einschätzung, würde, friedlich genutzt, Überfluß für alle ermöglichen. Zurück in Deutschland, wurde Dürr enger Mitarbeiter von Werner Heisenberg und forschte am renommierten Münchner Max-Planck-Institut für Physik und Astrophysik über Probleme der Quantenphysik. 

Dann, 1983, als die Debatte um die Nachrüstung der NATO hohe Wellen schlug, trat Hans-Peter Dürr als Dissident hervor. Seine scharfe Kritik am SDI-Programm des US-Präsidenten Reagan war für ihn eine Konsequenz aus seiner ethischen Verantwortung als Wissenschaftler. Für die Friedensbewegung bedeutete sie eine wirksame Unterstützung. Seinen Weg als Grenzgänger hat Hans-Peter Dürr konsequent fortgesetzt: 1986 als Gegner der Wiederaufbereitungsanlage für atomare Brennstoffe in Wackersdorf, von 1985 bis 1991 als Greenpeace-Vorstandsmitglied oder, aktuell, als Ideengeber für ein lokales Agenda-21-Projekt in München. "Die drängenden Probleme sind nicht unlösbar", sagte der Träger des alternativen Nobelpreises von 1987 einmal, "die Zukunft ist prinzipiell offen."

 

In einer Pause der Tagung in Berlin fragte ich Hans-Peter Dürr nach den Thesen, die er in seinem Vortrag entwickelt hatte.

 

Das Umdenken und Umsteuern auf dem Energiesektor ist für Sie ein Schlüssel zu einer zukunftsfähigen Entwicklung. Um unseren heutigen Umgang mit Energie und Energiequellen plastisch zu veranschaulichen, benutzen Sie das Bild der Sklavenhalter­gesellschaft. Sind wir alle Sklavenhalter?

Ja. Menschliche Aktivität basiert ja heute nicht mehr auf körperlicher Arbeit. Wir haben uns, indem wir Energieträger verwenden - Kohle, Erdöl, Erdgas und so weiter -, Energie verfügbar gemacht für das, was früher durch körperliche Arbeit geleistet wurde. Und wenn ich einfach den gesamten Energie-Aufwand heute nehme, der weltweit betrieben wird, um uns in unseren Aktivitäten zu unterstützen, kommt man auf ein Äquivalent von 130 Milliarden Sklaven, die gewissermaßen die Arbeit für uns tun. Also knapp sechs Milliarden Menschen beschäftigen 130 Milliarden Sklaven, das heißt, sie haben durch diese Energie ihre Arbeitskraft um das 22fache vergrößert. Aber es ist noch schlimmer, weil selbstverständlich diese Sklavenhaltung nicht gleichmäßig verteilt ist. Jeder Amerikaner beschäftigt im Schnitt 110 Sklaven, ein Europäer 60, ein Chinese acht, und ein Bangladeshi nur einen einzigen Sklaven. Eine ungeheuer ungleichmäßige Verteilung.

Welche Konsequenzen hat diese massenhafte Sklavenarbeit für das ökologische Gleichgewicht auf diesem Planeten?

Man sollte sehen, daß es die große Zahl von virtuellen Arbeitskräften, von Sklaven, ist, die dieses Biosystem in Schwierigkeiten bringt, und nicht nur die etwa sechs Milliarden Menschen. Das heißt, wir müssen darauf achten, daß die Zahl der Sklaven, die hier agieren in unserem Biosystem, nicht zu groß wird im Vergleich zu den natürlichen Prozessen der Natur. Und wenn man sich überlegt, wieviel Sonnenenergie durch das gesamte Biosystem gepumpt wird, um als Motor für diese ganze Entwicklung des Lebens zu dienen, dann kann man ableiten: Wenn ich hier zu einem gewissen Prozentsatz daran wackele, dann bricht dieses System zusammen.

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Und dann kommt man auf eine Begrenzung, nämlich daß das Ökosystem der Erde, das Biosystem der Erde eigentlich nicht mehr als 90 Milliarden von diesen Energiesklaven erträgt. Wir brauchen also eine Geburtenbeschränkung von Energiesklaven. Und das bedeutet dann im Klartext, daß eigentlich eine Geburtenbegrenzung von Autos viel wichtiger ist als eine biologische Begrenzung von Menschen im Süden. Und dann sehen wir, wie die Arbeitsteilung zukünftig aussehen wird. Wir müssen dafür sorgen, daß wir die Materialflüsse und den Energieverbrauch im Norden runterbekommen. Und für die im Süden steht an, daß sie ihre biologischen Wachstumsraten senken. Also jeder muß sozusagen seinen Teufelskreis selber auflösen.

Mit weniger Sklaven auskommen bedeutet — zumindest für die großen Sklavenhalter — erhebliche Einbußen an Bequemlichkeiten und Annehmlichkeiten. Können Sie den Verzicht quantifizieren?

Wir nehmen also an, daß das Biosystem 90 Milliarden dieser rücksichtslosen Sklaven verkraftet — also so stark, so gut ist die Robustheit dieses Systems. Wenn wir aber darüber hinausgehen, dann merken wir, es kommt zu Schäden. Die Artenvielfalt nimmt ab, und das geht auf Dauer dann nicht mehr. Bei sechs Milliarden Menschen heißt das: Im Schnitt darf jeder 15 Energiesklaven halten. Das bedeutet also in Bezug auf Mitteleuropa: Wir müssen auf ein Viertel herunter. Und das ist für mich die interessante Frage: Wie schaffe ich das? Viele Leute sagen, da möchte ich nicht mehr leben. Herunter auf ein Viertel von dem, was ich jetzt habe? Aber das ist gar nicht so schlimm. Weil nämlich die Hälfte der Sklaven eigentlich gar keine Arbeiten für uns verrichten, sondern einfach nur in der Natur herumtoben. Das hängt mit der Effizienz zusammen. Ich kann auch mit wesentlich weniger Energie-Einsatz die Dienstleistung haben, die ich im Augenblick habe. Das heißt, im Grunde kann ich die Hälfte der Sklaven einfach entlassen, weil sie für mich gar nichts leisten. Die sind nur unintelligent eingesetzt. Dann hab' ich noch 30 Sklaven. Jetzt muß ich noch auf die Hälfte runter. Und dann sagen viele, ja, wie soll das gehen? Und dann sage ich, das würde dem Lebensstil eines Schweizers von 1969 entsprechen. Also mit heutiger Technologie ist es das Leben eines Schweizers von 1969. Und das ist doch erstaunlich.

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Schweiz 1969 — Das klingt nicht gerade nach radikalen Einschränkungen und primitivem Leben?

In der Tat. Viele fragen sich: Inwieweit hat der eigentlich schlechter gelebt, als wir leben? Und ich finde es interessant, dieser Frage nachzugehen, und zwar nicht in dem Sinne, daß mir so etwas wie eine Ökodiktatur vorschwebt, wo jeder sozusagen das Recht auf nur 15 Sklaven hat. Aber ich möchte, daß wir das als Meßgröße in unseren Köpfen behalten, daß wir wissen, wenn wir dieses Maß überschreiten — 1,5 Kilowatt würde dem entsprechen, 13000 Kilowattstunden pro Jahr —, dann nehmen wir irgend jemand anderem auf dieser Erde den Raum weg. Das müssen wir im Kopf haben.

Diese beschränkte Energiebasis wäre also immer noch für ein erfülltes Leben tragfähig?

Wir sollten doch versuchen, Lebensstile aufzubauen, die im vollen Sinne lebensfreudig sind. Ja, das wird gehen. Wir sollten unsere ganze Phantasie darauf verwenden, in diesem Rahmen ein Leben zu gestalten, das auch lebenswert ist, und das geht meines Erachtens, und ich möchte das als eine Zukunftsperspektive sehen: Laßt uns doch darüber nachdenken, wie solch ein Leben aussieht. Und wir werden feststellen, es wird besser gehen, als wir denken, weil weniger mehr sein kann. Wir sind ja so enorm beschäftigt, unseren Lebensstandard zu halten, daß wir zum Leben gar nicht mehr kommen. Wir haben eine Arbeit, die uns nicht mehr gefällt. Wir hetzen uns ab. Wir kommen nicht mehr zum Durchatmen, zum Durchdenken. Wir verlieren die menschlichen Kontakte, weil wir so einseitig nur ausgenutzt werden. Wir haben wirklich Lebensstile, die mit menschlichen Bedürfnissen nicht viel zu tun haben. Und wenn wir aus diesem Zwang herauskommen, werden wir auf einmal entdecken, daß wir viel besser dran sind, wenn wir von allem ein bißchen weniger machen.

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Liegt der Schlüssel also letztlich in einem Lebensstil des Wenigermachens?

Wenn wir über Energien in der Zukunft sprechen, dann haben wir bisher immer von der Verknappung der Ressourcen geredet. Jetzt haben wir festgestellt: Es ist nicht nur die Verknappung der Ressource, der Kohle oder so. Nein. Was mache ich mit dem Endprodukt, ist die Frage. Kohlendioxid - wo ist ein Endlager? Zuerst bei der Kernenergie als Problem aufgetaucht, betrifft das jetzt auch die Kohle. Heißt das, hier ist die eigentliche Begrenzung? Ich sage, auch dort ist nicht die eigentliche Begrenzung. Sondern daß ich überhaupt soviel Energie umsetze, menschliche Aktivität entfalte, die das ganze Biosystem stört, das ist der begrenzende Faktor. Ich kann auch die Fusion in Gang halten und noch mehr Energie bereitstellen. Ich werde sie gar nicht anwenden können, weil sie mir Aktivitäten erlaubt, die das ganze Biosystem noch mehr in Schwierigkeiten bringen. Ich muß den Menschen lehren: Geh mit deinem Biosystem sorgsamer um. Du stehst auf der Spitze eines Kartenhauses, und wenn du nicht achtgibst, dann kracht das zusammen. Weil das Biosystem ja nicht ein beliebig robustes System ist. Durch raffinierte Ausgleichsprozesse wird das im Gleichgewicht gehalten. Das macht seine Lebendigkeit aus. Und du darfst nicht gedankenlos darin herumtoben. Das ist die Begrenzung. Aber das ist keine pessimistische Nachricht. Es ist auch für uns eine Chance, wieder ein menschenwürdiges Leben zu leben.

Sie sagten, der homo sapiens interessiere Sie, nicht der homo oeconomicus.

Richtig. Ich möchte den homo oeconomicus gar nicht retten, weil der es nicht wert ist, gerettet zu werden. Schon gar nicht, wenn ich die Natur dabei opfern muß. Da gibt es viel Schöneres als den oeconomicus.

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Welchen Menschen möchten Sie?

Ich möchte den homo sapiens. Das heißt den weisen, den nachdenklichen Menschen. Für mich ist er auch der liebende Mensch. Das ist der Mensch, der auch hier in der Gesellschaft seine eigenen Fähigkeiten einbringen kann. Sich selbst und der Gesellschaft zum Vorteil. Der also das Spiel ausgezeichnet spielen kann, was die höherentwickelte Natur spielt, nämlich ein Plussummenspiel, ein Gewinn-Gewinnspiel, bei dem der Vorteil des einen auch der Vorteil des anderen ist. Wir haben ja eine total falsche Interpretation von der Evolution der Arten. Wir sagen manchmal, Darwinismus heißt das Überleben des Starken. Stimmt ja gar nicht. Es ist das Überleben des besser Angepaßten.

Was heißt besser angepaßt?

Besser angepaßt bedeutet, daß derjenige, der das Spiel gut spielen kann und den anderen nicht unterdrückt, sondern ihn sozusagen hebt und mit ihm kooperiert, daß der enorme Vorteile bei dieser Sache hat. Die Evolution der höheren Organismen ist eigentlich etwas Ähnliches wie das Schreiben eines Gedichtes. Wenn ein Buchstabe sich als ein Gegner des anderen Buchstaben empfindet, A mit B im Streit ist, wer war der erste, wer ist der größere, und ein Ausscheidungskampf stattfindet, bis nur einer überlebt, wird nie ein Gedicht entstehen. So ist es nicht abgelaufen. A und B haben sich zusammengetan. Die haben noch ein L hinzugenommen und haben mit einem Blabla angefangen, haben sozusagen ein neues Niveau des Ausdrucks gefunden. Und die Worte haben sich zu Sätzen formiert und zu Strophen und zu Gedichten. So ist auch die Evolution vor sich gegangen. Es kann doch nicht sein, daß der Mensch in diesen lumpigen dreieinhalb Milliarden Jahren zu dieser Komplexität geformt werden konnte, wenn es wirklich ein Ausscheidungs-, ein K.o.-Wettkampf ums Überleben des Starken gewesen ist.

Was war es dann?

Es ist ein Plussummenspiel gewesen, bei dem letzen Endes überlebt hat, was geeignet war zu kooperieren. Und wir müssen dieses Spiel weiterspielen, wenn wir überlebensfähig sein wollen. In diese Richtung geht die Evolution: Immer wieder differenzieren, das Verschiedenartige anerkennen, kooperieren, einbinden in eine höhere Einheit, die dann die höhere Flexibilität hat, weil sie nämlich die Verschiedenartigkeit in sich enthält. Das ist der ganze Witz der Entwicklung.

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Nachhaltigkeit, sustainability, ist seit dem Erdgipfel von Rio international zu einem Schlüsselbegriff avanciert. Sie gehörten zu den Pionieren, die das Konzept hierzulande etabliert haben.

Also ich bin mit verantwortlich, daß wir sustainability mit Nachhaltigkeit übersetzt haben. Auf einer Tagung in Tutzing haben wir das zum erstenmal auf diese Weise übersetzt. Ich bin selber mit dem Begriff nicht sehr glücklich. Vom Wort her finde ich es unsympathisch, denn "halten" und "nach", das hat so etwas Dauerhaftes und Statisches. Was man damit zum Ausdruck bringen will, ist ja nicht etwas Statisches, sondern es soll die Dynamik, die in dem Evolutionsprozeß steckt, die Fähigkeit, immer wieder Neues zu produzieren, sich weiterzuentwickeln, ausdrücken. Diese Vitalität ist in dem Wort nicht mit eingefangen.

In Ihren Reden und Texten sprechen Sie häufig von "ökologischer Nachhaltigkeit". Wie bringen Sie diese Dynamik, also das große Spiel der Evolution, in das Nachhaltigkeitsdenken hinein?

Man möchte Nachhaltigkeit haben in dem Sinne, daß man in dieser Evolution des Lebendigen nicht ausgeschieden werden möchte, nicht absterben möchte als ein Lebensast, der nicht weitergeht. Man möchte, daß die Sache weitergeht. Dann ist die Frage, wie stellt man es an, daß man in diesem Lebensbaum sozusagen am Haupttrieb noch beteiligt ist. Wie stellt die Natur das an? Und dann sieht man, das ist gar nicht so leicht. Die Natur weiß ja selber nicht, welcher Trieb letztendlich der Haupttrieb ist. Aber durch das Spiel von Versuch und Irrtum - das heißt immer wieder neue Kombinationen - werden neue Formen gefunden, bei denen sich letzten Endes entscheidet, was insgesamt das Überlebensfähigere ist. Und dann sieht man: Ich kann nicht vorgeben, du mußt nur das oder jenes oder ein Drittes tun, um nachhaltig zu sein.

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Es läuft eher darauf hinaus, ein Spielfeld zur Verfügung zu haben, wo du experimentieren kannst, ohne abzustürzen, wo du neu kombinieren kannst, wo du umsichtig bist, wo du darauf achtest, was als Ergebnis herauskommt, um daraus zu lernen, um bessere Kombinationen zu finden. Das heißt, du mußt mitfühlend sein, du mußt liebend sein, du darfst den anderen nicht in Bedrängnis bringen, weil er unter Umständen im nächsten Augenblick der Partner ist, den du brauchst.

Nachhaltigkeit ist also eher eine Denkweise?

Nachhaltigkeit ist weniger ein Rezeptbuch, sondern bedeutet, diese Flexibilität zu leben und sie auch voranzutreiben. Auf uns angewendet: Techniken zu verwenden, die fehlerfreundlich sind. In dem Sinne, daß nicht alles abstürzt, wenn ich einen Fehler mache, sondern daß dieser Fehler einen Hinweis gibt, wie ich es besser machen kann. Das heißt zum Beispiel, Monokulturen vermeiden, die ja keinen Ausweg mehr lassen, wenn es schiefgeht. Vielfalt ist nicht nur eine Notwendigkeit, um etwas möglichst bunt zu gestalten. Die Vielfalt ist die Voraussetzung, daß ich mit mehreren Teilen umgehen kann, wie ich eben auch mehrere Buchstaben brauche, um ein Gedicht zu schreiben. Nicht nur, weil viele Buchstaben einfach schöner sind. Ich kann mehr Kombinationen finden, ich kann noch bessere Lösungen finden.

Welche Konsequenzen hätte ein Festhalten am nichtnachhaltigen Denken?

Aus der Erfahrung wissen wir: Monokulturen, Einfalt, machtvolle Einheit - das geht immer nur so lange, wie die äußeren Bedingungen übereinstimmen, unter denen die Einfalt sich entwickelt hat. Wenn diese sich verändern, geht plötzlich nichts mehr. Wie bei den Dinosauriern. Das heißt: Langfristig überlebensfähig ist das Flexible, die differenzierte Vielfalt, weil sie die Beweglichkeit hat, sich jeder Situation anzupassen. Der Mensch ist auf dieser Erde, nicht weil er der Stärkste ist, sondern weil er der Flexibelste ist, weil er ein Gehirn hat, das ihm, bevor er handelt, erlaubt, die Handlung erst mal virtuell durchzuspielen, um zu sehen, ob er dabei Schaden nimmt.

Wenn ich dann am Ende sehe, ich komme dabei um, dann lasse ich von diesen Gedanken ab und gehe als Individuum nicht kaputt. Das ist eine wahnsinnig flexible Art und Weise, wie man spielen kann, ohne sich einem wirklichen Risiko auszusetzen. Deshalb haben wir überlebt.

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Sie wirken optimistisch. Worauf stützt sich diese Haltung?

Ich erwecke den Eindruck, als sei ich optimistisch. Ich bin eigentlich intellektuell sehr pessimistisch, und deshalb bin ich so engagiert. Weil ich weiß, wenn die Chancen für uns nicht sehr groß sind, dann bedeutet das, daß man sich echt engagieren muß. Aber ich muß auch gleichzeitig sagen, daß ich vielleicht doch ein bißchen optimistischer bin als andere. Ich glaube nicht, daß wir, um diese Aufgabe wirklich auch zu lösen, einen total anderen Menschen brauchen. Der Mensch - und das sieht man bei jedem kleinen Kind - hat eine Potentialität, die alles beinhaltet. Ein Kind ist schon auch egoistisch und aggressiv, aber es ist auch liebend, und es ist kooperativ. Im Menschen ist alles angelegt. Die Gesellschaft fördert dann die Dinge, die für sie am wichtigsten sind. Wir werden ja zur Aggression erzogen. Wir sind nicht aggressiv, weil wir uns in der Aggression wohlfühlen.

Hat der grassierende rabenschwarze Pessimismus Ihrer Meinung nach auch etwas mit einer verzerrten Wahrnehmung von Wirklichkeit zu tun?

Wenn wir die Gesellschaft beurteilen, kommen wir zu einem pessimistischen Urteil, weil wir das, was uns negativ auffällt, mehr betonen und das auch öffentlich machen. Es gibt diese tibetanische Weisheit, die sagt: Ein Baum, der fällt, macht mehr Krach als ein Wald, der wächst. Und das ist richtig. Ich gehe noch weiter und sage: Die ganze Geschichte berichtet nur von den fallenden Bäumen, von den Großtaten, von den großen Zerstörungen, all diesen Dingen. Und dann fragt man sich doch mit Recht: Wie kann es sein, daß eine Menschheit, die so blöd war, es bis zum jetzigen Zeitpunkt geschafft hat zu überleben? Das heißt, sie war ja sustainable bis dahin. Wo ist denn der Grund dafür, daß wir noch da sind?

Es liegt eben an dem wachsenden Wald. Die fallenden Bäume haben unsere Geschichte kaum tangiert, weil im Hintergrund dieser wachsende Wald war. Und dieser wachsende Wald, das sind eben die Kräfte des Überlebens: Daß im Hintergrund die meisten Menschen einfach total vernünftig ihr Leben geführt haben, Vorsorge betrieben haben, sich gekümmert haben, daß Essen da war, daß man Pflanzen gehabt, Ackerbau betrieben hat, Kinder großgezogen hat und so fort. Und dann sieht man, das ist eigentlich das Werk unserer Frauen und weniger der Männer. Dann sieht man, daß unsere Überlebenschance, unsere Nachhaltigkeit ganz wesentlich von den Frauen abgehangen hat. Man kann sagen: Trotz der Männer haben wir überlebt, weil wir unsere Frauen hatten. Aber in einem Zeitalter der Motorsägen bin ich mir auch etwas unsicher, ob der wachsende Wald bei uns eine Chance hat. Also übertragen gesehen, ob wir nicht sogar unsere Frauen verführen, es den Männern nachzumachen. Und dann hat die Menschheit einen schweren Stand.

Ist der Weg zu einer nachhaltigen Lebensform trotzdem noch offen?

Ich habe den Eindruck, daß die Frauen uns zeigen müssen, wie wir auch als Männer wieder ein nachhaltiges Leben führen, also diese konstruktiven Wege wieder betonen können. Das Konstruktive braucht immer Zeit. Abstürzen geht schnell. Zerstören geht schnell. Unordnung entsteht von allein. Aber der umgekehrte Trend, daß Unordnung sich zu einer neuen Ordnung formiert, bedarf der intellektuellen und intelligenten Handhabe. Und das braucht immer Zeit.

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7   Die neuen Feld-Herren: Ökozentrum Werratal

 

 

Auf der vergilbten Fotografie, die in einer Vitrine des Museums liegt, wirkt Ernst Haeckel nicht wie ein ordentlicher Professor der Universität Jena, sondern eher wie ein Greenpeace-Aktivist vor dem Auslaufen der "rainbow warrior" oder wie Reinhold Messner vor einem bedeutenden Aufstieg. Die Aufnahme aus dem Jahre 1866 zeigt den 33jährigen Naturforscher in helle Outdoor-Klamotten gekleidet. Um den Hals hat er ein Tuch geschlungen, und an den Beinen trägt er eine Art Cowboy-Stiefel. Das Haar ist lang und gewellt, der Bart blond und kurz gestutzt. 

Sein Blick geht an der Linse der Kamera vorbei, vermutlich aus dem Fenster des Raumes hinaus aufs Meer. Das Porträt ist auf Lanzarote entstanden, dem vulkanischen Eiland vor der marokkanischen Küste, wo Haeckel und sein ebenso verwegen dreinblickender Assistent ein Forschungssemester lang Schwämme, Radiolarien, Urschleim und diverse Kleinstlebewesen unter ihre Zeiss-Mikroskope nahmen. Der junge Zoologe aus Jena, 1834 in Potsdam geboren, in Merseburg aufgewachsen, war bereits eine international anerkannte Kapazität. Auf seiner Reise von Jena zu den Kanarischen Inseln hatte er in London haltgemacht und war von seinem Idol Charles Darwin sehr freundlich empfangen worden.

Ein paar Tage vor seinem Aufbruch hatte er sein neuestes Buch, ein zweibändiges, über tausendseitiges Werk, druckfrisch in der Hand gehalten. Es war im Oktober 1866 unter dem Titel "Generelle Morphologie der Organismen" in einem Berliner Verlag erschienen. In diesem Buch, um genau zu sein im 11. Kapitel auf Seite 286, taucht zum erstenmal das Wort Oecologie im Druck auf. Haeckel hat dieses Kunstwort, wie in der Naturwissenschaft üblich, aus griechischen Wörtern zusammengehaut. Die Lehre vom oikos, vom Haushalt der Natur, hat er in seinem Buch so definiert: "Unter Oecologie verstehen wir die gesammte Wissenschaft von den Beziehungen des Organismus zur umgebenden Außenwelt, wohin wir im weiteren Sinne alle "Existenz-Bedingungen rechnen können."

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Handschriftliches Manuskript von Ernst Haeckel aus dem Jahr 1866, 
in dem erstmals das Wort Oecologie verwendet wird.

 

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Das Foto des jungen Professor Haeckel, das Manuskript, in dem er den neuen Begriff niederschrieb, und die Erstausgabe seines opus magnum von 1866 sind heute in Jena im Museum zu besichtigen: im Ernst-Haeckel-Haus, einer hübschen Villa im italienischen Landhausstil, dem Wohnhaus des 1919 gestorbenen Forschers, von dem aus er einen Blick hatte auf die Muschelkalkberge an der Saale hellem Strande, die berühmt waren für die Artenvielfalt ihrer Flora und Fauna.

100 Jahre lang blieb die Wortschöpfung Ernst Haeckels im Elfenbeinturm der internationalen wissenschaftlichen Fachsprache eingeschlossen. Dieser Dornröschenschlaf endete um 1968. In der Folge eroberte der Begriff beinahe schlagartig die Allgemeinsprache. Zuerst in der englischen Übersetzung ecology in den USA, mit ein paar Jahren Verspätung auch im Westen Deutschlands wurde "Öko" zu einem Schlüsselbegriff - oder, je nach Sichtweise, zu einer gängigen Münze mit höchst schwankendem Kurswert. Im Osten ist dieser Prozeß erst nach der Vereinigung richtig in Schwung gekommen - auch in Thüringen, wo der Begriff einmal geprägt worden war.

"Ökozentrum Werratal/Thüringen GmbH" steht auf dem Schild an der Bundesstraße 89 am Ortseingang von Vachdorf, einem Ort kurz hinter Meiningen an der Strecke nach Hildburghausen. Drei gewellte schwarze Linien, die seine Lage am Fluß symbolisieren, und eine über dem Wasser dunkelrot aufgehende Sonne bilden das Logo des Betriebes.

Hier, gut 100 Kilometer von Jena entfernt, auf der gegenüberliegenden Seite des Thüringer Waldes, wird eine Fläche von 1800 Hektar nach den Erkenntnissen der von Ernst Haeckel begründeten Ökologie bewirtschaftet. Die ehemalige LPG "Wilhelm Pieck" hat sich zum "Ökozentrum Werratal" transformiert, das im Jahre 6 nach seiner Gründung zu den größten ökologisch arbeitenden Landbauprojekten in Deutschland gehört.

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Ein kuscheliger Biobauernhof ist dies nicht. Mir kommt erst einmal das Wort Agrarfabrik in den Sinn, als ich an diesem Augustmorgen das weiträumige, quadratisch angelegte Betriebsareal betrete. Flache, fabrikhallenartige Futter-Berge-räume und Stallanlagen sind in mehreren Reihen parallel angeordnet und über asphaltierte Straßen erreichbar. Im äußersten Winkel erstreckt sich ein augenscheinlich ganz neues, gläsernes Gewächshaus mit riesigen Ausmaßen. Eine große Siloanlage und ein Fabrikschornstein bilden die vertikalen Linien auf dem Gelände. Die Gebäudehüllen sind renoviert, die früher üblichen weißen Asbestdächer entsorgt. Der Grüngürtel aus Obstbäumen und Sträuchern rundherum ist frisch angepflanzt und wird erst in ein paar Jahren das Bild dieses "Objekts" auflockern.

Im Büro des Betriebsleiters hat sich seit den LPG-Zeiten nur wenig verändert. Das Mobiliar ist wohl zum größten Teil das alte. Eine russische Matrjoschka und eine Flasche Kartoffelschnaps gehörten vermutlich auch schon vor der Wende zum Inventar. Die topographische Karte an der Wand mit den großen schraffierten Flächen zu beiden Seiten der Werra zeigt einige Gebrauchsspuren. Zwei Urkunden, die eingerahmt an der Wand hängen, sind neueren Datums: "Agrar-Kulturpreis 1993" steht auf der einen. Sie trägt die Unterschrift von Karl Ludwig Schweisfurth. Die andere ist noch ein Jahr jünger:
Der Titel "Öko-Manager 1994" wurde den Betriebsleitern Eberhard Baumann und Erich Fleckenstein vom Wirtschaftsmagazin Capital und der Umweltstiftung WWF verliehen.

Ein Plakat mit einem Zitat des griechischen Philosophen Hesiod hängt neben der Tür des Büros: "Früchte in Fülle spendet euch Gäa, die Göttin der Erde. Drum nennt sie dankbar Erdenmutter, ihr Menschen." Gäa, auch Gaia genannt, ist die Namensgeberin des nach der Wende im Osten gegründeten Anbauverbandes, dem das Ökozentrum angehört.

Eberhard Baumann hatte schon zu LPG-Zeiten hier sein Büro. An diesem Morgen sitzt er mit Erich Fleckenstein, der zwischen seinem Biohof in der Nähe von Aschaffenburg und dem Werratal pendelt, in einer Besprechung. Der Metzgermeister des Betriebs ist ebenfalls anwesend. Zu Gast ist Dr. Schiffner, ein Tierarzt aus dem Nachbarort. Er stellt gerade seine Idee für ein neues Produkt vor. Der pensionierte Veterinär betreibt in Meiningen einen kleinen Recycling-Betrieb, der sich mit Müllsortierung und biologischen Verfahren der Abwasserreinigung befaßt.

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Jetzt ist er gerade von einem mehrmonatigen Aufenthalt aus Moskau zurückgekehrt. Dort hat er mit Verarbeitungsmaschinen aus stillgelegten Treuhand-Betrieben, die hier für den Schrott bestimmt waren, drei Fleischereien ausgerüstet. Vor langer Zeit hat Dr. Schiffner ein Buch über das Hausschlachten in Thüringen veröffentlicht. Heute stellt er eine Rezeptur vor, die er selbst entwickelt hat und die er dem Ökozentrum, das gerade eine Schweinezucht und eine Metzgerei aufbaut, anbieten will. Es geht um die Herstellung von Schinken ohne Nitrite, Nitrate etc. Statt mit normalem Kochsalz soll die neue Sorte mit Natursole aus Bad Salzungen gepökelt werden. Ein erster nach seinem Rezept hergestellter Schinken kommt auf den Tisch und wird verkostet. Das Gespräch, das sich um Farbe und Konsistenz, um Geschmacksnuancen und lebensmittelrechtliche Details dreht, ist bald beendet. Das Produkt ist vielversprechend. Man wird die Idee weiterverfolgen. Zum Schluß diskutiert man noch kurz den Stand der Dinge auf dem neuen Hanf-Versuchsfeld des Ökozentrums. Dann ist allgemeiner Aufbruch. Es ist mitten in der Erntezeit. Der gesamte Betrieb arbeitet an diesem glühendheißen Tag unter Hochdruck.

"Gleich hier vorne steht der Hanf", sagt Eberhard Baumann, als er den schweren Nissan-Patrol-Geländewagen durch die Hofausfahrt auf die B 89 steuert. Das ein Hektar große Feld besteht aus aufgefülltem Boden. Wo gute Erde liegt, ist der Hanf stahlgrün und hoch gewachsen. Auf den schlechten Böden ist er heller und niedriger. Es wird die erste Ernte, und man will aus den Früchten Öl pressen. Der Effekt, den Dr. Schiffner vorhergesagt hatte, ist jedoch schon eingetreten:

Bereits im ersten Jahr und ohne weitere Bodenbearbeitung hat der Hanf die Quecken auf dieser Fläche restlos beseitigt. Die Sanierung eines Ackers ohne technischen Einsatz, sagt Baumann, war der Ausgangspunkt für das Experiment mit dem Hanf. Außerdem wolle man testen, wie er sich ernten und dreschen lasse. Ansonsten sind die Luftschlösser, die man sich vor ein paar Jahren ausgemalt hatte, längst verflogen. Die Prämien für den Hanfanbau sind gerade wieder heruntergesetzt worden. Die Verarbeitungsmöglichkeiten fehlen gegenwärtig noch, jedenfalls in der Region. Fast alle Anbauer in Thüringen sind schon wieder abgesprungen. "Schade drum", sagt Baumann, "Hanf ist eine schöne Pflanze."

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Foto:  Luftbild von Vachdorf mit Ansicht des Ökozentrums, rechts im Bild 

 

Wir fahren durch den Ort, vorbei an gepflegten Fachwerkhäusern und einer mit trutzigen Ringmauern und einem Torturm befestigten frühmittelalterlichen Kirchenburg. Vachdorf hat noch viel von dem Fluidum der alten anheimelnden thüringischen Dörfer bewahrt. Hinter der Werrabrücke steigt dir Landstraße in Kurven steil bergan. Oben auf der Höhe biegt Baumann von der Straße ab und fährt über einen steinigen Feldweg zu einer Aussichtsplattform. Wir sind auf dem Mannstein, dem höchsten Punkt des Ökozentrum-Territoriums, in 490 Meter Höhe. 150 Meter beträgt der Höhenunterschied zur Talsohle.
"Vor uns haben wir die Thüringer Rhön, dahinter liegt die Hochrhön mit dem Kreuzberg und der Wasserkuppe." Die Fernsicht ist gut an diesem Hochsommertag. Eberhard Baumann ist hier zu Hause, kennt hier jedes Fleckchen und, kein Zweifel, liebt diese südthüringische Landschaft. Die zwei Gleichberge mit dem Grabfeld im Hintergrund sind markante Erhebungen im Süden. 

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Auf der anderen Seite geht der Blick bis hinüber zur Kammlinie des Thüringer Waldes, wo der Rennsteig verläuft. Im Norden liegt das Dolmar-Massiv mit seinen Kultplätzen aus keltischen und germanischen Vorzeiten. Die Landschaft ist überhaupt nicht monoton. Der Wechsel von Flußlandschaft, Berg und Tal, die Übergänge von Wald und Feldflur sind wohltuend für das Auge. Baumann weiß den hohen ästhetischen Reiz der Landschaft und die damit verbundene Lebensqualität zu schätzen. "Es macht Spaß, in dieser Gegend zu leben."

Daß die Landschaft bedroht ist, verschweigt er jedoch nicht: Den Basalt der Dolmar-Kuppe, die gerade erst von den russischen Truppen geräumt wurde, will man in Steinbrüchen abbauen und zu Schotter machen. Eine neue Autobahntrasse von Schweinfurt nach Suhl soll unweit von Vachdorf die Werra überqueren. Das stillgelegte Kraftwerk ein paar Kilometer flußabwärts ist als Standort für eine Müllverbrennungsanlage im Gespräch.

Im Tal unter uns schlängelt sich die Werra durch eine von Wiesen und Baumgruppen geprägte Auenlandschaft. Drei Dörfer liegen am Fluß aufgereiht: Leutersdorf, Vachdorf und Belrieth. Der Produktionskomplex in Vachdorf, von dem wir gerade kommen, hebt sich deutlich von der verwinkelten, roten Dachlandschaft des Dorfes ab. Links und rechts der Flußaue steigen die Hänge an, sehr steil am diesseitigen rechten Ufer, sanfter auf der anderen Seite, und laufen in Hochplateaulagen aus.

Rechts der Werra sind auf den Hochflächen die Weiden konzentriert. Das Ökozentrum hat einen Rinderbestand von 1000 Tieren und eine Schafherde, die mehr als 800 Tiere zählt. Der Auenbereich ist Grünland. Auf den Hängen jenseits des Flusses erstreckt sich der größte Teil der Ackerbaufläche von 1200 Hektar. Der Boden ist mit 28 Bodenpunkten karg. Die Äcker sind Kalkstein-Verwitterungsböden und sehr steinig. Die Abhänge sind an manchen Stellen extrem steil. Die Flußniederung mit ihren Auenlehmböden ist Überschwemmungsgebiet. Hier macht nur eine extensive Landwirtschaft Sinn.

 

Erst von hier oben bekommt man eine Vorstellung, in welchen gewaltigen Dimensionen das Ökozentrum arbeitet. Drei Dörfer liegen auf dem Territorium des Betriebes.

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Beinahe zehn Kilometer zu beiden Seiten des Flusses bis weit hinauf zu den Hochplateaus — das ist die Fläche, die dieser eine Betrieb bewirtschaftet. Man müßte wohl länger als einen Tag wandern, um die Grenzen des Terrains abzugehen. Einschließlich der Areale der Landschaftspflege erstreckt es sich über 70 Quadratkilometer. Die große Herausforderung, der sich das Ökozentrum Werratal mit seinen mittlerweile rund 65 Mitarbeitern stellt: "Wir wollen den Nachweis erbringen, daß ökologischer Landbau auch auf großen Flächen möglich ist."

Gewiß geht es dabei auch um die Sicherung von ein paar Dutzend Arbeitsplätzen in einer strukturschwachen Region. Das Überleben einer Ex-LPG in der Marktwirtschaft zu sichern ist die eine Herausforderung. Daran wird heute überall in den ehemaligen sozialistischen Ländern, also zwischen Magdeburger Börde und den Lößterrassen am Gelben Fluß, intensiv gearbeitet. Die Umstellung einer derartig großen Fläche auf ökologischen Landbau aber berührt noch eine andere Dimension: Bleibt ökologischer Landbau in der Nische und versorgt eine kleine Minderheit von ökologisch bewußten und besserverdienenden Verbrauchern? Ist ein schonender Umgang mit Böden, Pflanzen, Tieren überhaupt vereinbar mit der Ernährung der breiten Masse der Bevölkerung? Es ist letztlich die Frage der Agenda 21, ob eine nachhaltig betriebene, ökologische Landwirtschaft weltweit die Ernährung der Menschheit übernehmen kann.

Ich frage Eberhard Baumann, ob ihm seine Erfahrungen als früherer LPG-Vorsitzender angesichts einer solchen Herausforderung zugute kämen. "Wir haben wahrscheinlich den Vorteil", antwortet er nach einer Weile, "daß wir die Größe und die Dimension in der Produktionsorganisation schon vor drei Jahrzehnten kennengelernt haben. Wir sind damit aufgewachsen. Wir denken in anderen Sphären und auf anderen Ebenen." Das Denken sei eben anders geschult worden. Man habe sich nicht bei den Kleinigkeiten, beim Alltagskram aufgehalten. "Wir sind in der Lage, die großen Linien zu erkennen, visionärer zu sein. Weil wir in ganz anderen Strukturen denken können, uns darunter etwas vorstellen können. Diese Erfahrungswerte kann uns niemand nehmen." Ich kann mir vorstellen, daß dieses Denken stärker als das der Bauern im Westen darauf abgezielt hat, die Ernährung einer ganzen Bevölkerung sicherzustellen.

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"So ist es auch", sagt Eberhard Baumann und fügt hinzu: "Damals konnte es nicht funktionieren, weil es mit Zwang gelaufen ist. Aber heute kann man von diesen Dingen profitieren. Sie sind ganz, ganz wertvoll. Sie passen in die heutigen Strukturen."

Über Feldwege geht die Fahrt weiter zu den Stellen, wo sich heute die "Ernteschlacht", wie man früher hier sagte, abspielt. In ziemlich halsbrecherischer Fahrt steuert Baumann den mit gelben Lehmspritzern übersäten Wagen den steilen Hang hinauf, weicht in einer Kurve auf den schon abgeernteten Acker aus, um einem talwärts fahrenden Mähdrescher nicht in die Quere zu kommen, hält immer wieder an, um ein paar Worte mit den Leuten auf den Feldern zu wechseln.

Der Arbeitstag hat heute um sieben Uhr angefangen und wird erst gegen 22 Uhr, wenn es dunkel wird und die Nachtfeuchte einsetzt, zu Ende sein. Wenn alles gut läuft, werden dann 100 Hektar Getreide abgeerntet sein. Heute ist noch einmal der Roggen der Schwerpunkt. Außerdem wird Heu gemacht, der zweite Schnitt, und Mist gefahren und untergepflügt.

Weiter unten am Berg bespricht er sich mit einem Mähdrescherfahrer. "Mach erst den Nahrungsroggen weg. Du hast doch damals mit gesät. Da, wo die Hecke angeht, fährst du eine Schneise rein, damit das Futtergetreide für sich bleibt. Ich sorge dafür, daß die Hänger kommen."
So wird das bis in den September hinein Tag für Tag weitergehen. Das Ziel ist, so schnell wie möglich das reife Getreide zu ernten und das Stroh zu bergen. Denn je später geerntet wird, desto kürzer ist die Spanne für die Bodenbearbeitung, die anlaufen muß, um Anfang September mit der Aussaat von Roggen und dann von Weizen und Dinkel beginnen zu können. Je früher die Aussaat, desto besser. In der ökologischen Landwirtschaft spielt der Faktor Zeit eine größere Rolle. Man braucht eine möglichst gute Jugendentwicklung der ausgesäten Bestände, damit sie gut über den Winter kommen. Je später man ins Jahr hineinkommt, desto problematischer wird der Vegetationsablauf.
"Wir brauchen einfach die Zeit im ökologischen Landbau", sagt Eberhard Baumann, "weil wir das Wachstum nicht durch Intensivierungsmaßnahmen, sprich Dünger und Pflanzenschutzmittel, korrigieren."

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Es braucht jede Frucht, wenn sie ohne Hilfsmittel gedeihen soll, eine gewisse Lebensdauer, eine gewisse Vegetationsdauer, bis sie reif ist. Wenn die Frucht nicht genug Sonnenschein bekommt, leidet ganz einfach ihre Qualität. "Wir brauchen die Vegetationstage in der kompletten Länge."
Auf der linken Seite kommt jetzt eine Herde Jungrinder ins Blickfeld. Es sind Saler-Rinder aus Frankreich, im Massiv Centrale heimisch, eine robuste Rasse mit braunem, dichtem Fell. Sie sind ganzjährig hier oben auf dem Berg, auch im Schnee. Das Ökozentrum hat sie 1991 eingebürgert, und sie haben sich sehr gut angepaßt und sind für die extensive Bewirtschaftung der Fläche gut geeignet. Auf der Weide steht neben einer eingefaßten Quelle eine kleine Photovoltaikanlage. Mit der Solarenergie wird Wasser vom Brunnen bergauf in den nächsten Hochbehälter gepumpt und läuft von da aus im freien Fall ins Tal und wird auf die verschiedenen Viehtränken verteilt.

Oben auf dem Berg steht ein Mähdrescher still. Eberhard Baumann hält an und steigt aus. "Und? Wie sieht's aus?" - Schlecht, sagen die Leute. Früh am Morgen hat es hier oben eine kurze Zeit geregnet. Das Wärmegewitter, das gestern abend schon in der Luft lag, hat zweieinhalb Millimeter Regen gebracht. Jetzt warte man, das Getreide müsse halt trocken werden. "So", sagt Baumann, "dann machen wir folgendes. Dann geht ihr mit runter, mäht erst mal ein Weilchen Gras."

Die hätten schon vor einer Stunde runtergemußt, aber das selbstverantwortliche Entscheiden, die Fähigkeit, das Rechte im richtigen Moment zu tun, das fehle noch. In der LPG habe jeder seinen Auftrag bekommen. Die Organisationsstrukturen funktionierten nach dem Prinzip der autoritären Leitung. In den Zwischenebenen seien Mitdenken und Selbständigkeit nicht gefragt gewesen. Heute sind im Ökozentrum alle Mitarbeiter gleichzeitig Gesellschafter des Betriebes. Es geht jetzt nicht mehr um eine Bevormundung, sondern um das Steuern, das Koordinieren. Viele Menschen seien noch nicht in der Lage, im Ganzen zu denken. Führung bedeute vor allem, gerecht die Rollen zu verteilen und jeden nach seinen Fähigkeiten in das Gesamtkonzept einzubinden. "Wir müssen zuerst klären,

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was wir für ein Ziel haben. Es muß jeder in die Entscheidungsfindung mit einbezogen werden."
Wir überqueren noch einmal die Brücke und fahren auf der anderen Seite des Tales den Hang hinauf an einem Pferch vorbei. Die Hütehunde bellen wütend hinter der Staubfahne des Wagens her. Sie sind allein mit der 800köpfigen Herde. Der Schäfer des Ökozentrums ist heute mit der "Jugendbrigade", so nennt Baumann die polnischen Studenten, die bei der Ernte helfen, beim Strohfahren. "Dort, wo die Arbeit anfällt, muß sie gemacht werden."

Ein Bussard sitzt auf einem Pfahl und hält Ausschau nach Mäusen. Dann beginnen riesige Schlage mit Getreide. Der Weizen ist fast weiß in der flirrenden Hitze. Auf dem Feld nebenan steht Dinkel, der sich gerade rötlich färbt. In drei Wochen wird geerntet. Eine interessante Frucht, erzählt Baumann. Der Dinkel ist der Urweizen und werde im Spelz geerntet. Er wachse auf diesem Boden ohne Probleme, stelle überhaupt keine Ansprüche. Die Erträge seien zwar nicht sehr groß, aber die Erlöse sehr gut gewesen. Bis in diesem Jahr der Preis zusammengebrochen sei. Was da so prächtig heranwächst, ist praktisch unverkäuflich. 

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Erhard Baumann, "Öko-Manager 1994", der mit seinem Kollegen Erich Fleckenstein das Ökozentrum Werratal leitet.

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"Ich bin Ökobauer", sagt der ehemalige LPG-Vorsitzende Eberhard Baumann. "Ich bekenne mich auch dazu, weil ich mittlerweile geistig diesen Standpunkt habe."

"Ich will zeigen", sagt der Biohofbesitzer und jetzige Teilhaber am Ökozentrum Erich Fleckenstein, "daß ökologischer Landbau auch auf großen Flächen möglich ist."

Die Kreuzung von Biohof und LPG wäre nicht zustande gekommen, wenn sich diese zwei Lebensläufe nicht gekreuzt hätten. Beide Landwirte sind diplomierte Agrar-Ingenieure und leidenschaftliche Bauern. Eberhard Baumanns Biographie ist typisch für die Elite der DDR-Landwirtschaft. 1950 geboren, gehört er zu einer Generation, für die der kleinbäuerliche Familienbetrieb nur noch eine vage Kindheitserinnerung war, und zwar eine eher unangenehme: Man konnte halt oft nicht spielen, sondern mußte auf dem elterlichen Hof mitarbeiten. Um 1960 kam die Kollektivierung der Landwirtschaft. "Für die Eltern oder Großeltern war das natürlich ein drastischer Einschnitt. Aber unsere Generation war vielleicht sogar innerlich froh, daß diese Plackerei auf dem Hof zu Ende ging." Baumann ist in das neue System der Groß-LPGs von Anfang an hineingewachsen, 1968 hatte er das Abitur und gleichzeitig den Facharbeiterbrief als Rinderzüchter in der Tasche. Nach der Armeezeit begann er das Studium der Landwirtschaft an der Karl-Marx-Universität in Leipzig. Mit 24 war er fertig und hat sofort "hier im Territorium" die Leitung einer Rinderaufzuchtanlage mit 6000 Rindern übernommen. Fünf Jahre später, 1979, wurde er als Leiter der LPG "Wilhelm Pieck" in Vachdorf eingesetzt. Der Betrieb war vollkommen heruntergewirtschaftet, und er brachte ihn binnen drei Jahren wieder auf die Höhe der Planerfüllung. Eberhard Baumann ist ein Macher. LPG-Vorsitzender blieb er bis zum Schluß, bis in die großen Umbrüche der Wendezeit hinein.

"Ich bin als Landwirtssohn geboren", sagt Erich Fleckenstein. "Wir hatten einen kleinen Hof, der mich schon von Kindheit an im ländlichen Denken, Empfinden und Handeln geprägt

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hat." Erich Fleckenstein ist etwa ein Dutzend Jahre älter als Eberhard Baumann und stammt von einem Bauernhof am Spessart, nicht weit von Aschaffenburg. Während seiner landwirtschaftlichen Ausbildung hat er als Praktikant und später als Jungverwalter auf großen Gütern gearbeitet. In den 50er Jahren hat man dort noch die alten Methoden der Fruchtfolge, der Saatgutvermehrung und des Pflügens mit Pferdegespannen praktiziert. Seine Professoren waren von den Musterbetrieben der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg geprägt, wo man aus Geldmangel und aus Überzeugung naturnah und nachhaltig wirtschaftete. Diese Hochschullehrer konnten noch das geistige Fluidum und das ökologische Rüstzeug dieser Epoche vermitteln: Boden ist keine tote Materie. In einem Fingerhut voll Erde existieren Millionen Kleinstlebewesen, und ein gesundes Leben im Boden ist die Voraussetzung für eine gesunde Entwicklung der Wurzeln und Zellen der Pflanzen, die man anbaut. Ein Acker ist kein bloßer Standort, sondern ein Lebensraum.

Nach dem Studium hat sich Erich Fleckenstein auf der Basis des elterlichen Hofes selbständig gemacht. Damals kam er buchstäblich hautnah mit der Intensivstlandwirtschaft, die im Westen in den 60er Jahren aufkam, in Berührung. Zum einen verursachten die Spritzmittel, die er damals einsetzte, regelmäßig massive körperliche Beschwerden. Außerdem konnte er sich in seinem Betrieb den Einsatz von synthetischen Düngemitteln finanziell oft nicht leisten. An diesen Punkten setzte das Umdenken ein. Fleckenstein beschäftigte sich intensiv mit der ökologischen Wirtschaftsweise, führte viele Gespräche, probierte vieles aus und faßte dann den Entschluß, seinen Betrieb auf ökologischen Landbau umzustellen. Der war damals in der Pionierphase. Fleckenstein ist ein Pionier. Sein Hof, 40 Hektar Ackerland und 200 Hektar extensiv mit einer Schafherde beweidetes Grünland, war erfolgreich. Ein gutgeführter ökologischer Betrieb, das wurde sein Credo, kann auch wirtschaftlich mit einem gutgeführten konventionellen Betrieb mithalten. Eine Zeitlang fungierte er ehrenamtlich im Vorstand des bayerischen Bioland-Verbandes. Bis er sich mit den "Fundamentalisten" im Verband überwarf, weil diese es mit ihrem Stolz als Biobauern nicht vereinbaren konnten, Fördermittel der EU in Anspruch zu nehmen. Fleckenstein trat als

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Vorsitzender zurück. Seine Vision hatte sich erweitert: Ökologischer Landbau ist die Form der Landwirtschaft, die weltweit greifen müßte. Ein solche Vision ließ sich in den eingefahrenen Gleisen des BRD-typischen Nischendenkens nicht verwirklichen. Als die Wende kam, zögerte er zunächst, in den Osten zu fahren. "Ich dachte damals", erklärte er in einem Interview der Zeitschrift Natur, "da gehen doch nur die Geier hin, die eine schnelle Mark machen wollen." Ein Freund überredete ihn doch zu einer Betriebsbesichtigung im Werratal. "Und in dieser Situation lernte ich Herrn Baumann und diesen Betrieb kennen."

Zu der Zeit brodelte es im Werratal. Wie überall im Osten brachen die Strukturen der Landwirtschaft und des Lebensmittelhandels zusammen. Es gab 209 Alteigentümer, also ehemalige selbständige Bauern, die ihr Land in die LPG eingebracht hatten. Fast alle lebten noch in den Dörfern der Umgebung, hatten aber bis auf acht Leute mit der direkten Arbeit im Betrieb nichts mehr zu tun. Umgekehrt hatten die Arbeiter des Betriebes keine Ansprüche an Grund und Boden. Der Interessenkonflikt, der bei dieser Konstellation vorprogrammiert war, verhärtete sich im Sommer 1991, als 68 Alteigentümer ihre Auszahlung forderten. In dieser Situation stellte Baumann alle Beteiligten vor die Alternative: "Entweder es steht jeder zu dem Betrieb, oder aber wir liquidieren ihn und warten ab, was für den einzelnen übrigbleibt."

Nach großangelegten Umfragen unter allen Mitgliedern, erregten Aussprachen und unzähligen Gesprächen in den Familien und in der Öffentlichkeit der Dörfer war ein weitgehender Konsens gefunden: 93 Prozent der Beteiligten wollten, daß ihr Land weiter genossenschaftlich bewirtschaftet werde und der Betrieb weiterarbeite. Alles Eigentum blieb zusammen. Die Alteigentümer bildeten gemeinsam eine Vermögensverwaltungsgesellschaft. Dieser Gesellschaft gehört der Grund und Boden und das lebende und tote Inventar der LPG. Parallel dazu gründete Baumann mit dem Rest der LPG-Belegschaft die Ökozentrum Werratal GmbH. Die 33 Mitarbeiter wurden gleichzeitig Gesellschafter des neuen Unternehmens. Das Ökozentrum pachtete das Land und die Produktionsmittel einschließlich der Tiere der alten LPG von deren Nachfolgerin, der Vermögensverwaltungsgesellschaft, und nahm die Produktion auf.

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Eine saubere, eine faire Lösung, meint Eberhard Baumann rückblickend. "Seitdem herrscht in den drei Dörfern, die dazu gehören, sozialer Frieden." Heute arbeiten etwa 65 Leute im Betrieb. Fast alle sind als Gesellschafter eingestiegen. Das habe die Identifizierung mit dem Betrieb enorm verstärkt, auch wenn Baumann nicht verschweigt, daß die Gewichte sehr unterschiedlich verteilt sind: Sechs Personen verfügen über 80 Prozent der Anteile.
Die ökonomische und soziale Transformation dieser LPG war die eine Geschichte. Die ökologische Umstellung begann zuerst in den Köpfen von Erich Fleckenstein und Eberhard Baumann. "Ich habe gesehen", erinnert sich Erich Fleckenstein an seine ersten Besuche, "daß hier im Gegensatz zur landläufigen Meinung Ländereien waren, die sich für den ökologischen Landbau hervorragend eigneten, weil sie gar nicht in der Form belastet waren, wie das schlechthin behauptet wurde."

Das war der Einstieg: Die Fähigkeit des Wessis, Leistungen und positive Faktoren im Osten anzuerkennen, traf auf die Bereitschaft des Ossis, selbstkritisch den zentralen eigenen Fehler auszuleuchten: "Wir haben nicht von den natürlichen Voraussetzungen her gewirtschaftet, sondern mit Brachialgewalt alles dem technischen Zwang untergeordnet."

Gemeinsam machten sich die beiden an eine Bestandsaufnahme der Schwächen und der Stärken des Betriebes: Um die Produktion zu steigern, hatte die LPG Ödlandstreifen umgebrochen und intakte Wegenetze zerstört. Man hatte Feldgehölze und Heckenzüge entfernt, um Platz für die Maschinen zu schaffen. Man hatte die uralten Steinwälle an den Hanglagen, die dort angelegt worden waren, um der Erosion vorzubeugen, mit der Planierraupe beseitigt. In der Werraaue war natürliches Grünland umgepflügt und das alte, kunstvoll angelegte Be- und Entwässerungssystem durch Rohrleitungen ersetzt worden. Man war vollkommen sorglos mit der Chemie umgegangen. Der die Spritze gefahren hat, erzählt man sich heute, hat ein paar Mark mehr gekriegt als die anderen und war selig. Wenn es sein mußte, hat der mit bloßen Händen im Gift rumgerührt.

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Aber: Die LPG hatte keineswegs den ganzen Komplex intensiv bewirtschaftet. Chemische Düngemittel und Gifte kamen aus Geldknappheit nur begrenzt zum Einsatz. Hanglagen, die maschinell nicht bewirtschaftet werden konnten, und Ackerraine wurden in Ruhe gelassen oder nur ganz extensiv genutzt, so daß wertvolle Biotopverbünde entstehen oder sich halten konnten. Es gab Flächen, die keinerlei Belastungen aufwiesen. Es kam nicht auf den letzten Quadratmeter an. Man hat sich in der DDR eine gewisse Lässigkeit und Großzügigkeit geleistet, die dem bäuerlichen Kleinproduzenten im Westen fremd war.
Diese Faktoren haben eine rasche Umstellung auf ökologischen Landbau begünstigt. Das Ökozentrum hat das vorhandene Potential genutzt und in einzelnen Schritten den Betrieb umgestaltet.

"Erst der Boden", sagt Erich Fleckenstein. Das sei das Elementare. Damit fange jede Umstellung an. Wenn die geheimen Helfer, die Mikroorganismen und Makroorganismen dort unten, erst einmal angelockt seien, dann würden sie das Gefüge und die Strukturen im Boden Schritt für Schritt aufbauen. Wenn der Boden in Ordnung ist, ernährt er die Pflanzen. Wenn die Pflanzen in einer gesunden Zellstruktur hochkommen, ist das auch eine gute Grundlage für die Tierhaltung. So entstehe, und hier sei das Wort tatsächlich angebracht, Nachhaltigkeit.

Im zweiten Aufbaujahr hat sich das Ökozentrum vor allein um die Verbesserung der Viehbestände gekümmert. Im folgenden Jahr war die Sanierung der Gebäude der Schwerpunkt. Dann wurde der Maschinenpark modernisiert. Das war die Reihenfolge. Die Bilanz im Jahre 7 des ökologischen Umbaus einer LPG?

"Die Natur hilft sich sehr schnell, wenn man sie nicht beeinträchtigt und ihr eine gewisse positive Hilfestellung gibt", meint Erich Fleckenstein. Es sei ganz erstaunlich, wie schnell die Regenerierung von Boden und Pflanzenleben vor sich gegangen sei. Heute könne man froh und stolz sein, die Entscheidungen so getroffen zu haben.
"Wir haben an und für sich keine Probleme mehr mit der Organisation eines solchen Betriebes", bestätigt Eberhard Baumann. "Wir bekommen das anbautechnisch in die Reihe.

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Die entsprechende Technologie ist vorhanden. Die Menschen sind darauf eingestellt. Der Arbeitsrhythmus läuft."
Es hat sich gezeigt, daß ein Betrieb in einer solchen Flächenausdehnung und in einer so großen Betriebsgemeinschaft ökologisch bewirtschaftet werden kann.
"Ich weiß nicht, was in zwei oder drei Jahren ist", sagt Eberhard Baumann. Der Dinkel beispielsweise, der so prächtig reift und in drei Wochen geerntet werden soll ... Vor vier Jahren hat man hier mit dem Anbau begonnen. Damals wurden die Bauern zum Dinkelanbau animiert, und tatsächlich brachte er hohe Erlöse. Auf einmal ist der Markt kaputt. Massive Importe von ökologisch angebautem Dinkel aus dem Ausland haben die Preise ruiniert. Die Entwicklung im konventionellen Bereich wiederholt sich auf dem Ökosektor:
Überproduktion, Wettbewerbsdruck, Preisverfall, Abhängigkeit vom Geldhahn des Staates: "Das unternehmerische Denken ist momentan in der Landwirtschaft nur darauf ausgerichtet, soviel wie möglich an Fördermittel ranzukommen. Das ist nicht gesund."

Ein gutes und sinnvolles Produkt erzeugt zu haben, das auf dem Markt nicht gebraucht wird, ist für Baumann noch immer eine schmerzliche Erfahrung. Zufällen und kurzsichtigen staatlichen Entscheidungen unterworfen zu sein, Faktoren, die nichts mit dem eigenen Können zu tun haben, empfindet er als belastend. Den Betrieb durchzurationalisieren und Leute zu entlassen, hielte er für einen Verrat an seinen Prinzipien.
Der Ausweg, den das Ökozentrum geht, heißt: Direktverarbeitung und Direktvermarktung der erzeugten landwirtschaftlichen Produkte. Dadurch, daß möglichst die volle Wertschöpfung bei den Produzenten verbleibt, will das Ökozentrum seine ökonomische Existenz langfristig und nachhaltig stabilisieren.
Zu diesem Zwecke hat man unter dem Dach des Ökozentrums eine rechtlich selbständige, in eigener Verantwortung wirtschaftende, aber eng mit der Produktionsebene kooperierende Organisation gegründet, die Ökomarkt Werratal GmbH.

Gegenüber vom Hofeingang, auf der anderen Seite der Straße, entstehen die neuen Gebäude. Wenn alles fertig ist, wird hier eine großzügig angelegte Markthalle Lebensmittel anbieten.

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Erich Fleckenstein, der als Geschäftsführer und Anteilseigner den Ökomarkt aufbaut, ist zur Zeit mehr auf der Baustelle zu finden als im Büro. Einen regionalen Markt aufzubauen und zu pflegen, diese Aufgabe nimmt er jetzt genauso ernst wie in der Anfangsphase die Umstellung der Böden. "Wer den Markt hat, hat die Betriebssicherung", meint er. Der Marktaufbau werde ähnlich viel Mühe und Geld kosten wie die Sanierung der landwirtschaftlichen Produktion. Ziel sei es, veredelte Endprodukte an den Endverbraucher oder an den Einzelhandel zu bringen.

In der neuen Markthalle wird es eine Bäckerei, eine Fleischerei mit Verkauf, ein Schlachthaus, eine kleine Hausbrauerei und eine Gaststätte mit einem Gästehaus geben. Die Hofkäserei in Belrieth ist schon seit 1995 in Betrieb. Sie verarbeitet jährlich an die 500000 Liter Milch zu Käse und vermarktet außerdem etwa 700.000 Liter als Biofrischmilch. Eine Gemüsegärtnerei, Obstbau und Bienenzucht existieren ebenfalls schon seit längerem. Der Ökomarkt kann also ein Vollsortiment anbieten, was durch Austausch mit einer regionalen Erzeugergemeinschaft noch weiter ergänzt werden wird.
Die neue Markthalle soll in erster Linie feste Kunden aus den Dörfern und Städten der engeren Region anziehen. Sie soll darüber hinaus ein Magnet für Tagesausflügler und Touristen werden, die auf ihrer Fahrt nach Thüringen außer den Burgen und Wäldern auch einen großen Ökohof besichtigen und bei der Gelegenheit einkaufen und essen gehen wollen.

Mit seinen Produkten ist das Ökozentrum schon jetzt auf einigen Wochenmärkten bis hinüber nach Jena und Erfurt, Eisenach und Sonneberg vertreten. Mit zehn konventionell arbeitenden Kollegen gemeinsam - Berührungsängste kennt man hier nicht - betreibt man in Suhl und Schleusingen einen Bauernmarkt.
Man hat außerdem angefangen, ein spezielles Sortiment von Vollwertlebensmitteln für die Sanatorien und Rehakliniken der Umgebung zu entwickeln.
Bei allem Bemühen um eine Direktvermarktung hofft das Ökozentrum jedoch vor allem, sich auch in die bestehenden konventionellen Strukturen des regionalen Einzelhandels einklinken zu können. 

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Man kann auf Beispiele aus anderen Regionen und anderen Ländern verweisen: In der Schweiz zum Beispiel haben inzwischen selbst die großen Supermarkt-Ketten ein breites Sortiment an Ökoprodukten eingeführt und erzielen damit schon einen erheblichen Teil ihrer Umsätze.
Auf dem Terrain des Einzelhandels den Durchbruch zu schaffen, darin sehen die Leute vom Ökozentrum eine Aufgabe von strategischer Bedeutung: "Ökologischer Landbau hat nur eine Chance, sich zu erweitern, wenn man bei der Verarbeitung und Vermarktung die Strukturen des konventionellen Bereiches mit nutzt, damit dort nicht zusätzlich Investitionen erfolgen müssen und die Ware für die breite Masse erschwinglich bleibt."

Die Voraussetzung bei allem ist, daß man den Geschmack der Kunden trifft. Das Ökozentrum bietet ein handwerklich gefertigtes Produkt in hoher Qualität, das im Geschmack den regionalen Traditionen entspricht - das ist die Vermarktungsstrategie. Daß die Rohstoffe aus ökologischem Anbau und artgerechter Tierhaltung stammen, steht in der Produktwerbung erst an zweiter Stelle.

"Es entwickelt sich eine Identität", sagt Eberhard Baumann auf die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Betrieb und den Dörfern. Bis auf zwei, drei Problemfälle mit wirtschaftlichen oder persönlichen Hintergründen könne man sagen: "Die Leute identifizieren sich mit unserem Betrieb, weil er hier der Leuchtturm ist."

Eine LPG war nie ein bloßer Wirtschaftsbetrieb, sondern der bestimmende Faktor des sozialen und kulturellen Lebens im ländlichen Raum und in vielen Fällen auch eine Basis für die Entfaltung von Gemeinsinn. Im Ökozentrum Werratal hält man durchaus im Sinne dieser Traditionen eine enge Verbindung zu den Menschen in den Dörfern für wichtig. "Wir haben nie Probleme, wenn wir Hilfe brauchen." In den arbeitsintensiven Phasen, etwa wenn Rüben gehackt werden müssen, finden sich immer Helfer und umgekehrt: "Ich stelle mich nie quer, wenn es um Belange der Gemeinde geht." 

Zusammen mit der Waldgenossenschaft und der Jagdgenossenschaft hat das Ökozentrum Wege angelegt und Hecken gepflanzt. Und wenn im Juni auf dem Hof das Ökofest gefeiert wird, sind die Vereine von der Landfrauengruppe über die Feuerwehr bis zur Trachtengruppe und den Senioren schon wochenlang vorher bei den Vorbereitungen aktiv dabei.

Mehr als 10.000 Besucher haben sich beim diesjährigen Fest an den beiden Tagen auf dem Gelände gedrängt. Mit über 150 Ausstellern und Anbietern war das Fest gleichzeitig ein großer Bauernmarkt, eine Regionalmesse für Land- und Forsttechnik, Handwerkermarkt und Info-Börse über artgerechte Tierhaltung und regenerative Energien. Das Programm war ein bunte Mixtur, die ein Leistungshüten der Schäfer genauso einschloß wie eine Modenschau unter freiem Himmel, Westernreiten und Flurbesichtigung, Jagdhornbläser und Rockmusik. "Ich habe noch nie so viele junge und alte Leute ausgelassen unter einem Dach gesehen wie beim Bauernball am Samstagabend." Wenn Eberhard Baumann vom Ökofest erzählt, gerät er ins Schwärmen. Das Zusammengehörigkeitsgefühl der Menschen "im Territorium" und in der Region zu erleben und neu zu gestalten liegt ihm sicherlich mehr am Herzen als der Werbeeffekt für seinen Betrieb.

"Wir setzen Zeichen", hatte er mir oben auf dem Mannstein hoch über dem Werratal gesagt. 

"In einer Zeit, die an und für sich mutlos ist, setzen wir ein Zeichen. Ob wir es ökonomisch durchstehen können, weiß ich nicht. Das ist halt das Risiko. Ich denke mir, wir können nicht stehenbleiben, wir müssen in die Zukunft investieren. Auch wenn wir nicht bis in alle Einzelheiten definieren können, wie diese Zukunft aussehen wird." 

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