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6   Perspektiven des psychotherapeutischen Prozesses   Grof-1985

 

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Die Vorstellungen von der Natur, dem Ursprung und der Dynamik psychogener Störungen spielen für die Theorie und die Praxis der Psychotherapie eine entscheidende Rolle. Sie haben unmittelbare Auswirkungen auf das Konzept des Heilungsprozesses, die Definition der für die Psychotherapie und die Persönlichkeits­umwandlung effektiven Mechanismen und die Wahl der therapeutischen Strategien. 

Leider unterscheiden sich die bestehenden psychotherapeutischen Schulen in ihrer Interpretation der psychogenen Symptome und ihrer Behandlung ebenso sehr wie in der Beschreibung der Grundzusammenhänge in der menschlichen Psyche.

Nicht eingehen möchte ich hier auf den Behaviorismus, für den die psychogenen Symptome isolierte Ansammlungen fehlangepaßter Verhaltensweisen ohne tiefere Bedeutung und nicht Zeichen einer komplexen, ihnen zugrunde liegenden Persönlichkeitsstörung sind.

Auch die rein stützenden therapeutischen Methoden und andere Formen psychologischer Behandlung möchte ich unerwähnt lassen, weil sie aus praktischen Erwägungen — nicht aus theoretischen Gründen — nicht in die Tiefe gehen. 

Aber auch wenn wir uns jetzt bewußt auf die Schulen der sogenannten Tiefenpsychologie beschränken, werden wir im Hinblick auf die oben genannten Punkte ebenfalls mit weitgehenden Meinungsunterschieden konfrontiert.

In der klassischen Freudschen Analyse werden Symptome als Resultat eines Konflikts zwischen Triebforderungen und Abwehr­mechanismen des Ich oder als Kompromißbildung zwischen den Impulsen des Es und den Verboten sowie Geboten des Über-Ich gesehen. In seinen ursprünglichen Formulierungen rückte Freud ausschließlich die sexuellen Wünsche in den Mittelpunkt und sah die gegen die Sexualität gerichteten Kräfte als Manifestationen der »Ich-Triebe«, die der Selbsterhaltung dienen.

Später, in der drastischen Revision seiner Theorie, betrachtete er verschiedene psychische Phänomene als Produkt des Konflikts zwischen Eros, dem Liebestrieb, der nach Vereinigung und Bildung höherer Einheiten strebt, und Thanatos, dem Todestrieb, dessen Ziel Zerstörung und die Wiederherstellung der ursprünglichen anorganischen Bedingungen ist. In jedem Fall aber ist die Freudsche Interpretation streng biographisch orientiert und verbleibt im Rahmen des individuellen Organismus. Das Therapieziel besteht darin, die in den Symptomen gebundenen Triebenergien freizusetzen und für sie sozial akzeptable Möglichkeiten der Befriedigung zu finden. In Adlers Interpretation stammt die neurotische Disposition von Kindheitserlebnissen, die durch Überbehütung, Vernachlässigung oder eine verwirrende Mischung aus beiden geprägt sind.


Dies führt zu einem negativen Selbstbild und einem neurotischen Streben nach Überlegenheit, mit der die überaus starken Unsicherheits- und Angstgefühle kompensiert werden sollen. Als Folge dieser ausschließlich um das Ich kreisenden Lebensstrategie ist der Neurotiker unfähig, Probleme zu bewältigen und das Zusammenleben mit anderen zu genießen. Neurotische Symptome sind demnach wesentliche Aspekte des einzigen Anpasungssystems, das der oder die Betreffende anhand der irreführenden Schlüsselreize seiner Umwelt konstruieren konnte.

Während in Freuds Theorie alles aus vorausgehenden Bedingungen und rigoros mit dem linearen Kausalitätsprinzip erklärt wird, hebt Adler das teleologische Prinzip hervor. Der Lebensplan des Neurotikers ist künstlich, und Teile von ihm müssen unbewußt bleiben, da sie der Realität widersprechen. Das Therapieziel besteht darin, den Patienten daran zu hindern, in seiner Phantasiewelt weiterzuleben, und ihm zu helfen, die Einseitigkeit, die Sterilität und die letztlich selbstzerstörerische Natur seiner Einstellungen zu erkennen. Trotz mancher grundlegender theoretischer Unterschiede ist Adlers Individualpsychologie ebenso wie die Psychoanalyse strikt biographisch ausgerichtet.

Wilhelm Reichs Beiträge zur Tiefenpsychologie enthalten u.a. eine einzigartige Konzeption der Dynamik sexueller Energie und der Rolle, die die energetische Ökonomie in psychopathologischen Systemen spielt. Wie er glaubte, wird die Verdrängung des ursprünglichen Traumas durch die Unterdrückung der sexuellen Gefühle und die Blockierung des sexuellen Orgasmus aufrechterhalten. Nach seiner Ansicht macht diese Unterdrückung der Sexualität zusammen mit dem sie begleitenden Muskelpanzer und spezifischen charakterologischen Einstellungen das wahre Wesen der Neurose aus. Die psychopathologischen Symptome sind nur ihr sekundärer Ausdruck nach außen. 

Der entscheidende Faktor, der über emotionale Gesundheit oder Krankheit bestimmt, ist die Ökonomie der Sexualenergie oder das Gleichgewicht zwischen ihrer Aufladung und Entladung. Die Therapie besteht darin, die gespeicherten und aufgestauten Sexualenergien freizusetzen und den Muskelpanzer mit Hilfe eines Systems von Atemübungen und direkter Körperarbeit zu lösen. Reichs Ansatz stellt zwar eine weitgehende theoretische Abweichung von der klassischen Psychoanalyse und eine revolutionäre Neuerung der psychotherapeutischen Praxis dar, doch geht er nicht über die enge sexuelle Thematik und die biographische Orientierung seines ehemaligen Lehrers Freud hinaus.

Otto Rank stellte die Freudsche Neurosentheorie in Frage, indem er das Geburtstrauma als Ursache aller neurotischen Störungen in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen rückte. Nach seiner Ansicht sind neurotische Symptome Versuche, diesen grundlegenden emotionalen und biologischen Schock im menschlichen Leben nach außen abzureagieren und zu integrieren. Folglich ist keine echte Heilung einer Neurose zu erwarten, wenn nicht der Klient mit diesem Ereignis in der therapeutischen Situation konfrontiert wird. Angesichts der Natur dieses Traumas ist das therapeutische Gespräch allein nur von geringem Wert. Es muß durch das Wiedererleben des Traumas ersetzt werden.

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Eine Anerkennung der primären und eigenständigen Bedeutung der spirituellen Aspekte der Psyche — oder dessen, was man heutzutage die transpersonale Dimension nennen würde — findet sich unter den Nachfolgern Freuds extrem selten. Nur Carl Gustav Jung war in der Lage, tief in den transpersonalen Bereich hinein vorzudringen und eine psychologische Theorie aufzustellen, die sich radikal von allen oben genannten Theorien unterscheidet. In den Jahren, in denen er systematisch das Unbewußte des Menschen ergründete, erkannte Jung, daß vergessene und verdrängte Kindheitserlebnisse die Neurosen und Psychosen nicht angemessen zu erklären vermochten. Er ergänzte Freuds Konzept des individuellen Unbewußten durch das Konzept des kollektiven Unbewußten und hob die Rolle »mythenbildender« struktureller Elemente in der Psyche hervor. Ein anderer wesentlicher Beitrag Jungs war die Definition von Archetypen, von Urprinzipien der Psyche, die in allen Kulturen wirksam sind und ordnende Funktionen haben.

Jung hatte eine sehr persönliche Auffassung vom Wesen psychopathologischer Symptome und psycho­thera­peutischer Prozesse. Wie er meinte, blieben Triebe, archetypische Dränge, kreative Impulse, Talente oder andere Qualitäten der Psyche primitiv und undifferenziert, wenn sie verdrängt würden oder keine Möglichkeit zur Entfaltung bekämen. Infolgedessen üben sie einen potentiell destruktiven Einfluß auf die Persönlichkeit aus, stören die Anpassung an die Realität, und offenbaren sich als psychopathologische Symptome. Sobald das bewußte Ich in der Lage ist, sich diesen ursprünglich unbewußten oder verdrängten Anteilen der Psyche zu stellen, könnten sie in konstruktiver Weise in das Leben integriert werden. 

Jungs therapeutischer Ansatz legt den Schwerpunkt nicht auf rationales Verständnis und Sublimierung, sondern auf eine aktive Umwandlung des innersten Wesens auf dem Weg über eine direkte symbolische Erfahrung der Psyche als einer autonomen »anderen Persönlichkeit«. Die Anleitung zu diesem Prozeß kann kein einzelner Therapeut oder eine bestimmte therapeutische Schule geben. Man muß dem Klienten eine Verbindung mit dem kollektiven Unbewußten vermitteln und die Weisheit aller Zeiten nutzen, die in ihm verborgen liegt.

Die Diskussion der theoretischen Meinungsverschiedenheiten zwischen den hauptsächlichen Schulen der Tiefenpsychologie im Hinblick auf die Natur und den Ursprung emotionaler Störungen sowie auf die effektiven therapeutischen Mechanismen ließe sich noch beliebig erweitern, etwa um die Konzeptionen von Sandor Ferenczi, Melanie Klein, Karen Horney, Erich Fromm, Harry Stack Sullivan, Roberto Assagioli und Carl Rogers, oder um die Neuerungen von Fritz Perls, Alexander Lowen, Arthur Janov und vieler anderer.

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Ich wollte aber mit dieser kurzen Erörterung vor allem demonstrieren, daß es populäre Theorien und Therapie­systeme gibt, die — was die Dynamik psychopathologischer Phänomene und die therapeutischen Techniken angeht — radikal voneinander abweichen, einige von ihnen beschränken sich auf die biographisch-analytische Ebene, andere legen den Schwerpunkt ausschließlich auf perinatale Elemente oder existentielle Fragen, und einige wenige beziehen die transpersonale Sphäre mit sin.

Mach dieser allgemeinen Einführung möchte ich jetzt näher auf die neuen Erkenntnisse aus den Selbst­erfahr­ungs­therapien eingehen, die es ermöglichen, viele widerstreitende Standpunkte der gegenwärtigen Psychiatrie zu vereinen und sine umfassendere Theorie der Psychopathologie und Psychotherapie zu formulieren.

 

Die Natur psychogener Symptome

Die Daten aus Selbsterfahrungstherapien mit und ohne Anwendung von Psychedelika legen ein »Spektrum-Modell« nahe, wie ich es schon früher beschrieben habe. Ohne Zweifel muß ein Modell der Psyche, das in der ernsthaften Selbsterforschung angewendet werden soll, umfassender sein als die bereits existierenden Modelle. In diesem neuen Rahmen tragen die verschiedenen psychotherapeutischen Schulen zum Verständnis der Dynamik einzelner Bänder des Bewußtseinsspektrums (oder auch nur bestimmter Aspekte eines Bandes) bei, lassen sich aber nicht auf die Gesamtheit der psychischen Phänomene verallgemeinern.

Emotionale, psychosomatische und zwischenmenschliche Probleme können auf jeder Ebene des Unbewußten — der biographischen, der perinatalen und der transpersonalen — und gelegentlich auch auf allen dreien gleichzeitig ihre Ursachen haben. Eine effektive therapeutische Arbeit muß dem Prozeß in den Bereich hinein folgen, der eine Rolle spielt, und darf nicht durch theoretische Erwägungen eingeschränkt werden. Es gibt viele Symptome, die erst dann mit Erfolg angegangen werden können, wenn die betreffende Person mit der perinatalen und transpersonalen Thematik, die mit diesen Symptomen verknüpft ist, konfrontiert wird, sie erlebt und integriert. 

Für Probleme dieser Art wird sich eine rein biographische Arbeit — wie immer sie beschaffen sein mag, wie umfassend sie ist und wieviel Zeit darauf verwendet wird — als ineffektiv erweisen. Die Beobachtungen im Rahmen von Selbsterfahrungstherapien machen deutlich, daß jeder psychotherapeutische Ansatz, der sich auf verbalen Austausch beschränkt, von begrenztem Wert ist und nicht wirklich zum Kern der Probleme vordringen kann. Die emotionalen und psychosomatischen Energien, die psycho-pathologischen Phänomenen zugrunde liegen, sind so elementar, daß man nur mit einem direkten, nichtverbalen und das Erleben unmittelbar einbeziehenden Vorgehen eine Chance hat, mit ihnen fertig zu werden.

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Der verbale Austausch ist aber wichtig für die richtige intellektuelle Vorbereitung auf die Selbst­erfahrungs­sitzungen und auch für die angemessene Integration der Erlebnisse, mit denen man in ihnen konfrontiert wird, ja in einer paradoxen Weise ist die intellektuelle Arbeit im Rahmen der Selbsterfahrungstherapien wahrscheinlich wichtiger als jemals zuvor.

Die hochwirksamen humanistischen und transpersonalen Therapietechniken entstanden als Reaktion gegen die unproduktive verbale und überintellektuelle Orientierung der traditionellen Psychotherapien. Sie legen in der Regel das Gewicht auf das unmittelbare Erleben, die nichtverbale Interaktion und die Einbeziehung des Körpers in den Therapieprozeß. Durch die rapide Mobilisierung von Energien und die Lösung von emotionalen und psychosomatischen Blockierungen, die diese revolutionären Methoden ermöglichen, öffnet sich häufig der Weg zu perinatalen und transpersonalen Erlebnissen.

Der Inhalt dieser Erlebnisse ist so außergewöhnlich, daß sie oft die theoretischen Vorstellungen der betreffenden Person, ihre grundlegenden Überzeugungen und das für die westliche Zivilisation typische Weltbild von Grund auf erschüttern. Die moderne Psychotherapie befindet sich dadurch in einer interessanten paradoxen Situation. Während sie in ihren Anfangsphasen versuchte, den Intellekt zu umgehen und ihn aus dem Therapieprozeß auszuschalten, erweist sich gegenwärtig ein neues intellektuelles Verständnis der Realität als bedeutsamer Katalysator für den therapeutischen Fortschritt. Die Widerstände in den oberflächlichen Formen von Psychotherapie sind emotionaler und psychosomatischer Natur, das letzte Hindernis für die radikalen Therapien hingegen ist eine intellektuelle und philosophische Barriere. Viele transpersonale Erlebnisse, die potentiell von großem therapeutischen Wert sind, stellen das Weltbild der Person, die mit ihnen konfrontiert wird, so grundlegend in Frage, daß sie blockiert, wenn sie intellektuell nicht richtig vorbereitet wird.

 

Eine besonders schwierige Form von Widerstand ist die intellektuelle Verteidigung der kartesianisch-Newtonschen Definition von Realität und des Weltbilds des »gesunden Menschenverstandes«. Diese Widerstände können nur durch gemeinsame Anstrengungen von Klient und Therapeut überwunden werden. Diejenigen Therapeuten, die auf der intellektuellen Ebene nicht vorarbeiten und gleich hochwirksame Selbsterfahrungstechniken anwenden, bringen den Klienten in ein schwieriges Dilemma. Sie fordern ihn auf, alle Widerstände fallen zu lassen und sich ganz dem Geschehen hinzugeben, doch führt eine solche Hingabe zu Erlebnissen, für die er mit seinem »Kopf« nicht gerüstet ist. Wenn man - Therapeut oder Klient - sich in einer solchen Situation an biographischen Interpretationen festhält, das mechanistische Weltbild nicht aufgibt und das Geschehen rein mit dem linearen Kausalitätsprinzip erklären will, dann wird der therapeutische Fortschritt ernsthaft behindert, da es sich hier lediglich um massive Abwehrmechanismen handelt.

Auf der anderen Seite kann ein Wissen um die erweiterte Kartographie der Psyche, die die perinatalen und transpersonalen Erlebnisse beinhaltet, um die neuen Paradigmen, die sich heutzutage in der Wissenschaft abzeichnen, und um die großen mystischen Traditionen der Welt ungewöhnlich starke, therapeutisch fördernde Wirkung haben.

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Da psychopathologische Symptome je nach der psychischen Ebene, mit der sie verknüpft sind, eine verschiedene dynamische Struktur haben, ist es unrichtig und nutzlos, sie alle mit einer Universalformel beschreiben zu wollen, es sei denn, diese Formel ist außergewöhnlich umfassend und allgemein gehalten. Auf der biographisch-analytischen Ebene scheinen Symptome in Beziehung zu Erinnerungen an wichtige Ereignisse in der Kindheit und im späteren Leben zu stehen.

 

Hier ist es auch sinnvoll, sie als historisch determinierte Kompromißbildungen zwischen Triebansprüchen und verdrängenden Kräften des Über-Ich oder zwischen auftauchenden schmerzlichen Emotionen bzw. Körperempfindungen und der Abwehr gegen sie zu sehen. Es handelt sich hierbei letztlich um Elemente aus der Vergangenheit, die noch nicht erfolgreich integriert sind und das Leben im Hier-und-Jetzt beeinträchtigen. Diese Elemente sind in der Regel Situationen, die das Empfinden der Einheit und Harmonie mit dem Universum verletzten und zu einem Gefühl der Isoliertheit, des Antagonismus und der Entfremdung beitrugen. Eine Situation, in der alle Grundbedürfnisse befriedigt sind und in der sich der Organismus sicher fühlt, steht in enger Beziehung zum Gefühl der Einheit mit dem Kosmos. Eine schmerzliche Erfahrung oder ein intensives unbefriedigtes Bedürfnis bewirken ein Gefühl der Dichotomie, eine Differenzierung bzw. einen Konflikt zwischen dem Ich als Opfer und der von außen wirkenden Kraft als Widersacher, oder zwischen dem unbefriedigten Subjekt und dem ersehnten Objekt.

Wenn das individuelle Erleben mit dem perinatalen Bereich in Verbindung gelangt, dann werden die Freudsche Theorie und alle anderen einseitig biographisch orientierten Systeme vollkommen nutzlos. Versuche, sie anzuwenden, unterstützen die Abwehrmechanismen. Auf dieser Ebene lassen sich Symptome am besten verstehen als Kompromißbildungen zwischen auftauchenden Emotionen und Körperempfindungen, die zum Geburtstrauma gehören, und zwischen den Kräften, die uns normalerweise davor bewahren, dieses Trauma wieder zu erleben. Die betreffende Person identifiziert sich gleichzeitig mit dem Säugling, der um seine Geburt kämpft, und mit den biologischen Kräften, die die introjizier-ten, gewalttätigen Einwirkungen des Geburtskanals verkörpern. Aufgrund der Beschaffenheit dieser Situation kann sich das Reichsche Modell, in dem der Freisetzung aufgestauter Energien und der Lösung des Charakterpanzers großes Gewicht beigemessen wird, als äußerst nützlich erweisen. Die Ähnlichkeit zwischen dem Muster des sexuellen Orgasmus und dem Orgasmus der Geburt erklärt auch, warum Reich aufgestaute perinatale Energien mit festgesetzter Libido, die aus unvollständigen Orgasmen stammt, verwechselt hat.

Eine andere mögliche Auffassung dieses Zusammenpralls entgegengesetzter Kräfte besteht darin, ihn als Konflikt zwischen der Identifizierung mit der eigenen Ich-Struktur und dem Körperbild und zwischen dem Bedürfnis nach totaler Hingabe, nach dem Ich-Tod und nach Transzendenz zu sehen.

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Die entsprechenden existentiellen Alternativen sind ein ständiges Gefangensein in einem reduzierten Leben, das von letztlich selbstzerstörerischen Ich-Strategien bestimmt wird, und eine erweiterte, aufgeklärte Existenz mit transpersonaler Orientierung. Ein unwissender und nicht vorbereiteter Klient wird sich der zweiten Alternative natürlich erst dann bewußt, wenn er selber ein Erlebnis der spirituellen Öffnung gehabt hat. Die zwei Grundkonzeptionen des Seins, die zu den beiden extremen Polen dieses Konflikts gehören, sind das Leben als Kampf — so, wie es sich im Geburtskanal dargestellt hat — und das Leben als ständiger Fluß von Geben und Nehmen, vergleichbar mit der Symbiose zwischen Mutter und Kind während der Schwangerschaft und des Stillens.

Den Prozeß, der Symptomen auf der perinatalen Ebene zugrunde liegt, kann man sich auch noch anders vorstellen, etwa als Konflikt zwischen einem ängstlichen Sich-Festklammern (am Gewohnten) und einem vertrauensvollen Sich-Loslassen, zwischen der krampfhaften Aufrechterhaltung der Illusion, Herr der Dinge zu sein, und dem demütigen Hinnehmen der Tatsache, vollkommen von kosmischen Kräften beherrscht zu werden, oder etwa zwischen dem Wunsch, jemand anders und an einem anderen Ort zu sein, und dem Akzeptieren des Hier-und-Jetzt.

Psychogene Symptome, die im transpersonalen Bereich der Psyche verankert sind, lassen sich in ihrer dynamischen Struktur am besten auffassen als Kompromißbildungen zwischen einem Festhalten am rationalen, materialistischen und mechanistischen Weltbild und der überwältigenden Erkenntnis, daß die menschliche Existenz und das Universum Manifestationen eines tiefen Mysteriums sind, das die Grenzen unseres Verstandes übersteigt. Bei entsprechend gebildeten Klienten kann diese philosophische Auseinandersetzung zwischen dem »gesunden Menschenverstand« und der kulturellen Vorprogrammierung auf der einen Seite und einer ihrem Wesen nach metaphysischen Weltanschauung auf der anderen die Form eines Konfliktes zwischen der Freudschen und der Jungschen Psychologie oder zwischen dem kartesianisch-Newtonschen Weltbild und den neuen Paradigmen annehmen.

Wenn sich die betreffende Person den Erfahrungen, die diesen Symptomen zugrunde liegen, öffnet, dann werden die neuen Informationen über das Universum und die Existenz ihre Weltanschauung radikal umformen. Es wird klar, daß bestimmte Ereignisse auf der Welt, die für immer einer fernen Vergangenheit anzugehören schienen oder die nach unseren linearen Zeitvorstellungen noch nicht geschehen sind, unter bestimmten Umständen mit der gleichen Lebendigkeit erlebt werden können, wie sie sonst nur dem gegenwärtigen Augenblick vorbehalten ist. Verschiedene Aspekte des Universums, von denen wir uns durch eine undurchdringliche räumliche Barriere getrennt wähnten, werden plötzlich dem Erleben leicht zugänglich und scheinen in einem gewissen Sinn Teile oder Erweiterungen von uns selbst zu sein.

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Bereiche, die normalerweise nur mit technischen Hilfsmitteln wahrgenommen werden können, wie die physikalische und biologische Mikrowelt oder astrophysikalische Objekte und Prozesse, erschließen sich dem direkten Erleben. Unser gewöhnliches kartesianisch-Newtonsches Bewußtsein kann mit ungewöhnlicher Gewalt von verschiedenen archetypischen Wesen oder mythologischen Geschehnissen übermächtigt werden, die nach Auffassung der mechanistischen Wissenschaft kein eigenständiges Leben führen können.

Die mythenbildenden Aspekte der Psyche lassen vor unseren Sinnen Gottheiten, Dämonen und Rituale von verschiedenen Kulturen wahrhaftig werden, mit denen wir uns noch nie zuvor befaßt haben. Sie erscheinen auf demselben Kontinuum mit Elementen der phänomenalen Wirklichkeit und mit der gleichen Genauigkeit im Detail, mit denen auch historisch und geographisch entlegene Ereignisse der materiellen Realität dargestellt sind. 

Nachdem ich beschrieben habe, wie die typischen Konflikte, die psychogenen Symptomen auf der biographischen, perinatalen und transpersonalen Ebene zugrunde liegen, beschaffen sein dürften, werde ich nun versuchen, all diese anscheinend verschiedenartigen Mechanismen auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen und ein umfassendes Modell der Psychopathologie und Psychotherapie aufzustellen. In Anbetracht dessen, was ich bereits früher im Zusammenhang mit den Prinzipien der Spektrumpsychologie und der Heterogenität der einzelnen Bänder des Bewußtseinsspektrums gesagt habe, muß ein solches Metamodell außergewöhnliche Reichweite haben. Zu diesem Zweck muß ich auf die neue Definition der Natur des Menschen zurückkommen, wie sie sich in der modernen Bewußtseinsforschung abzeichnet.

Schon früher wies ich darauf hin, daß der Mensch eine eigentümliche Doppelnatur besitzt, die in etwa der Dichotomie von Teilchen und Welle ähnelt, wie sie beim Licht und bei der subatomaren Materie zu finden ist. In manchen Situationen lassen sich Menschen mit Erfolg als einzelne materielle Objekte und biologische Maschinen beschreiben, in anderen hingegen zeigen sie die Merkmale von weit ausgedehnten Bewußtseinsfeldern, die die Grenzen von Raum, Zeit und linearer Kausalität überschreiten können. Zwischen diesen beiden Aspekten des menschlichen Wesens scheint es ein fundamentales dynamisches Spannungsverhältnis zu geben, das dem Verhältnis des Teils zum Ganzen entspricht, einem Verhältnis, das überall im Kosmos auf verschiedenen Ebenen der Realität existiert.

Was die Psychiatrie als Symptome einer Geisteskrankheit beschreibt und behandelt, kann als Ausdruck der Reibung zwischen diesen beiden sich ergänzenden Extremen beschrieben werden. Sie sind Mischbildungen des Erlebens, die weder zum einen noch zum anderen Extrem gehören und auch nicht ihre reibungslose Integration darstellen, sondern ihren Konflikt und Zusammenprall. Auf der biographischen Ebene kann dies anhand eines neurotischen Menschen verdeutlicht werden, dessen Erleben des gegenwärtigen Augenblicks durch die teilweise Reaktivierung eines Erlebnisses verzerrt wird, das aus einem anderen raumzeitlichen Zusammenhang stammt.

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Ein solcher Mensch nimmt die gegenwärtigen Umstände nicht klar und angemessen wahr, steht aber auch nicht in vollem Kontakt mit dem Kindheitserlebnis, das seine augenblicklichen Emotionen und Körperempfindungen rechtfertigen würde. Diese Vermengung zweier Erlebnisweisen ist das Merkmal einer seltsamen Verwirrung von Raum und Zeit, die die Psychiatrie als Symptom bezeichnet.

Auf der perinatalen Ebene stellen die Symptome eine ähnliche räumlich-zeitliche Mischbildung dar, in der der gegenwärtige Augenblick mit dem Raum-Zeit-Feld der biologischen Geburt verbunden wird. Die betreffende Person erlebt das Hier-und-Jetzt quasi so, als befände sie sich noch im Geburtskanal. Die Emotionen und Körperempfindungen, die zum Ereignis der Geburt voll und ganz passen, werden in anderem Zusammenhang zu psychopathologischen Symptomen. Wie schon im obigen Beispiel erlebt ein solcher Mensch weder die Gegenwart noch die biologische Geburt. In einem gewissen Sinn steckt er im Geburtskanal fest und ist noch nicht geboren worden.

Dasselbe allgemeine Prinzip läßt sich auch auf Symptome anwenden, die mit Erlebnissen transpersonaler Natur in Beziehung stehen. Der einzige, bedeutende Unterschied besteht darin, daß es für die meisten von ihnen unmöglich ist, sich ein materielles Substrat vorzustellen, durch das solche Phänomene vermittelt werden könnten. Erlebnisse, bei denen es sich um Rückgänge in die historische Vergangenheit handelt, können nicht einfach mit Gedächtnismechanismen im herkömmlichen Sinn interpretiert werden. Bei anderen, in denen die Grenzen des Raumes überschritten werden, läßt sich die Informationsübertragung nicht über materielle Kanäle verfolgen, und obendrein ist sie häufig mit dem mechanistischen Weltbild absolut unvereinbar. Gelegentlich sind die Phänomene, die Symptomen transpersonaler Art zugrunde liegen, vollkommen außerhalb der für das Abendland charakteristischen Vorstellungen von der objektiven Realität. Dies gilt beispielsweise für die Jungschen Archetypen, für bestimmte Gottheiten und Dämonen, für übermenschliche Wesen, usw.

So können im weitesten Sinn Phänomene, die sich als psychiatrische Symptome präsentieren, als Konflikte oder Reibungen zwischen zwei Formen des Erlebens aufgefaßt werden, die Menschen möglich sind. Die erste Form möchte ich als hylotropes Bewußtsein1) bezeichnen. Dazu gehört, daß man sich als feste körperliche Einheit mit genau abgesteckten Grenzen und einer eingeschränkten Reichweite der Sinne erfährt, die im dreidimensionalen Raum und in der linearen Zeit der Welt materieller Objekte existiert. Erlebnisse dieser Art stützen systematisch eine Reihe von Grundannahmen, etwa: die Materie ist fest; zwei Gegenstände können nicht ein und denselben Raum einnehmen; vergangene Ereignisse sind unabänderlich; wir können nicht in die Zukunft sehen; man kann sich zu einem Zeitpunkt nur an einem Ort aufhalten; zu jedem Zeitpunkt sind Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft klar definiert; ein Ganzes ist größer als eines seiner Teile; etwas kann nicht gleichzeitig richtig und falsch sein usw.

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Die andere Form des Erlebens nenne ich holotropes Bewußtsein2). Es ist gekennzeichnet durch die Identifikation mit einem grenzenlosen Bewußtseinsfeld, das zu verschiedenen Aspekten der Realität ohne die Vermittlung der Sinne unbegrenzten Zugang hat. In diesem Bewußtsein gibt es viele echte Alternativen zum dreidimensionalen Raum und zur linearen Zeit. Holotrope Erlebnisse stützen systematisch eine Reihe von Annahmen, die den oben genannten hylotropen Annahmen vollkommen entgegengesetzt sind, etwa: die Festigkeit und Diskontinuität von Materie ist eine Illusion, die durch ein bestimmtes Zusammenspiel von Ereignissen im Bewußtsein bewirkt wird; Raum und Zeit sind letztlich willkürlich; ein und derselbe Raum kann gleichzeitig von vielen Objekten eingenommen werden; Vergangenheit und Zukunft können im gegenwärtigen Augenblick erlebbar gemacht werden; man kann sich selber gleichzeitig an mehreren Orten erfahren; man kann sich selber gleichzeitig in verschiedenen Zeiten erfahren; Teil und Ganzes sind nicht unvereinbare Gegensätze; etwas kann gleichzeitig richtig und falsch sein; Form und Leere sind austauschbar, usw.

Ein Lebensgefühl, das sich ausschließlich auf das hylotrope Bewußtsein beschränkt und das holotrope Bewußtsein systematisch leugnet, ist letztlich unbefriedigend und mit Sinnlosigkeit behaftet, kann aber ohne größere emotionale Schwierigkeiten durchgehalten werden. Solange einzig und allein das holotrope Bewußtsein vorherrscht, läßt es sich nicht mit adäquatem Funktionieren in der materiellen Welt vereinbaren.

Es kann wie das hylotrope Erleben schwierig oder angenehm sein, wirft aber keine größeren Probleme auf, solange die betreffende Person nach außen abgeschirmt ist. Die psychopathologischen Probleme ergeben sich aus dem Zusammenprall und der disharmonischen Mischung beider Erlebensformen, d.h. wenn keine von ihnen in reiner Weise gegeben oder nicht mit der anderen zu einem Erleben höherer Ordnung integriert ist.

Unter solchen Umständen sind die Elemente des auftauchenden holotropen Bewußtseins zu stark und dringen dadurch störend in das hylotrope Bewußtsein ein, doch gleichzeitig kämpft die betreffende Person gegen diese stärker werdende Erfahrung an, weil sie ihr psychisches Gleichgewicht zu beeinträchtigen scheint oder sogar das existierende Weltbild in Frage stellt und damit erforderlich machen würde, eine drastische Neudefinition der Beschaffenheit der Realität zu akzeptieren.

Eben diese Mischung aus beiden Bewußtseinsformen, die als Verzerrung des allgemein anerkannten kartesianisch-Newtonschen Bild von der Wirklichkeit interpretiert wird, macht das Wesen einer psychopathologischen Störung aus.3) Leichtere Formen, die vor allem biographisch determiniert sind und in denen die Natur der Realität nicht ernsthaft in Frage gestellt wird, werden als Neurosen oder psychosomatische Störungen bezeichnet. Größere Abweichungen von der einzig geltenden »objektiven Realität« im Erleben und Denken, die gewöhnlich perinatale oder transpersonale Erfahrungen ankündigen, werden in der Regel als Psychosen diagnostiziert.

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An dieser Stelle sei erwähnt, daß die traditionelle Psychiatrie alle rein holotropen Erfahrungen ebenfalls als pathologische Phänomene ansieht. Ein solches Denken, das unter den Fachleuten immer noch dominiert, müßte eigentlich in Anbetracht der theoretischen Beiträge von Carl Gustav Jung, Roberto Assagioli und Abraham Maslow als veraltet gelten. Nicht nur psychopathologische Symptome, sondern auch viele andere unverständliche Beobachtungen aus der psychedelischen Therapie, der Bewußtseinsforschung im Labor, den Selbsterfahrungstherapien und den spirituellen Praktiken erscheinen in einem neuen Licht, wenn wir uns eines Modells des Menschen bedienen, das die grundlegende Dualität und die dynamische Spannung zwischen der Erfahrung einer begrenzten Existenz als materielles Objekt und der unbegrenzten Existenz als ein undifferenziertes Bewußtseinsfeld widerspiegelt.

Aus dieser Sicht können psychogene Störungen als Anzeichen eines fundamentalen Ungleichgewichts zwischen diesen beiden sich ergänzenden Aspekten der menschlichen Natur aufgefaßt werden. Sie scheinen Knotenpunkte zu sein, die die Bereiche anzeigen, in denen es unmöglich geworden ist, ein verzerrtes, einseitiges Bild von der Existenz aufrechtzuerhalten. Für einen modernen Psychiater sind sie auch die Punkte des geringsten Widerstands, an denen er ansetzen kann, um beim Prozeß der Selbsterforschung und Persönlichkeitsumwandlung behilflich zu sein.

 

Effektive Mechanismen 
der Psychotherapie und Persönlichkeitsumwandlung

Die außergewöhnlichen und oft dramatischen Wirkungen der psychedelischen Therapie und anderer Selbst­erfahrungstechniken werfen natürlich die Frage auf, welche therapeutischen Mechanismen bei diesen Veränderungen eine Rolle spielen. Zwar können manche erhebliche symptomatische Besserungen und ein Teil der Persönlichkeitswandlung nach den Behandlungssitzungen auf konventioneller Basis erklärt werden, doch die Mehrzahl dieser Phänomene ist auf Prozesse zurückzuführen, die bisher von der traditionellen akademischen Psychiatrie und Psychologie nicht entdeckt und anerkannt worden sind.

Dies bedeutet nicht, daß Phänomene dieser Art niemals zuvor beschrieben und erörtert wurden. Sie sind manchmal in der anthropologischen Literatur beschrieben, und zwar im Zusammenhang mit Praktiken von Schamanen, mit Übergangsriten und mit Heilungszeremonien verschiedener Naturvölker. Historische Quellen und religiöse Schriften wimmeln nur so von Schilderungen der Auswirkungen spiritueller Heilpraktiken und vom Treffen verschiedener ekstatischer Sekten auf emotionale und psychosomatische Störungen. Berichte dieser Art wurden aber nicht sorgfältig studiert, weil sie anscheinend mit den bestehenden wissenschaftlichen Paradigmen unvereinbar sind. 

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Das Material, das die moderne Bewußtseinsforschung in den letzten Jahrzehnten zusammengetragen hat, legt aber eine kritische Neubewertung solcher Daten dringend nahe. Offenbar gibt es viele Mechanismen der Heilung und Persönlichkeitsumwandlung, die der Effektivität der biographisch orientierten Methoden, wie sie von den gängigen Psychotherapien praktiziert werden, bei weitem überlegen sind.

Manche der therapeutischen Mechanismen, die in den Anfangsstadien und in den oberflächlichen Formen der Selbsterfahrungstherapie wirksam sind, sind mit den Mechanismen identisch, die man aus den traditionellen psychotherapeutischen Lehrbüchern kennt. Ihre Intensität geht aber in der Regel über die vergleichbaren Phänomene im Rahmen der verbalen Therapiemethoden hinaus. Die Selbsterfahrungs­techniken schwächen das Abwehrsystem und setzen den psychologischen Widerstand herab. Die emotionalen Reaktionen werden dramatisch gesteigert, und heftiges Abreagieren sowie massive kathartische Phänomene sind die Folge. Verdrängtes unbewußtes Material aus der frühen und späten Kindheit wird leicht zugänglich. Dies erleichtert nicht nur in großem Maße die Erinnerung, sondern fördert auch ein echtes Zurückgehen auf die jeweilige Altersstufe und ein lebhaftes Vergegenwärtigen der emotional relevanten Ereignisse mit allen Details. 

 

Das Bewußtwerden dieses Materials und seine Integration gehen einher mit emotionalen und intellektuellen Einsichten in die psychodynamischen Zusammenhänge der Symptome und der zwischenmenschlichen Probleme. Die Übertragung und Übertragungsanalyse, denen in der psychoanalytisch orientierten Psychotherapie kritische Bedeutung beigemessen wird, verdienen in diesem Zusammenhang besondere Aufmerksamkeit. Die Wiederherstellung der ursprünglichen pathogenen Konstellationen und die Entwicklung einer Übertragungsneurose werden traditionell als absolut unerläßliche Voraussetzungen für eine erfolgreiche Therapie angesehen. 

In den Selbsterfahrungstherapien — mit und ohne die Anwendung psychedelischer Drogen — gilt die Übertragung als eine unnötige und unerwünschte Komplikation. Wenn man sich eines Vorgehens bedient, das den Klienten häufig schon in einer Sitzung an die eigentliche Ursache verschiedener Gefühle und Körperempfindungen bringt, dann muß die Übertragung auf den Therapeuten oder einen Kotherapeuten als Anzeichen von Widerstand und Abwehr gegen die Konfrontation mit dem wirklichen Problem gewertet werden. Zwar mag in der Sitzung der Kotherapeut die Rolle eines Elternteils übernehmen und dabei sogar mit dem Klienten Körperkontakt aufnehmen, doch ist es wichtig, das sich dies nur im Rahmen der Behandlungssitzungen abspielt. Selbsterfahrungstechniken sollten die Unabhängigkeit und die persönliche Verantwortung für den eigenen Prozeß und nicht irgendwelche Form von Abhängigkeit fördern.

Im Gegensatz zu dem, was man vielleicht allgemein annimmt, wirkt sich eine direkte Befriedigung anaklitischer Bedürfnisse4) in Selbsterfahrungssitzungen förderlich auf die Unabhängigkeit aus und kultiviert nicht eine Abhängigkeit. Dies scheint Beobachtungen aus der Entwicklungspsychologie zu entsprechen, wonach eine angemessene emotionale Befriedigung in der Kindheit dem Kind die spätere Unabhängigkeit von der Mutter erleichtert.

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Gerade diejenigen, die als Kind unter chronischer emotionaler Deprivation litten, streben für den Rest ihres Lebens nach der Befriedigung dessen, was ihnen damals versagt wurde. So scheint es in der psychoanalytischen Situation auch die chronische Frustration zu sein, die die Übertragung schürt, wohingegen die unmittelbare Erfüllung anaklitischer Bedürfnisse in einem Zustand tiefer Regression ihre Lösung erleichtert. 

Viele plötzliche und dramatische Veränderungen auf tieferen psychischen Ebenen lassen sich als Folgen des Zusammenwirkens unbewußter Konstellationen erklären, die die Funktion dynamischer Steuerungssysteme haben. Die wichtigsten von ihnen sind die COEX-Systeme, die das biographische Material organisieren, und die perinatalen Grundmatrizen, die eine ähnliche Rolle in bezug auf die gespeicherten Erlebnisse haben, die mit der Geburt und dem Tod-Wiedergeburt-Prozeß in Verbindung stehen. Die wesentlichen Merkmale dieser beiden Kategorien funktionaler Steuerungssysteme habe ich schon früher ausführlich beschrieben. Wir könnten auch von transpersonalen dynamischen Matrizen sprechen, doch die außerordentliche Vielfalt und die losere Organisation transpersonaler Phänomene würden ihre umfassende Darstellung erschweren. Das System der philosophia perennis, das verschiedene transpersonale Phänomene unterschiedlichen Ebenen kausaler und feinstofflicher Bereiche zuordnet, kann als maßgeblicher Leitfaden für zukünftige Klassifikationen dieser Art dienen. 

Je nach der Natur der emotionalen Besetzung können wir unterscheiden zwischen negativen Steuerungs­systemen (negative COEX-Systeme, die zweite und dritte perinatale Grundmatrix, negative Aspekte der ersten perinatalen Grundmatrix und negative transpersonale Matrizen) und positiven Steuerungssystemen (positive COEX-Systeme, die vierte perinatale Grundmatrix, positive Aspekte der ersten perinatalen Grundmatrix und positive transpersonale Matrizen). Die generelle Strategie von Selbsterfahrungstherapien besteht in der Verringerung der emotionalen Besetzung negativer Systeme und in der Erleichterung des erlebnismäßigen Zugangs zu den positiven Systemen. Eine spezifischere taktische Regel lautet, die Endphase einer jeden einzelnen Sitzung so zu strukturieren, daß eine Abschließung und Integration des unbewußten Materials, das jeweils in einer Sitzung bewußt gemacht wurde, möglichst gewährleistet ist. 

Der klinische Zustand, den jemand nach außen hin bietet, läßt keine allgemeinen Rückschlüsse auf die Natur und die Gesamtmenge des unbewußten Materials zu (soweit sich der Begriff »unbewußt« überhaupt für die Beschreibung von Ereignissen in einer Welt des Bewußtseins eignet). Viel mehr hängt er von einer spezifischen Fokussierung oder Abstimmung ab, durch die bestimmte Aspekte dieses Materials dem Bewußtsein leichter zugänglich gemacht werden können. Personen, die auf bestimmte Ebenen negativer biographischer, perinataler und transpersonaler Steuerungssysteme abgestimmt sind, nehmen sich selber und ihre Umwelt im großen und ganzen pessimistisch wahr und leiden unter emotionalen sowie psychosomatischen Beschwerden. 

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Umgekehrt geht es denjenigen, die sich unter dem Einfluß positiver Steuerungssysteme befinden, in emotionaler und psychosomatischer Hinsicht ausgezeichnet. Die speziellen Eigenschaften der resultierenden Zustände hängen in beiden Fällen von der Natur des aktivierten Materials ab.5) 

 

Veränderungen im steuernden Einfluß der dynamischen Matrizen können als Folge verschiedener biochemischer oder physiologischer Prozesse innerhalb des Organismus oder aber äußerer Einwirkungen physischer oder psychischer Natur auftreten. Selbsterfahrungstherapien scheinen einen tiefen Eingriff in die Dynamik der steuernden Systeme in der Psyche und in ihr funktionales Zusammenspiel darzustellen. Wie aus der detaillierten Analyse der Phänomenologie von Selbsterfahrungssitzungen hervorgeht, können viele Fälle einer plötzlichen und dramatischen Besserung während der Therapie als Umschwung vom dominierenden Einfluß eines negativen Steuerungssystems zu einem Zustand erklärt werden, in dem eine positive Konstellation vorherrscht. Eine solche Veränderung bedeutet nicht unbedingt, daß das unbewußte Material, das den psychopathologischen Symptomen zugrunde liegt, durchgearbeitet worden ist. Sie weist lediglich auf eine innere dynamische Verlagerung von einem Steuerungssystem zu einem anderen hin. Dieser Vorgang, den ich als Transmodulation bezeichnen möchte, kann auf mehreren verschiedenen Ebenen stattfinden. Ein Wechsel zwischen biographischen Konstellationen kann als COEX-Transmodulation bezeichnet werden, eine vergleichbare Verlagerung von einer dominierenden perinatalen Matrix auf eine andere wäre eine perinatale Transmodulation, und der entsprechende Vorgang, der funktionale Steuerungssysteme im überindividuellen Bereich des Unbewußten betrifft, trägt die Bezeichnung transpersonale Transmodulation.

 

Eine typische positive Transmodulation verläuft in zwei Phasen. Zuerst verstärkt sich der dominierende Einfluß des negativen Systems, dann erfolgt plötzlich der Umschwung zum positiven System. Ist ein starkes positives System aber schon ziemlich bewußtseinsnahe, dann kann es die Selbsterfahrungssitzung von Anfang an bestimmen und das negative System in den Hintergrund zurücktreten lassen. Der Wechsel von einer dynamischen Konstellation zu einer anderen führt nicht automatisch zu einer klinischen Besserung. Es besteht die Möglichkeit, daß eine schlecht durchgearbeitete und nicht ausreichend integrierte Sitzung eine negative Transmodulation hervorruft, die Verlagerung des Schwergewichts von einem positiven zu einem negativen System. Diese Situation ist charakterisiert durch das plötzliche Auftreten psychopathologischer Symptome, die sich vor der Sitzung noch nicht gezeigt haben. Allerdings dürfte ein solcher Fall bei einem Therapeuten, der über viel Kenntnis verfügt und gut geschult ist, selten eintreten. Er soll dann als Hinweis darauf gewertet werden, daß eine weitere Sitzung in naher Zukunft festgesetzt werden soll, um die Gestalt, die im Bewußtsein aufgetaucht ist, zu schließen.

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Abb. 34. 
Wiedergeburtserlebnis in einer LSD-Sitzung: Die Schlange repräsentiert die alten neurotischen Persönlichkeits­elemente (Angst, Depression, Schuldgefühle). Ein menschlicher Fötus und aufsprießende Saat symbolisieren den Durchbruch zu völlig neuen, positiven Möglichkeiten.

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Abb. 35.
Der Zyklus von Tod und Wiedergeburt, inspiriert durch eine psychedelische Sitzung. Daß die kleine Blume, die sich aus den Überresten der Vergangenheit ernährt, eine Nelke ist, weist im Wortspiel (Nelke = engl, »carnation«) auf Reinkarnation hin.

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Eine andere interessante Möglichkeit ist die Verlagerung von einem negativen System auf ein anderes, das seinem Wesen nach ebenfalls negativ ist. Nach außen zeigt sich dies in einem auffallenden Wandel der psychopathologischen Symptomatik. Gelegentlich kann dieser Wandel so dramatische Formen annehmen, daß der Klient innerhalb von Stunden ein völlig anderes klinisches Bild bietet.6) Der resultierende Zustand mag, oberflächlich betrachtet, zwar völlig neu erscheinen, doch waren alle seine wesentlichen Elemente im Unbewußten des Patienten schon vor diesem dynamischen Umschwung in potentieller Form gegeben. Man muß sich dessen bewußt sein, daß in einer Selbsterfahrungstherapie unbewußtes Material nicht nur gründlich durchgearbeitet wird, sondern sich in ihm auch dramatische Schwerpunktverlagerungen ergeben können, die sich dann entsprechend im bewußten Erleben äußern.

Die mit biographischem Material verbundenen therapeutischen Änderungen sind von relativ geringer Bedeutung, ausgenommen derjenigen, die mit dem Wiedererleben von größeren körperlichen Traumen und lebensbedrohlichen Situationen einhergehen. Die therapeutische Wirkung des Erlebensprozesses nimmt beträchtlich zu, wenn die Selbsterforschung die perinatale Ebene erreicht.7 Erlebnisse, die Tod und Wiedergeburt beinhalten, können zu einer dramatischen Besserung oder sogar zu einem vollkommenen Verschwinden der verschiedensten emotionalen und psychosomatischen Probleme führen.

 

Wie schon früher ausführlich besprochen, stellen die negativen perinatalen Matrizen ein bedeutendes Reservoir an Gefühlen und Körperempfindungen von außerordentlicher Intensität dar. Man kann sie wahrhaftig als eine universelle Matrix für viele verschiedene Formen psychopathologischer Phänomene bezeichnen. Gerade so entscheidende Symptome wie Angst, Aggressionen, Depressionen, Angst vor dem Tod, Schuldgefühle, Minderwertigkeitsgefühle, Hilflosigkeit und eine allgemeine emotionale und physische Anspannung wurzeln auf der perinatalen Ebene. Das perinatale Modell vermag auch eine natürliche Erklärung für verschiedene psychosomatische Symptome und Störungen zu geben. Viele Aspekte dieser Phänomene und ihre Beziehungen untereinander werden von ihren Hintergründen her erst verständlich, wenn wir sie mit dem Geburtstrauma in Verbindung bringen. (S. auch Abb. 34, S. 335.) 

Es überrascht deshalb nicht, daß intensive Tod-Wiedergeburt-Erlebnisse mit der klinischen Besserung der verschiedenartigsten emotionalen und psychosomatischen Störungen verknüpft sind, handele es sich um Depressionen, um eine Klaustrophobie und um Sadomasochismus, um Alkoholismus und Drogensucht oder um Asthma, Schuppenflechte und Migränekopfschmerzen. Aus den Zusammenhängen zwischen den perinatalen Matrizen und den Psychosen lassen sich sogar für diese psychopathologischen Erscheinungen neue Behandlungsstrategien logisch ableiten.

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Am interessantesten und verblüffendsten sind wohl die Beobachtungen im Rahmen von Selbsterfahrungs­therapien, die sich auf das therapeutische Potential des transpersonalen Bereichs der Psyche beziehen. In vielen Fällen sind spezifische klinische Symptome in dynamischen Strukturen transpersonalen Charakters verankert und lassen sich nicht auf der Ebene psychodynamischer oder perinataler Erfahrungen lösen. Um mit einem bestimmten Problem emotionaler, psychosomatischer oder zwischenmenschlicher Art fertig zu werden, muß sich der Klient in seinem Erleben manchmal dramatischen Handlungsabfolgen eindeutig transpersonaler Natur stellen. Viele außergewöhnliche und höchst interessante Beobachtungen aus einer Selbsterfahrungstherapie machen die dringende Notwendigkeit deutlich, die transpersonale Dimension und Perspektive in die alltägliche psychotherapeutische Praxis einzubeziehen.

Gelegentlich kommt es vor, daß hartnäckige emotionale und psychosomatische Symptome, die nicht auf der biographischen oder perinatalen Ebene gelöst werden können, vollkommen verschwinden oder sich erheblich abschwächen, wenn die betreffende Person mit verschiedenen embryonalen Traumen konfrontiert wird. Das Wiedererleben von Abtreibungsversuchen, von Krankheiten oder emotionalen Krisen der Mutter während der Schwangerschaft, und von fötalen Erfahrungen des Nichtgewolltwerdens (des »ablehnenden Mutterleibs«) kann von großem therapeutischem Wert sein. Besonders dramatische Beispiele therapeutischer Veränderung lassen sich in Verbindung mit Erlebnissen aus früheren Inkarnationen beobachten. Diese treten manchmal gleichzeitig mit perinatalen Phänomenen auf, manchmal als eigenständige Erlebensgestalten. Gelegentlich spielen auch Erinnerungen an Ereignisse aus dem Leben von - engeren oder entfernteren - Vorfahren eine ähnliche Rolle. In solchen Fällen verschwinden die Symptome, sobald sich der Klient mit diesen Erlebnissen konfrontiert hat. Ich habe auch schon Personen gesehen, die manche ihrer Probleme als verinnerlichte Konflikte zwischen den Familien ihrer Vorfahren identifizierten und sie auf dieser Ebene lösten.

Manche psychopathologischen und psychosomatischen Symptome erweisen sich als Reflexionen eines im Erleben des Patienten auftauchenden Tier- oder Pflanzenbewußtseins. Ist dies der Fall, dann wird eine vollständige Identifizierung mit dem betreffenden Tier oder der betreffenden Pflanze notwendig sein, um die jeweiligen Probleme zu lösen. Gelegentlich machen Klienten in ihren Selbsterfahrungssitzungen auch die Entdeckung, daß manche ihrer Symptome, Einstellungen und Verhaltensweisen Ausdruck eines archetypischen Musters sind. Die dabei wirksamen Energieformen können manchmal eine so fremde Qualität annehmen, daß ihre Äußerungen den Charakter dessen haben, was man als »Besessenheit von einem fremden Geist« beschrieben hat. Das therapeutische Vorgehen erinnert dann in vielerlei Hinsicht an den Exorzismus, wie er in der Kirche des Mittelalters praktiziert wurde, oder an die Vertreibung böser Geister, wie man sie bei Naturvölkern antreffen kann. Besondere Erwähnung verdienen in diesem Zusammenhang das Gefühl der Einheit mit dem Kosmos, die Identifizierung mit dem Geist des Universums, oder die Erfahrung des über- und metakosmischen Nichts.

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All diese Erlebnisse besitzen enormes therapeutisches Potential, das mit keiner einzigen von den derzeit existierenden Theorien, die auf dem kartesianisch-Newtonschen Paradigma basieren, begreiflich gemacht werden kann. Es ist eine große Ironie und eine der Paradoxien der modernen Wissenschaft, daß ausgerechnet transpersonale Erlebnisse, die bis vor kurzem mit psychotischen Phänomenen in einen Topf geworfen wurden, ein großes Heilungspotential besitzen, das dem meisten, was das allopathische Arsenal der gegenwärtigen Psychiatrie zu bieten hat, weit überlegen ist. Wie immer auch ein Therapeut in beruflicher und philosophischer Hinsicht über transpersonale Erlebnisse denken mag, er sollte sich ihrer heilenden Kräfte bewußt sein und seine Klienten unterstützen, wenn ihre Selbsterforschung mit oder gegen ihren Willen in transpersonale Bereiche vordringt.

Ganz allgemein gesprochen weisen emotionale und psychosomatische Symptome auf eine Blockierung des energetischen Flusses hin und sind letztlich der verdichtete Ausdruck von Erlebnissen, die auf die Ebene des Bewußtseins drängen. Inhaltlich können diese Erlebnisse höchst verschiedenartiger Natur sein. Sie umfassen bestimmte Kindheitserinnerungen, problematische Emotionen, die sich ein Leben lang aufgestaut haben, Geburtserlebnisse, karmische Konstellationen, archetypische Muster, phylogenetische Episoden, Identifikationen mit Pflanzen oder Tieren, Manifestationen dämonischer Energie und viele andere Phänomene. Effektive therapeutische Mechanismen im weitesten Sinne wären demnach die Freisetzung der blockierten Energien und die Förderung ihrer Äußerungen im Erleben und Verhalten, wobei man völlig offenläßt, welche Formen diese Äußerungen annehmen.

Zu therapeutischen Resultaten führt dann das Schließen der Erlebensgestalten, ob nun die beteiligten Prozesse intellektuell verstanden werden oder nicht. Wir haben sowohl in der psychedelischen Therapie als auch in Selbsterfahrungssitzungen mit der Technik der holonomen Integration erlebt, wie auf eine Weise, die alle rationale Vorstellungskraft übersteigt, Probleme auf eine dramatische Art und mit dauerhaftem Erfolg gelöst wurden. Zur Veranschaulichung soll folgendes Beispiel dienen:

*

Vor mehreren Jahren nahm an einem unserer fünf Tage dauernden Workshops eine Frau teil — ich möchte sie Gladys nennen —, die seit vielen Jahren unter täglichen Anfällen von schwerer Depression litt. Diese Anfälle fingen gewöhnlich morgens nach 4 Uhr an und dauerten mehrere Stunden. Es fiel Gladys extrem schwer, ihre Kräfte für den neuen Tag zu sammeln.

Im Workshop nahm sie auch an einer Sitzung mit holonomer Integration teil (siehe Kap. 7: Prinzipien des psychotherapeutischen Beistands). In dieser Technik sind kontrolliertes Atmen, anregende Musik und gezielte Körperarbeit miteinander kombiniert. Nach meiner Ansicht stellt sie die wirksamste Selbsterfahrungstechnik dar.

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Gladys reagierte auf die Atemübungen mit einer enormen Mobilisierung ihrer Körperenergien, gelangte aber nicht zu einer Lösung ihrer Probleme. Es war eine Situation, die für unsere Arbeit äußerst ungewöhnlich ist. Am Morgen darauf stellten sich die Depressionen wie gewöhnlich wieder ein, diesmal aber noch viel heftiger als jemals zuvor. Als Gladys in unsere Gruppe kam, befand sie sich in einem Zustand großer Anspannung und litt unter Depressionen und Angstgefühlen. Es war deshalb erforderlich, das Programm für diesen Morgen zu ändern und unverzüglich mit ihr zu arbeiten.

Wir forderten sie auf, sich mit geschlossenen Augen hinzulegen, etwas schneller zu atmen, der Musik, die wir spielten, zuzuhören, und sich allen Bildern und Körperempfindungen, die in ihr hochkamen, hinzugeben. Etwa fünfzig Minuten lang waren bei Gladys heftiges Zittern und andere Anzeichen starker psychomotorischer Erregung zu erkennen. Sie schrie laut und kämpfte gegen unsichtbare Feinde. Wie sie dann rückblickend erzählte, hatte sie in dieser Zeit ihre Geburt wiedererlebt. In einem bestimmten Augenblick wurde ihr Schreien artikulierter und nahm immer mehr Ähnlichkeit mit Worten einer unbekannten Sprache an. Wir forderten sie auf, die Laute, so wie sie kamen, aus sich herauszulassen, ohne sie intellektuell zu beurteilen. Plötzlich wurden ihre Bewegungen extrem stilisiert und ausdrucksstark, und sie stimmte einen Gesang an, der sich wie ein inbrünstiges Gebet anhörte.

Der Eindruck, den dieses Erlebnis auf die Gruppe machte, war extrem stark. Ohne die Worte zu verstehen, waren die meisten Gruppenmitglieder tief bewegt und fingen zu weinen an. Als Gladys mit ihrem Gesang zu Ende war, beruhigte sie sich und verfiel in einen Zustand glückseliger Ekstase, in dem sie völlig bewegungslos länger als eine Stunde verharrte. Rückblickend war sie nicht in der Lage, das Geschehen zu erklären, und sie hatte auch überhaupt keine Ahnung, in welcher Sprache sie gesungen hatte. Ein argentinischer Psychoanalytiker aber, der in der Gruppe anwesend war, erkannte, daß Gladys in perfektem Sephardisch gesungen hatte, das er zufällig kannte. Seine Übersetzung ihrer Worte war: »Ich leide und werde immer leiden. Ich weine und werde immer weinen. Ich bete und werde immer beten.« Gladys selber sprach noch nicht einmal das heutige Spanisch, geschweige denn Sephardisch, und wußte überhaupt nicht, was Sephardisch war.

*

In anderen Fällen haben wir Situationen erlebt, in denen ein Schamanengesang, das Sprechen in einer fremden Sprache oder authentische Laute von Tieren verschiedener Spezies ähnliche positive Wirkungen hatten. Da wohl kein therapeutisches System Ereignisse dieser Art vorhersagen kann, scheint die einzige intelligente Strategie, die hier möglich ist, Vertrauen in die innere Weisheit des Prozesses zu sein.

Häufig stehen psychopathologische Symptome in Verbindung mit mehr als einer psychischen Ebene oder einem Band des Bewußtseinsspektrums. Ich möchte diesen Abschnitt mit der Schilderung dessen abschließen, was einem Teilnehmer an unseren fünftägigen Gruppen, der seitdem zu unseren engen Freunden zählt, widerfuhr:

Norbert, Psychologe und Geistlicher, litt seit Jahren unter starken Schmerzen in seiner Schulter- und Brustmuskulatur. Wiederholte medizinische Untersuchungen — einschließlich Röntgendurchleuchtungen — vermochten keine Anhaltspunkte für eine organische Grundlage seiner Schmerzen zu liefern, und alle therapeutischen Bemühungen schlugen fehl. Während der Sitzung mit holonomer Integration fiel es ihm enorm schwer, die Musik

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zu ertragen, und er mußte dazu ermutigt werden, den Prozeß trotz großen Unbehagens weiter durchzumachen. Etwa eineinhalb Stunden lang empfand er heftige Schmerzen in seiner Brust und seiner Schulter, schlug wild um sich, als wäre sein Leben ernsthaft in Gefahr, würgte und hustete, und ließ verschiedene laute Schreie ertönen. Später beruhigte er sich und war entspannt und friedlich. Mit großem Erstaunen berichtete er, daß dieses Erlebnis die Spannung in seiner Schulter gelöst hatte und er keine Schmerzen mehr empfand. Diese Besserung erwies sich als beständig. Es sind nun vier Jahre seit dieser Sitzung vergangen, und die Symptome sind nicht mehr wiedergekommen. 

Rückblickend berichtete Norbert, daß es in seinem Erlebnis drei Ebenen gegeben hätte, von denen jede mit den Schmerzen in der Schulter im Zusammenhang stand. Auf der oberflächlichsten Ebene erlebte er eine schreckliche Situation aus seiner Kindheit wieder, in der er beinahe sein Leben verloren hätte. Er und seine Freunde hatten an einem Sandstrand einen Tunnel gegraben. Als sich Norbert gerade im Tunnel befand, stürzte dieser ein, und er wäre beinahe erstickt.

Als sich das Erleben vertiefte, wurde er mit mehreren Erinnerungen an seinen Kampf im Geburtskanal konfrontiert, bei dem er ebenfalls nahezu erstickte und starke Schmerzen in der Schulter hatte. Er steckte hinter dem Schambein seiner Mutter fest. 

Im letzten Teil der Sitzung veränderte sich das Erleben auf dramatische Weise. Norbert fing an, militärische Uniformen und Pferde zu sehen und erkannte, daß er sich in einer Schlacht befand. Er vermochte sie sogar als eine der Schlachten in England zu Zeiten Oliver Cromwells zu identifizieren. In einem bestimmten Augenblick verspürte er einen stechenden Schmerz und bemerkte, daß seine Brust von einer Lanze durchbohrt war. Er stürzte vom Pferd und erlebte, wie er von den anderen Pferden totgetrampelt wurde.

*

Ob solche Erlebnisse nun eine »objektive Realität« widerspiegeln oder nicht — ihr therapeutischer Wert steht außer Frage. Ein Therapeut, der aufgrund seines intellektuellen Skeptizismus nicht willens ist, sie zu unterstützen, verzichtet auf ein therapeutisches Instrument von außergewöhnlicher Wirksamkeit.

 

Die Spontaneität und Autonomie von Heilungsprozessen

Die allgemeine therapeutische Strategie in der Psychiatrie und Psychotherapie wird wesentlich vom medizinischen Modell bestimmt, das ich bereits ausführlicher besprochen habe. Alle emotionalen, psychosomatischen und zwischenmenschlichen Probleme gelten als Manifestationen von zugrunde liegenden Krankheiten. Entsprechend sind auch die therapeutische Beziehung, die allgemeine Klient-Therapeut-Situation sowie das Verständnis des Heilungsprozesses von medizinischen Vorstellungen geprägt.

In der Medizin hat der behandelnde Arzt eine lange und spezialisierte Ausbildung sowie entsprechende Erfahrung hinter sich. Er weiß bei weitem besser als der Patient, was bei diesem nicht stimmt. Vom Patienten wird also erwartet, daß er eine passive und abhängige Rolle einnimmt und tut, was man ihm sagt. 

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Sein Beitrag zur Behandlung beschränkt sich darauf, subjektive Daten über die Krankheitssymptome zu liefern und Rückmeldung über die Wirkung der Behandlungsmaßnahmen zu geben. Als heilend wird vor allen Dingen die medizinische Intervention gewertet, also die Behandlung mit Pillen, Injektionen, Bestrahlungen oder Operationen. Der enorme Anteil am Heilungsprozeß, der von den inneren regenerativen Kräften des Organismus ausgeht, wird als selbstverständlich hingenommen und nicht besonders erwähnt. Das Extrem ist der chirurgische Eingriff, bei dem der Patient unter Umständen in Vollnarkose behandelt und der heilende Effekt einzig und allein Maßnahmen zugeschrieben wird, die den Organismus von außerhalb treffen.

Das medizinische Modell bestimmt auch weiterhin die Psychiatrie, obwohl es zunehmend Belege dafür gibt, daß es unangemessen und letztlich sogar schädlich ist, wenn es auf die Mehrzahl der psychiatrischen Störungen angewendet wird. Es übt einen mächtigen Einfluß nicht nur auf die Fachleute aus, die eine explizite organische Orientierung vertreten, sondern auch auf diejenigen, die dynamische Psychotherapie praktizieren. Wie in der Medizin gilt auch hier der Therapeut als Experte, der die Psyche seiner Patienten besser kennt als sie selber, und der ihnen ihre Erlebnisse interpretiert. Der Patient trägt zur Behandlung Daten aus der Selbstbeobachtung bei, anerkanntermaßen wichtig für den therapeutischen Fortschritt ist jedoch die Aktivität des Therapeuten. Es gibt viele offenkundige und weniger offenkundige Aspekte der therapeutischen Situation, die den Patienten in eine passive Rolle drängen und ihn darin festhalten. Die generelle Strategie jeder Form von Psychotherapie beruht auf theoretischen Auffassungen davon, wie die Psyche funktioniert, warum und wie sich Symptome entwickeln, und was zur Änderung dieser Situation getan werden muß. Der Therapeut wird also als jemand gesehen, der für den therapeutischen Fortschritt seiner Patienten entscheidend verantwortlich ist.

Obwohl verschiedene psychotherapeutische Schulen in ihrer Theorie die Notwendigkeit betonen, zu den tieferen Ursachen hinter den Symptomen vorzudringen, wird in der alltäglichen Praxis eine Abschwächung der Symptomatik mit Besserung und ihre Intensivierung mit Verschlechterung der eigentlichen emotionalen Störung gleichgesetzt. Die Vorstellung, daß die Intensität der Symptome einen linearen und zuverlässigen Indikator für den Schweregrad der dahinter stehenden pathologischen Prozesse abgibt, ist in der Medizin bis zu einem gewissen Grad gerechtfertigt. Selbst dort aber gilt sie nur für die Fälle, in denen sich die Heilung spontan einstellt oder in denen sich die therapeutische Intervention direkt gegen die primären Ursachen und nicht gegen die in Erscheinung tretenden Symptome richtet.

Es würde wohl nicht als gute medizinische Praxis angesehen werden, seine ganzen Aktivitäten und Anstrengungen auf die Abschwächung der äußerlichen Manifestationen von Krankheiten zu konzentrieren, deren Grundprozeß bekannt ist und direkt beeinflußt werden kann8. Genau dies ist aber die Strategie, die in der gegenwärtigen Psychiatrie vorherrscht. 

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Im folgenden werde ich Belege aus der modernen Bewußtseinsforschung anführen, die deutlich machen, daß die gängige medizinische und symptomatische Orientierung nicht nur ein oberflächlicher Kompromiß ist, wie gewöhnlich von einsichtigeren Psychiatern erkannt wird, sondern daß sie sich in vielen Fällen unmittelbar antitherapeutisch auswirkt, da sie störend in die Dynamik eines spontanen Prozesses mit innewohnendem Heilungspotential eingreift.

Wenn eine Person, die unter emotionalen oder psychosomatischen Störungen leidet, diese in einer psychedelischen Therapie oder mit einer der neuen Selbsterfahrungstechniken angeht, dann werden diese Symptome in der Regel aktiviert und verstärken sich, sobald sie sich dem biographischen, perinatalen oder transpersonalen Material nähert, das hinter ihnen steht. Eine voll bewußte Manifestation und Integration des thematischen Kerns führt dann zur Beseitigung oder Modifikation des Problems. Der Wechsel der äußeren Erscheinungsform spiegelt demnach eine dynamische, nicht einfach eine symptomatische Lösung wider.

In der Regel ist die Konfrontation mit der Erfahrung hinter den Symptomen beträchtlich schwieriger und schmerzlicher als das Leben mit den Symptomen im Alltag, auch wenn sie teilweise dieselben Elemente beinhaltet. Diese Strategie ermöglicht aber eine radikale und dauerhafte Lösung. Sie bewirkt nicht lediglich eine Verdrängung und eine Maskierung der wahren Probleme. Ein solches Vorgehen unterscheidet sich erheblich von den allopathischen Strategien des medizinischen Modells. Es hat Parallelen in der homöopathischen Medizin, in der man sich im allgemeinen bemüht, die bestehenden Symptome zu akzentuieren, um die dem Organismus innewohnenden heilenden Kräfte zu mobilisieren.

 

Eine auf psychologische Probleme übertragene Konzeption dieser Art ist charakteristisch für einige der humanistischen Selbsterfahrungstherapien, insbesondere für die Gestalttherapie. Der tiefe Respekt vor der inneren Weisheit der Heilungsprozesse ist auch ein wesentliches Merkmal der Psychotherapie von C.G. Jung. Heilende Maßnahmen dieser Art haben bedeutsame Vorläufer und Parallelen in alten Kulturen und bei Naturvölkern, etwa in den Prozeduren von Schamanen, in spirituellen Heilungszeremonien, in den Tempelmysterien und in den Treffen ekstatischer religiöser Gruppen. 

Als wichtige Beispiele können die Zeugnisse Platons und Aristoteles' über die gewaltige Heilkraft der griechischen Mysterien angeführt werden. Hinter all diesen therapeutischen Strategien steht der Glaube, daß eine Unterstützung des Prozesses hinter dem Symptom nach einer vorübergehenden Verschlechterung letztlich zur Selbstheilung und Bewußtseinserweiterung führt. Eine gründliche Beseitigung psychopathologischer Probleme ergibt sich also nicht durch die Abschwächung der beteiligten emotionalen und psychosomatischen Symptome, sondern durch ihre vorübergehende Intensivierung, ihr volles Erleben und ihre bewußte Integration.

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Wie ich schon im vorhergehenden Abschnitt angedeutet habe, scheint die treibende Kraft hinter den Symptomen letztlich die Tendenz des Organismus zu sein, das Gefühl der Getrenntheit von der übrigen Welt oder die ausschließliche Identifizierung mit dem Körper bzw. dem Ich sowie die Beschränkungen durch die Materie, den dreidimensionalen Raum und die lineare Zeit zu überwinden. Obwohl der Organismus endgültig danach strebt, sich mit dem kosmischen Bewußtseinsfeld zu verbinden und die holonome Wahrnehmung der Welt zu erreichen, kann dieses letzte große Ziel in einem systematischen Prozeß der Selbsterforschung begrenztere Formen annehmen: etwa das Durcharbeiten biographischer Traumen und die Bewußtmachung positiver und vereinigender Aspekte der Lebensgeschichte (der »Lebensleitlinie«), das Wiedererleben des Geburtstraumas und die Wiederherstellung des ozeanischen Zustands der fötalen Existenz oder der symbiotischen Verschmelzung mit der Mutter während des Stillens, oder schließlich das teilweise Überwinden von Raum und Zeit sowie die Erfahrung verschiedener Aspekte der Wirklichkeit, die dem normalen Bewußtsein nicht zugänglich sind.

Das Haupthindernis in einem so verstandenen Heilungsprozeß ist der Widerstand des Ich, das die Neigung hat, sein beschränktes Selbstkonzept und Weltbild zu verteidigen, sich an das Vertraute zu klammern und das Unbekannte zu fürchten, und sich gegen die Verstärkung emotionalen und körperlichen Leids zu wehren. Genau diese Entschlossenheit des Ich, den Status quo aufrechtzuerhalten, stört den spontanen Heilungsprozeß und friert ihn in einer relativ stabilen Form ein, die wir als psychopathologische Symptomatik erkennen.

Aus dieser Sicht muß jedes Bemühen, die Symptome zuzudecken oder künstlich abzuschwächen, nicht nur als Leugnung und Vermeidung des Problems, sondern auch als störender Eingriff in die spontanen Selbstheilungstendenzen des Organismus angesehen werden.9 Ein solcher Weg sollte nur dann eingeschlagen werden, wenn sich der Patient, der über die Natur seines Problems und über die Alternativen informiert worden ist, ausdrücklich weigert, in den Prozeß der fortdauernden Selbsterforschung einzusteigen, oder wenn der aufdeckende Prozeß mangels Zeit, menschlicher Hilfe und angemessener Einrichtungen nicht möglich ist. Auf jeden Fall sollte sich der Fachmann, der symptomatisch — etwa mit Tranquilizern oder stützender Psychotherapie — behandelt, dessen voll bewußt sein, daß sein Vorgehen reine Beschwichtigung und ein trauriger Kompromiß ist und nicht eine Methode der Wahl, die ein wissenschaftliches Verständnis der beteiligten Probleme erkennen läßt.

Die Einwände, die sich gegen die Durchführbarkeit des hier empfohlenen Ansatzes aufdrängt, sind natürlich der Mangel an menschlichen Hilfsmöglichkeiten und die Kostspieligkeit der tiefenpsychologischen Therapie. Solange wir uns nach Freudschen Normen richten, also davon ausgehen, daß ein einzelner Analytiker in seinem ganzen Leben durchschnittlich 80 Patienten behandelt, scheinen solche Einwände gerechtfertigt. 

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Die neuen Selbsterfahrungstechniken haben aber diese Situation drastisch verändert. Die psychedelische Therapie ermöglicht eine erhebliche Beschleunigung des therapeutischen Prozesses und erweitert auch den Indikationsbereich für eine Psychotherapie auf Kategorien, die früher ausgeschlossen waren, etwa auf Alkoholiker, Drogenabhängige und kriminelle Psychopathen. Da allerdings die Zukunft der psychedelischen Therapie aufgrund der administrativen, politischen und gesetzlichen Hindernisse relativ ungewiß ist, erscheint es zweckmäßiger, sich an den neuen Selbsterfahrungstherapien ohne die Zuhilfenahme von Drogen zu orientieren. Manche von ihnen enthalten therapeutische Möglichkeiten, die die der verbalen Techniken bei weitem übersteigen. Ein wirklich realistischer Ansatz zur Behandlung emotionaler Störungen müßte aber die ausschließliche Verantwortung aus den Händen der Fachleute nehmen und die enormen Möglichkeiten der allgemeinen Bevölkerung nutzen.

 

In der von meiner Frau Christina und mir entwickelten Technik der holotropen Therapie können bis zu 20 Personen erhebliche Fortschritte in ihrer Selbsterforschung und im Heilungsprozeß innerhalb einer Sitzung machen, die zwei bis drei Stunden dauert. Weitere 20 Personen, die in einer solchen Sitzung den anderen Beistand leisten, können Vertrauen in ihre Fähigkeiten entwickeln, anderen Menschen im Prozeß der Selbsterforschung zu helfen. In der Regel sind zwei bis drei speziell geschulte Personen anwesend, die Hilfe leisten, wo sie akut gebraucht wird. 

In vielen Fällen kann man erheblich für sich profitieren, wenn man anderen hilft. Solche Situationen stärken nicht nur das Selbstvertrauen und vermitteln Befriedigung, sondern sind auch eine Quelle wichtiger Einsichten in den eigenen Prozeß. Wenn einmal der Bann des medizinischen Modells über das System gebrochen ist, dann läßt sich vorstellen, daß die Wissenschaft und Kunst der Selbsterforschung und des Beistands im emotionalen Prozeß anderer Menschen Teil der grundlegenden Bildung und Erziehung aller werden könnten. Viele bereits existierenden Techniken kombinieren die Selbsterforschung und das psychologische Lernen mit Kunst und Unterhaltung in einer Weise, die sie für pädagogische Zwecke besonders geeignet erscheinen läßt. 

Die Erkenntnisse aus der modernen Bewußtseinsforschung haben ebenfalls weitreichende Folgen für die Definition der Rolle des Therapeuten. Der Gedanke, daß die medizinische Grund- und die psychiatrische Fachausbildung eine adäquate Vorbereitung auf den Umgang mit psychiatrischen Problemen gewährleistet, ist schon im traditionellen Rahmen häufig kritisiert worden. Emotionale Probleme dürften wohl kaum — wenn sie nicht gerade überaus heftig sind — die therapeutischen Fähigkeiten eines Chirurgen oder Kardiologen beeinflussen, sicher aber in einem bedeutenden Ausmaß die Arbeit eines Psychiaters. Deswegen sollte im Idealfall auch der Psychiater den Prozeß der tiefen Selbsterforschung durchmachen.

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Nun kratzt aber eine jahrelange psychoanalytische Ausbildung, bei der man selber auf der Couch liegend frei assoziiert und unter Supervision mit Patienten arbeitet, lediglich an der Oberfläche der Psyche. Die Methode der freien Assoziation ist ein sehr schwaches Instrument für eine effektive Selbsterforschung. Außerdem wird durch den engen theoretischen Blickwinkel der Prozeß auf den biographischen Bereich eingeschränkt. Selbst eine Jahre dauernde analytische Ausbildung (mit Ausnahme der Jungschen Analyse) bringt den Analysanden nicht mit den perinatalen oder transpersonalen Elementen der Psyche in Berührung.

Die Anwendung der neuen Selbsterfahrungstechniken erfordert deshalb eine Ausbildung, in der man selber die Zustände erlebt, die man mit diesen Techniken fördern will. Außerdem ist ein solcher Prozeß niemals abgeschlossen. Die therapeutische Arbeit mit anderen oder sogar das Alltagsleben wird den Therapeuten immer mit neuen Fragen konfrontieren. Wenn er das Material auf der biographischen und perinatalen Ebene erfolgreich durchgearbeitet und integriert hat, dann entspricht der Umfang der transpersonalen Probleme, die auftauchen können, der Existenz überhaupt.

Aus dem gleichen Grund wird der Therapeut nie zur Autorität, die dem Klienten erklärt, was dessen Erlebnisse bedeuten. Selbst mit viel klinischer Erfahrung läßt sich nicht immer richtig vorhersagen, welches Motiv hinter einem bestimmten Symptom steht. Diese Entdeckung verdanken wir Carl Gustav Jung, der als erster erkannte, daß der Prozeß der Selbsterforschung eine Reise in das Unbekannte ist, die ständig neues Leben beinhaltet. Durch diese Erkenntnis wird auch die früher beschriebene Arzt-Patient-Beziehung zu einem Abenteuer zweier gemeinsam Suchender.

Natürlich ist der Therapeut dem Klienten in einer gewissen Weise voraus. Er bietet ihm die Techniken für die Aktivierung des Unbewußten, stellt eine Atmosphäre und einen Rahmen her, der die Selbsterforschung des Klienten unterstützt, lehrt ihn die Grundstrategie und flößt ihm Vertrauen in den Prozeß ein. Was aber das innere Erleben des Klienten angeht, so ist dieser selbst die letzte Autorität. Eine Erfahrung, die erfolgreich durchgearbeitet worden ist, bedarf keiner Interpretation. (So wird das Interpretieren von Seiten des Therapeuten weitgehend durch den Bericht des Klienten über das, was in ihm vorgeht, ersetzt. Eine der wichtigsten Aufgaben des Therapeuten besteht darin, darauf zu achten, daß die Erlebnisse innerlich abgeschlossen werden. Er muß den Klienten davon abhalten, sie nach außen abzureagieren. Dies bereitet wohl die größten Probleme. In vielen Fällen ist es gerade die Differenz zwischen disziplinierter Internalisierung des Prozesses und projektivem Ausagieren, durch die sich mystische Suche und schwere psychopathologische Störung unterscheiden. Es gibt auch Hinweise darauf, daß selbst viele akute psychotische Zustände, bei denen die Anwendung des medizinischen Modells am meisten angezeigt und gerechtfertigt erscheint, in Wirklichkeit dramatische Versuche des Organismus sind, Probleme zu lösen, Selbstheilungsprozesse in Gang zu setzen und ein neues Integrationsniveau zu erreichen. 

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Wie ich schon früher erwähnte, kann man in der Literatur nachlesen, daß ein bestimmter Prozentsatz akuter psychotischer Zusammenbrüche selbst unter den gegenwärtigen Umständen, die alles andere als ideal sind, zu einer besseren Anpassung führt, als sie vorher gegeben war. Auch ist bestens bekannt, daß akute und dramatische psychotische Zustände eine sehr viel bessere Prognose haben als solche, die sich langsam und schleichend entwickeln. Beobachtungen dieser Art scheinen die Untersuchungsergebnisse der modernen Bewußtseinsforschung zu stützen, wonach das Hauptproblem in vielen psychotischen Zuständen nicht das Aufwallen des unbewußten Materials ist, sondern der noch verbleibende Rest an Ich-Kontrolle, der ein erfolgreiches Schließen der auftauchenden Gestalt stört. Wenn dies der Fall ist, sollte die Strategie der Wahl nicht darin bestehen, den Prozeß als psychopathologisch abzustempeln und in ihn durch Unterdrückung der Symptome einzugreifen versuchen, sondern ihn in einer Atmosphäre der Unterstützung zu fördern und zu beschleunigen.

In einem solchen Rahmen sollten die Erlebnisse psychotischer Patienten nicht in ihrem Bezug zur materiellen Welt, sondern als bedeutsame Schritte im Prozeß der Persönlichkeitsumwandlung gewertet werden. Beistand und Ermutigung in diesem Prozeß sind deshalb nicht als Gutheißen der verzerrten Wahrnehmungen und der wahnhaften Interpretationen dessen, was gemeinhin als Realität akzeptiert wird, aufzufassen. Die diesen Prozeß fördernde Strategie beinhaltet das systematische Bemühen, ihn von der phänomenalen Welt weg auf die innere Wirklichkeit zu lenken und ihn dadurch zu internalisieren und zu vertiefen. Aus dieser Sicht hat also der Versuch, die inneren Erfahrungen an Personen und Ereignisse der Außenwelt festzubinden, häufig die Funktion eines heftigen Widerstands gegen den Prozeß der inneren Umwandlung.

Die wenigen bisher verwendeten Alternativansätze zur Behandlung der Psychose beruhten auf den Prinzipien der Stützung und des Nicht-Eingreifens. Meine eigenen Beobachtungen in der psychedelischen Therapie psychotischer Patienten sowie in der Arbeit mit Selbsterfahrungstechniken legen aber zwingend nahe, daß ein effektiveres Vorgehen bei psychotischen Episoden die Beschleunigung und Intensivierung des Prozesses — mit oder ohne Drogen — beinhalten muß. Diese therapeutische Strategie ist so wirksam und vielversprechend, daß sie routinemäßig auf jeden Fall ausprobiert werden sollte, ehe der Patient in ein psychiatrisches Krankenhaus eingewiesen wird und sich dort einer langen und potentiell gefährlichen medikamentösen Behandlung mit großen Dosen von Neuroleptika unterziehen muß.

Ich konnte anläßlich mehrerer Gelegenheiten in unseren Workshops beobachten, wie Personen, deren augenblickliche emotionale Verfassung bedenklich in die Nähe einer Psychose rückte, nach ein oder zwei Stunden intensiver Einzelarbeit mit Hyperventilation, Musik und Körperarbeit vollkommene Symptomfreiheit oder sogar einen Zustand ekstatischer Glückseligkeit erreichten. Die Erfahrungen, die solche dramatischen Veränderungen vermitteln, enthielten in der Regel perinatale oder transpersonale Motive. 

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Obwohl eine solche Transmodulation (siehe S. 334) nicht mit einer »Kur« oder einer tiefgehenden Umstrukturierung der Persönlichkeit verwechselt werden sollte, stellt der systematische Gebrauch eines solchen Vorgehens immer dann, wenn schwierige Symptome auftauchen, eine überzeugende Alternative zur psychiatrischen Hospitalisierung und zur chronischen Behandlung mit Neuroleptika dar. Außerdem hat man mit der konsequenten Anwendung der aufdeckenden Strategie die echte Chance, die Probleme tatsächlich zu lösen, statt sie zu maskieren, und fördert die Selbstverwirklichung, die Persönlichkeitsumwandlung und die Bewußtseinserweiterung. 

Der obige Ansatz ist eine tragfähige Alternative zur herkömmlichen Behandlung nicht-paranoider Patienten mit akuten psychotischen Symptomen. Der Prozeß wird als »spiritueller Notfall« oder »transpersonale Krise« anerkannt und gewertet, nicht als »Geisteskrankheit« abgestempelt. Der Patient wird dazu ermuntert, mit Beistand des Therapeuten noch tiefer in sein Erleben hineinzugehen. Es ist absolut unerläßlich, daß der Therapeut mit der erweiterten Kartographie der Psyche vertraut ist, ihr gesamtes Spektrum an Phänomenen — einschließlich der perinatalen und transpersonalen Phänomene — bestens kennt und tiefes Vertrauen in die innere Weisheit und das Heilpotential der menschlichen Psyche besitzt. Dadurch kann er dem Klienten helfen, alle Ängste, Blockierungen und Widerstände zu überwinden, die den eigengesetzlichen Verlauf dieses Prozesses stören würden, und verschiedene Phänomene unterstützen, die die konventionelle Psychiatrie mit allen Mitteln zu unterdrücken versuchen würde. 

Ausmaß und Art der Bemühungen des Therapeuten hängen vom Stadium des Prozesses, von der Einstellung des Klienten und von der Qualität der therapeutischen Beziehung ab. Es gibt zwei Kategorien von Patienten, bei denen man mit dem obigen Ansatz in erhebliche Schwierigkeiten gerät und ihn unter Umständen nicht anwenden kann. So gilt die Regel, daß Patienten mit starken paranoiden Tendenzen schlechte Aussichten haben, von einem solchen Vorgehen zu profitieren. Ich habe schon früher darüber gesprochen, daß sie meistens unter dem Hinfluß von Erlebnissen stehen, die für die Anfangsphase der zweiten perinatalen (irundmatrix charakteristisch sind. Jeder Versuch einer tieferen Selbsterforschung kommt einer Einladung zu einer Fahrt in die Hölle gleich, und jeder Therapeut, der sich in dieser Hinsicht bemüht, wird automatisch zum Feind. Die übermäßige Neigung zur Projektion, die fehlende Bereitschaft, sich zu dem inneren Prozeß zu bekennen, die Tendenz, sich an Elemente der äußeren Realität zu hängen sowie die Unfähigkeit, eine Vertrauensbeziehung einzugehen, stellen eine Kombination dar, die einer psychologischen Arbeit ernstlich im Wege steht. Solange nicht Techniken entwickelt worden sind, mit denen man diesen schwierigen Voraussetzungen begegnen kann, bleiben paranoide Patienten weiterhin Kandidaten für eine Behandlung mit Neuroleptika.

Manische Patienten sind ebenfalls schwer zu erreichen, wenn auch aus anderen Gründen. Wie schon früher besprochen, spiegelt sich in der Manie ein nicht abgeschlossener Übergang von der dritten zur vierten perinatalen Grundmatrix wider.

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Ein Therapeut, der eine Selbsterfahrungstherapie mit manischen Patienten versucht, hat die schwierige Aufgabe, diese davon zu überzeugen, daß sie sich nicht an ihre neugewonnene Freiheit klammern dürfen, weil sie unsicher ist. Sie müssen ihre Abwehrhaltung aufgeben und ernsthaft an den noch verbleibenden Elementen der dritten Matrix arbeiten. Paranoide und manische Patienten sind also für eine Selbsterfahrungstherapie nicht sonderlich geeignet. Will man die ihrer Psyche innewohnenden heilenden Kräfte nutzen, so hat man eine extrem mühsame Aufgabe vor sich. Gelegentlich mögen auch Patienten anderer diagnostischer Kategorien nicht willens oder fähig sein, sich mit ihren Problemen im Erleben zu konfrontieren. Vielleicht hilft ihnen tatsächlich eine dämpfende psychopharmakologische Behandlung. Andere wiederum profitieren unter Umständen am meisten davon, daß man ihnen lediglich Beistand leistet und nicht in ihren Prozeß eingreift. Wenn aber günstige Bedingungen gegeben sind, dann dürfte wohl die aktive Förderung und Vertiefung des Prozesses die Methode der Wahl sein.

Sobald die Symptome mobilisiert sind und sich in intensive Gefühle und Körperempfindungen oder in lebhafte und komplexe Erinnerungen umzuwandeln beginnen, muß man die betreffende Person dazu ermuntern, sie voll und ganz zu durchleben und die aufgestauten Energien peripher loszulassen. Jedes Zensieren und Blockieren des Prozesses aufgrund theoretischer Vorbehalte ist zu vermeiden. Mit Hilfe dieser Strategie verwandeln sich die Symptome im wahrsten Sinne des Wortes in verschiedene Erlebnisse und werden dadurch abgebaut. Man muß auch wissen, daß bestimmte Symptome und Syndrome resistenter gegen Veränderung sind als andere. Diese Situation scheint der Sensibilität und Ansprechbarkeit auf psychedelische Drogen zu entsprechen. So nehmen in diesem Spektrum unterschiedlicher Reaktionen zwangsneurotische Patienten mit ihrer übermäßigen Rigidität und ihren starken Abwehrmechanismen eine extreme Position ein, wohingegen hysterische Patienten schon auf minimale Interventionen reagieren. Ein starker Widerstand ist in der Selbsterfahrungstherapie ein ernstliches Hindernis und erfordert spezielle Abänderungen der Technik. 

Wie beschaffen und wie wirksam auch die Technik zur Aktivierung des Unbewußten sein mag, die grundlegende therapeutische Strategie ist immer dieselbe: sowohl Therapeut als auch Klient sollten der Weisheit des Organismus des Klienten mehr vertrauen als ihrem intellektuellen Urteil. Wenn sie die natürliche Ausfaltung des Prozesses unterstützen und klug mit ihm kooperieren — also ohne die Beschränkungen, die durch konventionelle theoretische, emotionale, ästhetische oder ethische Belange aufgezwungen werden —, wird die resultierende Erfahrung automatisch heilender Natur sein.

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Psychotherapie und spirituelle Entwicklung

Wie ich schon früher erwähnte, haben die westlichen Schulen der Psychotherapie — mit Ausnahme der Psychosynthese und der Jungschen Psychologie — die Spiritualität nicht als eine authentische psychische Kraft erkannt und gewürdigt. In den meisten theoretischen Spekulationen wird der Reichtum an Wissen über das Bewußtsein und den menschlichen Geist, der über die Zeitalter von den großen spirituellen Traditionen der Welt angesammelt worden ist, nicht in Betracht gezogen. Die tiefgehenden Aussagen dieser Systeme wurden entweder vollkommen ignoriert und achtlos übergangen, oder sie wurden als primitiver Aberglaube, als Verarbeitung von Kindheitskonflikten bzw. als kulturelle Äquivalente zu Neurose und Psychose »erklärt«.

Auf jeden Fall wurden Spiritualität und Religion von der westlichen Psychiatrie wie etwas behandelt, das die menschliche Psyche als Reaktion auf äußere Einflüsse hervorbringt, etwa auf die gewaltigen Gefahren unserer Umwelt, die Angst vor dem Tod, die Furcht vor dem Unbekannten, die mit Konflikten behaftete Beziehung zu den Eltern, usw. Eine direkte Erfahrung alternativer Wirklichkeiten mit spirituellem Charakter wurde bis vor kurzem immer mit einer Geisteskrankheit in Verbindung gebracht. In der konkreten klinischen Arbeit mit Patienten tolerierte man religiöse Überzeugungen gewöhnlich nur dann, wenn sie von einer großen Gruppe von Menschen geteilt wurden. Sehr persönliche Glaubensüberzeugungen, die von festgelegten und kulturell akzeptierten Formen abweichen, oder unmittelbare Erfahrungen spiritueller Realitäten gelten in der Regel als pathologisch und werden als Anzeichen für einen psychotischen Prozeß ge wertet.

Mehrere außergewöhnliche Forscher empfanden diese Situation als untragbar und stellten die traditionelle psychiatrische Anschauung von Spiritualität und Religion in Frage. Roberto Assagioli, der in Italien geborene Begründer der Psychosynthese, sah die Spiritualität als eine wichtige Kraft im Leben des Menschen und als einen essentiellen Aspekt der Psyche. Er interpretierte viele der Phänomene, die in den dominierenden psychiatrischen Konzeptionen als psycho-pathologische Manifestationen behandelt wurden, als Begleiterscheinungen einer spirituellen Öffnung (6). Carl Gustav Jung maß den spirituellen Dimensionen und Impulsen der Psyche ebenfalls große Bedeutung bei und entwickelte ein theoretisches System, das eine Brücke zwischen Psychologie und Religion schlug und beide miteinander integrierte. Ein anderer wichtiger Beitrag zu einem neuen Verständnis der Beziehungen zwischen der Mystik und der Persönlichkeit des Menschen stammt von Abraham Maslow. Auf der Grundlage umfassender Untersuchungen an Personen, die spontane mystische Erfahrungen oder »Gipfelerlebnisse« gehabt hatten, zog er die herkömmliche psychiatrische Ansicht, nach der diese mit einer Psychose gleichzusetzen wären, in Zweifel und schuf die Grundlagen für eine radikal neue Psychologie. 

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Nach seiner Auffassung dürfen mystische Erlebnisse nicht als psychopathologisch gewertet werden. Sie verdienen vielmehr die Bezeichnung übernormal, da sie für die Selbstaktualisierung förderlich sind und bei sonst normalen und gut angepaßten Personen auftreten können.

Die Beobachtungen aus der psychedelischen Therapie und aus anderen Formen einer bis in tiefe psychische Schichten vordringenden Selbsterfahrung können die Ansichten der genannten Forscher voll und ganz bestätigen und legen sogar eine noch radikalere Formulierung der Beziehungen zwischen menschlicher Persönlichkeit und Spiritualität nahe. Nach den neuen Erkenntnissen ist Spiritualität eine der Psyche innewohnende Eigenschaft und tritt spontan in Erscheinung, wenn der Prozeß der Selbsterforschung tief genug fortgeschritten ist. Das unmittelbare Erleben perinataler und transpersonaler Elemente des Unbewußten geht immer einher mit einem spontanen Erwachen der Spiritualität, das ganz unabhängig ist von den individuellen Kindheitserlebnissen, der religiösen Erziehung, der Bindung an eine Kirche und sogar der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kultur oder einer bestimmten Rasse. Die Person, die den Zugang zu diesen Ebenen ihrer Psyche gewonnen hat, entwickelt automatisch eine neue Weltanschauung, in der Spiritualität den Rang eines natürlichen, wesentlichen und absolut lebenswichtigen Elements des Daseins einnimmt. Ich habe selber miterlebt, wie solche tiefgehende Wandlung ausnahmslos bei den verschiedenartigsten Menschen stattgefunden hat, bei verstockten Atheisten, Skeptikern, Zynikern, marxistischen Philosophen und positivistisch orientierten Wissenschaftlern. 

In Anbetracht dieser Tatsachen drängt sich die Vermutung auf, daß ein atheistisches, mechanistisches und materialistisches Weltbild und eine entsprechende Auffassung vom Leben eine tiefe Entfremdung vom eigenen Daseinskern, einen Mangel an echtem Selbstverständnis und eine psychische Verdrängung der perinatalen und transpersonalen Bereiche der eigenen Psyche widerspiegelt. Dies bedeutet auch, daß sich ein solcher Mensch einseitig mit nur einem Teilaspekt seines Wesens, charakterisiert durch das Körper-Ich und das hylotrope Bewußtsein, identifiziert. 

Eine solche, verstümmelte Einstellung zu sich selbst und zur Existenz ist letztlich mit einem Gefühl der Sinnlosigkeit des Lebens und der Entfremdung vom kosmischen Prozeß behaftet. Unersättliche Bedürfnisse, Wettbewerbsstreben und krankhafter Ehrgeiz herrschen vor. Auf der kollektiven Ebene äußert sich dies in einer Entfremdung von der Natur, dem Streben nach »unbegrenztem Wachstum« und der Überbewertung von objektiven und quantitativen Parametern der Existenz. Ein solches In-der-Welt-Sein zerstört auf die Dauer sowohl das Individuum als auch das Kollektiv. Psychotherapeutische Systeme, die dieses Menschenbild stützen und kultivieren und die spirituelle Dimension nicht anerkennen, sind zwangsläufig oberflächlich, ineffektiv und von problematischem Wert.

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Im Prozeß der systematischen und tiefen Selbsterforschung können sich Tod- und Wiedergeburterlebnisse sowie transpersonale Erfahrungen ebenso einstellen wie Erinnerungen an biographische Ereignisse, deren Analyse in der traditionellen Psychiatrie als therapeutisch nützlich gilt. Es würde deshalb interessieren, in welcher Beziehung die konventionelle biographisch-analytische Arbeit zum Prozeß der spirituellen Öffnung steht. Wie aus klinischen Beobachtungen hervorgeht, sind die biographisch orientierte Analyse und transpersonale Erfahrungen zwei einander ergänzende Aspekte des Prozesses der systematischen Selbst­erforschung.

Ein schrittweises Durcharbeiten der traumatischen Aspekte der frühen Kindheit öffnet in der Regel den Weg zu den perinatalen und transpersonalen Erlebnissen, die ihrerseits wiederum die spirituelle Öffnung vermitteln. Umgekehrt empfanden Personen, die schon früh im Prozeß der Selbsterforschung mit Psychedelika oder anderen intensiven Techniken ohne die Zuhilfenahme solcher Drogen tiefe spirituelle Erfahrungen hatten, die nachfolgende Arbeit an noch verbleibenden biographischen Problemen als viel leichter und lösten sie auch schneller. Besonders diejenigen, die Erlebnisse der Einheit mit dem Kosmos hatten, entwickeln eine völlig neue Einstellung zum psychotherapeutischen Prozeß. Sie haben in sich eine neue und unerwartete Kraftquelle sowie ihre wahre Identität gefunden. Ihre gegenwärtigen Lebensprobleme sowie frühere Erlebnisse erscheinen .ihnen in einem völlig anderen Licht. Das, was ihnen in ihrem augenblicklichen Leben widerfährt, scheint nicht mehr die absolute Bedeutung zu haben, die es früher hatte. Außerdem ist klar, wohin die Arbeit an sich führen soll. Die weitere Selbsterforschung ähnelt eher dem Ausbauen des Weges zu einem bekannten Ziel als dem blinden Graben in einem dunklen Tunnel.

Das therapeutische Potential von Erlebnissen mit spiritueller Qualität überschreitet bei weitem alles, was mit der Arbeit an biographischem Material zu erreichen ist. Jede psychotherapeutische Theorie und Technik, die die perinatale und transpersonale Ebene der Psyche nicht anerkennt und ihre Möglichkeiten nicht nutzt, erzeugt nicht nur ein oberflächliches und unvollständiges Bild vom Menschen, sondern beraubt sich selber und ihre Klienten hochwirksamer Mechanismen der Heilung und Persönlichkeitsumwandlung.

Die Abhängigkeit von einem engen theoretischen Rahmen kann Wissenschaftler daran hindern, ungeahnte Möglichkeiten im Bereich natürlicher Phänomene zu entdecken, zu erkennen oder sich überhaupt vorzustellen. Dies läßt sich an zwei Beispielen aus der modernen Physik veranschaulichen. Ein Wisssenschaftler, der starr am kartesianisch-Newtonschen Modell der Wirklichkeit festhält, das die Unzerstörbarkeit der Materie behauptet, könnte sich nicht vorstellen, daß man atomare Energie durch Spaltung des Atoms gewinnen kann. Entsprechend eröffnet das System der mechanischen Optik, in dem das Licht Teilchencharakter hat (Photonentheorie des Lichts), keinen theoretischen Zugang zur Holographie, die sich die Interferenzmuster von Lichtwellen zunutze macht. 

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Übertragen auf die Zukunft könnte man deshalb sagen: für einen Physiker, der Einsteins Relativitätstheorie als akkurate Beschreibung der Realität und nicht lediglich als ein nützliches, aber begrenztes Modell betrachtet, ist die Vorstellung, daß sich etwas schneller als das Licht fortbewegen kann, undenkbar. Aus dem gleichen Grund können sich Psychiater, die an rein biographischen Modellen vom Menschen festhalten, nicht die transformative Kraft vorstellen, die perinatalen und transpersonalen Bewußtseins­zuständen innewohnt.

Ein Konzept des Unbewußten, das sich ausschließlich an Elementen orientiert, die sich von der individuellen Lebensgeschichte ableiten lassen, ist nicht nur ineffektiv und von begrenztem Wert, sondern letztlich auch antitherapeutisch. Eine logische Folgerung besteht ja darin, perinatale und transpersonale Phänomene, die sich nicht in diesem engen theoretischen Rahmen erklären lassen, als psychopathologisch einzuordnen. Damit ist aber ein unüberwindliches Hindernis für das Erkennen der heilenden und transformativen Kraft des Prozesses geschaffen, an dem die perinatale und die transpersonale Bewußtseinsebene beteiligt sind. 

So werden in der traditionellen Psychiatrie Prozesse der Heilung und der spirituellen Öffnung als patholog­ische Erscheinungen abgestempelt, die es unter allen Umständen mit Hilfe verschiedener drastischer Maßnahmen zu unterdrücken gilt. Als Resultat dieser seltsamen therapeutischen Strategie befindet sich die gegenwärtige Psychiatrie in einer tragikomischen Situation: der größte Teil der gemeinsamen Anstrengungen von Psychiatern, Psychologen, Neurophysiologen, Biochemikern und anderer Fachleute ist einseitig gegen Prozesse gerichtet, die einzigartiges therapeutisches und transformatives Potential besitzen. 

Zwar wird das Wesen psychopathologischer Phänomene gegenwärtig kaum verstanden, und es mangelt der Psychiatrie an einer wirklich heilenden Strategie, doch sollte man immerhin anerkennen, daß die Verwendung dämpfender Medikamente große historische Bedeutung hat. Sie humanisierte die mittelalterlich anmutende Atmo­sphäre psychiatrischer Stationen, verhinderte und linderte viel Leid und rettete wahrscheinlich Tausenden von Menschen das Leben.

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