24. Nicht-Liebe und Nicht-Identität:
Die Konsequenzen für die Gesellschaft
Die gute und die böse Mutter
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Betrachten wir noch einmal, was die Identifikation mit dem Aggressor fördert.
Eine Patientin erzählte mir: »Ich wünschte, Frau Laxner wäre bei meinem Vortrag gewesen. Sie ist wie meine Mama.« Frau Laxner hatte sich einige Jahre lang sehr um die Patientin gekümmert. Dann begann Frau Laxner, die Patientin als unverantwortlich zu kritisieren. »Bei ihr bin ich wie ein Baby«, fährt die Patientin fort, »zwar eingeschlossen, aber wenn ich bei ihr bleiben könnte, würde ich in einer guten Welt leben, wenn auch in einer, die von ihr bestimmt wird. Es ist wie Helligkeit und Freude mit ihr. Und das habe ich bei meiner Mutter nie gespürt.«
Dieser Mutter hatte sie es nie recht machen können, auch wenn sie versuchte, ihr völlig beizutreten. Daher hatte sie eine Sehnsucht nach einer guten Mutter entwickelt, die zwar über sie bestimmt, aber auch eine Verbundenheit bis hin zur Symbiose zulassen würde.
Hier wird deutlich, was die Spaltung der Gefühlswelt in eine »gute« und eine »böse« Mutter bewirkt. Die Hoffnung auf Befriedigung ihrer Bedürfnisse haftete die Patientin weiter an eine Mutter, die ihre Entscheidungsfreiheit und ihre Selbstbestimmung einengte oder verbot. Die schlechte Mutter war die unerreichbare Mutter. »Mir ist wichtig, daß Frau Laxner, obwohl ich nur so weit gehen darf, mich einschließt. Dennoch fing ich an, mich gegen dieses Einschließen zu wehren.« — »Ja«, antwortete ich, »Ihre Hoffnungen sind eben von denen Ihres inneren Kindes bestimmt, das macht es so schwierig.« Das Gesicht der Patientin verdüsterte sich. »Ich habe das Gefühl, daß ich mich von Ihnen abwende. Sie haben etwas gegen Frau Laxner. Sie sind gegen meine Mutter.«
Die Patientin verteidigte ganz offensichtlich die Identifikation mit der Mutter — einer Mutter, die ihre Tochter nie in ihrem eigenständigen Sein anerkannte und bestätigte. Offensichtlich spürte die Patientin das, denn sie erinnerte sich jetzt an die widersprüchlichen Gefühle, die sie als Kind gehabt hatte. »Gestern nachmittag habe ich das Verlagen verspürt, zu meiner Mutter zu gehen. Gleichzeitig aber fühlte ich die Angst vor ihr, die Angst, die ich als Kind hatte, und wollte bloß weg von ihr.«
Das Bezeichnende für diese Patientin ist, daß sie sich trotz der Identifikation mit einer Mutter, die sie nicht nur unterdrückt, sondern auch mehrmals zu töten versucht hatte, an die ursprüngliche Angst erinnern konnte und daß sie immer wieder nach ihren eigenen Wahrnehmungen und Werten suchte.
Sie fuhr fort: »Ich spürte auch das Kind in mir, das wahrhaft lieb ist. Ich habe mir ein derart negatives Selbstbild angeeignet, weil meine Eltern mich ständig erniedrigt haben. Da ist aber auch noch dieses andere Kind, das da ist. Und in diesem Bild ist meine Mutter nicht da.« — »Woher glauben Sie«, fragte ich, »stammt dieses Bild?« — »Vielleicht ist das meine Schwester? Nein, Frau Laxner erinnert mich an meine Schwester. Dann war es Tante Helga. Sie und die Oma (die Mutter des Vaters) waren wichtig für mich. Die Oma war der Welt zugewandt.«
Die Patientin begann, um dieses verlorene Paradies zu weinen. Die Oma habe ihr das Gefühl gegeben, wichtig zu sein. Ich fragte, wie sie das denn getan habe. »Als ich etwa zehn Jahre alt war, habe ich ihr immer aus Büchern vorgelesen. Ich las ihr zum Beispiel Günter Grass' <Die Blechtrommel> vor.« — »Haben Sie das Buch denn damals verstehen können?« — »Eigentlich fand ich es beunruhigend, und es machte mir angst, wenn ich von diesem Jungen las.«
Ich dachte mir, daß eine Großmutter, die sich keine Gedanken machte, wie eine Zehnjährige ein solches Buch auffassen würde, nicht viel Einfühlungsvermögen gehabt haben kann. Deshalb bat ich die Patientin, mehr von ihrer Oma zu erzählen. »Die merkte eigentlich nicht, wer ich war, aber ich war ihr wichtig.« Daraufhin weinte sie wieder. Bei der Oma war sie wichtig, anders als zu Hause, wo sie allen nur im Weg war. Aber es war ein Wichtigsein, durch das die Großmutter ihr narzißtisches Selbstwertgefühl bestätigen konnte: Wenn du das für mich tust, bist du gut und wichtig, weil du mir zeigst, wie wunderbar ich bin. Es ging der Großmutter nicht um den Wert des Kindes an sich.
»Meine Großmutter mütterlicherseits brachte sich um, als meine Mutter zwölf Jahre alt war. Sie erhängte sich. Ich glaube, es war meine Mutter, die ihre Leiche fand. Der Todesschrei meiner Mutter, als sie ihre Mutter entdeckte, steckt wahrscheinlich in meinen Schreien. Gestern hatte ich das Gefühl, als könne ich spüren, wie meine Mutter ihre Mutter in mir sucht. Als ich zwölf war, hatte meine Mutter eine schwere Depression und lag im Bett.
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Ich hörte sie vom Nebenzimmer aus mit meiner fünfzehnjährigen Schwester sprechen. Da erfuhr ich, daß sich ihre Mutter umgebracht hatte, als meine Mutter so alt war wie ich, und daß sie nicht wollte, daß mir dasselbe widerfährt. Damals hatte ich erstmals Angst, sie zu verlieren. Vater schimpfte immer, meine Mutter sei eine Zigeunerin. Das bedeutete für mich, daß diese Oma auch eine gewesen war. Darauf war ich stolz.«
— »Vielleicht«, sagte ich, »gab Ihnen Ihre Mutter unbewußt eine Art Selbstwert, indem sie sich selbst in Ihnen suchte.« — »Ich glaube schon. Deswegen bin ich Ärztin geworden. Der Sinn meines Lebens ist es, für andere da zu sein.« — »Waren Sie deshalb vielleicht wütend auf mich vorhin?« fragte ich, »habe ich Ihnen etwas weggenommen?« — »Ja, aber zugleich spürte ich auch Haß auf Frau Laxner. Sie hat mich noch mehr in diese Rolle getrieben. Wissen Sie, meine Oma war klein und dick. Kleine, dicke Frauen faszinieren mich.« Ihre Identifikation mit ihrer Mutter via dieser Großmutter hält sie weiter an die Mutter gebunden.
In der nächsten Sitzung erzählte sie von einem verwirrenden Traum: »In diesem Traum bin ich wichtig, aber auch pompös. Das Essen steht auf schiefen Tischen, und das rohe Fleisch darauf erinnert mich an meinen Vater (er war Jäger).« Danach sprach sie von einer Patientin, der sie sehr geholfen hatte. Sie hatte diese zufällig in der Sauna getroffen und hatte das Gefühl gehabt, daß dieses Wiedersehen zu viel gewesen war. »Es war, als ob mir etwas weggenommen würde.«
Zunehmend regredierte sie zu einem bedürftigen Kind, das immer in der Angst lebt, es könne zu kurz kommen. Diese Regression war aber förderlich für den Therapieverlauf. Indem alte psychische Strukturen abgebaut wurden, mit denen sie sich aufrechthielt (das Essen auf dem schiefen Tisch), gelangte sie vorübergehend in frühere Entwicklungsstadien, wodurch ihre tiefsitzenden negativen Selbstwertgefühle zugänglich wurden.
»Ich könnte Sie und meinen Vater umbringen. Dieses widerliche Arschloch! (Der Vater hatte sie als kleines Kind sexuell mißbraucht.) Frau Laxner hat mich vor Ihnen gewarnt. Mein Lehrauftrag an der Uni ging zu Ende. Die Universität wollte, daß ich weitermachte. Aber ich hatte Zweifel, ob ich das könnte. Ich traute es mir zu, glaubte aber, daß gewisse Kollegen gegen mich seien. Ich würde es nicht schaffen. Ich hatte das Gefühl, daß ich noch nicht genug Fachwissen besitze. Ich kann es nicht.« Mir kam es so vor, als ob die Patientin sich nicht nur wertlos fühlte, sondern sich auch für böse hielt. Weil sie gerade so direkten Zugang zu diesen Gefühlen hatte, fragte ich sie:
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»Haben Sie das Gefühl, daß Sie nicht nur nicht >richtig< sind, sondern auch böse?« — »Ja, und was mich reizt, ist, daß Sie gegen mich sind.« — »Was noch?« — »Die ganze Woche über ist mir immer >Mama< in der Kehle hochgestiegen. Wann immer ich meine Schultern bewegte, wollte dieser Schrei herauskommen. Ich dachte an Sie, und >Mama< stieg in mir hoch. >Arschloch< auf Sie und meine Mutter. Ich habe eine >platsche< Übertragung auf Sie. Ich muß aussortieren. Ich bin unruhig und wütend. Sie gehen für zwei Wochen weg, und ich werde einfach abgeschoben. Dieses Gefühl muß mit dem Krankenhaus zu tun haben, in dem ich als Zweijährige war. Ich lasse mich nicht einfach wegmachen, abschieben. Ich stelle mir vor, wie ich mich hier richtig aufführe, auf dem Boden tobe wie ein Kind, nicht unter Kontrolle zu halten. Ich möchte zu einem englischen Kongreß gehen. Ich wünschte, Sie würden mir Englisch beibringen. Das hat etwas mit meinem Vater zu tun. Er sollte es mir beibringen. Meine Schwester hat versucht, mich zu vernichten (in der Tat versuchte sie einmal, die Patientin zu ertränken), sie hat Englisch von ihm gelernt.«
Es schien so, als ob sich die Patientin in diesem Moment selbst schrecklich zuwider war. Ihr Tonfall zeigte dies an. Das war es auch, was ihre Mutter und Frau Laxner ihr vorwarfen. Deshalb fragte ich sie: »Was fühlen Sie jetzt sich selbst gegenüber?« Sie antwortete: »Ich war zwei, als ich ins Krankenhaus kam. Es war, als wäre meine Intimsphäre plötzlich verschwunden. Ich fühlte mich ausgeliefert. Ich lag in einem Glaskasten, völlig isoliert (sie erhielt Sauerstoff). Dann holten mich meine Eltern ab. Meine Mutter dachte, sie könne mich mit einer Tafel Schokolade überraschen. Die warf ich im Auto auf den Boden. Meine Mutter konnte meine Wut nicht aushalten — Sie sollten mein Sponsor sein, jemand, der mich finanziert, der alles für mich tut.«
Ihre Forderungen hatten eine gewisse Berechtigung. Als Kind hatte sie nicht das bekommen, was ihr zugestanden hätte. Doch ihre damalige Reaktion, ihr Trotz, fesselte sie an die Vergangenheit, an ihren Vater und vor allem an ihre Mutter, aber auch an Frau Laxner. Und in dieser Sitzung war es ihre Mutter, die ihr Verhalten beeinflußte, obschon der Vater beziehungsweise ich wichtig erschienen. Sie hatte ihrer Tochter unmittelbar vermittelt, daß sie nie Erfolg haben würde. Das bedeutete für die Patientin, daß sie keinen Erfolg haben durfte. Ihre Mutter beziehungsweise Frau Laxner, denen sie hörig war, wollten verhindern, daß die Patientin mehr sein könnte als sie selbst.
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Deswegen durfte sie auch ihren Lehrauftrag nicht erneuern. »Komisch, Frau Laxner und die anderen an der Uni sind alle so alt wie meine Schwester. Frau Laxner will bewundert werden, sie verträgt meine Kindlichkeit und mein Regredieren nicht — im Gegensatz zu Ihnen.« Danach sprachen wir über todbringende Mütter, und sie erzählte mir, wie ihre Mutter ein paarmal versucht hatte, sie mit einer Schere zu erstechen. Es wurde deutlich, daß ihre Mutter die eigene Mutter besänftigen wollte, indem sie ihr ihre Tochter als Opfer darbrachte.
»Muß ich die Sehnsüchte meiner Mutter in mir tragen? Muß ich mich für sie umbringen? Als ich gestern ein Kind schreien hörte, spürte ich den starken Impuls, mir etwas anzutun, mich aus dem Fenster zu stürzen, mich umzubringen. Mutter ist darin verhängt. Sie verbot mir alles, ich konnte nichts dagegen tun. Ha, ich möchte am liebsten am Institut eine Gegenveranstaltung zu der von Frau Laxner organisieren. Da ist etwas an diesen kleinen, dicken Frauen, das mich fasziniert.« Die Patientin kämpfte darum, sich zu befreien, gleichzeitig aber hatte sie weiterhin den Wunsch, die alten Verbindungen aufrechtzuerhalten.
Wir suchen Befriedigung, wo sie nicht sein kann
Wie komplex dieser Vorgang ist und wie stark die Wünsche nach Befriedigung an denjenigen haften, die nicht befriedigen können, zeigt das folgende Beispiel. Ein vierzigjähriger Patient erzählte, daß er am Haus des jetzigen Freundes seiner ehemaligen Geliebten vorbeifuhr. Er hegte immer noch die Hoffnung, daß er sich wieder mit ihr versöhnen könnte, obgleich sie ihn betrogen hatte. Sie förderte diese Hoffnung, indem sie ihn immer wieder bei verschiedensten Anlässen um Hilfe bat. Als der Patient nun an jenem Haus vorbeifuhr, versteifte sich sein Nacken, und er knirschte mit den Zähnen. »Mit diesem Mann«, sagte er, »der ihr ein Haus, ein Auto und teuren Urlaub bieten kann, kann ich nicht konkurrieren.«
Damit schilderte er die Ursituation seiner Kindheit. Er hatte damals gespürt, daß er die Liebe seiner Mutter nicht bekommen konnte, weil sie alle Liebe dem Vater geben »mußte«.
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»Als ich am Haus meiner ehemaligen Freundin vorbeifuhr, sah ich ihr Auto vor dem Haus stehen und war beruhigt. Ich stellte mir vor, daß sie mich jetzt einfach in den Armen hielte, nichts fragte und nichts sagte. Dann kam auf einmal der Satz in mir hoch: <Mutter, warum hast du mich verlassen?> Ich laufe nicht ihr (der Ex-Freundin) nach, sondern einer Frau, die mich hält und nichts fragt. Vor einigen Tagen rief mich meine Ex-Freundin an; sie klang verzweifelt wegen der Probleme, die sie mit ihrem jetzigen Freund hat.«
Ich hakte ein: »Sie erzählen mir doch, daß Sie sie retten möchten. Wenn Sie dies aber versuchen, spielt sie die Hilflose, die von ihrem Freund nicht wegkommen kann. Genau so haben Sie mir Ihre Mutter beschrieben.« —
»Das Bild, das ich von meiner Mutter habe, stimmt nicht mit meiner wirklichen Mutter überein. Als ob sie nicht meine Mutter wäre, sondern S. (die Ex-Freundin), die mich festhält. Das Bild meiner wirklichen Mutter und das Bild, das ich von ihr mit mir rumtrage, passen nicht zueinander. Von der guten habe ich gar keine Vorstellung. Die böse kenne ich gut. Es ist aber schwer zu sagen, wer sie wirklich ist. Ich kann die gute Mutter nicht in die schlechte hineinstopfen und die schlechte schon gar nicht in die gute. Die gute Mutter ist mir heilig.«
Der Patient kämpfte mit den verzerrten und unklaren Bildern von seiner Mutter, die er so widersprüchlich erlebt hatte. Er konnte die einzelnen Bruchstücke nicht in ein vollständiges Bild integrieren, denn dann würde er sein Ideal der heiligen Mutter zerstören. Deshalb blieb das Bild der Mutter gespalten und fragmenthaft, und die idealisierte Mutter war diejenige, die sein Bewußtsein dominierte. »Wenn sie mich vor meiner Geburt verlassen hätte, hätte ich keine wirkliche Mutter. Sie war in den Augen der Nachbarn die arme Frau, die wegen ihrer Kinder immer zu viel zu tun hatte. Wo ist aber das Gute in ihr? Ich weiß es nicht; vielleicht war sie gut zu mir, wenn ich krank war. Aber es war meine Schuld, wenn ich krank war. Kann denn ein Kind die Liebe seiner Mutter einfordern?« Er sagte dies so, als könnte er nicht glauben, daß ein Kind ein Recht auf Liebe habe. Deshalb sagte ich zu ihm: »Sie haben mir doch so oft erzählt, wie sehr Ihnen das Schreien der Kinder immer weh tut.« — »Das stimmt. Aber als ich diese italienische Familie aus Mailand abgeholt habe, haben deren Kinder nie geschrien. Die wurden auch immer und überallhin getragen. —Wenn jemand von was mir fordert, tue ich es nicht gerne.« — »Und wie ist das mit Ihrer Tochter?« fragte ich, da er mir oft erzählt hatte, wie gerne er auf sie einging. »Nein, da habe ich Lust dazu, und es macht mir richtig Spaß.« — »Sehen Sie«, sagte ich, »Sie sind anders als Ihre Mutter.«
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Man sucht die gute Mutter im Bild der Mutter, die man tatsächlich erlebt hat. So suchte dieser Patient eine warmherzige Frau, allerdings immer wieder in den Aspekten seiner eigenen zwar gefälligen, aber trügerischen Mutter. Er erzählte mir, daß sein Vater seine Mutter im Grunde genommen verachtet hatte, die Mutter aber immer wieder den Kindern mit Bestrafung durch den Vater gedroht hatte. Dasselbe Verhalten schilderte er bei S. Er ertappte sie häufig beim Lügen, hatte aber immer Mitleid für ihr vermeintliches Leiden — genau wie bei seiner Mutter. Dieses Leiden war aber nichts als Selbstmitleid, das sie benutzte, um Mitleid in denjenigen zu wecken, die sie betrogen hatte. Da der Patient diese Ur-Konstellation nicht verlassen konnte, blieb er Opfer. Er suchte die gute Frau, endete aber immer bei einer bösen. Das Gute im Bösen zu suchen spiegelt einen allgemeinen Prozeß wieder. Auch Menschen, die großes Leid über andere gebracht haben, wie Hitler oder Stalin, sind idealisiert worden, genau wie die schlechten Mütter, die wir als gute erleben.
Die gesellschaftlichen Konsequenzen
Wir suchen nach dem Besseren, verfallen aber immer wieder Führern, die uns unterdrücken, uns zwingen, unsere individuelle Geschichte der Unterdrückung und Rebellion zu wiederholen. So wird unsere Leidensgeschichte immer weitergegeben. Sie mag zwar unterschiedlich verlaufen, aber der Inhalt des Leidens und der Unterdrückung bleibt. Dennoch bleiben die Hoffnung auf das Gute und der Wille, Gutes zu tun, bestehen. Sie flackern immer wieder auf.
Ich spreche hier nicht von organisierten politischen Bewegungen, sondern von Individuen, die zu sich selbst gefunden haben und der Gewalt und der Verlogenheit die Stirn bieten. Ob dies auf dem Weg des inneren Widerstandes oder in Form von offener Rebellion geschieht, ist dabei unerheblich. Wichtig ist, daß die Individuen zu ihrem Menschsein stehen.
Es gab solche Menschen auch im Nazi-Deutschland, einem Land, in dem jeglicher Widerstand sofort niedergeschlagen wurde. Im Zweiten Weltkrieg gab es mindestens 14.500 Soldaten, die als Deserteure zum Tode verurteilt wurden. Hinter dem Delikt der Fahnenflucht versteckte sich eine Form des Widerstandes gegen die Unmenschlichkeit der Diktatur, wenn wir in Betracht ziehen, daß in der britischen Armee nicht mehr als vierzig Todesurteile vollstreckt wurden und im Ersten Weltkrieg »nur« achtundvierzig deutsche Soldaten als Deserteure hingerichtet wurden.
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Kammler (1985) schätzte in seiner historischen Studie »Ich habe die Metzelei satt«, daß die Zahl derer, die in der Armee auf diesem Weg Widerstand geleistet haben, in Wirklichkeit noch viel größer war. Hinter den Todesdaten von achtundvierzig aus Kassel stammenden Soldaten stand der Vermerk »Freitod«. Die Nazis erkannten, daß Selbstmord eine extreme Form des Widerstandes sein konnte, und erklärten Suizidversuche für strafbar.
Kammler erwähnt auch die vielen Tausende, die trotz der Bedrohung durch die Gestapo keinen Augenblick zögerten, Menschen in größter Not zu helfen. Wenn wir die große Menge der Mitläufer betrachten (Goldhagen 1996), so war die Zahl derer, die Widerstand leisteten, nicht groß. Aber was zählt, ist, daß es solche Menschen überhaupt gab und gibt.
Menschen, die sich in ihrer menschlichen Identität nicht beirren lassen, existieren überall. Es geht darum, diese Menschlichkeit in denjenigen zu stärken, die Zweifel daran haben. Der Weg dahin führt über unsere Kinder. Uns für deren Anliegen zu sensibilisieren, wird uns alle stärken. Dabei müssen wir zwei Wege beschreiten: Zum einen müssen wir dem Kind eine größere Rolle in unserem Leben zugestehen, um das Kind in uns zu befreien und der Bewußtseinsspaltung entgegenzutreten. Zum anderen dürfen wir uns nicht weigern, uns an unsere Vergangenheit zu erinnern. Auch Czeslaw Milosz (1995) betont, daß die Erinnerung die Waffe ist, derer wir uns bedienen müssen. Damit können wir all die bekämpfen, die sich der Gewalt und der Zerstörung verschrieben haben.
Wie aber kann das geschehen?
Janusz Korczak erklärte in seinem Buch <Wie man ein Kind lieben soll> (1992, zuerst auf deutsch 1916), daß der Erwachsene sich zum Kind hinabbücken muß, um von ihm zu lernen. Genau wie die Schizophrenen weisen die Kinder den Weg hin zum Menschlichen, das in uns allen verborgen ist. Es gibt viele Kulturen, in denen Kinder ganz selbstverständlich diese Rolle einnehmen. Die Laconda-Indianer in Chiapas, Mexiko, von deren Aufstand 1996 in den Medien berichtet wurde, treffen wichtige Entscheidungen nur mit Zustimmung der Kinder.
Bei uns dagegen besteht die Tendenz, unsere Kinder nicht ernst zu nehmen, sie so klein wie möglich zu halten, so daß wir nichts von ihnen über sie und über uns selbst zu lernen brauchen. Das herablassende Lächeln, mit dem wir den Kindern und solchen Vorschlägen begegnen, spiegelt die Verteidigung des Mordes an der eigenen Kindheit wider.
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25 Was ist Geschichte?
Was tun?
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Wenn wir die zentrale Rolle des Mitgefühls in unserem Leben erkennen, können wir die Geschichte unserer Zivilisation als Geschichte des Ringens um Empathie bezeichnen. Die Pervertierung der Empathie in Selbstmitleid aber dient nur dem Haß auf das Leben.
Empathie ist etwas, über das wir alle verfügen und das auch unter widrigsten Umständen aufsteigen kann. Doch der Haß auf das Leben ist schwer zu vernichten. Wenn wir ihm Einhalt gebieten, kehrt er in anderer Form wieder und ist häufig nicht sofort als Haß zu erkennen. Die Unfähigkeit, uns selbst vor diesem Haß zu schützen, beruht auf der Identifikation mit unseren Unterdrückern — einer Identifikation, die bei jedem unterschiedlich ausgeprägt ist.
Die Sehnsucht nach Liebe wird blockiert von der Sehnsucht nach Autorität, die uns vor der Angst und dem Terror retten soll, durch die wir zur Idealisierung des Täters gezwungen wurden. Wir fühlen uns sündig, weil wir die Wahrheit ursprünglich erkennen konnten, zugleich streiten wir diese Sünde fortwährend ab, indem wir andere zu Opfern machen, die wir dafür bestrafen, daß wir selbst Opfer geworden sind.
Solange Wohlstand und scheinbare Ordnung herrschen, ruht das Opfer in uns. Wenn es aber in Zeiten von wirtschaftlicher Not und politischem Chaos erwacht, erwacht auch der Haß gegen uns selbst und die Notwendigkeit, diesen Haß auf »Feinde« abzuwälzen. Und so lassen wir das Böse in dem Maße zu, in dem wir selbst von Nicht-Liebe geformt worden sind. Zudem können viele von uns keine eigene Identität entwickeln, sondern sich lediglich mit jenen identifizieren, die die Unterwerfung anderer zum Sinn ihres Lebens gemacht haben.
Unsere Aufgabe muß es sein, die Erinnerung an das Kind in uns zurückzuholen und uns unseren Kindern zu widmen, indem wir auf der Legitimität unseres Mitgefühls bestehen. Jakob Wassermann (1994) illustriert dies mit folgender Parabel:
»Wenn ich einen Fuhrmann sehe, der sein abgetriebenes Roß mit der Peitsche dermaßen mißhandelt, daß die Adern des Tieres springen und die Nerven zittern, und es fragt mich einer von den untätig, obschon mitleidig Herumstehenden, was geschehen soll, so sage ich ihm: <Reißt dem Wüterich vor allem die Peitsche aus der Hand.> Erwidert mir dann einer: Der Gaul ist störrisch, der Gaul ist tückisch, der Gaul will bloß die Aufmerksamkeit auf sich lenken, es ist ein gutgenährter Gaul, und der Wagen ist mit Stroh beladen, so sage ich ihm: Das können wir nachher untersuchen; vor allem reißt dem Wüterich die Peitsche aus der Hand.«
Die Analogie zu unserem Umgang mit Kindern braucht wohl nicht hervorgehoben zu werden. Diesem Vergleich aber können wir entnehmen, was wir einzeln oder kollektiv tun müssen: uns gegen Gewalt und deren ideologische Rechtfertigung zu Wehr setzen.
Wenn wir nicht gegen die Preisgabe unserer authentischen Gefühle ankämpfen können, zu der wir von Kindheit an genötigt werden, dann wächst die Gefahr, daß das Menschsein unterliegt und wir unsere wahre Identität verlieren.
Bei unserer Geburt tragen wir das Menschsein in uns. Was sich daraus entwickelt, ist aber häufig nur eine Attrappe, die zwar die Sprache des Menschseins nachahmt, das Herz des Menschen aber verraten hat. Dann geschieht das, was der englische Dichter Edward Young schon im 18. Jahrhundert beschrieben hat: »Wir werden als Originale geboren, sterben aber als Kopien.«
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Ende